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Impressum

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel «The Liar's Girl» bei Corvus/Atlantic Books, Ltd., London.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Februar 2019

Copyright © 2019 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«The Liar's Girl» Copyright © 2018 by Catherine Ryan Howard

Redaktion Rainer Schöttle

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung und Motiv Cornelia Niere, München

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Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN Printausgabe 978-3-499-27494-7 (1. Auflage 2019)

ISBN E-Book 978-3-644-40463-2

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-40463-2

Er betrachtet sie und liest Verwirrung in ihrem Gesicht, aber sie überspielt es gleich wieder. Woran erinnert sie sich noch? Vielleicht daran, wie die Truppe zusammen den Club in der Harcourt Street verlassen hat, hintereinander in einer Reihe. Wie sie sich durch die verschwitzte, betrunkene Menge drängten, sich dabei an Kleiderrücken und Hemdsäumen festhielten. Vielleicht erinnert sie sich, wie ihre Freundin Michelle sich an den Arm eines Typen klammerte und ihr etwas zurief. Ihr mitteilte, dass sie zu Fuß zur Party irgendeines anderen Typen weiterziehen würden.

«Wessen Party?», hatte er sie fragen hören.

«Jacks!», kam die gerufene Antwort zurück.

Es war nicht klar, ob Jen Jack kannte oder nicht, aber sie war ihnen auf jeden Fall gefolgt.

Jetzt sitzt sie – in sich zusammengesunken – auf einem Sofa in einem dunklen Zimmer voller Gesichter, die sie wahrscheinlich nicht wiedererkennt. Die dünnen Träger ihres schimmernden schwarzen Kleids heben sich von ihrer blassen, sommersprossigen Haut ab, und das Make-up um ihre Augen ist verschmiert. Ihre Lider wirken schwer. Ihr Kopf hängt etwas schief.

Jen blinzelt, hebt ihren Kopf, bis ihr Blick auf eine einzelne unverhüllte und staubige Glühbirne fällt, die von der Decke hängt. Dann zurück auf den Boden vor ihr. Ein Typ kriecht auf allen vieren herum und sucht nach etwas. Sie starrt ihn stirnrunzelnd an.

Diese Bude ist ekelerregend. Der Teppichboden ist alt und fleckig. Chipskrümel, Haare und Zigarettenasche haben sich tief in seinem Flor eingenistet. Er ist nie mit Sorgfalt verlegt worden. Stattdessen bedecken große, lose Teppichstücke den Boden, die an den Enden abgerissen und ausgefranst sind, und dazwischen scheint der bloße, staubige Fußboden durch. Der Couch gegenüber steht ein Kamin, der mit Spanplatten verbarrikadiert ist. Ein grün gestrichener Bereich auf der ansonsten beigen Verkleidung markiert die Stelle, wo sich einmal ein Sims befunden hat. Nicht zueinander passende Sitzmöbel – ein weißer Gartenstuhl, ein Camping-Klappstuhl, ein aufgeplatzter Sitzsack – sind vor dem Kamin arrangiert. Darin sitzen drei Typen und lassen einen Joint herumgehen.

Eine weitere, kleinere Couch befindet sich zu Jens Linken. Dort sitzt er.

Die Luft ist dick vor Rauch, und das einzige Fenster hat weder Vorhänge noch Fensterläden. An der Glasscheibe rinnt das Kondenswasser herab.

Er kann es nicht erwarten, von hier zu verschwinden.

Jen fühlt sich jetzt sichtlich unwohl. Er beobachtet, wie sie die Hände zwischen den Schenkeln ineinander verkrampft und ihre Schultern hochzieht. Sie verlagert ihr Gewicht auf der Couch. Ihr Blick richtet sich nacheinander auf die drei Kiffer, sie mustert ihre Gesichter. Kennt sie einen von ihnen? Sie wendet den Kopf, um sich den Rest des Zimmers anzusehen …

Sie hat sie entdeckt.

Rechts vom Kamin, zu groß, um ganz in die Nische zwischen der Kaminverkleidung und der Seitenwand des Zimmers zu passen, steht eine Kühlschrank-Gefrier-Kombi im amerikanischen Stil, einst weiß, jetzt vergilbt und wahllos mit einer Sammlung knallbunter Magnete bestückt.

Jen blinzelt.

Ein Kühlschrank im Wohnzimmer kann ihr nicht allzu befremdlich vorkommen. Wie jeder Student schnell feststellen muss, wenn er eine bezahlbare Wohngelegenheit in Dublin sucht, sind frei stehende Kühlschränke mitten im Wohnzimmer, gleich neben winzig kleinen Küchen, offenbar der letzte Schrei. Aber wenn Jen eine Lichtung in dem Nebel finden kann, der in ihrem Kopf herrscht, wird sie erkennen, dass ihr etwas an diesem hier äußerst vertraut ist.

Durch den Jungen neben ihr wird sie abgelenkt. Er scheint ungefähr in ihrem Alter zu sein, neunzehn oder zwanzig. Er stößt sie an, fragt, ob sie noch etwas trinken will. Sie antwortet nicht. Kurz darauf stößt er sie noch einmal an, und dieses Mal dreht sie sich zu ihm um.

Der Junge deutet mit einem Kopfnicken auf die Bierdose in ihrer rechten Hand, formt mit den Lippen die Frage: Noch eins?

Jen wirkt überrascht, die Bierdose dort vorzufinden. Sie neigt sie träge ein Stück zur Seite und sagt etwas wie: «Ich hab das hier noch nicht ausgetrunken.»

Der Junge steht auf. Er trägt abgewetzte Wildlederschuhe mit zerfaserten Schnürbändern, Jeans und ein blau-weiß gestreiftes Hemd, offen, mit einem T-Shirt darunter. Nur ein schmaler Streifen des T-Shirts ist sichtbar, aber es scheint mit einem bekannten Filmplakat bedruckt zu sein. Schwarz, gelb, rot. Als er weg ist, streckt sich Jen auf seinem leeren Platz aus,

Öffnet sie wieder, ganz plötzlich. Drückt ihre Handflächen flach auf die Couch und stemmt sich in eine aufrechte Position hoch. Starrt auf den Kühlschrank.

Das ist es.

