
Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel «Godsend» bei Farrar, Straus and Giroux, New York.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Februar 2019
Copyright © 2019 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg // «Godsend» Copyright © 2018 by John Wray
Redaktion Mirjam Madlung
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
Covergestaltung any.way, Hamburg,
nach einem Entwurf von Anzinger und Rasp, München
Coverabbildung Umschlagillustration: Eckart Hahn
Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.
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Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
ISBN 978-3-644-00116-9
www.rowohlt.de
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
ISBN 978-3-644-00116-9
Gewidmet den Männern und Frauen von CAIR, dem Rat für amerikanisch-islamische Beziehungen, und den Zielen, die sie verfolgen
Lieber Lehrer,
nie würde ich es hierher schaffen, hast du gesagt, und doch bin ich da.
Ich schreibe diese Zeilen an ebenjenem Ort, von dem du mir berichtet hast; und er ist genauso schön und schrecklich, wie du es gesagt hast. Du sprachst von blauem Himmel, von Kälte, schlechten Straßen und noch schlechterem Wasser. Du sprachst von Schnee in den Häusern und Kot auf den Straßen. Ein «gottesfürchtiges Volk», das hast du gesagt. All diese eitlen Beschreibungen. All das Gerede von oben herab, als wäre ich sechs Jahre alt.
Es ist kalt hier, stimmt, aber ich spüre die Kälte nie. Ich bin mit Menschen zusammen, die mich kennen. Ich bin mit Menschen zusammen, die für mich sterben würden, und an meinen besten Tagen, dann, wenn ich keine Angst habe, weiß ich, ich täte es auch für sie.
Gibt es jemanden, für den du das tun würdest?
Du hattest recht, was dieses Land angeht, damit, wie es mich aufnehmen würde. Lieber Lehrer, ich hätte es besser wissen müssen. Ich hätte vorsichtig sein sollen. Du hattest recht mit allem, nur in einer Sache hast du dich geirrt.
Du hast gesagt, ich würde es nie bis hierher schaffen. Und doch bin ich da.
An dem Tag, an dem sie ihr Visum erhielt, kam sie nach Hause und sah, dass alle Bilder auf dem Kaminsims zur Wand gedreht waren. Ihr war nicht danach, sie zu berühren. Von vorn hatten sie gut ausgesehen, wenn sich das Licht im matten Nickelrahmen spiegelte; ihre Rückseiten aber zeigten, wie billig sie waren. Graue, gestanzte Pappe, kaum dicker als Papier. Das waren keine heiligen Reliquien; Bedeutung besaßen sie nur für drei Leute unter all den ungezählten Milliarden, Gläubigen wie Ungläubigen. Und jetzt nicht mal mehr für diese drei.
Sie fand ihre Mutter im Schlafzimmer bei den Ridgebacks und dem Pitbull. Es roch nach kaltem Rauch, Lysol und Bier. Die Hunde hoben den Kopf, sobald sie die Tür öffnete, ihre Mutter aber rührte sich nicht und starrte, beide Hände schlaff im Schoß, aus dem Fenster in die Sackgasse. Auf dem ärmellosen T-Shirt stand SANTA ROSA RAZZIA. Steif saß sie da, sittsam, auf der dicken Doppelbettmatratze, die nackten Füße fest auf den Boden gestemmt. Ihre Haltung war die einer Wartenden, einer Bittstellerin. Die junge Frau am Fußende des Bettes musterte das stolze, verfallene Profil und versuchte wie so oft, eine Ähnlichkeit zu entdecken. Zum ersten Mal in ihrem Leben, in all ihren achtzehn Jahren, brauchte sie nicht zu raten, was ihre Mutter hören wollte.
—Es ist angekommen, sagte sie.
—Was denn?
—Das weißt du doch. Mein Visum.
Ihre Mutter machte eine abschätzige Geste.
—Ich habe schon geglaubt, es käme nicht mehr rechtzeitig. Dachte ich wirklich. Und wenn es nicht gekommen wäre …
—Du hast gesagt, du bist um fünf wieder zu Hause. Um fünf Uhr spätestens. Das hast du gesagt, und ich habe meinen ganzen Tag danach eingerichtet.
Sie sah hinab auf den Pitbull. —Ich komme spät, ich weiß. Bin noch durch die Gegend gefahren.
—Denk nicht, ich weiß nicht, wo du gewesen bist, Aden Grace. Halte mich bloß nicht für eine, die Kacke nicht von Karamell unterscheiden kann.
—’tschuldige. Sie kraulte den Pitbull zwischen den Ohren. —Ich will dir ja gar nichts verheimlichen, Mom. Bin nur aufgeregt, weißt du. Bin vielleicht sogar …
—Ich habe dich gebeten, mich nicht anzulügen. So viel Entgegenkommen bist du mir schuldig. Findest du nicht? Und ich habe dich gebeten, mein Leben nicht komplizierter zu machen, als es ist.
—Morgen um diese Zeit bin ich weg, sagte die junge Frau. —Ich schätze, das macht so manches weniger kompliziert.
Ihre Mutter wandte sich zu ihr um. —Glaubst du vielleicht, ich zähle die Minuten, bis du in diesem Flugzeug sitzt? Schau mich an, Aden. Glaubst du das wirklich?
—Nein, glaube ich nicht.
—Dann ist’s ja gut.
—Ich glaube, du wartest nur darauf, dass das Schlimmste geschieht.
Ihrer Mutter entfuhr ein abgehacktes Lachen. —Dein alter Dad hat mir mal das Gleiche gesagt. Weißt du, was dein Problem ist, Claire, hat er gesagt. Du rechnest immer mit dem Schlimmsten. Mit dem Schlimmsten bei einer Person, dem schlimmsten Ende der jeweiligen Situation. Wieder lachte sie. —Dem schlimmsten Ende der jeweiligen Situation. Genau das waren seine Worte.
—Du bist betrunken.
—Hundert Punkte, meine Kleine. Darfst dir was drauf einbilden.
—Ich hätte es dir nicht mal sagen müssen. Schließlich bin ich alt genug. Ich könnte auch einfach meine Sachen packen und zur Tür hinausspazieren.
—Aber genau das tust du doch, wenn ich mich nicht täusche. Spazierst einfach zur Tür hinaus. Oder habe ich irgendwas nicht mitbekommen?
Das Licht über der Sackgasse wallte trübe gegen den Hügel und glomm in der pollendämmrigen Luft, derselben Luft, in der sie sich von klein auf bewegt und die sie ihr Leben lang geatmet hatte. Ein Kolibri umflog den leeren Futterspender am Pool. Er war schon seit Tagen leer. Sie fragte sich, wie oft der kleine leuchtende Vogel noch wiederkommen würde.
—Versuch dran zu denken, den Spender wieder aufzufüllen, sagte sie.
Ihre Mutter fuhr sich mit drei Fingern durchs Haar. —Triffst du ihn, bevor du verschwindest? Gehört das zu deinem Plan?
—Weiß nicht.
—Du weißt nicht gerade viel, oder?
—Kann sein, dass ich noch bei ihm vorbeigehe.
—Ich habe dich nie gefragt, woher du das Geld für dein Ticket hast. Schätze, ich sollte die Antwort kennen.
