Verliebt sein ist ein wunderbares Gefühl. Dieses »Kribbeln im Bauch«. Die Gänsehaut selbst bei jedem kleinen Gedanken an den »Liebling«. Feuchte Hände vor Aufregung und die Angst, etwas zu vermasseln. Sehnsuchtsvolle Tagträume und beim Einschlafen. Das Funkeln beim Sich-in-die-Augen-Schauen und das Knistern bei heimlichen Berührungen …
Die erste Liebe vergisst man nie! Für die einen war es die sprichwörtliche »Sandkastenliebe«, für andere eine Grundschulliebe oder ein »Schwarm« in der Pubertät. Die erste »kleine« Liebe und erst recht die »erste große Liebe« behält ihren Platz in der Lebenserinnerung.
Glück entsteht, wenn aus dem Verliebtsein echte, tiefe Liebe wächst. Wenn zwei Menschen sich einander öffnen und miteinander vertraut werden, sich ihre schönen Seiten und Stück für Stück auch ihre Schattenseiten zeigen, wenn ihre Liebe wächst und tiefer wird und sie beschließen: Wir wollen unser Leben lang zusammenbleiben.
Wenn das geschieht, ist das ein Wunder. Niemand kann erklären, wie das geschieht. Und es ist auch ein Wagnis – denn niemand weiß, was die beiden an Schönem und Schwierigem miteinander erleben werden.
Das Verliebtsein und die Liebe gehören zum Menschsein untrennbar dazu. Der Mensch ist ja auf das Zusammensein mit anderen Menschen und in besonderer Weise auf die Zweierbeziehung ausgerichtet. Der andere Mensch ist Gegenüber und Ergänzung, man findet sich in ihm wieder und wird durch ihn verändert. Die Liebe ist ein wahres Gottesgeschenk, denn Gott hat die Menschen als Mann und Frau geschaffen, hat ihnen Vertrauen, Offenheit und Leidenschaft geschenkt.
Liebe ist ein kraftvoller innerer Motor. Vieles, was wir tun – Gutes und leider auch weniger Gutes –, tun wir aus Liebe. Vieles ertragen wir, vieles halten wir aus, vieles versuchen oder lassen wir, um geliebt zu werden. Als Kinder brauchen wir Zuneigung und Geborgenheit, sonst verkümmern wir. Als Erwachsene gibt uns die Liebe eines anderen Menschen Rückhalt und Selbstbewusstsein. Menschen, die sich geliebt wissen, können viel ertragen. Auch Ehepaare halten viel miteinander aus und durch. Sie erfahren, dass Belastungen sie zusammenschweißen und die Liebe darunter wachsen kann.
Mit den Jahren verändert sich die Liebe zwischen zwei Menschen. Sie wird häufig weniger leidenschaftlich, aber auch weniger launisch. Sie wird im guten Sinne alltäglich und damit belastbarer. »Wir können uns aufeinander verlassen«, sagen viele ältere Paare. »Wir haben unsere Streitigkeiten ausgetragen, wir wissen, was den anderen verletzt und stört. Deshalb wird unsere Ehe mit jedem Jahr harmonischer.« Und: »Es ist spannend, sich miteinander zu verändern, auf Herausforderungen gemeinsam zu reagieren.«
Wie schön, wenn das gelingt – und dabei keine Langeweile aufkommt, sondern die Spannung und der Respekt füreinander und die Neugier aufeinander bleiben. Der andere wird zwar vertraut, aber keineswegs bekannt.
Am Ende eines Lebens, wenn Bilanz gezogen wird, was sich gelohnt hat, was vergeblich war, was bleibt, kommen Menschen häufig zu dem Ergebnis: »Was zählt, ist die Liebe, die wir gegeben und empfangen haben.« Kein Geld der Welt, keine Karriere in Schwindel erregende Höhen, kein Nobelpreis kann die Liebe aufwiegen. Wer um seiner selbst willen angenommen ist, wer geborgen sein kann, wer für einen anderen Menschen im Mittelpunkt steht – der ist wirklich reich.