Ihre Kinnlade klappt etwas herunter, und dann fällt ihr die Dose aus der Hand auf den Boden, kippt um und rollt unter die Couch. Ihr Inhalt schwappt heraus, breitet sich mit einem Gluck-gluck-gluck überall aus. Sie macht keine Anstalten, sie wieder aufzuheben. Sie scheint nicht mal bemerkt zu haben, dass sie heruntergefallen ist.

Schwankend steht Jen auf, bleibt eine Sekunde lang stehen, um auf schwindelerregend hohen Absätzen ihr Gleichgewicht zu finden. Sie macht einen Schritt nach vorn, zwei Schritte, drei, bis sie in Griffweite der Kühlschranktür kommt. Dort hält sie an und schüttelt den Kopf, als ob sie nicht glauben kann, was sie da sieht.

Und wer könnte ihr das verdenken?

Das sind ihre Magnete.

Die Magnete, die ihre Mutter ihr immer von der Arbeit als Linienpilotin mitgebracht hat, seit Jen ein kleines Kind war. Ein pinkfarbener Eiffelturm. Ein Relief des Grand Canyon. Das Opernhaus von Sydney. Das Kolosseum von Rom. Ein Stern vom Hollywood Boulevard mit ihrem Namen darauf.

Die Magnete, die an ihrer Mikrowelle in ihrer Wohnung im Studentenheim kleben sollten, in der Küche, die sie sich mit Michelle teilt. Die noch dort gewesen sind, als sie früher am Abend aufgebrochen ist.

Jen murmelt etwas Unzusammenhängendes, und dann hat sie sich in Bewegung gesetzt, stolpert vom Kühlschrank weg, dreht sich zur Tür, hastet aus dem Zimmer, lässt ihren Mantel

Niemand schenkt ihrem seltsamen Abgang Beachtung. Die Partygäste sind alle zu betrunken oder zu bekifft oder beides, und es ist zu dunkel, zu spät, zu früh. Falls es doch jemandem auffällt, kümmert es die anderen nicht genug, um ihr Interesse zu wecken. Er fragt sich, wie schuldig sie sich deswegen alle fühlen werden, wenn sie in den nächsten Tagen den Gardaí das wenige gestehen müssen, was sie wissen.

Er zählt so langsam bis zehn, wie er es ertragen kann, bevor er sich von seinem Platz erhebt, Jens Mantel und Tasche aufliest und ihr aus dem Haus folgt.

Sie wird auf dem Weg nach Hause sein. Ein Fußmarsch von einer halben Stunde, weil sie in dieser Gegend mit Sicherheit kein Taxi herbeiwinken kann. Auf verlassenen, dunklen Straßen, denn jetzt ist die ruhigste Stunde, diese seltsame Stunde, wenn die meisten Pub- und Clubbesucher wieder in ihren Betten liegen, aber die Frühaufsteher der Stadt noch nicht aufgewacht sind. Und ihr Weg wird sie am Grand Canal entlangführen, wo das dunkle Wasser fast auf gleicher Höhe mit der Straße fließt und es nicht überall Absperrungen gibt, die einen am Hineinfallen hindern könnten, und wo die Abstände zwischen den Straßenlaternen mitunter ziemlich groß sind.

Er kann sie nicht allein gehen lassen. Und das wird er auch nicht, denn er ist ein Gentleman. Ein Gentleman, der junge Mädchen nicht von einer Party allein nach Hause laufen lässt, wenn sie so viel getrunken haben, dass sie ihren Mantel vergessen, ihre Handtasche und – er hebt die Klappe der kleinen samtenen Tasche im Kuvertstil, späht hinein – Schlüssel, Studentenausweis und Telefon dazu.

Und er will sichergehen, dass Jen das weiß.

Mr. Nice Guy, so nennt er sich selbst.

Er hofft, sie wird ihn auch so nennen.

Die Wörter lösten sich aus den Hintergrundgeräuschen, ordneten die Moleküle von Wills Aufmerksamkeit allmählich neu, forderten seine Konzentration ein, rüttelten ihn auf, bis jegliche Spur von Schläfrigkeit vertrieben war und er sich hellwach im Bett aufsetzte.

Die Gardaí sind auf der Suche nach Zeugen, nachdem gestern Morgen die Leiche einer Studentin am St. John’s College aus dem Grand Canal geborgen wurde. Jennifer Madden, neunzehn …

Es kam aus einem Radio. Ein Lokalsender, dem Anschein nach; ein überregionaler hätte die Hörer wohl daran erinnert, dass sich der Grand Canal in Dublin befand. Der Rest des Berichts war vom schrillen Klingeln eines Telefons übertönt worden.

Wie die Regeln es verlangten, war die Tür zu Wills Zimmer nicht ganz geschlossen. Jetzt beugte er sich vor, bis er durch den Türspalt auf den Flur hinaussehen konnte. Die Stationszentrale lag genau gegenüber. Alek stand dort und hielt sein laminiertes Namensschild fest, während er mit der anderen Hand über den Tresen griff, um den Hörer abzuheben.

In dem Augenblick zwischen dem Verstummen des Telefons und Aleks Antwort, «Station drei», schnappte Will einen weiteren Fetzen aus dem Radio auf – Kopfverletzung –, und da war er bereits auf den Beinen und versuchte zu entscheiden, was als Nächstes zu tun war.

Unsicher, ob er überhaupt etwas tun sollte.

Er beschloss, mit Alek zu sprechen. Sie waren befreundet oder zumindest das, was hier drinnen als «befreundet» durchging. Freundlich zueinander auf jeden Fall. Will wartete, bis der Pfleger das Telefongespräch beendet hatte, und überquerte dann den Flur.

«He, alter Kumpel», sagte Alek, als er ihn erblickte. «Sie meinten, du würdest dadrinnen schlafen.» Alek war Pole, aber er verlor mit jedem Jahr mehr von seinem Akzent. Seit fünf Jahren arbeitete er schon hier. Die letzten vier auf Station drei. «Ist alles in Ordnung?»

«Ich habe bloß ein bisschen gelesen», sagte Will. «Muss dabei eingenickt sein.»

«Was Spannendes?»

Will zuckte mit den Schultern. «Offensichtlich nicht.»

Alek nahm ein Klemmbrett vom Tresen und überflog den daran gehefteten Zeitplan. «Solltest du nicht bei Dr. Carter sein?»