—Du irrst dich. Ich habe ihn Weihnachten um Geld gebeten, aber er hat gesagt, das liegt außerhalb seiner Obvenienz.
—Seiner was?
—Genau das hat er gesagt. Er meinte, ich soll nach Hause gehen und das Wort nachschlagen.
—Tja, typisch unser Professor. Sie hüstelte in die Faust. —Aber ich sage dir was, ich wette, dein Lebensplan geht ihm runter wie Öl. Bestimmt fühlt er sich bestätigt und gerechtfertigt.
—Er hat keinen Grund, sich deshalb irgendwie zu fühlen. Nichts von dem, was ich vorhabe, geschieht seinetwegen.
—Was glaubst du eigentlich, mit wem du sprichst, Aden? Denkst du, du könntest mir was vormachen?
—Ich sage es nur so deutlich wie möglich, aber wenn du es nicht kapieren willst, kann ich dir auch nicht helfen.
—Wer Ohren hat, der höre, erwiderte ihre Mutter.
—Ganz genau.
—Stammt allerdings aus einem anderen Buch, nicht aus dem in deiner Tasche. Sie krallte sich mit den Zehen in den Teppich. —Das Buch hätte ich dich auswendig lernen lassen sollen.
—Versucht hast du es ja, sagte die junge Frau.
—Hast du gemerkt, wie? Immerhin etwas.
—Es ist nicht deine Schuld, dass ich so geworden bin. Sie knabberte an ihrem Daumennagel. —Du hast getan, was du konntest.
Ihre Mutter wandte sich vom Fenster ab. —Ich bin müde. Geh, lass mich allein.
—Nur wenn du mir versprichst, dass du schläfst.
—Ich schlafe, wenn ich so weit bin. Sie streckte den Rücken und zündete sich eine Zigarette an. —Kann nicht behaupten, dass mir dein gottverdammtes Getue fehlen wird.
Als die junge Frau sich zum Gehen wandte, donnerte ein Flugzeug über sie hinweg. Das Haus lag in der Flugschneise des San Francisco Airports, und sie hatte die vorüberfliegenden Flugzeuge seit jeher gemocht. Es war ein lieblos gebautes Haus, billig wie die Bilderrahmen auf dem Kaminsims, doch wenn es erbebte, fühlte sie sich von der Welt weniger getrennt.
—Ich gehe spazieren, sagte sie. —Bin in einer Stunde zurück. Dann mache ich uns was zum Abendbrot.
—Wie du meinst.
—Er hat keinen Penny bezahlt. Ich habe es mir von meinem Lohn abgespart. Und die Kirche hat mir einen Rabatt auf das Ticket gegeben.
—Nenn das nicht Kirche. Es gibt ein Wort für den Ort, an den du willst. Selbst ich kenne das Wort.
—Du kannst es aus deinem Gedächtnis streichen, sobald ich weg bin, sagte die junge Frau.
Licht fiel auf das Gesicht ihrer Mutter, als sie die Tür hinter sich zuzog. Starr, stolz und stoisch, aufs Schlimmste vorbereitet. Und endlich sah sie die Ähnlichkeit.
Sie folgte dem Hidden Valley Drive zum Friedhof, vorbei an Carmen’s Burger Bar, an Ramirez’ Pawn N Carry, dann die Pacific hoch zum Junior College. Auf der Mendocino blieb sie vor einem Schaufenster stehen, hielt sich eine Hand an die Augen, um nicht geblendet zu werden, und schaute durch die Scheibe. Eine Pyramide von Mobiltelefonen, lederne Schutzhüllen für die Handys, dazu die passenden Gürtelclips aus Plastik. Sie stellte sich eine Welt vor, in der sie diesen Laden betrat – in der sie arbeiten und sparen würde, um sich eines der Angebote kaufen zu können –, und es war keine Welt, in der sie gern leben wollte.
Ein paar Typen aus der Schule gingen vorbei und feixten, und Aden gestattete sich ein letztes Mal den Luxus, sie sich tot vorzustellen. Sie beobachtete sie in der Fensterscheibe, bis sie außer Sichtweite waren, dann prüfte sie ihr eigenes Spiegelbild, schmal, doch kerzengerade in ihrem weißen Salwar Kamiz. Kein Mädchen, kein Junge. Nur ein Geist in einem Körper. Sie fühlte einen Anflug von Trauer, vielleicht sogar Mitleid, doch ob für sich selbst oder für die Typen, die über sie gelacht hatten, das hätte sie nicht sagen können.
Der Campus war still, dunkel und wirkte so unnatürlich flach wie die für einen Stummfilm gemalte Kulisse. Das Büro ihres Vaters war das einzige, in dem noch Licht brannte. Sie griff nach dem uralten Wachtelefon am Diensteingang, um dann auf Ed Ayckers sanft verschlafene Stimme und den scharfen Doppelton des Summers zu warten. Früher hatte sie das aufregend gefunden, diese heimliche Transaktion: Sie musste dabei an den mit einem Code gesicherten Eingang zu einem Militärgelände, den Tresorraum einer Bank oder an das Besucherzimmer in einem Gefängnis denken.
—Du hast den Hintereingang genommen?, fragte ihr Vater, ehe sie anklopfen konnte.
—So wie immer.
—Mich überrascht nur, dass Ed dich mit diesem Igelschnitt eingelassen hat. Weißt du, an dem kommt nämlich nicht jeder vorbei. Muss ein Zeichen dafür sein, dass du reinen Herzens bist.
—Denselben Witz hast du schon letzte Woche gemacht, sagte sie und nahm einen Stapel Ordner von einem der Stühle.
—Und wenn ich mich nicht täusche, hast du da auch nicht gelacht.
—Schätze, ich habe meine Ansicht nicht geändert.
—Tja, so wird’s wohl sein. Er faltete die Hände, als wollte er beten, ein unbewusst ausgeführtes Salam, eine erst kürzlich angewöhnte Geste. —Ich vermute, du hast deine Ansichten auch in keinem anderen Punkt geändert, wie?
—Ich fliege morgen.
Er ließ die Hände auf den Tisch sinken. —Und deine Mutter? Was denkst du, wie kommt sie damit zurecht?
—Sie hat alle Fotos umgedreht. Selbst die, auf denen du nicht zu sehen bist.
—Stell dich nicht blöd, Aden. Das passt nicht nicht zu dir. Er senkte den Blick auf seine Hände. —Ich meine, wie wird sie mit deiner Reise fertig?
Sie sah ihn eine Weile an, über den großen Teakholztisch mit den abgerundeten Ecken hinweg, der das halbe Zimmer einnahm. Während ihrer Kindheit hatte er sie an seltenen Nachmittagen zum Spielen mit hergebracht, eine Belohnung für gutes Benehmen, und sie war oft unter den alten, knarzenden Holztraufen eingeschlafen. In ihrer Phantasie aber, und manchmal sogar in ihren Träumen, saß sie selbst hinter dem alten Tisch, brütete über Pergamentrollen und schrieb gelehrte Abhandlungen. Mittlerweile fand sie ihn klobig, das Monument einer vergessenen Kultur, ein in der Wüste gestrandeter Ozeandampfer. Es fiel ihr schwer, sich auf das sanfte, zufriedene Gesicht ihres Vaters zu konzentrieren.
—Es ist keine Reise, sagte sie.
—Natürlich ist es das.