Leider ist manche Liebe mit Problemen belastet. Teils kommen sie von außen: der Druck der Familie, wirtschaftliche Schwierigkeiten, Krankheit. Andere Probleme stecken auch in der Kombination der beiden Liebenden. Die Psychologie erklärt, dass wir uns oft in einen Menschen verlieben, von dem wir hoffen, er werde die Defizite in unserem Leben ausfüllen. Oder wir verlieben uns in jemanden, der uns an Vater oder Mutter erinnert und das, was sie an uns versäumten, nachholt. Mit solchen – meist unbewussten – Anforderungen überfordern wir aber den anderen Menschen, der ja er selbst und nicht unser Wunschbild ist. Es bedeutet deshalb Arbeit, das Verliebtsein in echte Liebe zu verwandeln, denn die nimmt ja den anderen auch mit seinen »anderen Seiten« wahr und ernst und an.
Liebe kann auch scheitern. Warum sie zerbricht, ist genauso rätselhaft wie ihr Entstehen. Es ist schmerzhaft, wenn eine Beziehung, die so hoffnungsvoll gestartet war, in die Brüche geht. Oft wird in aller Öffentlichkeit »schmutzige Wäsche gewaschen«, der aufgestaute und nie herausgelassene Ärger von Jahren bricht sich haltlos Bahn und zerstört, was vielleicht noch zu retten gewesen wäre. Enttäuschung und Schmerz sitzen tief. Psychologen sagen, dass es lange dauert, bis eine Trennung wirklich überwunden ist: Mindestens ein Viertel der Zeit, die eine Beziehung dauerte, braucht die Trauer um die zerbrochene Liebe. Manche Menschen kommen nie wieder über eine Trennung hinweg.
Ähnlich schlimm ist es, wenn Liebe nicht erwidert wird. Wenn der eine sich in Sehnsucht verzehrt, der andere aber die Gefühle nicht teilt – oder gar lächerlich macht. Zurückgestoßene Liebe kann sich rasch in ihr Gegenteil verwandeln: in abgrundtiefen Hass.
Eben weil die Liebe ein so tief gehendes Gefühl und so eng mit unserem innersten Verlangen verbunden ist, kann sie in Gewalt umschlagen. Harmlose Eifersucht kennt jeder. Die Reaktion auf enttäuschte Liebe kann aber über Körperverletzung bis zum Totschlag reichen.
Die Liebe durchzieht das ganze Leben. Und weil sie ein zentrales Lebensthema ist, ist sie auch ein intensives Bibelthema. Die Liebesgeschichten der Bibel erzählen davon, wie Paare sich finden – und wie der Alltag ihre Liebe belastet. Sie erzählen von Dreiecksbeziehungen ebenso wie von enttäuschter Liebe. Sie lassen die Verbindung von Liebe und Politik ebenso wenig aus wie das dunkle Thema der Vergewaltigung. Dass Liebe blind macht und so mancher aus Liebe den Kopf verlor, wusste man in biblischen Zeiten auch schon. Und auf die erfüllte Liebe singt die Bibel ein seitenlanges, aufregendes Loblied.
Dass Gott und die Liebe miteinander zu tun haben, weiß die Bibel selbstverständlich auch zu berichten. So machen etliche Paare der Bibel die Erfahrung, dass Gott eingreift, um ihre Liebe zu retten! Und dass »Gott die Liebe ist«, das erlebten die Propheten des Alten Testamentes ebenso, wie es Jesus vorlebte.
Lesen Sie mit Vergnügen und mit Neugier die biblischen Liebesgeschichten. Vieles kommt Ihnen sicher bekannt vor, anderes ist eine Entdeckungsreise in ein unbekanntes Land, das Sie in Erstaunen versetzen wird.
Wie aufregend und spannend die erblühende Liebe zwischen zwei Menschen ist, wie ihre Leidenschaft erglüht, die beiden sich heimlich treffen, vorsichtig ihre Körper ertasten, sich vor Sehnsucht verzehren, wie Eifersucht sie heimsucht und sie sich dann doch wieder finden und vereinen – dies alles besingen die Hochzeitslieder, die im Hohenlied des Alten Testamentes gesammelt sind. Sie finden anrührende Worte für die Hingabe und das tiefe Vertrauen liebender Menschen. Wunderbar poetische Verse sind es, ohne falsche Scham, doch niemals anzüglich.
Die Lieder sprechen vorsichtig tastend von Liebe und Leidenschaft, mit erotischen Bildern und Beispielen aus dem Alltag der Hirten und Bauern: Der Bräutigam vergleicht das Haar seiner Geliebten mit eine Herde Ziegen, ihre Zähne mit der Farbe frisch geschorener Schafe. Die Braut wiederum freut sich auf ihren Liebhaber, dessen Augen wie Tauben sind und dessen Haar schwarz wie ein Rabe.