Die Nachrichten waren zum Wetter übergegangen. Regen und Wind wurden vorhergesagt. Im Einklang mit der Tradition, scherzte die körperlose Stimme, würde der morgige Umzug zum St. Patrick’s Day ziemlich feucht werden.

Will hatte gar nicht mitbekommen, dass das morgen war. Es war schon schwer, einen Überblick darüber zu behalten, welchen Wochentag sie gerade hatten, ganz zu schweigen von Datum und Monat.

«Das ist auf drei Uhr verschoben worden», sagte er. «Ich glaube, weil sie diese Sache am Gericht hat …»

Alek sah von seinem Klemmbrett auf. Eigentlich sollten Patienten nichts darüber wissen, was das Personal außerhalb der Hochsicherheitsstation tat, aber Will hatte Alek soeben verraten, dass er es wusste.

Aber Alek ließ den Moment verstreichen – und den Verstoß durchgehen.

Er behandelte Will anders als die übrigen Insassen. Alle taten das. Das war auch der Grund, warum Will überhaupt wusste, dass seine Psychologin einen Termin vor Gericht hatte. Es war ihr am Ende der letzten Sitzung herausgerutscht, als sie ihn über die Planänderung informiert hatte. Bei ihm war sie weniger vorsichtig als bei ihren anderen Patienten. Er wusste die Sonderbehandlung zu schätzen und nahm sie niemals als selbstverständlich. Er hatte das Gefühl, dass er sich das in den letzten zehn Jahren verdient hatte. Er hatte ihnen nie Ärger gemacht. Er hatte immer getan, was man von ihm wollte.

Und jetzt würde er sich das zunutze machen müssen.

Will sah sich auf dem Flur um. Niemand sonst war in der Nähe. Die Morgenstunden waren Therapie- und Gruppensitzungen vorbehalten; wenn Dr. Carter nicht den Termin am Gericht gehabt hätte, wäre Will jetzt auch nicht hier gewesen.

Es war reiner Zufall, dass er die Nachricht gehört hatte.

«Äh, Alek», begann Will. «Das Radio …»

«Ach du Scheiße.» Alek ließ das Klemmbrett auf den Tresen fallen, schob sich dahinter und streckte den Arm nach dem kleinen Transistorradio auf dem oberen Regalbrett aus. Es schaltete sich knackend aus. «Tut mir leid. Du bist doch nicht davon aufgewacht, oder?»

«Nein, nein», sagte Will. «Ist schon in Ordnung. Ich wollte bloß fragen – hast du die Nachrichten gerade gehört?» Alek zog misstrauisch eine Augenbraue hoch. «Ich dachte, ich hätte da etwas über den, ähm, über den Kanal aufgeschnappt.»

Einen Herzschlag lang herrschte Schweigen.

Alek hob das Klemmbrett wieder auf. «Darum würde ich mir keine Gedanken machen, Kumpel.»

«Wieso willst du das wissen?»

«Ich habe mich nur gefragt …» Will legte eine Pause ein, schluckte schwer, um den gewünschten Effekt zu erzielen. «Ging es da um mich?»

«Um dich?» Alek schüttelte den Kopf. «Nein. Wie kommst du denn darauf?»

«Es ist jetzt bald zehn Jahre her, oder? Ich dachte, vielleicht hatte es etwas damit zu tun.»

«Hatte es nicht.»

«Nicht?»

«Nein.»

«Bist du sicher?»

Alek betrachtete ihn einen langen Augenblick, als versuche er, zu einer Entscheidung zu kommen. Dann seufzte er und sagte: «Das war Blue FM. Die senden ihre Nachrichten schon um zehn vor.» Er sah Will in die Augen. «Es ist jetzt gleich ein Uhr. Ich stelle einen anderen Sender ein.»

«Danke», sagte Will. «Ich weiß das wirklich …»

«Bedank dich nicht bei mir, ich war’s gar nicht.» Damit streckte er den Arm aus und schaltete das Radio wieder an. Er drehte am Rädchen, bis er einen Sender fand, der gleich nach der Werbung die Mittagsnachrichten bringen würde. Dann setzte er sich hinter den Tresen und schob Will eine Broschüre über die Vorteile von Achtsamkeit zu. «Tu wenigstens so, als ob du das liest.»

Es war gleich die erste Meldung.

Der Text der Broschüre verschwamm vor Wills Augen, während er sich jedes Detail genau einprägte. Jennifer Madden. Eine Studentin am St. John’s College. Im ersten Studienjahr, ihrem Alter nach zu urteilen. Gestern in der Nähe der Straßenbahnhaltestelle Charlemont im Grand Canal gefunden, nachdem man sie in der Nacht davor zuletzt auf einer

Und dank des Wetterberichts konnte Will noch ein weiteres Detail hinzufügen: Es war ein paar Tage vor St. Patrick’s Day passiert.

Warme Erleichterung durchspülte seine Venen.

Endlich geschah es, nach all den Jahren.

Und gerade noch rechtzeitig.

«Alek», sagte er und lehnte sich über den Tresen, «ich muss mit den Gardaí sprechen. Jetzt sofort.»

Sie besuchten mich am Morgen nach Sals Dinnerparty.

Ich litt immer noch an den Folgen. Der Anlass der Party war St. Patrick’s Day gewesen, und sie war zu meinen Ehren veranstaltet worden, weil ich das einzige irische Mitglied unserer Gruppe war. Sal und ich waren an eine bunt zusammengewürfelte Truppe von Auswanderern geraten, die vereinbart hatten, sich alle paar Monate einmal zu treffen und sich bei der Organisation der Zusammenkünfte abzuwechseln. Die Gruppe hatte einen festen Kern von sechs oder sieben Leuten, bei denen man sich darauf verlassen konnte, dass sie auch wirklich auftauchten, und dann gab es noch mehrere andere, die uns gelegentlich überraschten. Wir nannten uns ‹Die EUs›, denn wir kamen zwar aus neun verschiedenen Ländern, aber die lagen alle nur eine Zugfahrt oder einen Ryanair-Flug von unserer neuen Wahlheimat entfernt. Eins von Sals Lebenszielen war es, die Gemeinschaft der Exil-Amerikaner von Breda zu unterwandern und wenigstens ein paar von ihnen zu motivieren, sich unserer Bande anzuschließen.