—Nicht was du darunter verstehst.
—Nicht? Vielleicht musst du es mir dann erklären.
—Das dürfte unnötig sein. Gerade dir brauche ich nichts zu erklären. Sie schüttelte den Kopf. —Ich fahre jedenfalls nicht hin, Lehrer, um mir irgendwelche Sehenswürdigkeiten anzuschauen.
—Ich habe es noch nie gemocht, wenn du mich so nennst.
—Ich weiß.
Er nickte leicht. —Du fährst in die Emirate, um zu lernen, sagte er schließlich. —Um deine Sprachkompetenz zu verbessern, um mit eigenen Augen zu sehen, worum sich die ganze Aufregung dreht. Das weiß ich zu schätzen. Du bist eine ernsthafte junge Frau, Aden. Eine Fragenstellerin. Warst du schon immer. Er presste die Handflächen aneinander. —Oder gibt es noch einen anderen Grund?
Sie starrte auf den Boden zwischen ihren Füßen, auf die Abdrücke im Teppich dort, wo einmal ein nicht ganz so wuchtiger Tisch gestanden hatte. Und sie fragte sich, wessen Büro dieses Zimmer einmal gewesen war. Sie konnte sich niemand anderen als ihren Vater an diesem Ort vorstellen.
—Hast du noch mal über deine Zukunftspläne nachgedacht?, fragte er. —Über deine Ausbildung?
—Dies wird meine Ausbildung sein.
—Ich habe noch einmal mit Dekan Lawford gesprochen. Er hat sich sehr großzügig bereit erklärt, dir einen Aufschub …
—Das weiß ich doch alles.
—Wenn ich darf, Aden, würde ich gern ein offenes Wort mit dir reden. Er verzog den Mund zu einem Lächeln. —Es war für uns alle eine anstrengende Zeit. Ich war nicht recht bei der Sache, als du mich um Hilfe für dein Abenteuer gebeten hast, und das tut mir leid. Aber inzwischen hat sich die Lage wieder beruhigt, wie du bemerkt haben dürftest, und ich möchte, dass du meine Möglichkeiten nutzt. Ich habe Freunde in Dubai, gute Freunde: Leute, die dir helfen könnten. Hier, ich habe eine Liste aufgesetzt. Er schob ihr eine Karteikarte über den Tisch zu. —Einige Anpassungen wären nötig, wie ich wohl nicht weiter zu erwähnen brauche. Eine ganze Reihe von Anpassungen. Und was dein Ticket für den Rückflug angeht …
—Mach dir deshalb keine Sorgen.
—Meine Liebe, jetzt schau mich doch mal kurz an. Es wäre nicht verkehrt, wenn du dir überlegst …
—Wie geht es übrigens Mrs. Al-Hadid?
Ihm blieb kurz der Mund offen stehen. —Ayah geht es gut, Aden. Danke der Nachfrage.
—Hat Ed Aycker ihr je Ärger gemacht?
—Ich frage mich, wie du mit deinem Arabisch vorankommst, erwiderte ihr Vater.
—Bestens.
—Kannst du die Verse an der Wand hinter mir schon lesen? Die in dem kleinen Messingrahmen?
—Im Namen Gottes, sagte sie, —gnädig zu allen, zu jedem barmherzig.
—Das sind gute Worte, die man nicht vergessen sollte. Insbesondere dort nicht, wo du hinfährst. Ihr Vater hüstelte und rückte sich auf dem Stuhl zurecht. —Gnädig zu allen, wiederholte er mit halbgeschlossenen Augen. —Barmherzig zu jedem.
Man hörte draußen auf dem Flur Studenten, wenigstens ein halbes Dutzend, die in schrillen, überdrehten Tönen miteinander schwatzten. Eine Hand wurde wie zum Gruß gegen die Fensterscheibe gepresst. Zur Antwort nickte sie ihrem Vater zu, ganz wie der es erwartet hatte.
—Gute Worte, die man nicht vergessen sollte, sagte er. —Es gibt einen Grund, warum sie die ersten Worte im Buch sind.
—Ich kenne noch viel mehr Worte.
—Daran zweifle ich nicht.
—Frau und Mann, die Ehebruch begehen, peitscht sie mit hundert Hieben …
—Halt den Mund, sagte ihr Vater. Er klang unbeschwert, fast als amüsierte ihn, was er hörte. —Ich war ein Student der Scharia, lang ehe du auch nur ein Gedanke in dem armen, umnachteten Geist deiner Mutter oder auch dem des Allschöpfers warst. Was du über die Heilige Schrift weißt, passt in ein Eyeliner-Döschen. Und Gott sei deiner Seele gnädig, wenn du mit dieser Einstellung in die Emirate reist.
Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück, musterte ihn.
—Was grinst du denn so?
—Eyeliner gibt es nicht in Döschen, sagte sie. —Nur als Sticks.
—Verstehe. Er wippte mit dem Kopf. —Für dich ist das alles ein Spaß.
Sie beobachtete ihn und sagte nichts.
—Was ist mit deinem Liebsten? Hat er auch nur die leiseste Ahnung, worauf er sich einlässt?
—Decker ist ein Freund, mehr nicht.
Er wedelte ungeduldig mit der Hand, eine rasche, abschätzige Geste, die gleiche, die ihre Mutter vor kaum einer Stunde gemacht hatte. —Was sagen denn seine Eltern dazu?
—Ehrlich gesagt, sie sind stolz auf ihn. Unterstützen ihn, meine ich. Sie haben drüben Familie.
Ihr Vater kniff die Augen zusammen. —Mir hat man gesagt, die Yousafzais seien Pakistani.
—Sie sind Paschtunen, antwortete sie. —Von irgendwo nahe der afghanischen Grenze.
—Verstehe. Er behielt sie im Blick. —Irgendwann sind sie nach Dubai ausgewandert. Auf der Suche nach Arbeit, nehme ich an.
Als sie nichts erwiderte, lehnte er sich steif auf seinem Stuhl zurück. Wieder legte er nervös die Hände zusammen.
—Du hattest so schönes Haar. Lockig und dunkel. Und du warst sehr stolz darauf, als du noch klein warst. Er schaute auf seine Hände. —Kannst du dich daran erinnern?
—Kein bisschen.
—Machst du das nur, um uns zu verletzen, Aden? Uns zu bestrafen? Deine Mutter und mich?
Sie sah zu dem Koranauszug über seinem Tisch auf, stellte den Blick unscharf, ließ ihn verschwimmen und sah, wie die Buchstaben sich krümmten und ineinanderkringelten. Diese flüssigen, sinnlichen Buchstaben. Keine Schrift der Welt war schöner anzusehen, keine Sprache schöner auszusprechen. Sie wusste das, und ihr Vater wusste es. Der Unterschied war, dass er nur die Schönheit sah. Sie selbst nahm auch die Trauer wahr, die Duldsamkeit und Hoffnung im Pinselstrich, das Leid, das jeden kalligraphischen Buchstaben formte. Schönheit aber war ihr auffälligstes Merkmal und das bei weitem gefährlichste. Eine Schönheit der Strenge. Schönheit, die kein Pardon kennt. Aden spürte ihre Faszination, und die Schönheit schien ihr endlos zu sein.