Auch für die Brüste, für die Figur, für Liebkosen und Begehren finden die Liebenden zärtliche Umschreibungen: »Deine Brüste sind zwei Zicklein, Zwillingsjunge der Gazelle« (4,5); »Meine Braut ist ein Garten voll erlesener Pflanzen … Aber noch sind mir Garten und Quelle verschlossen!« (4,12.15).
Diese Lieder sind im alten Israel bei Hochzeiten gesungen worden. Sie entstanden im Laufe mehrerer Jahrhunderte. Die Melodien, zu denen sie gesungen wurden, kennen wir – wie bei den Psalmen – leider nicht.
Wie kommen solche Hochzeitslieder, die überfließen von der Lust auf Leidenschaft, in die Bibel, die doch vielen Menschen als lust- und körperfeindlich gilt? Zum einen, weil die Bibel diesem Vorurteil nun wirklich nicht entspricht. Und zum anderen, weil diese Hochzeitslieder auch auf Gott hin ausgelegt wurden und werden: als Bilder und Umschreibungen für die große Liebe Gottes zu seinen Menschen. Wie ein Bräutigam seine Braut, wie eine Braut ihren Bräutigam liebt, ihm nahe sein will, sich für sie verzehrt – so intensiv liebt auch Gott seine Menschen, so sehr will er bei ihnen sein, so selbstverständlich gibt er alles für sie hin.
Es gibt nicht viele Religionen, die von der Liebe Gottes sprechen – und noch viel weniger, die die Liebe Gottes mit der Liebe der Menschen vergleichen. So gesehen ist die Bibel eine einzige große Liebesgeschichte, ein Buch der großen Liebe Gottes. Und wie heiß seine Liebe zu uns brennt, das drücken die Hochzeitslieder im Hohenlied aus. Sie sind quasi durchsichtig für die Liebe Gottes. (Hoheslied 1–8)
Das schönste aller Lieder, von Salomo.
Die Rollenangaben (SIE, ER, usw.) sind nicht Bestandteil des Bibeltextes, sondern zur besseren Orientierung hinzugefügt.
SIE
Komm doch und küss mich!
Deine Liebe berauscht mich
mehr noch als Wein.
Weithin verströmen
deine kostbaren Salben
herrlichen Duft.
Jedermann kennt dich,
alle Mädchen im Lande
schwärmen für dich!
Komm, lass uns eilen,
nimm mich mit dir nach Hause,
fass meine Hand!
Du bist mein König!
Deine Zärtlichkeit gibt mir
Freude und Glück.
Rühmen und preisen
will ich stets deine Liebe,
mehr als den Wein!
Mädchen, die schwärmen,
wenn dein Name genannt wird,
schwärmen zu Recht!
SIE
Schwarz gebrannt hat mich die Sonne,
schwarz wie Beduinenzelte,
wie die Decken Salomos.
Trotzdem bin ich schön, ihr Mädchen
aus der Stadt Jerusalem!
Seht nicht so auf mich herunter,
weil ich dunkler bin als ihr.
Draußen muss ich alle Tage
meiner Brüder Weinberg hüten.
Doch für meinen eigenen Weinberg
– für mich selbst – kann ich nicht sorgen;
dafür bleibt mir keine Zeit!
SIE
Sag mir, Geliebter,
wo kann ich dich finden?
Wo ruhn deine Schafe
mittags, wenn’s heiß wird?
Andere Hirten,
was sollen sie denken,
wenn ich nach dir frage,
überall suche?
ER
Musst du mich fragen,
du Schönste der Frauen?
Du musst es doch wissen,
wo du mich findest!
Nimm deine Zicklein
und folge dem Schafsweg!
Dort wirst du mich treffen,
nah bei den Zelten.
ER
Prächtig und schön siehst du aus, meine Freundin,
stolz wie die Stute an Pharaos Wagen!
Schmückende Kettchen umrahmen die Wangen
und deinen Hals zieren Schnüre mit Perlen.
Aber noch schöneren Schmuck sollst du haben:
silberne Perlen an Kettchen aus Gold!