Ich war extra früh eingetroffen, um Sal und Dirk bei den Vorbereitungen zu helfen, aber das Einzige, was sie mir zu tun erlaubt hatten, war, mit einem Sektglas in der Hand auf dem Sofa zu sitzen. Es enthielt etwas, das laut Instagram Black Velvet hieß. Es sah ein bisschen aus wie sprudelndes Guinness. Ich mag Guinness eigentlich nicht besonders, aber dieses Detail behielt ich für mich. Stattdessen sah ich Sal zu, die eine Tüte voll grellbunter Deko-Artikel auf ihrem

«Wie stilvoll», bemerkte ich.

«Im Vergleich zu dem, was es sonst noch gab, ist es das wirklich», sagte Sal. «Sei froh, dass ich keine Hüte gekauft habe. Das haben deine kleinen Glücksbringer gerade noch verhindert.»

«Du weißt aber schon, dass diese Glücksbringer eine amerikanische Erfindung sind, oder? ‹Lucky Charms›, die Knusperflocken? Das gibt es bei uns gar nicht.»

«Kommt jetzt noch ein Vortrag darüber, dass man nicht ‹Patty’s Day› sagt?»

«Nein, den spar ich mir auf, bis wir vollzählig sind. Das sollten wirklich alle hören.»

Sal verdrehte die Augen. «Ich bin schon ganz gespannt.»

«Ich kann noch immer nicht glauben, dass du eine Dinnerparty gibst», sagte ich. «Selbst wenn es eine mit Trinkhalmen und Kobolden ist. Du bist so erwachsen.»

«Hör bloß auf.» Sal hielt inne, um ihren Tisch zu begutachten. Er war für zwölf Personen gedeckt, eine eindrucksvolle Vorstellung für die EUs. «Wir besitzen jetzt Haushaltsgeräte, Ali. Elektrische. Und dann ist da noch dieses verflixte Ding.» Sie hielt ihre linke Hand hoch und wackelte mit ihrem Ringfinger. Der Platinring glitzerte im Licht der Deckenlampe. «Ich kann mich immer noch nicht daran gewöhnen.»

Sie waren erst einen Monat verheiratet. Weil sie von Traditionen nichts hielt, hatte Sal ihre Hochzeit hier abgehalten und ihre Familie gezwungen, aus London anzureisen. Die Haut auf ihren Unterarmen war noch leicht gebräunt von den

Es klingelte, und Sal eilte aus dem Zimmer, um die Tür zu öffnen. Ich fragte mich, wo Dirk abgeblieben war, dann ging mir auf, dass er für all das Geklapper verantwortlich sein musste, das aus der Küche kam.

Ich nahm probeweise einen Schluck von meinem Drink und stellte fest, dass es tatsächlich sprudelndes Guinness war, im wahrsten Sinne des Wortes: Guinness mit Sekt. Ein Frevel gegen beide Getränke. Der bittere Nachgeschmack ließ mich das Gesicht verziehen, als die Wohnzimmertür aufging und ein attraktiver Mann eintrat, den ich noch nie zuvor gesehen hatte, gleich gefolgt von Sal, die teuflisch grinste und hinter seinem Rücken anzügliche Grimassen schnitt.

«Das hier», kündigte sie an, «ist Stephen.»

Ich wusste, was kommen würde, noch bevor sie es aussprach: Stephen war ebenfalls Ire. Man sah es schon von weitem. Er gehörte nicht dem rothaarigen, sommersprossigen Typ an, für den wir bekannt sind, sondern dem tatsächlich viel häufigeren: blasse Haut, blaue Augen, schwarzes Haar. Sal hatte noch einen von uns gefunden und schien darüber äußerst begeistert zu sein. Sie erklärte, dass er ein Arbeitskollege von Dirk sei, dass er erst seit zwei Wochen hier lebe, dass er noch keine richtigen Freunde gefunden habe, er aber jetzt zu unserer Gruppe gehöre, und ob es mir wohl etwas ausmachen würde, heute Abend den Titel des Ehrengastes mit ihm zu teilen. Und mir wurde klar, wieso sie so begeistert war: Sie dachte, sie hätte ihn für mich gefunden.

Ich stöhnte innerlich auf und erhob mich, um ihm die Hand zu geben und ein paar Worte mit ihm zu wechseln.

Stephens Blick fiel auf mein Glas, wanderte dann zu mir, und ich schüttelte so heftig den Kopf, wie ich konnte, ohne dass Sal es bemerkte.

«Wie wär’s mit einem Bier?», fragte er.

Er hatte den Akzent von South Dublin. War in unserem Alter, soweit ich es beurteilen konnte. In den Dreißigern. Und wenn er mit Dirk in der Softwarefirma arbeitete, hatte er wahrscheinlich einen College-Abschluss …

Ich wusste, wo das hinführen würde.

Ich musste mich anstrengen, meinen freundlichen Gesichtsausdruck zu behalten.

«Sicher, dass du nicht auch so einen willst?» Sal deutete auf mein Glas. «Das ist ein Black Velvet. Schmeckt ausgezeichnet.»

«Ich, äh, ich trinke kein Guinness», sagte Stephen. «Das ist auch der Grund, warum ich Irland verlassen musste. Sie sind mir auf die Schliche gekommen.»

Ich zwang mich zu einem Lachen. Sals Lächeln geriet ins Wanken, denn – was Stephen und ich da noch nicht wussten – als Hauptgang hatte sie einen Guinness-Eintopf vorbereitet.

Sie einigten sich auf ein Heineken, und Sal ließ uns allein, um es zu holen. Stephen und mir blieb nichts anderes übrig, als das übliche «Du bist also auch ein Ire im Ausland»-Gespräch zu führen. Er bestätigte meinen Verdacht, dass er aus South Dublin war, erzählte mir, dass er die letzten drei Jahre in Abu Dhabi verbracht hatte und dass er diesmal zu vermeiden versuche, was er dort unten getan habe: Er hatte sich nämlich so sehr in die Truppe der irischen Ausländer integriert, dass er schließlich jedes Wochenende Gaelic Football spielte und ausschließlich in einem irischen Pub verkehrte,

«Sag es keinem weiter», bat Stephen, «aber die Jungs bei der Arbeit haben ständig von Den Haag gesprochen, und mir ist erst nach drei Tagen aufgegangen, dass sie damit die Stadt meinen, die für uns ‹The Hague› heißt.»