—Du glaubst, alles gehe auf dich zurück, sagte sie schließlich. —Alles geschehe deinetwegen, durch dich oder als Reaktion auf etwas Schlechtes, das du getan hast.
—Aden, ich …
—Aber du irrst dich; ich denke gar nicht oft an dich.
Die Studenten wurden lauter, auch zahlreicher, und doch wirkte das Zimmer eher noch abgeschiedener als zuvor, kam ihr dumpf und stickig vor. Die Augen ihres Vaters waren geschlossen, als schliefe er. Die Brust hob und senkte sich. Und als er wieder redete, musste sie sich anstrengen, ihn zu verstehen.
—Es tut mir leid, Liebes. Ich gebe mir wirklich große Mühe, es zu begreifen.
—Ist okay. Ich verzeihe dir. Der erste Teil meines Dschihads …
—Um Himmels willen, Aden, nenne es nicht so.
—Dschihad bedeutet Kampf, nichts weiter. Jede Art von Kampf. Das hast du mir selbst beigebracht. Weißt du nicht mehr?
—Wir leben in einem neuen Jahrhundert. In einer neuen Welt. Er behielt die Augen geschlossen. —Dinge ändern sich.
—Ich verstehe nicht, was das bedeutet.
—Es bedeutet, dass du auch den Rest der Welt in Betracht ziehen solltest, nicht nur Claire und mich. Hörst du, was ich sage? Du musst ihre Angst spüren, ihren Vorurteilen Rechnung tragen. Und du darfst die Ignoranz der Menschen nicht vergessen, Aden. Er seufzte. —Auch deine eigene nicht.
—Das überlass ich den Experten. Das überlasse ich dir.
—Du hörst mir immer noch nicht zu. Ich versuche, dir zu erklären …
—Wenn diese Menschen mich verurteilen wollen, will ich sie nicht daran hindern. Sie tun es sowieso. In der Schule und auch überall sonst. Sogar bei mir zu Hause. Aber davon hast du natürlich keine Ahnung. Sie nickte gedankenverloren. —Versuch nur, mich aufzuhalten, wenn du willst.
—Ich will dich nicht aufhalten, erwiderte ihr Vater angespannt. —Das ist überhaupt nicht meine Absicht.
—Red nicht so herablassend. Das passt nämlich nicht zu dir.
Ehe er antworten konnte, griff sie nach ihrem Rucksack. Ein ausrangiertes Armeemodell, sonnengebleicht und zerschlissen; dunklere Vierecke im Tuch dort, wo einmal die Abzeichen angenäht gewesen waren. Sie hatte ihn am Tag vor Thanksgiving auf dem Dachboden im Haus ihres Vaters gefunden, an jenem Tag, an dem sie beschlossen hatte, ihren Dschihad zu beginnen. Sie setzte sich auf, räusperte sich und hob den Rucksack, damit er ihn sehen konnte, dachte selbst jetzt daran, den Segen ihres Vaters zu erbitten. Seine Augen aber blickten fahl, leer und blind.
—Die Religion, die ich mein ganzes Leben lang studiert habe, lehrt Respekt vor den Älteren, sagte er langsam. —Sie bringt dem Kind bei, die Lehren des Vaters zu achten.
—Nicht wenn der Vater ein Apostat ist.
—Verstehst du wirklich, Aden, was dieses Wort bedeutet?
Sie nickte und stand auf. Da schüttelte er den Kopf, bedauernd und nachdrücklich, fast als wollte er ihr verbieten, auch nur einen weiteren Schritt zu gehen.
—Ich bin mir sicher, du weißt, dass ich dieses Abenteuer mit einem einzigen Telefonanruf beenden könnte. Und je länger ich dir zuhöre, Liebes, desto mehr neige ich dazu, diesen Anruf zu machen.
—Du hast doch dasselbe getan, als du in meinem Alter warst. Und du hast dein Leben lang davon geredet. Eigentlich hast du über kaum etwas anderes geredet.
—Ich war gerade zweiundzwanzig geworden, als ich nach Kandahar fuhr. Zweiundzwanzig, Aden, und nicht kaum achtzehn. Außerdem gibt es da etwas, das weit wichtiger als dein Alter ist.
—Keine Ahnung, wovon du redest.
—Sei nicht so kindisch. In jenem Teil der Welt ist die Bewegungsfreiheit einer Frau deutlich eingeschränkt, wie du sehr wohl weißt. Folglich werden dich einige Enttäuschungen erwarten, Liebes. Eine ganze Menge sogar.
—Tja, Lehrer, da irrst du.
—Wir streiten uns schon wieder. Das möchte ich nicht. Lass uns beide einen Augenblick …
—Ich werde an Orte reisen, an denen du nie gewesen bist. An viele, sehr unterschiedliche Orte. Und ich werde Dinge sehen, von denen du noch nicht einmal geträumt hast.
Sie traf Decker mittags im Flughafenbus. Er trug einen Trainingsanzug, eine Schirmmütze der Giants, und die Sneakers standen neben ihm auf dem Sitz der anderen Gangseite. Seine Sporttasche war schwarz, die High-Tops leuchteten so orange wie sein Trainingsanzug, und eine nicht angezündete Zigarette hing zwischen den lässig herabgezogenen Lippen. Als er Aden kommen sah, griff er nach einem Buch.
—Du rauchst doch gar nicht, sagte sie.
—Ich bin ein Mann mit internationalen Geheimnissen, Sawyer. Es gibt noch so manches, was du nicht über mich weißt.
Sie nickte. —Zum Beispiel, dass du lesen kannst.
—Ich gehe gerade diese Liste mit Konjugationen durch, sagte er und plusterte sich auf. —Zufällig fliege ich heute nämlich nach Pakistan.
Sie blickte über den Gang hinweg auf seine High-Tops. —Und ich dachte, du wärst auf dem Weg zu einem Kickball-Spiel in Oakland.
—Dieser Aufzug ist wie American Express, sagte er und rückte seine Mütze zurecht. —Wird weltweit akzeptiert.
—Es gibt jede Menge Geschäfte, die keine American Express nehmen. Sie setzte sich neben ihn. —Zum Beispiel das La Tapatía.
—La Tapatía?, wiederholte Decker mit gehobenen Brauen. —Dieser Taco-Laden hinterm Costco?
—Jede Menge Geschäfte nehmen die nicht.
—Aber sie akzeptieren sie in Karatschi, sagte er, als der Bus sich in Bewegung setzte. —Und was glaubst du, was die da drüben tragen, Sawyer? Etwa Turbane und Schnabelpantoffeln?
—Ist mir so was von egal.
Er runzelte die Stirn. —Und warum?
—Weil ich nicht in Karatschi bleiben will.
Im Bus war es heiß, und Decker schlief bald ein, die Stirn ans schmierige Fenster gedrückt. Sie schaute an ihm vorbei auf Outlets, Drive-ins und Autobahnkreuze. Das Licht über den Hügeln war das Licht, das sie am besten kannte, das goldene Licht Kaliforniens, das alles einbalsamierte, was sie sah. Schon jetzt blickte sie auf die Landschaft dort draußen, als schaute sie sich Archivmaterial eines halb vergessenen Lebens an.
Mit einem Ruck wachte Decker auf, als sie den Flughafen erreichten. —Wie spät ist es?
—Wir sind in der Zeit.
—Haben wir unser Ein-Uhr verpasst?
—Wir können beten, wenn wir hier raus sind.
Der Terminal war das Letzte, was sie von Amerika sehen würde, und Aden gab sich Mühe, aufmerksam zu sein. Die Laufbänder, die Akustikplatten, die Sterilität, die Ähnlichkeit aller Orte, aller Details. Als Kind hatte sie es geliebt, wenn sie ihren nach Ankara oder Mazar-i-Sharif fliegenden Vater verabschiedete, und das Kind in ihr liebte es immer noch. Kein Ort war so amerikanisch wie dieser. Eine leuchtend helle Leere.
Bordpersonal hastete an ihr vorbei – die vornehmen, blauäugigen Piloten, die koketten Stewardessen –, und eine Flughafenangestellte mit einem Bindi winkte sie mit einer Verbeugung weiter. Diese Szene schien allein zu ihrer Schnelleinweisung aufgeführt zu werden: die rasche, servile Geste, die vornehme Haltung. Aden empfand eine alte kindliche Aufregung und tat nichts, um sie zu zügeln. Im Moment bedeutete sie keine Gefahr. Aden hielt die Augen offen.
—Was lächelst du, Sawyer?
—Ich bin früher schon ein paarmal hier gewesen.
Decker blieb stehen, zog seine Sneakers zurecht. —Ich sag dir was: Ich habe noch nie in einem Flugzeug gesessen.
—Es wird dir gefallen.
—Und wie ist die Schweizer Küche so?
—Schweizer Küche?
—Wir fliegen mit Swiss Air, richtig? Und der Flug dauert zwölf Stunden. Irgendwann werden die uns was zu essen bringen müssen.
Sie griff nach seiner Hand. —Lass uns gehen, du Mann mit Geheimnissen. Für unser Gebet sind wir spät dran.
Hinterm Food-Court fanden sie einen kleinen bläulichen Raum, der als Interreligiöse Kapelle ausgewiesen war, also stellten sie ihr Gepäck ordentlich aufgereiht neben dem Eingang ab. Als sie eintraten, erhob sich eine Familie Mennoniten, um zu gehen. Ein gebückter alter Mann mit seiner Frau und zwei kleinen Kindern. Decker hielt ihnen die Tür auf. Ihre dunkle, formelle Kleidung raspelte und wisperte bei jeder Bewegung. Die Frau schien kaum älter als Decker zu sein; sie lächelte ihn freundlich an und dankte ihm, als sie gelassen nach draußen ging. Decker sah ihr nach, bis sie aus seinem Blickfeld verschwand.
—Ich schätze, hier drinnen sollte ich so was nicht sagen, aber dieser alte Chassid kann sich einen verdammt glücklichen Bastard nennen. Hast du gemerkt, wie die mich angesehen hat?
—Du hast recht.
—Verdammt recht. Hast du …
—Du solltest so was hier drinnen nicht sagen.
—Okay, Sawyer. Mein Fehler. Aber ehrlich …
—Außerdem waren das keine Chassiden.
Decker schnupperte. —Irgendwie riecht es hier nach Kroketten. Oder nach Tortilla-Chips? Bestimmt vom Taco Bell nebenan.
—Halt den Mund und hilf mir lieber, die Stühle beiseitezuräumen.
Sie verschafften sich vorn etwas Platz, legten die Gebetsmatten auf den schmutzabweisenden Teppich und wuschen sich mit Wasser aus einer Flasche. Deckers Matte passte zu seinem Trainingsanzug und den Sneakers. Aden betrachtete ihn einen Moment lang und wandte sich dann leicht nach links.
—Woher willst du wissen, dass das Osten ist, Sawyer? Hier gibt es keine Fenster.
—Das ist Osten.
Er nickte skeptisch. —Im Grunde beten wir also in Richtung Food-Court.
—Ich sage dir, was ich jetzt mache, Decker. Ich knie mich auf diesen Teppich und spreche das Gebet, das wir ausfallen lassen mussten. Du kannst tun, was du willst. Vielleicht wartet deine Mennonitin im Taco Bell auf dich. Vielleicht teilt ihr euch ein paar Käse-Tortillas?
—Dafür hältst du die? Für eine Mennonitin?
Sie gab keine Antwort. Er kickte sich seine High-Tops von den Füßen und kniete sich neben sie.
—So ist’s besser, sagte Aden und beugte sich nieder zum Gebet.
—Wenn du meinst. Aber ich glaube, das ist Süden.
Als sie aus der Kapelle kamen, war ihr Gepäck verschwunden. Sie standen da, blinzelten wortlos den Teppich an und lauschten auf das Rauschen aus den Lautsprechern. Aden fühlte keine Panik, nur eine Kälte, die ihr unter die Rippen kroch. Pass und Visum steckten in ihrer Tasche.
—Diese Arschlöcher, sagte Decker. —Wir haben gebetet, gottverdammt.
—Schon gut. Ist schon gut. Wir brauchen nur die Security zu finden. Die kann nicht weit sein.
Decker stöhnte auf. —Ich wette, es ist verboten, Gepäck einfach so stehen zu lassen. Glaubst du, die …
—Nein, glaube ich nicht. Wir waren dumm, das ist alles. Ich war dumm.
Der Lost-Baggage-Schalter befand sich in einem anderen Terminal; als sie ihn endlich gefunden hatten, waren ihre Hemden dunkel von Schweiß. Der Vorraum war genauso blaustichig wie die Kapelle, und ehe sie auch nur ein Wort sagen konnten, wusste der Beamte, warum sie gekommen waren. Ihre Pässe lagen mit den Fotos nach unten vor ihm.
—Tja, Kids, nur mit der Ruhe. Heute fliegt niemand mehr irgendwohin.
Sie warteten darauf, dass er weiterredete, schwankten leicht und versuchten, wieder zu Atem zu kommen. Der Beamte blickte von oben auf sie herab, so unnahbar und ungerührt wie ein Richter in irgendeinem belanglosen Verfahren. Er nahm seine Brille ab und begann, sie mit einem schmuddeligen Taschentuch zu putzen. Offenbar hielt er die Angelegenheit für erledigt.
—Ich bin mir nicht sicher, ob ich Sie richtig verstehe, sagte Aden.
—Zwei nicht gekennzeichnete schwarze Sporttaschen plus Rucksack im belebtesten Teil eines internationalen Flughafens, und das direkt vor der Kapelle. Der Beamte schüttelte den Kopf. —Und auch noch gleich neben dem Food-Court, Herrgott. Ist einer von euch überhaupt schon mal in einem Flughafen gewesen?
—Ich war achtzehn Mal hier, heute nicht mitgerechnet. Mit meiner Familie. Wir wohnen in Santa Rosa.
Der Beamte blickte mit zusammengekniffenen Augen auf ihren Pass. —Aden Grace Sawyer, sagte er nachdenklich.
—Ganz recht.
—Sie haben sich die Haare schneiden lassen, Miss Sawyer, seit der Pass ausgestellt wurde.
—Und?, sagte Decker.
—Hiernach hätte ich Sie nicht erkannt, fuhr der Beamte fort und schüttelte bedächtig den Kopf. —Sie sehen wie ein Junge aus.
—Wir sind Studenten, sagte Decker, ehe Aden etwas erwidern konnte. —Wir sind unterwegs nach Pakistan, um dort zur Schule zu gehen.
Übertrieben gelangweilt blätterte der Beamte durch ihren Pass. Es schien ihn keineswegs zu verwundern, dass er nur leere Seiten sah. —Was denn für eine Schule?
—Eine Medrese, sagte Aden.
—Eine was?
—Das sind religiöse Schulen, erklärte Decker. —So wie eine katholische Schule, nur eben zum Studium des Heiligen Koran. Eigentlich sind sie …
—Jetzt machen Sie schon, was Sie unbedingt machen wollen, sagte Aden.
—Wie bitte, Miss Sawyer? Ich bin mir nicht sicher, ob ich Sie richtig verstanden habe.
—In unserem Gepäck ist nichts Illegales. Sie haben es doch längst durchsucht, also sollten Sie Bescheid wissen.
—Nichts würde ich das nicht gerade nennen, Miss Sawyer. Wirklich nicht. Er hievte Deckers Tasche auf den Tresen. — Die Verteidigung der islamischen Länder, las er vor, nachdem er ein Taschenbuch ohne Einband herausgezogen hatte. Dann ein weiteres: —Folgt der Karawane.
—Das sind religiöse Texte, sagte sie. —Die brauchen wir für unser Studium.
—Diese Bücher stehen auf dem Index des Auswärtigen Amtes. Sie gelten als Propagandamaterial für die Anwerbung militanter Dschihadisten.
—Wir haben sie im Campus-Buchladen der University of California in Berkely gekauft. Es ist nicht illegal, sie zu besitzen.
—Ihr Vater arbeitet dort als Dekan und leitet den Fachbereich Nahoststudien, warf Decker ein. —Sie wissen, was ein Dekan ist?
—Raten Sie Ihrem arabischen Freund, lieber den Mund zu halten, erwiderte der Beamte.
So also ist es, wenn man mit offenen Augen lebt, dachte sie. Diesen Ort hat es schon gegeben, als ich mit meinem Vater am Flughafen war, und wir sind hier jedes Mal vorbeigegangen, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden. Derselbe Mann hat damals am selben Ausgabefenster gesessen. Leute haben gestanden, wo ich jetzt stehe, aber ich habe sie nie gesehen. Wo sind diese Menschen heute?
Decker brüllte irgendwas über Religionsfreiheit.
—Wenn Sie uns das Gepäck nicht zurückgeben wollen, dann sagen Sie das, unterbrach ihn Aden. —Sagen Sie es, und wir gehen.
Mit abgespanntem, blutleerem Gesicht starrte der Beamte sie von oben herab an, das Gesicht so bar aller menschlichen Gefühle, dass es ihr kaum noch wie ein Gesicht vorkam. Es roch im Wartebereich nach Abgasen, Druckerpatronen und Schweiß. Von draußen war das Gedränge der Menschen zu hören. Tag für Tag hört er diese Geräusche, sagte sich Aden. Von morgens bis abends hört er diese Geräusche und atmet diese Luft ein. Niemand endet hier freiwillig. Nicht einmal er.
—Habe ich etwa behauptet, dass Sie Ihr Gepäck nicht zurückbekommen?, fragte der Beamte schließlich und schloss achselzuckend Adens Pass. —Nein, das habe ich nie getan. Ich fürchte, Sie haben kein Wort von dem verstanden, was ich Ihnen gesagt habe.
Dank eines unverdienten Wunders erreichten sie ihr Gate beim letzten Aufruf und wurden wie berühmte Persönlichkeiten eilends an Bord gebracht. Leute starrten sie an und rollten mit den Augen, aber Aden war Schlimmeres gewohnt. Sobald sie den Gang in der Maschine betrat, spürte sie einen inneren Jubel in sich aufsteigen. Sie waren unterwegs nach Dubai, dann ging es weiter nach Karatschi, und sie fand sich von mehr Gläubigen umgeben, als sie je außerhalb einer Moschee gesehen hatte. Jeden Moment würde das Flugzeug abheben; hier waren sie auf exterritorialem Gebiet, die Maschine ein Staat für sich, keinen anderen als den eigenen Gesetzen unterworfen. Ihr Land hatte sie ohne den leisesten Protest ziehen lassen. Sie war fort.
—Ich habe ja damit gerechnet, dass es nicht einfach wird, flüsterte Decker, sobald sie ihre Plätze eingenommen hatten. —Die Scanner, das Abtasten, die Fragen und so weiter. Aber was da gerade abgelaufen ist … Er schüttelte den Kopf. —Keine Ahnung, was das sollte. Scheiße, Sawyer, ich musste sogar meine Hose runterziehen.
—Die behandeln alle gleich.
—Nein, die haben das nur gemacht, weil wir Muslime sind. Die glauben, ich würde meinen Bart in Brand stecken.
—Keine schlechte Idee, ehrlich gesagt.
—Leck mich.
—Ist die Mühe aber vielleicht nicht wert. Ich zähle kaum fünfzehn Haare.
—Mehr als bei dir.
—Da hast du wohl recht.
—Mit deiner Frisur siehst du wie eine Sechsjährige aus. Als hätte man dir den Kopf rasiert, um zu sehen, ob du Läuse hast.
Sie lächelte ihn an. —Und was sollte der Blödsinn vorhin?
—Was denn für Blödsinn?
—Mein Vater ist kein Dekan, das weißt du genau.
Decker zuckte die Achseln. —Du hast mir erzählt, er sei mal einer gewesen. Vor seinen, wie soll ich sagen, romantischen Eskapaden?
—Du hast gelogen, sagte sie. —Du hast falsches Zeugnis abgelegt.
—Eure Tugendhaftigkeit, werte Pilgerin, macht Euch alle Ehre. Allerdings wirkst du bestimmt überzeugender, wenn du aufhörst, wie ein Äffchen zu grinsen.
Sie schloss die Augen und lehnte sich zurück. —Ich fasse es nicht, dass wir in diesem Flugzeug sitzen.
Sie wurde im Dunkeln wach, weil sie glaubte, ihren Namen zu hören. Wie aus weiter Ferne kehrte sie nur langsam zurück. Die Stimme, die sie vernommen hatte, war weder die ihrer Mutter noch die ihres Vaters gewesen, jedenfalls nicht so ganz, auch wenn derselbe silbrige Faden der Sorge sie durchlief, der sich auch durch die Stimmen ihrer Eltern zog. Sie wartete mit geschlossenen Augen, hörte aber nichts weiter.
—Sie reisen in die Emirate?, fragte da der Mann auf der anderen Gangseite.
Mit halbgeschlossenen Lidern drehte sie sich zu ihm um und sah ihn prüfend an, diesen untersetzten, bärtigen Mann, der sie freundlich anblinzelte. Seine Stimme war nicht die Stimme, die sie beim Namen genannt hatte, und doch kam sie ihr wie ein Überbleibsel aus ihrem Traum vor. Er trug eine blaue Jacke mit feinen weißen Streifen über seinem Salwar Kamiz, und vor ihm auf dem heruntergeklappten Tisch lag ein aufgeschlagener Koran. Aden räusperte sich und gab sich Mühe, wie ein junger Mann zu klingen.
—Nur um dort umzusteigen, antwortete sie. —Wir fliegen weiter nach Karatschi. Mein Freund hat Familie in Pakistan.
—Ach, sagte der Mann. —Karatschi.
Er zog das Buch zu sich heran und fragte nichts weiter. Mit ernster Miene saß er da im Licht des Strahlers, der einzige Passagier in Sichtweite, der nicht schlief. Die dünnen Lippen bewegten sich fast unmerklich. Offenbar rezitierte er aus dem Gedächtnis.
—Wir fahren dann weiter nach Peschawar, sagte sie. —Zu einer Medrese.
—Einer Medrese!, sagte der Mann. —Wie schön. Er sprach ein melodiöses, britisch klingendes Englisch. —Möchten Sie die Suren studieren? Sie auswendig lernen?
—Ja, genau.
Er nickte besonnen. —Sie lassen sich da auf ein sehr ehrenwertes Unterfangen ein.
—Stimmt, sagte sie und biss sich auf die Lippen, um nicht zu lächeln. Neben ihr murmelte Decker leise im Schlaf.
—Aber ist es für Sie nicht ein bisschen früh, Ihre Familie zu verlassen? Sie sind doch bestimmt kaum älter als vierzehn Jahre.
—Meine Familie kann mich entbehren, antwortete sie.
Der Mann neigte den Kopf. —Ihr Vorhaben gereicht Ihrer Familie zur Ehre.
—Danke sehr. Ich glaube nicht, dass sie es so sieht.
Er nahm dies kommentarlos zur Kenntnis. —Peschawar ist ein unsicherer Ort, aber in der Medrese finden Sie Sicherheit. Dort wird man sich um Ihren Fall kümmern.
—Meinen Fall?
Der Mann lächelte, sagte aber nichts weiter.
So saßen sie scheinbar sehr lang einfach nur da, ohne zu reden, und lauschten dem Seufzen, dem protestierenden Ächzen der Maschine. Der Liebenswürdigkeit des Mannes lag etwas zugrunde, das ihn von den übrigen Passagieren unterschied. Zumindest kam es ihr so vor, während sie ihn im künstlichen Dämmerlicht der Kabine beobachtete.
—Wir hoffen, von Peschawar aus noch weiterzureisen, sagte sie. —Sobald wir unsere Studien beendet haben.
Der Mann nickte höflich.
—Mein Freund behauptet, Pakistan sei kein islamischer Staat. Jedenfalls nicht im eigentlichen Sinne des Wortes.
Es sah aus, als lächelte er. —Aha! Natürlich. Davon ist Pakistan weit entfernt.
—Wir wollen anschließend noch weiter nach Afghanistan, sagte sie.
—Ach ja?
—Ja. Wir hoffen, bei Torcham über die Grenze nach Nangarhar zu kommen.
Die Augen des Mannes leuchteten auf. —Das ist meine Heimat. Die Provinz Nangarhar. Kommen Reisende zu uns, gibt es für sie eine Redewendung, eine Art Willkommensgruß: Nangarhar, Heimat der Weisheit, Wiege des Friedens. Er nickte vor sich hin. —In Nangarhar ist es warm und sehr grün. Grün das ganze Jahr. Wir sagen auch: Ewiger Frühling.
Natürlich ist er Afghane, dachte Aden. Was denn sonst? Stumm wartete sie darauf, dass er weitersprach.
—Ich handle mit Stoffen und wohne in Karatschi. In Nangarhar bin ich seit Jahren nicht mehr gewesen.
—Ich würde es gern kennenlernen, erwiderte Aden. —Ich freue mich drauf.
—Sie müssen es sich unbedingt ansehen.
—Mittlerweile ist es wohl auch ein bisschen sicherer, glaube ich. Mein Freund behauptet das jedenfalls. Die Warlords wurden in den Norden zurückgedrängt.
Der Mann machte eine Geste, die sie nicht zu deuten wusste.
—Stimmt das nicht?
—Den Tieren des Nordens wurde ein Schlag verpasst, sagte er und wiederholte dieselbe schneidende Bewegung.
—Ja.
—Von anderen Tieren, anderen Bestien.
—Von Studenten, warf sie ein, — von Gläubigen. Einer Koalition der Gelehrten.
—Junger Mann, erwiderte er bedächtig. —Wo haben Sie das denn aufgeschnappt?
Sie hielt den Atem an und zählte bis zehn. Es war nicht leicht, ruhig zu bleiben. —Mein Freund hat es mir gesagt. Er gab mir ein Buch.
—Ein Buch, wiederholte er, —aber nicht den Koran, nehme ich an.
—Es sind Taliban. Studenten. Nichts anderes bedeutet ihr Name. Sie kämpfen, um dem Land den wahren Glauben zurückzubringen, kämpfen gegen die Gottlosen, so wie die Mudschaheddin gegen die Russen gekämpft haben. Oder stimmt das nicht?
—Darf ich Ihnen eine Frage stellen?
—Bitte schön.
—Warum möchten Sie diese Grenze überqueren?
—Das habe ich Ihnen doch schon gesagt. Ich … Sie zögerte. —Ich will es einfach nur sehen. Ein von Gläubigen regiertes Land, ein Land voller Menschen, die nach dem Wort Gottes leben.
—Hält Ihr Freund sich für einen Abenteurer? Einen Soldaten? Er blickte an ihr vorbei. —Hat Ihr Freund diesen Ehrgeiz? Sich dem Kampf anzuschließen?
Instinktiv wandte sie sich zu Decker um. Im Schlaf bewegte er kaum wahrnehmbar den Kiefer.
—Er sagt, er hat ihn nicht, antwortete sie. —Das behauptet er jedenfalls.
—Verstehe.
Ihr ging auf, dass sich irgendwann das Verhalten des Mannes geändert hatte. Er blieb höflich, doch er sah sie nicht mehr an.
—Keinen solchen Ehrgeiz, sagte er und ließ den Blick auf Decker ruhen. —Es beruhigt mich, dass zu hören.
—Und warum?
—Weil er noch sehr jung ist.
Er nahm den Koran zur Hand und sprach kein Wort mehr. Während der restlichen Stunden verharrte er in dieser Stellung, saß gleichmütig und mit durchgedrücktem Rücken da, das Buch im Schoß. Jedes Mal, wenn Aden wach wurde, schaute sie verstohlen zu ihm in seinem warmen Lichtkegel hinüber, und jedes Mal wirkte er völlig unverändert. Nachdem sie in Dubai gelandet waren, bat er sie, ihm seinen Rollkoffer aus dem Gepäckfach zu heben, bedankte sich und wünschte ihr Glück mit dem Studium. Sie sollte ihn nie wiedersehen.
—Mit wem hast du geredet?, fragte Decker, als sie den Flugsteig verließen.
—Mit einem Paschtunen aus Nangarhar. Unglaublich, oder?
Er gähnte herzhaft. —Das erklärt alles.
—Soll heißen?
—Er hatte diesen Stammesschlurfgang. So. Decker machte ein paar Watschelschritte. —Kommt davon, weil sie ständig barfuß über Steine laufen.
—Du hast noch nie einen Afghanen gesehen. Du hast doch keine Ahnung.
—In Santa Rosa, Sawyer, da gibt es diese afghanische Kebab-Bude. Du bist selbst schon da gewesen. Wieso hast du eigentlich so eine beschissene Laune?
Sie wollte unbedingt, dass hier alles anders war. Die Leute, der Ort. Sie hoffte auf Anmut, Licht, auf ein gemeinsames Ziel. Stattdessen empfand sie denselben Widerwillen, den sie vom Flughafen in San Francisco kannte, dieselbe Bestürzung, dieselbe Distanz zu allem. Gewisse Details waren anders, der Ort aber schien derselbe zu sein. Dieselbe Schattenlosigkeit, dieselbe strategische Anordnung von Schildern und Geschäften, dieselbe Sterilität. Sie hatte sich geirrt, als sie glaubte, ihr Land hätte sie ziehen lassen.
Sie saßen schon am Gate zu ihrem Anschlussflug, ehe sie wieder redete. —Ich hasse es hier. Wir könnten genauso gut noch in Kalifornien sein.
Decker gähnte in seinen Ärmel. —Das ist ein Flughafen, Sawyer. Was hast du denn erwartet?
—Keine Ahnung. Sie hielt einen Daumen an die Lippen und knabberte behutsam an der Nagelhaut. —Jedenfalls nicht das hier.
Auf ihrem Weg zum nächsten Flugsteig ging eine Gruppe Saudis an ihnen vorbei, die Männer mit Kufijas, langen Gewändern und offenen, teuer aussehenden Sandalen. Die Frauen folgten ihren Gatten mit einigen Schritten Abstand, schwatzten, ignorierten ihre übergewichtigen Kinder und schleppten sich mit farbenprächtigen Taschen voller Luxusgüter ab. Bei diesem Anblick wurde ihr übel. Die Kinder drückten ihre eigenen knallbunten Tüten an die Brust oder schleiften sie achtlos über den polierten Boden. Der kleinste Junge umklammerte eine Flasche Parfüm in seesternförmiger Schachtel.
Decker summte vor sich hin und ließ die Fingerknöchel knacken, während er den Saudis nachsah. —Wollen wir die nächsten fünfhundert Stunden einfach hier rumsitzen?
—Mir gefällt das so wenig wie dir.
Er dachte kurz über ihre Antwort nach. —Dann komm, sagte er. —Lass uns irgendwelchen Unsinn anstellen.
Die nächste Stunde verbrachten sie in einem Geschäft mit dem Namen Golden Ali Baba Duty Free. Unter der jeweiligen Ware stand der Preis auf beweglichen Schildchen in Gleitschienen aus Plastik, und während Decker die Verkäuferin in ein höfliches Gespräch verwickelte, machte Aden sich in der Abteilung Scotch & Bourbon rasch ans Werk. Der zwölf Jahre alte Macallan, der für 59,99 N zum Verkauf gestanden hatte, wurde nun für 99,95 N angeboten; der achtzehn Jahre alte Macallan dagegen für 00,99 N. Der Glenlivet kostete ab jetzt 6779,02 N, der Jameson dafür überhaupt nichts. Auf das höchste Regal, auf dem zuvor eine mit Samt ausgeschlagene Kiste mit einem zehn Jahre alten Laphroaig Cask Strength gelegen hatte, stellte sie eine seesternförmige Flasche Parfüm. Dann bemerkte sie, dass die Verkäuferin hinter ihr stand.
—Wollen Sie mir bei der Arbeit helfen? Das ist sehr freundlich. Allerdings sollten Sie zuerst den Unterschied zwischen Whisky und Parfüm lernen.
—Wo wir herkommen, kennt man da keinen Unterschied, hörte sie Decker antworten. —Sie werden beide aus dem Urin des Teufels gemacht, dem gefürchteten Al-Kool.
—Und wo soll das sein?, fragte die Frau und winkte die Security zu sich.
—Nangarhar, sagte Aden.
—Bitte urteilen Sie nicht schlecht über uns, sagte Decker. —Wir sind Mudschaheddin und in einer Höhle aufgewachsen.
Zu ihrem Erstaunen wurden sie ohne weiteres Verhör aus dem Laden geführt und durften in der Menge untertauchen. Decker flüsterte ihr zu, sie sollten es für einen Segen halten, vielleicht gar für ein gutes Omen, was so gar nicht zu Decker passte. Auf dem Gang drehte Aden sich in der vorüberströmenden Menge langsam im Kreis, und alles, was sie sah, überraschte sie. Die zuvor empfundene Distanz war unmerklich verschwunden, und jetzt spürte sie nur noch das Verlangen zu lachen, zu tanzen oder aus vollem Hals zu schreien. Sie sah Frauen mit Niqab und Männer mit Kufija in leuchtend weißen Gewändern und begann endlich zu begreifen, wie weit entfernt sie von daheim war. Sie fühlte sich so schwerelos wie ein Vogel.
Irgendwann später standen sie in einem Zeitschriftenladen, und Adens Blick fiel auf eine Reihe Bücher in Arabisch und Persisch. Bücher ohne ein einziges englisches Wort. So weit waren sie gereist. Hatten die halbe Welt umrundet. Aden hielt den Atem an und fuhr mit dem Daumen über die farbprächtigen Buchrücken.
—Wir haben es geschafft, sagte Decker. —Sawyer, wir haben es geschafft.
Wahllos zog sie ein Buch aus dem Regal, um sich das Cover anzuschauen. Das in Silber gestanzte Wort des Titels hatte sie noch nie zuvor gesehen, und es wollte sich ihrer Zunge nicht fügen, als sie es auszusprechen versuchte. Sie spürte, dass Decker hinter ihr stand.
—Noch nicht, sagte sie.
Er hakte einen Finger unter ihren Gürtel und drehte sie zu sich um. —Zur Hölle damit. Wir haben es geschafft. Wir sind weg.
—Der alte Mann im Flugzeug.
—Was ist mit ihm? Er zog sie näher zu sich heran. —Erzähl mir jetzt nichts von irgendeinem alten fetten Mann.
—Er wollte wissen, ob du ein Abenteurer bist. So hat er sich ausgedrückt. Er fragte, ob wir über die Grenze wollen, um zu kämpfen.
—Natürlich nicht.
—Das habe ich ihm auch gesagt.
—Aber gib’s zu, Sawyer. Es wäre …
—Es wäre ziemlich blöd.
—Für dich, schätze ich. Er zuckte mit den Achseln. —Weil du kein Mann bist.
Einen Moment lang sagte sie nichts. —Du schauspielerst nur, nichts weiter. Du probierst gerade eine Rolle aus.
—Na klar, erwiderte er. —Du doch auch.
Sie stand da, wich nicht vor ihm zurück und ließ sich von ihm taxieren. Das hatte er verdient, dieses bescheidene Zugeständnis. Sein Gesicht war ihrem zu nahe, um es genau sehen zu können, sein warmer Raucheratem auf ihren Lippen, an ihrem Hals. Leute drängten auf dem Flur an ihnen vorbei, aber er schien sie nicht wahrzunehmen. Durch ihr Leinenhemd konnte sie seinen Daumennagel spüren.
—Sawyer, flüsterte er. —Komm, suchen wir uns eine ruhige Ecke.
Ein Schauder überlief sie, als sie ihren rechten Handballen gegen seine Rippen presste. Er lächelte und beugte sich zu ihr herab, aber Aden schob ihn fort und merkte, wie sein Blick dunkler wurde.