SIE
Solange mein König mir nahe ist,
verbreitet mein Nardenöl seinen Duft.
Mein Liebster liegt bei mir, an meiner Brust,
er duftet wie würziges Myrrhenharz,
so kräftig wie Blüten vom Hennastrauch;
im Weinberg von En-Gedi wachsen sie.
ER
Schön bist du, zauberhaft schön, meine Freundin,
und deine Augen sind lieblich wie Tauben!
SIE
Stattlich und schön bist auch du, mein Geliebter!
Sieh, unser Lager ist blühendes Gras,
Balken in unserem Haus sind die Zedern
und die getäfelten Wände Zypressen.
SIE
Eine Frühlingsblume bin ich,
wie sie in den Wiesen wachsen,
eine Lilie aus den Tälern.
ER
Eine Lilie unter Disteln –
so erscheint mir meine Freundin
unter allen anderen Mädchen.
SIE
Wie ein Apfelbaum im Walde
ist mein Liebster unter Männern.
Seinen Schatten hab ich gerne,
um mich darin auszuruhen;
seine Frucht ist süß für mich.
SIE
Ins Festhaus hat mein Liebster mich geführt;
Girlanden zeigen an, dass wir uns lieben.
Stärkt mich mit Äpfeln, mit Rosinenkuchen,
denn Liebessehnsucht hat mich krank gemacht.
Sein linker Arm liegt unter meinem Kopf
und mit dem rechten hält er mich umschlungen.
Ihr Mädchen von Jerusalem, lasst uns allein!
Denkt an die scheuen Rehe und Gazellen:
Wir lieben uns, schreckt uns nicht auf!
SIE
Mein Freund kommt zu mir!
Ich spür’s, ich hör ihn schon!
Über Berge und Hügel
eilt er herbei.
Dort ist er –
schnell wie ein Hirsch,
wie die flinke Gazelle.
Jetzt steht er vorm Haus!
Er späht durch das Gitter,
schaut zum Fenster herein.
Nun spricht er zu mir!
ER
Mach schnell, mein Liebes!
Komm heraus, geh mit!
Der Winter ist vorbei mit seinem Regen.
Es grünt und blüht, so weit das Auge reicht.
Im ganzen Land hört man die Vögel singen;
nun ist die Zeit der Lieder wieder da!
Sieh doch: Die ersten Feigen werden reif;
die Reben blühn, verströmen ihren Duft.
Mach schnell, mein Liebes!
Komm heraus, geh mit!
Verbirg dich nicht vor mir wie eine Taube,
die sich in einem Felsenspalt versteckt.
Mein Täubchen, zeig dein liebliches Gesicht
und lass mich deine süße Stimme hören! …
DIE MÄDCHEN
Ach, fangt uns doch die Füchse,
die frechen, kleinen Füchse!
Sie wühlen nur im Weinberg,
wenn unsre Reben blühn.
SIE
Nur mir gehört mein Liebster
und ich gehöre ihm!
Er findet seine Weide,
wo viele Blumen stehn.
Am Abend, wenn es kühl wird
und alle Schatten fliehn,
dann komm zu mir, mein Liebster!
Komm, eile wie ein Hirsch;
sei flink wie die Gazelle,
die in den Bergen wohnt.
SIE
Nachts lieg ich auf dem Bett und kann nicht schlafen.
Ich sehne mich nach ihm und suche ihn,
doch nirgends kann mein Herz den Liebsten finden.
Ich seh mich aufstehn und die Stadt durcheilen,
durch Gassen streifen, über leere Plätze –
ich sehne mich nach ihm und suche ihn,
doch nirgends kann ich meinen Liebsten finden.
Die Wache greift mich auf bei ihrem Rundgang.
»Wo ist mein Liebster, habt ihr ihn gesehn?«
Nur ein paar Schritte weiter find ich ihn.
Ich halt ihn fest und lass ihn nicht mehr los;
ich nehm ihn mit nach Hause in die Kammer,
wo meine Mutter mich geboren hat.
Ihr Mädchen von Jerusalem, lasst uns allein!
Denkt an die scheuen Rehe und Gazellen:
Wir lieben uns, schreckt uns nicht auf!
DIE ZUSCHAUER
Was kommt dort herauf aus der Wüste?
Wie Rauchsäulen zieht es heran;
es duftet nach Weihrauch und Myrrhe,
nach allen Gewürzen der Händler.