Ich lächelte. «Mach dir deswegen keine Gedanken. Als ich hier angekommen bin, dachte ich zuerst, Albert Heijn wäre ein Politiker.» Stephen runzelte fragend die Stirn. «Das ist eine Supermarktkette», erklärte ich. «Der Supermarkt, zu dem ich regelmäßig gegangen bin, mindestens einen Monat lang, bevor ich zwei und zwei zusammengezählt habe. Niederländisch klingt oft ganz anders, als es geschrieben aussieht. Für uns jedenfalls. Das ist ja das Problem.»

«Kannst du es sprechen?»

«Ein bisschen. Ein ganz kleines bisschen. Bei weitem nicht so gut, wie ich sollte. Hier können alle Englisch, da wird man schnell faul. Und Suncamp ist eine britische Firma. Bei der Arbeit sprechen wir nur Englisch.»

«Bist du dann hier aufs College gegangen oder …?»

«Ja, hier.» Ich nahm einen weiteren Schluck von meinem Drink, weil ich vergessen hatte, dass er wie etwas schmeckte, das sie einem im Krankenhaus vor der Darmspiegelung einflößen. Ich zwang mich, das Zeug hinunterzuschlucken. Er sagte nichts weiter, also fragte ich: «Und du?», obwohl ich

«St. John’s College.»

Alles, was ich darauf erwidern konnte, war ein Hmm.

«Vom Haus meiner Eltern war es nur einen kurzen Fußweg entfernt», sagte Stephen, «und sie haben es beide früher auch besucht, also hatte ich nicht wirklich eine Wahl.»

Ich starrte auf mein Glas hinab. «Was hast du studiert?»

«Biomedizin.» Er machte eine Pause. «Abschlussjahrgang 2009.»

Ich zählte es im Kopf zusammen: Dann war er damals also im dritten Studienjahr gewesen. Aber dieser Rechnung bedurfte es gar nicht mehr. Der Ton, in dem er es gesagt hatte – eine seltsame Mischung aus Stolz und Feierlichkeit. Die dramatische Pause. Allein die Tatsache, dass er es für nötig hielt, mir mitzuteilen, wann er sein Studium abgeschlossen hatte.

All das sollte bedeuten: Ja, ich war damals dort. Ich war dort, als es passiert ist.

«Fährst du oft nach Hause?», fragte er mich.

«Entschuldige», sagte ich und stand auf, «aber solange ich noch die Gelegenheit dazu habe, werde ich mich mal schnell nach einem Blumentopf umsehen, in dem ich den Rest dieses Gebräus hier entsorgen kann. Bin gleich wieder da.»

Und das war’s dann. Das rasche und unvermittelte Ende von Sals Wunschvorstellung, dass Stephen der Richtige für mich sein könnte, noch bevor sie mit seinem Bier zurückkehrte.

Warum, das würde ich ihr niemals sagen können.

Jedenfalls nicht den wahren Grund.

Den Rest des Abends über (der drei Gänge, Geschenktüten mit Tayto-Chips und Dairy-Milk-Schokoriegeln sowie eine ganze Stunde voller Father Ted-Clips auf YouTube mit sich

Das tat sie dann stattdessen am nächsten Morgen über WhatsApp.

Was war denn nun mit Stephen? Ich habe ihn extra für dich mitgebracht, und du hast dich kaum mit ihm unterhalten! Ich weiß schon, dass du mir jetzt irgendeinen Schwachsinn von wegen «Ich muss mich auf meine Karriere konzentrieren» erzählst, und dann komme ich dir wieder mit der Predigt von der verrückten Katzenlady. Also habe ich uns beiden das Ganze einfach erspart und ihm deine Telefonnummer gegeben. Er hat dich den ganzen Abend lang ANGESTARRT (nicht auf die Serienkiller-Art). Ansonsten liege ich gerade im STERBEN. Möglicherweise bin ich auch schon tot. Bin noch nicht mal in der Küche gewesen. Trau mich nicht. Hab D losgeschickt, um Koffein und Fett zu organisieren. War aber gut, oder? Schick mir ein Lebenszeichen. X

Ich las die Nachricht an meinem Küchentisch, bei meiner zweiten Tasse schwarzen Kaffees, während mein Magen gluckerte und schmerzhaft gegen seine Misshandlung in der letzten Nacht rebellierte.

Sal hatte also Stephen meine Nummer gegeben. Das überraschte mich kein bisschen. Es war nicht das erste Mal, dass sie sich so etwas leistete. Ich war nicht sauer, aber ich fürchtete, dass Sal es bald sein würde. Denn wenn Stephen anrief oder mir schrieb, würde ich einfach meine übliche Hoffnungslos-Single-Strategie anwenden: Ich würde sagen, ich sei die nächste Woche über schon verplant, und wenn wir

Ich tippte eine kurze Antwort, versicherte Sal, dass ich tatsächlich noch am Leben war, dankte ihr für die Party und versprach, sie später anzurufen. Stephen erwähnte ich mit keinem Wort.

Ich hatte gerade auf SENDEN gedrückt, als ich das Klopfen an der Tür hörte.

Ich dachte, es wäre der Postbote mit einem Paket. Oder dass ein Neuer die wöchentliche Lebensmittellieferung für meinen Nachbarn brachte und sich im Haus geirrt hatte. Aber wer sich da auf meiner Türschwelle drängte und die Köpfe unter das schmale Vordach steckte, um sich – vergeblich – vor dem heftigen Regen draußen zu schützen, waren zwei Männer, die sich als Mitglieder der Garda Síochána vorstellten.

Der Jüngere war nicht viel älter als ich. Groß, mit dichtem rotbraunem Haar, das zu einer Tolle gestylt war, und einem dazu passenden Vollbart. Hellgrüne Augen. Nicht unattraktiv. Er zog ein kleines Lederetui hervor und klappte es auf, sodass das goldene Garda-Schild und sein Dienstausweis zu sehen waren.

Garda Detective Michael Malone.

Den anderen erkannte ich gleich wieder, auch wenn ich nur ein paar Stunden mit ihm verbracht hatte, an einem Nachmittag vor fast zehn Jahren. Die schütteren grauen Haare an den Seiten wirkten nass noch dünner und ließen kahle Stellen pinkfarbener Haut durchscheinen. Er hatte den Kopf abgewandt, den Blick auf etwas weiter die Straße hinunter gerichtet, die Hände in die Taschen gesteckt.

Garda Detective Jerry Shaw.

«Was ist passiert?», fragte ich zurück. «Ist es … Sind meine Eltern …»

«Es geht allen gut. Alles ist in Ordnung.» Er blickte in den Flur hinter mir. «Dürfen wir reinkommen? Da gibt es etwas, über das wir mit Ihnen sprechen müssen. Sollte nur ein paar Minuten in Anspruch nehmen.» Er ließ ein Lächeln aufblitzen, aber falls er mich damit beruhigen wollte, dann ging das gründlich daneben.

Zwei irische Detectives. Hier vor meiner Tür in Breda.

Und einer von ihnen war Detective Jerry Shaw.

Es konnte wirklich nur eine Sache betreffen, aber ich stellte die Frage trotzdem.

«Worum geht es?»

Shaw drehte sich endlich zu mir. Unsere Blicke begegneten sich.

«Will», sagte er.

Ich führte sie den Flur hinunter in die Küche. Mir wurde plötzlich bewusst, dass ich noch meine schlabbrige graue Trainingshose und das unförmige alte Sweatshirt trug und die Reste des Make-ups vom Vorabend um meine Augen noch nicht weggewischt hatte. Ich hatte mich gegen vier nur noch auf mein Bett fallen lassen und es gerade noch geschafft, meine Schuhe abzustreifen, bevor ich eingeschlafen war. Wie sich herausgestellt hatte, schmeckten Black Velvets doch gar nicht so übel, wenn man erst mal fünf davon intus hatte.

Ich hatte den Detectives den Rücken zugekehrt, also befeuchtete ich einen Finger und wischte damit so unauffällig wie möglich unter meinen Augen herum. Ich schob mir die Haare hinter die Ohren und fuhr mir mit der Zunge über die Zähne. Die hatte ich bisher noch nicht geputzt.

Ich warf einen Blick hinab auf mein Sweatshirt. Keine erkennbaren Flecken. Gut.

Ich ließ sie am Küchentisch Platz nehmen. Meine Tasse stand noch immer dort, wo ich gesessen hatte, das Handy lag daneben. Die Detectives setzten sich auf die zwei Stühle gegenüber.

Die Kanne Kaffee, die ich eine halbe Stunde zuvor aufgebrüht hatte, war noch halb voll. Ich bot ihnen eine Tasse an, und beide Männer nahmen sie dankbar entgegen. Ich beobachtete, wie Shaw eine wirklich besorgniserregende Menge Zucker in seinen Kaffee löffelte. Malone erklärte mir, dass sie beide erschöpft seien, weil sie früh am Morgen gleich den

«Ist er entlassen worden?», fragte ich. Ich hatte eine Klage über die mangelhafte Beschilderung der örtlichen Straßen unterbrochen, aber ich konnte einfach nicht länger warten.

Shaw sagte: «Nein.»

Es war das erste Wort, das er sprach, seit er das Haus betreten hatte.

Ich ließ erleichtert die Schultern sinken. Diese Vorstellung hatte meinen ganzen Körper verkrampfen lassen, sobald ich die beiden vor meiner Tür erblickt hatte.

«Er ist immer noch im CPH», sagte Malone. «Dem Central Psychiatric Hospital. Allerdings soll er nächsten Monat nach Clover Hill verlegt werden.»

«Die Ferien sind endlich vorbei», sagte Shaw.

«Clover Hill ist ein Gefängnis», erklärte Malone. «Das wird eine große Umstellung für ihn.»

«Entschuldigen Sie die dumme Frage», sagte ich, «aber sollte er nicht längst im Gefängnis sein? Warum ist er in einer Klinik?»

«Einer psychiatrischen Klinik», korrigierte Malone. «Sie ist auch geschlossen und ausbruchsicher, aber er kann dort behandelt werden. Irgendwann – ziemlich früh, glaube ich – ist entschieden worden, dass man sich dort besser um ihn kümmern kann.»

«Er wird behandelt? Weswegen denn?»

Shaw schnaubte. «Weil er ein Serienmörder ist, meine Liebe.»

Malone sagte: «Will war sehr jung, als er seine Haftstrafe antrat, und er war ein … Nun, sagen wir mal, er war ein wirklich außergewöhnlicher Häftling. Die Strafvollzugsbehörde entschied, dass er im CPH am besten aufgehoben wäre. Zumindest bis jetzt.»

Die zwei Detectives wechselten einen Blick. Dann fragte Malone mich, ob ich noch die Nachrichten aus Irland verfolge.

«Nein», antwortete ich. «Um ehrlich zu sein, könnte ich nicht mal sagen, wer gerade als Premier das Land regiert.»

«Na ja», sagte Shaw, «was den Taoiseach angeht, haben Sie auch wirklich nichts verpasst, das kann ich Ihnen sagen.»

«Was ist mit Ihren Eltern?», bohrte Malone nach. «Kommt es vor, dass die Ihnen gegenüber etwas erwähnen?»

«Wenn Sie damit Todesfälle in der Gemeinde oder das neue Auto ihrer Nachbarn meinen, dann ja. Tatsächliche Nachrichten, nein.» Ich sah von einem Detective zum anderen. «Warum sagen Sie mir nicht einfach, was passiert ist? Offensichtlich ist ja irgendetwas passiert.»

«Wir haben eine Leiche gefunden», sagte Shaw. «Im Grand Canal. Ein neunzehnjähriges Mädchen. Studentin am St. John’s.»

Sein Ton war so sachlich, dass ich eine Sekunde brauchte, um die Wörter miteinander zu verbinden und zu verarbeiten, was er da eigentlich gesagt hatte. Malone warf seinem Kollegen einen missbilligenden Blick zu, aber Shaw hob bloß die Kaffeetasse an den Mund und schlürfte derart geräuschvoll, dass es schon grotesk wirkte.

«Was ist passiert?», fragte ich. Mein Mund war plötzlich staubtrocken. «Was ist ihr zugestoßen?»

«Das versuchen wir noch …», begann Malone.

«Betäubt», sagte Shaw, «allem Anschein nach. Durch einen Schlag auf den Kopf. Dann wahrscheinlich bewusstlos ins Wasser gefallen. Todesursache war Ertrinken.»

Grauen drückte auf meinen Magen wie ein kalter Backstein.

Malone beugte sich vor. «Wir haben Samstagmorgen eine

Das Wochenende vor St. Patrick’s Day also.

Ich fragte: «Könnte das nicht bloß ein Zufall sein?»

Malone schüttelte den Kopf. «Sieht nicht danach aus, nein. Jennifer … Sie, äh, sie ist nicht die Erste. Sie ist schon die Zweite. Louise Farrington wurde im Januar bei der Baggot Street Bridge gefunden. Zu der Zeit sah es nach einem tragischen Unfall aus. Aber jetzt, mit diesem zweiten Fall … Nun, die Daten passen jedenfalls.»

«Warum haben Sie beim ersten an einen Unfall gedacht?»

Malone setzte zu einer Antwort an, aber Shaw schnitt ihm das Wort ab. «Weil es eben danach ausgesehen hat.»

«Was zählt», sagte Malone und verlagerte sein Gewicht, «ist, dass wir es jetzt nicht mehr denken.»

«Jemand ahmt ihn nach», sagte ich.

Die beiden nickten. Shaw sagte: «So scheint es.»

Ich legte die Hände flach vor mir auf den Tisch und wünschte, die Wände würden aufhören, sich zu drehen.

Dann fragte ich die Detectives, ob sie irgendeinen Verdacht hätten.

«Wir gehen einer Reihe von Hinweisen nach», sagte Malone. «Einer davon ist der Grund, aus dem wir hier sind.»

Ich hatte, offen gesagt, nicht die geringste Ahnung, was als Nächstes kommen sollte. Ich lebte seit fast zehn Jahren nicht mehr in Irland. Ich war seit dem Wochenende von Wills Verhaftung nicht mehr in Dublin gewesen. Außer mit meinen Eltern stand ich mit niemandem dort mehr in Kontakt.

Wie hatte irgendeine Spur sie zu mir führen können?

«Sie haben mit ihm gesprochen?» Meine Gedankten rasten. Wie geht es ihm? Wie sieht er aus? Was hat er gesagt? Tut es ihm leid? Hat er Ihnen gesagt, warum? Ich musste mich schwer konzentrieren, um auch nur einen stimmigen Gedanken aus all dem Chaos herauszufiltern. «Aber er kann überhaupt nichts wissen. Er ist doch die ganze Zeit eingesperrt gewesen. Es sei denn … Sie glauben doch nicht etwa … Sie glauben doch nicht, dass er damals einen Komplizen hatte, oder? Dass sie zu zweit waren? Und dass es der andere Kerl ist, der jetzt wieder damit anfängt? Wäre das möglich?»

«Wie kommen Sie darauf?» Shaw musterte mich aufmerksam. «Halten Sie das für möglich?»

Unsere Blicke trafen sich. «Ich denke, ich habe vor zehn Jahren gelernt, dass so ziemlich alles möglich ist.»

«Aber ganz konkret?», fragte Malone.

Ich sah ihn an. «Ich kann nicht behaupten, mich an irgendetwas zu erinnern, das mich so etwas annehmen ließe, nein. Andererseits hätte ich auch niemals gedacht, dass mein Freund ein Serienmörder ist.» Ich brach ab und atmete tief durch, um meine Stimme zu stabilisieren. «Was hat Will gesagt?»

Ich hatte seinen Namen so lange nicht ausgesprochen, dass sein Klang sich wie ein Fremdkörper in meinem Mund anfühlte, einer mit scharfen Kanten, die schmerzhaft gegen die weiche Haut meiner Kehle drückten.

«Das ist ja lächerlich.» Ich blickte vom einen zum anderen. «Warum sagt er Ihnen erst, dass er etwas weiß, und weigert sich dann zu verraten, was es ist, nachdem Sie zu ihm gekommen sind? Das ergibt doch keinen Sinn.»

«Was ich meinte», sagte Malone, «ist, dass er es nicht uns sagen wollte.»

Shaw lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und murmelte vor sich hin.

Ich glaubte, etwas wie Zeitverschwendung aufzuschnappen.

«Zugegeben», sagte Malone, «es ist unwahrscheinlich, dass Will tatsächlich wertvolle Informationen hat. Aber das ändert nichts daran, dass er hier eine maßgebliche Rolle spielt, auch wenn er nicht aktiv beteiligt gewesen ist. Unsere Arbeitshypothese ist, dass es sich um einen Nachahmungstäter handelt. Wenn das der Fall ist, dann haben wir nächste Woche um diese Zeit eine weitere tote Studentin am Hals. Ein drittes unschuldiges Opfer, es sei denn, wir schnappen diesen Kerl. Und wenn wir nicht alles tun, was im Bereich unserer Möglichkeiten liegt, egal wie unbedeutend oder unwahrscheinlich es erscheinen mag, dann haben wir den Tod dieses Mädchens nicht nur am Hals, sondern auch auf dem Gewissen.»

Ich konnte ihm nicht mehr ganz folgen. «Ich glaube, ich habe da irgendetwas nicht mitbekommen …?»

«Wir können Sie nicht dazu zwingen», sagte Malone. «Deshalb sind wir hier, um sie darum zu bitten.»

«Mich um was zu bitt…» Ich brach ab, als es mir dämmerte.

Nein. Kommt nicht in Frage. Auf gar keinen Fall.

«Wie wäre es, wenn Sie es sich noch einmal durch den Kopf gehen lassen?», sagte Malone.

«Das brauche ich nicht.»

«Wenn Sie sich Sorgen wegen der Presse machen, die wird kein Problem darstellen.»

Vor meinem inneren Auge blitzte die Titelseite einer Klatschzeitung auf. Sie war zur Hälfte mit einem Foto von mir in abgeschnittenen Shorts und Bikini-Top ausgefüllt, einer Aufnahme aus einem Mädelsurlaub auf Teneriffa, im Sommer vor meinem Studienbeginn. Die andere Hälfte wurde ganz von der Schlagzeile eingenommen: DIE MÖRDERBRAUT DES SERIENKILLERS.

Das Foto hatten sie von meiner Facebook-Seite, die ich erst ein paar Wochen vor Wills Verhaftung eingerichtet hatte. Das war noch gewesen, bevor die Presse Wind davon bekam, dass Social-Media-Profile Fundgruben persönlicher Informationen sind, die nur darauf warten, ausgeschlachtet zu werden. Vermutlich hatte irgendeiner meiner Facebook-Freunde Screenshots von den Fotos gemacht und sie weiterverkauft.

«Wir werden alles unternehmen, um dafür zu sorgen, dass Ihre Verwicklung in den Fall streng geheim gehalten wird», sagte Malone gerade. «Wir werden Sie hinein- und wieder herausschleusen, bevor irgendjemand erfährt, dass Sie in Dublin sind.»

«Nein», wiederholte ich.

«Tja», sagte Shaw und hievte sich von seinem Stuhl hoch, «dann vielen Dank für den Kaffee.» Er warf einen Blick zu Malone, und sein Gesichtsausdruck besagte, dass er von vornherein gewusst habe, dass es so laufen werde.

«Warum nehmen Sie sich nicht den Tag über Zeit zum Nachdenken?», schlug Malone vor und stand ebenfalls auf. «Wie ich schon sagte, wir können Sie nicht dazu zwingen.

«Liz?», flüsterte ich. «Bist du wach?»

Das Licht im Zimmer war schwach und bläulich grau. Früher Morgen, noch nicht richtig hell. Es war kühl – wir hatten die Klimaanlage angestellt, bevor wir ins Bett gegangen waren –, aber die gerötete Haut auf meinem Rücken und meinen Armen brannte immer noch heiß, jeder Kontakt mit dem Laken war wie das raue Kratzen von Schmirgelpapier. Verschiedene sommerliche Kleidungsstücke und Accessoires nahmen in den Schatten Gestalt an, unordentliche kleine Haufen auf dem gekachelten Fußboden. Ich konnte die neonfarbenen Träger von Bikini-Oberteilen erkennen, den Batik-Druck von Strandponchos, die wir an einem Stand am Meer gekauft hatten, Strohhüte, feuchte Handtücher, Badelatschen aus Plastik. Leere oder halb ausgetrunkene Wasserflaschen in verschiedenen Größen standen wie ein Publikum auf der zerkratzten Mahagoni-Kommode an der Wand gegenüber. Draußen war die Ferienanlage ganz untypisch ruhig, abgesehen vom Zirpen der Zikaden.

In dem anderen Einzelbett begann Liz sich zu regen.

«Ich fühl mich nicht gut», sagte ich ins Halbdunkel.

Ihre erste Reaktion war ein unverständliches Gemurmel, die Stimme noch schlaftrunken. Aber dann drehte sie sich zu mir um. «Wie spät ist es?» Sie fuhr sich mit der Hand durchs Haar, wischte sich ein paar eigensinnige Strähnen aus den Augen. «Ali?» Liz stützte sich auf ihren Ellbogen hoch. «Was ist los?»

Ich fühlte mich grässlich.

«Ich glaube, ich habe eine Lebensmittelvergiftung», sagte ich kläglich.

«Was? Warum?» Liz setzte sich auf, schwang ihre spindeldürren Beine auf den Fußboden. «Hast du dich übergeben?»

«Nein, aber ich glaube, das kommt noch.»

«Und hast du …»

«Ja.» Ich zog eine Grimasse. «Zweimal.»

«Oh Mann.»

«Ich glaube, es waren die Burger. Ich war die Einzige, die einen mit Huhn hatte, oder? Aber» – ich sog scharf die Luft ein, als mich irgendwo in meinem Inneren ein besonders schmerzhaftes Kneifen erfasste – «diese Sambuca-Shots waren wahrscheinlich auch nicht die beste Idee. Und dann war da noch das Eis. Stellen sie das aus Leitungswasser her? Darf man das Leitungswasser hier überhaupt trinken?»

«Wir sind auf Teneriffa», sagte Liz, «nicht in Kalkutta.»

Unser dritter Tag in Playa de las Americas brach gerade an. Gerade mal unser dritter Tag, und ich saß hier vornübergebeugt mit Bauchschmerzen. In einem anderen Zimmer der Wohnung, vermutlich noch in tiefem Schlaf, befanden sich zwei weitere Mädchen, und die übrigen acht Mitglieder der Gruppe waren auf die Ferienanlage verteilt. Bisher hatten wir unsere Zeit damit verbracht, Sonnenbäder zu nehmen, Alkohol zu trinken und unser Geld zum Fenster hinauszuwerfen,

Tatsächlich hatte ich geträumt, dass ich mein gesamtes Budget für die zwei Wochen versehentlich schon in den ersten paar Tagen aufgebraucht hatte, und dachte, es wäre dieser Schock gewesen, der mich mitten in der Nacht geweckt hatte. Dann hatte ich den stechenden Schmerz gespürt, das plötzliche Rumoren in meinem Bauch, und mir war klargeworden, dass ich ernsthafte Probleme hatte.

«Achtung», sagte Liz. «Ich schalte jetzt das Licht an.»

Es machte Klick, und gleich darauf wurde es blendend hell. Als meine Augen sich an das Licht gewöhnten, sah ich, dass Liz sich über ihren Koffer gebeugt hatte und darin herumkramte. Er lag noch genau dort auf dem Boden, wo sie ihn am ersten Tag gelassen hatte. Ihr welliges blondes Haar war wirr, die Augen waren noch von dickem Eyeliner gerändert, und das Schlaf-T-Shirt, das sie sich betrunken übergezogen hatte, war auf links gedreht, sodass das Etikett und die Nähte deutlich zu sehen waren.

«Das hier ist genau das Richtige», sagte sie und warf mir etwas zu. Sie wählte eine der Wasserflaschen und reichte sie mir. «Nimm zwei davon.»

«Was ist das?»

«Imodium. Die sorgen dafür, dass alles drinnen bleibt und nichts hochkommt.»

Ich schluckte die Tabletten mit einem kräftigen Zug Wasser hinunter.

Liz verließ das Zimmer und kam eine halbe Minute später mit der großen Plastikschüssel aus dem Spülbecken, sauberen Handtüchern und einem eiskalten Sportgetränk aus dem Kühlschrank zurück. Sie stellte alles in meiner Griffweite ab.

«Gott», sagte sie, «du siehst furchtbar aus.»

Ich lächelte schwach. «Danke.»

«Jederzeit.» Sie klopfte mir auf die Schulter und zog erschrocken ihre Hand zurück. «Meine Güte, ist das heiß!»