Schaut hin! Das ist Salomos Sänfte,
geleitet von sechzig Beschützern,
von Israels tapfersten Helden,
im Kampfe erprobt und bewährt.
Das Schwert hat ein jeder am Gürtel
zum Schutz gegen nächtliche Schrecken.
Aus edelstem Holz ließ der König
den tragbaren Thronsessel machen,
die Säulen mit Silber beschlagen,
die Lehne mit Gold überziehen.
Aus purpurnem Stoff sind die Kissen,
mit Liebe gewebt und bestickt
von Jerusalems Frauen und Mädchen.
Ihr Frauen von Zion, kommt her,
den König zu sehn und die Krone,
mit der seine Mutter ihn schmückte
zum heutigen Tag seiner Hochzeit,
dem Tag voller Freude und Glück.
ER
Preisen will ich deine Schönheit,
du bist lieblich, meine Freundin!
Deine Augen sind wie Tauben,
flattern hinter deinem Schleier.
Wie die Herde schwarzer Ziegen
talwärts vom Berg Gilead zieht,
fließt das Haar auf deine Schultern.
Weiß wie frisch geschorne Schafe,
wenn sie aus der Schwemme steigen,
glänzen prächtig deine Zähne,
keiner fehlt in seiner Reihe.
Wie ein scharlachrotes Band
ziehn sich deine feinen Lippen.
Wangen hinterm Schleier
schimmern rötlich wie die Scheibe
eines Apfels vom Granatbaum.
Wie der Turm des Königs David,
glatt und rund, geschmückt mit tausend
blanken Schilden, ragt dein Hals.
Deine Brüste sind zwei Zicklein,
Zwillingsjunge der Gazelle,
die in Blumenwiesen weiden.
Wenn die Schatten länger werden
und der Abend Kühle bringt,
komm ich zu dir, ruh auf deinem
Myrrhenberg und Weihrauchhügel.
Deine Schönheit will ich preisen!
Du bist lieblich, meine Freundin,
und kein Fehler ist an dir!
ER
Komm, meine Braut, geh doch mit, lass die Berge!
Lass den gefahrvollen Libanon, komm!
Fort von dem Gipfel des Berges Amana,
fort vom Senir und vom ragenden Hermon,
fort von den Lagerplätzen der Löwen,
fort von den Bergen der Panther, komm mit!
ER
Verzaubert hast du mich,
Geliebte, meine Braut!
Ein Blick aus deinen Augen
und ich war gebannt.
Sag, birgt er einen Zauber,
an deinem Hals der Schmuck?
Wie glücklich du mich machst
mit deiner Zärtlichkeit!
Mein Mädchen, meine Braut,
ich bin von deiner Liebe
berauschter als von Wein.
Du duftest süßer noch
als jeder Salbenduft.
Wie Honig ist dein Mund,
mein Schatz, wenn du mich küsst,
und unter deiner Zunge
ist süße Honigmilch.
Die Kleider, die du trägst,
sie duften wie der Wald
hoch auf dem Libanon.
ER
Meine Braut ist ein Garten
voll erlesener Pflanzen!
An Granatapfelbäumen
reifen köstliche Früchte.
Herrlich duften die Rosen
und die Blüten der Henna.
Narde, Safran und Kalmus,
alle Weihrauchgewächse,
Zimt und Aloë, Myrrhe,
alle Arten von Balsam
sind im Garten zu finden.
Eine Quelle entspringt dort
mit kristallklarem Wasser,
das vom Libanon herkommt.
Aber noch sind mir Garten
und Quelle verschlossen!
SIE
Kommt doch, ihr Winde,
durchweht meinen Garten!
Nordwind und Südwind,
erweckt seine Düfte!
Komm, mein Geliebter,
betritt deinen Garten!
Komm doch und iss
seine köstlichen Früchte! …
ER
Ich komm in den Garten,
zu dir, meine Braut!
Ich pflücke die Myrrhe,
die würzigen Kräuter.
Ich öffne die Wabe
und esse den Honig.
Ich trinke den Wein,
ich trinke die Milch.
Esst, Freunde, auch ihr,
und trinkt euren Wein;
berauscht euch an Liebe!
SIE
Ich lag im Schlaf, jedoch mein Herz blieb wach.
Da klopft’s! Ich weiß: Mein Freund steht vor der Tür.
ER
»Mach auf, mein Schatz, mach auf, ich will zu dir!
Mein Täubchen, öffne doch, lass mich hinein!
Mein Haar ist nass vom Tau der kühlen Nacht.«
SIE
»Ich habe doch mein Kleid schon ausgezogen
und müsst es deinetwegen wieder anziehn.
Auch meine Füße habe ich gewaschen;
ich würde sie ja wieder schmutzig machen!«
Durchs Fenster an der Tür greift seine Hand;
ich höre, wie sie nach dem Riegel sucht.
Mein Herz klopft laut und wild. Er ist so nah!
Ich springe auf und will dem Liebsten öffnen.
Als meine Hände nach dem Riegel greifen,
da sind sie feucht von bestem Myrrhenöl.
Schnell öffne ich die Tür für meinen Freund;
doch er ist fort, ich kann ihn nicht mehr sehn.
Mein Herz steht still, fast tötet mich der Schreck!
Ich suche meinen Freund, kann ihn nicht finden.
Ich rufe ihn, doch er gibt keine Antwort.
Die Wächter finden mich bei ihrem Rundgang.
Sie schlagen ohne Mitleid auf mich ein
und reißen mir den Umhang von den Schultern.
SIE
Ihr Mädchen alle, ich beschwöre euch:
Wenn euch mein Freund begegnet, sagt ihm doch,
die Liebessehnsucht macht mich matt und krank!
DIE MÄDCHEN
Beschreib ihn uns,
du schönste aller Frauen!
Wer ist es, den du suchst?
Was unterscheidet ihn
von anderen Männern,
dass du uns so beschwörst?
SIE
Mein Liebster ist blühend und voller Kraft,
nur einer von Tausenden ist wie er!
Sein schönes Gesicht ist so braun gebrannt,
sein Haar dicht und lockig und rabenschwarz.
Die Augen sind lebhaften Tauben gleich.
Ganz weiß sind die Zähne, als hätten sie
gebadet in Bächen von reiner Milch.
Die Wangen sind Beete voll Balsamkraut,
die herrlichsten Würzkräuter sprießen dort.
Wie Lilien leuchtet sein Lippenpaar,
das feucht ist von fließendem Myrrhenöl.
Die Arme sind Barren aus rotem Gold,
mit Steinen aus Tarschisch rundum besetzt.
Sein Leib ist ein Kunstwerk aus Elfenbein,
geschmückt mit Saphiren von reinster Art.
Die Beine sind marmornen Säulen gleich,
die sicher auf goldenen Sockeln stehn.
Dem Libanon gleicht er an Stattlichkeit,
den ragenden Zedern an Pracht und Kraft.
Sein Mund ist voll Süße, wenn er mich küsst –
ja, alles an ihm ist begehrenswert!
Seht, so ist mein Liebster und so mein Freund.
Nun wisst ihr’s, ihr Mädchen Jerusalems!
DIE MÄDCHEN
Schnell, sag uns noch,
du schönste aller Frauen:
Wo ging dein Liebster hin?
Wir wollen mit dir gehn
und nach ihm suchen!
Wo könnte er denn sein?
SIE
Er ist in seinem Garten,
wo Balsamsträucher stehn,
wo er die Herde weidet
und schöne Lilien pflückt.
Nur mir gehört mein Liebster
und ich gehöre ihm!
Er findet seine Weide,
wo viele Blumen stehn.
ER
Schön wie Tirza bist du, Freundin,
strahlend wie Jerusalem;
wie ein Trugbild in der Wüste
raubt dein Anblick mir den Atem.
Wende deine Augen von mir,
denn sie halten mich gefangen.
Wie die Herde schwarzer Ziegen
talwärts vom Berg Gilead zieht,
fließt das Haar auf deine Schultern.
Deine Zähne glänzen prächtig.
Weiß sind sie wie Mutterschafe,
wenn sie aus der Schwemme steigen;
jedes kommt mit seinem Jungen,
keins ist unfruchtbar geblieben:
Keiner fehlt in seiner Reihe.
Deine Wangen hinterm Schleier
schimmern rötlich wie die Scheibe
eines Apfels vom Granatbaum.
Lass den König sechzig Frauen,
achtzig Konkubinen haben,
dazu Mädchen ohne Zahl!
Meine Liebe gilt nur einer: