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Lektorat Katharina Raabe

 

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Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Oktober 2018

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ISBN Printausgabe 978-3-498-04699-6 (1. Auflage 2018)

ISBN E-Book 978-3-644-00136-3

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-00136-7

Ausgehend von der genauen Betrachtung eines einzelnen Wildbirnenbaums

Seit ich in der Nähe dieses gigantischen Wildbirnenbaums lebe, brauche ich mich nicht mehr fortzubewegen, um in die Ferne zu sehen oder in die Zeit zurückzublicken.

Die Zweige der Wildbirne sind dicht mit kleinen runden bauchigen Blättern bewachsen, glänzend und hart wie Rindsleder. Ihre belaubten Äste neigen sich bis zur Erde, die Hauptäste stemmen die ebenmäßige Kugelkrone gegen den Himmel, schirmen die Hitze ab, dämpfen das Licht, lassen die Niederschläge abprallen.

Auch anderswo im Landstrich Göcsej, auf seinen Hügeln, an den Südosthängen der langgestreckten Höhenzüge, findet man vereinzelte Wildbirnenbäume. Von Ende August bis Anfang Oktober werfen sie zu Unmengen ihre herben Früchte ab und bedecken damit die magere Erde. Die Einheimischen verarbeiten das Fallobst zu Schnaps und Essig, und beides ist von unvergleichlicher Qualität.

Seine Fruchtbarkeit ist das Verderben des Wildbirnenbaums.

Nach schweren Wolkenbrüchen, wenn Bäume und Pflanzen keine Feuchtigkeit mehr aufnehmen, können die Hauptäste das Gewicht der Früchte nicht länger tragen und brechen. Solche

Zum zweiten Mal schreibe ich unser Wildbirnenbaum, obwohl ich ihn niemals als Eigentum betrachtet habe. Eher ist es umgekehrt. Ich empfinde es als besonderes Glück, seit zwei Jahrzehnten in seiner Nähe leben und ihn in voller Blütenpracht, dicht belaubt oder über Monate ganz kahl sehen zu dürfen, wenn ich von meiner Arbeit aufblicke.

Wie die ältesten Bewohner erzählen, hat sich das Dorf schon zu ihrer Jugend an Sommerabenden, wenn die Hitze nicht weichen wollte, unter dem Baum versammelt. Demnach muss er bereits vor achtzig Jahren eine beachtliche Größe gehabt haben. Solange wir keinen Zaun hatten, kamen die Alten zur Dämmerstunde mit ihrem Bier und setzten sich an unseren weißen

Ergänzend möchte ich sagen, dass die Einheimischen unter dem, was sie Dorf nennen, nicht einfach den Ort mit seinem geographischen Namen verstehen. Sie gebrauchen das Wort im Sinne von Welt, ähnlich wie die Franzosen, wenn sie von tout le monde sprechen. Das Dorf ist gleichbedeutend mit tout le monde, wer jedoch außerhalb dieses Umfelds lebt, zählt natürlich nicht dazu. Damit halten sie es ein wenig so wie die Spartaner, die Lesbier, die Athener und die übrigen Griechen, die alle, die keine Griechen waren, für Barbaren hielten. Oder zumindest für animalische Wesen, die nichts von ihren Göttern wussten und nicht ihre Sprache sprachen, mithin keine Menschen waren. Oder so wie jenes aus deutschen, polnischen, ungarischen, tschechischen und italienischen Söldnern zusammengetrommelte Heer, das einst unweit des Dorfes gegen die furchterregenden Türken kämpfen sollte. Die Krieger der verschiedenen Nationalitäten wurden in der Nacht vor der Schlacht von so heftigem Zorn ergriffen, dass sie mit ihren Waffen übereinander herfielen. Sie konnten es nicht ertragen, dass die anderen anstelle normaler Rede eher tierische Laute von sich gaben und die Sprache normaler Menschen nicht verstanden. So metzelten sie sich gegenseitig nieder, schlugen einander in die Flucht und verschafften damit dem gefürchteten Feind freie Bahn, der dann für viele Jahrhunderte fast alles verwüstete.

Bei uns gehören die Bewohner naher Dörfer zur vorhandenen Welt dazu, die Bewohner entfernterer Dörfer nicht.

Wahrscheinlich verhält sich das so, weil nach langwierigen, komplizierten, geheimen und öffentlichen Abstimmungsmanövern

Wenn das Dorf etwas tut oder wahrnimmt, dann haben weder die Handlung noch die Wahrnehmung ein Subjekt; eine Person beziehungsweise die an der Handlung oder Wahrnehmung beteiligten Personen werden rituell vom kollektiven Bewusstsein verschlungen. Heute setzt das Dorf Kartoffeln. Natürlich gibt es immer tonangebende Leute, die auf die langwierige, kompliziert und geheimnisvoll vorbereitete Entscheidung wahrscheinlich größeren Einfluss gehabt haben als andere, nachdem sie aber einmal gefallen ist, unterwerfen sich ihr ausnahmslos alle, und die Rolle einer einzelnen Person hat keine Bedeutung mehr. Egal, ob ihre Einschätzung richtig oder falsch gewesen ist. Im Laufe von zwanzig Jahren habe ich in Zusammenhang mit den gemeinsamen Entscheidungen noch nie von einem nachträglichen

Bei mir hat es mindestens zehn Jahre gedauert, bis ich akzeptiert habe, dass ich beim Mähen auch bei größter Hitze eine lange Hose und ein langärmeliges Hemd tragen und das Hemd bis zum Kragen zuknöpfen muss. Wer es anders macht, kann seine Körpertemperatur nicht richtig regulieren, der Schweiß erkaltet auf der Haut, die Bremsen peinigen ihn zu Tode.

Der Begriff Dorf hat jedoch noch einen weiter gefassten, abstrakteren Sinn. Er umfasst nicht nur alle, die zu uns gehören, ihre Wahrnehmungen und Handlungen, alle, die uns durch Blutsbande nahestehen samt ihrem Tun oder Lassen, sondern auch den vollkommen kollektiven Bewusstseinsinhalt, an dem jeder teilhat. Außerhalb des Dorfwissens existiert kein Wissen.

Ich will eine Geschichte erzählen, um diesen Wortgebrauch zu erhellen beziehungsweise die unanfechtbare und wasserdichte Vorstellung von der Welt, die dahintersteht.

Im Zweiten Weltkrieg ging die Front mehrmals über diese Gegend hinweg. Einmal, als die Russen dabei waren, die Deutschen zu vertreiben, desertierten sechs deutsche Soldaten von ihrer Einheit und versteckten sich in einem nahe gelegenen Weinberg auf dem Dachboden des Kelterhauses. Nicht dass sie sich gerne ergeben hätten, aber sie hatten genug vom Krieg. Das Dorf respektierte ihren Entschluss und versteckte sie sechs Jahre lang. Was nicht heißt, dass sie sechs Jahre lang nicht vom Dachboden herunterkonnten, im Gegenteil, sie lebten und arbeiteten draußen auf den Feldern wie alle anderen auch. Im ersten Frühling verletzte sich einer der Soldaten mit dem Pflug am Fuß,

Das undurchdringliche und wasserdichte Weltverständnis, das den einen Deutschen das Leben kostete, machte jedoch die anderen fünf so unverletzlich und frei, dass sie nach kurzer Zeit nicht nur bei ortsansässigen Landwirten arbeiteten, sondern auch in benachbarten Dörfern als Tagelöhner beschäftigt waren. Dem stand nichts im Wege, denn die Bewohner der benachbarten Dörfer sind ebenfalls tout le monde, und über das, was jeder weiß, muss nicht geredet werden, und jemand anderer kann es tatsächlich nicht wissen. Deswegen meine Feststellung, dass ich in einer Gegend lebe, wo die Menschen in prämodernen Begriffen denken.

In den dunkelsten Jahren des Kalten Krieges, als die ganze ungarische Gesellschaft von einem unglaublichen Netz von Spitzeln und Geheimagenten überzogen war, genossen die fünf deutschen Männer nicht nur vollkommenen Schutz; eines schönen Tages, als sie ihr Heimweh nicht mehr bezähmen konnten, brachten die Einheimischen sie sogar über die nahe gelegene österreichische Grenze. Über Stacheldraht, über Minenfelder, den gefürchteten Eisernen Vorhang hinweg.

Man bekommt das Gefühl, dass das Leben hier nicht aus persönlichen Erlebnissen, nicht aus Erinnern und Vergessen, sondern aus tiefem Schweigen besteht.

Was auch verständlich ist, sind doch die mit individuellem Bewusstsein gesegneten Menschen gezwungen, immer etwas mehr zu sagen, als sie wissen, während man in einem prämodernen Umfeld als Einzelner wesentlich weniger sagt, als jeder weiß.

Die kleinen Ortschaften auf den Hügelkuppen liegen so nah beieinander, dass das Dorf nicht nur die Glocken herüberläuten hört, dank deren es weiß, dass jemand gestorben ist, jemand zu Grabe getragen, eine Hochzeit abgehalten, in einer weiter

Nicht nur das Wissen, auch das Hören und Sehen funktioniert auf der Ebene des entpersönlichten Kollektivs. Man hört und sieht gemeinsam. Immer von neuem überrascht es mich zutiefst, dass es genügt, wenn jemand neue, noch nie gezeigte Kleider trägt, um nicht mehr erkannt zu werden. Plötzlich versteht man, dass die Menschen im Zeitalter vor der Individualisierung tatsächlich durch Verkleidung zu täuschen waren. Mehr noch, kommt ein Fremder ins Dorf, sind die Einheimischen unfähig, sein Alter einzuschätzen. Sie haben dafür keinen Blick, wahrscheinlich weil sie ihr Augenmerk nicht auf das Äußere, sondern auf den Charakter, die Eigenschaften richten. Im Hinblick auf das äußere Erscheinungsbild können sie sich gegebenenfalls auch völlig konträr verhalten. Obwohl sie allen Fremden gegenüber auf eine maßlose, geradezu peinliche Weise misstrauisch sind, lassen sie gleichzeitig jeden, der Anzug und Krawatte trägt und irgendein Papier vorweist, ohne Bedenken ins Haus. Dementsprechend geben sich Schleichdiebe als Steuerbeamte oder Landmesser aus. Der Trick gelingt immer. Jedem Fremdwort schreiben die Dorfbewohner eine zu seinem Klang passende Bedeutung zu und bauen es so in ihre Sprache ein. Sie unterscheiden nur Grundfarben, Gelb, Rot, Blau, weshalb Farben braun genannt werden, die anderswo Lila, Ocker oder Beige heißen. Dunkelbraun, Dunkelgrau oder Dunkelblau gelten auch im Kleidergeschäft der nahen Kleinstadt als Schwarz. Falls jemand bezweifelt, dass differenziertes Farbempfinden nicht auf einer naturgegebenen menschlichen Fähigkeit, sondern auf Übereinkunft beruht und sich manchmal sogar aus lokalen Konventionen herleitet, hier kann er sich davon überzeugen.

Wenn irgendwo Rauch aufsteigt, weiß das Dorf, wer Feuer gemacht hat, riecht das Dorf, was er verbrennt. Die Welt ist überschaubar, ein jeder im Auge zu behalten. Jemanden, der über das im Auge zu Behaltende hinausgeht, kann sich das Dorf nicht vorstellen.

Als im Frühling 1990 jeder Bürger der frisch gegründeten Republik erstmals frei wählen konnte, bat mich der Gemeindevorsteher, ihm doch zu sagen, wen das Dorf wählen solle. Er kam wie einer, den das Dorf geschickt hat. In der Tat war er vom Dorf geschickt worden, denn soweit das Auge reicht und noch ein gutes Stück weiter, hatte kein Mensch irgendeine Ahnung vom Sinn und Inhalt politischer Freiheit. Vielleicht in ein paar fernen Großstädten, Prag, Warschau, Wien, Berlin oder Budapest, doch auch dort nur einige wenige. Die Diktatur war ja 1989 auch nicht zusammengebrochen, weil die Völker Ost- und Mitteleuropas allmählich zu der Überzeugung gelangt wären, die Weltordnung der liberalen Demokratie und der Marktwirtschaft sei doch besser und gerechter als die des real existierenden Sozialismus oder des noch nie realisierten Kommunismus, da sie dem Einzelnen eine größere Portion Glück bietet. Schön wäre es, wäre es so gewesen. Doch die Wahrheit ist, dass die Völker Ost- und Mitteleuropas, dem Gebot ihres animalischen Egoismus und Überlebenstriebs gehorchend, hartnäckig auf einem Minimum an Privateigentum und Selbstbestimmung bestanden; dass sie darauf bestanden,

Hätte ich dem Gemeindevorsteher gesagt, wen das Dorf wählen soll, dann hätte es seine Stimme zweifellos der Partei oder dem Kandidaten gegeben, denen ich meine gab, ich habe es aber nicht gesagt. Nicht dass ich die Verantwortung des ausgesprochenen Wortes gescheut hätte. Sondern weil ich vom ersten Moment an die Auffassung, die ich mir selbst von politischer Freiheit und Demokratie gebildet hatte, nicht verleugnen wollte. Ich habe lieber kurz dargelegt, welche Anschauungen die einzelnen Kandidaten meiner persönlichen Meinung nach vertreten und mit welchem Vor- oder Nachteil das Dorf demgemäß im Zusammenhang mit welchem Kandidaten zu rechnen hätte. Währenddessen sah ich dem Gemeindevorsteher an, dass er mein Verhalten als Zurückweisung empfand und meinem Vortrag seiner Enttäuschung wegen nur teilweise folgen konnte. Unmutig ging er davon, sozusagen unverrichteter Dinge, mit mehr Zweifeln beladen, als er gekommen war. Es war mir immer noch lieber, als wenn ich ihn auf seiner magischen und mythischen Bewusstseinsebene erreicht und so getan hätte, als sei ich ein Schamane, der ihm Dinge sagen kann, die anderen vorauszusehen nicht möglich sind. Inzwischen ist auch er tot, und noch heute erfüllt mich ein Gefühl von Zufriedenheit, dass ich ihn zwar enttäuscht, ihm aber hinsichtlich des Grundcharakters der Demokratie nichts vorgemacht habe.

Das Dorf musste die Erfahrung machen, dass es zum ersten Mal in seiner Geschichte nicht mehr über eine unanfechtbare,

In jenen heißen Sommernächten, von denen die Dorfältesten erzählen, hat man unter der Wildbirne leise gesungen. Alle, die es erzählen, betonen, leise.

Das Dorf hat leise gesungen.

Sicherlich wollte das Dorf die Nacht nicht ungebührlich stören.

Die Mentalität der Einheimischen weist bis heute starke magische und mythische Bewusstseinsinhalte auf, obgleich die Welt um sie herum offenkundig in eine ganz andere Richtung geht. Ich werde ein paar leichter verständliche Beispiele anführen, damit wir uns diese eigenartige Spaltung klarmachen können.

Die Einheimischen wissen zum Beispiel, dass die Menschen sich anderswo grüßen, da sie auch auswärts arbeiten gehen, doch innerhalb des Dorfes ist der Gruß nach wie vor unbekannt. Auch die Bewohner der umliegenden Dörfer grüßen sich nicht. Sie verabschieden sich auch nicht voneinander. Wenn sich Nachbarn, Verwandte oder Bekannte auf der Straße oder im Bus begegnen, fangen sie statt eines Grußes auf der Stelle zu sprechen an und reden so lange, bis der andere außer Hörweite ist. Alles andere wäre unhöflich. Sie fragen auch nicht, wie es um das werte Befinden steht. Höfliche Erkundigungen dieser Art erregen bei ihnen eher Betroffenheit und Schrecken. Hinsichtlich des täglichen Seelen- und Körperzustands gibt es nämlich keine abstrakten Reflexionen, obgleich sie gerne und ausführlich über die qualvollsten Krankheiten berichten und stolz die Blessuren an ihren Körpern vorzeigen. Womöglich schlagen sie die Röcke hoch und schieben die Hosen herunter, um zu demonstrieren, dass sie trotz allem überlebt haben. Während des Gesprächs hören sie einander

Es ist nicht möglich, die Behauptungen und Äußerungen aufgrund späterer Erkenntnisse oder früherer Trugschlüsse zu korrigieren. Das wird nicht toleriert, und es wird auch gar nicht erst versucht. Der Vorgang der Korrektur ist vollkommen unbekannt, deswegen ist es nicht nur nicht möglich, Missverständnisse aufzuklären, es ist auch nicht möglich, unbekannte Begriffe einzuführen oder falsch verstandene Begriffe zu berichtigen. Wahrscheinlich ist es nicht möglich, weil das Zeitempfinden und die örtliche Zeitrechnung anders sind. Damit sich im kollektiven Bewusstsein etwas ändert, bräuchte es wahrscheinlich noch die Erfahrung mehrerer hundert Jahre, die von der eigenständigen Äußerung eines Einzelnen nicht ersetzt werden kann. Die Eigenart des Zeitempfindens geht auch daraus hervor, dass es in der großen dorfgeschichtlichen Erzählung zwar Tage gibt und an diesen dicht aufeinanderfolgende Ereignisse, doch wie bei den antiken Geschichtsschreibern keine Jahreszahlen.

Es wird stets viel gemeinsam gearbeitet. Man arbeitet in möglichst großem Kreis, die ganze Familie arbeitet mit den Angehörigen anderer Familien zusammen, mit denen sie aus irgendwelchen Gründen in eine wirtschaftliche Verbindung treten muss. Während der Arbeit wird unaufhörlich geredet, zuweilen

Über den Wert des Geldes ist jeder genauestens im Bilde, über den Zusammenhang von Geld und Arbeit nicht weniger. Im internen Leben des Dorfes ist Geld trotzdem kein Zahlungsmittel, und daher lässt sich der Wert der hier verrichteten Arbeit wohl kaum in Geld ausdrücken. Wenn jemand von auswärts kommt, um eine Arbeit zu verrichten, wird er bezahlt, innerhalb der Dorfgrenzen aber macht bis auf den heutigen Tag niemand irgendetwas für Geld. Ein außenstehender Beobachter erhält natürlich selten Einblick in diese Naturalwirtschaft. Es wird Tauschhandel mit Materialien, Naturalien und Arbeit betrieben, der Marktwert der Transaktionen aber wird nicht von äußeren Faktoren, sondern von den jahrhunderteweit zurückgehenden inneren Marktbedingungen bestimmt. Die mit Geld oder Geldmarkt nichts zu tun haben. Merkwürdigerweise auch dann nicht, wenn es sich um Waren handelt, die für Geld erworben wurden. Wie etwa Backsteine, Dachziegel, Brunnenringe oder Betonträger, die im internen Kurs durch Arbeit, Naturalien oder irgendwelche anderen Güter ablösbar werden, wenn auch keinesfalls für jeden.

Man behält nicht nur über Jahrzehnte hinweg im Gedächtnis, wer wem wann was gegeben und im Tausch dafür bekommen hat beziehungsweise schuldet, sondern diese Tauschhandelsakte prägen auch das Verhältnis von Familien und Personen untereinander entscheidender als irgendetwas sonst. Dieses dem Fremden unbekannte und unüberschaubare System von Interessen ist

Natürlich sind auch Betrug, Diebstahl und Gewalt, Willkür und sexuelle Exzesse keine unbekannten Phänomene. Für diese Fälle gibt es Sanktionen und für diese wieder verschiedene Abstufungen, jedoch erinnern weder Verfahren noch Strafe an Verfahren und Strafen, wie sie in den verschiedensten modernen Gesellschaften oder schon in den näher liegenden Städten üblich sind. Schon allein deswegen nicht, weil man Betrüger, Diebe, Gewalttäter oder Verrückte nicht aus dem Dorf entfernen kann. Das ginge nur mit behördlicher Hilfe, doch im Laufe von zwanzig Jahren ist dergleichen nicht vorgekommen, und soweit man den Erzählungen glauben darf, auch früher nicht. In zwanzig Jahren habe auch ich den Eindruck gewonnen, dass kein Dorf ohne ein paar Verrückte existieren kann, es zumindest immer einen Dieb geben muss. Der Diebstahl gemahnt zumindest daran, dass man

Eigentlich wäre nichts zu machen, das Dorf muss jedoch im Interesse von Ruhe und Ordnung etwas tun.

Wenn ein außergewöhnlicher Vorfall das Dorf erschüttert, wird zuerst ein schnelles Abstimmungsverfahren eingeleitet. Aus der Notwendigkeit dieser Prozedur wird rückblickend verständlich, warum jeder ständig über alles und jedes Bescheid wissen muss. Wer war wo, wer hat was gesehen, was ist wann und wo geschehen. Solche Fragen muss in diesen bedrohlichen Stunden jeder beantworten. Aus den Antworten ergibt sich selbst dann noch ein Bild, wenn keiner etwas gesehen hat, denn jeder kennt die Gewohnheiten von jedem, und so wird in diesem Fall das Ausschlussverfahren angewendet. Der Verdächtige ist schnell ausgemacht, im Allgemeinen ein Rückfalltäter. Was wiederum das Dorf nur in der Überzeugung bestärkt, dass Verbrechen unvermeidlich sind und man höchstens das Ausmaß des Schadens begrenzen kann. Welche Person gemeint ist, teilt man sich untereinander durch allgemeine Andeutungen mit, so dass der Name nicht ausgesprochen werden muss. Die äußerste Grenze des Namhaftmachens ist erreicht, wenn man sagt: «Ich weiß es, aber ich sage nicht, an wen ich denke. Du weißt es ja selbst.» Und so ist es wirklich. Per Ausschlussverfahren weiß es das Dorf, aber es weiß es, als hätte es dieses Wissen vom ersten Augenblick an gehabt. Jeder weiß, um wen es sich handelt, obwohl niemand seinen Namen ausgesprochen hat.

Mit der Verurteilung wartet man so lange, bis eine größere

Über die schwereren Strafen sprechen sie auch untereinander nicht. Als drückendes Schweigen, als schwarze Löcher leben sie in der großen Erzählung fort.

Ich kann nicht sagen, dass das Dorf tot ist. Es lebt. Allerdings haben sich in den letzten Jahren die Lebensbedingungen grundlegend verändert, ein Teil der Bevölkerung ist abgewandert, die Abgeschlossenheit hat sich beträchtlich gelockert. Seit langem gibt es keine so schweren Delikte mehr, dass das Dorf zu den am strengsten verschwiegenen Mitteln greifen müsste. Bei der Vollstreckung einer verbalen Verurteilung dagegen bin ich selbst noch Zeuge gewesen.

Während der langen Jahre der Diktatur hatte sich dank dieses Systems familiärer, die Geldwirtschaft außer Kraft setzender Beziehungen, das schwere Sanktionen kennt, eine sogenannte zweite Wirtschaft oder auch Schattenwirtschaft aufgebaut, durch die die Gesellschaften Ost- und Mitteleuropas imstande waren, die auf den gemeinsamem Besitz von Produktionsmitteln gegründete Planwirtschaft nicht nur zu umgehen, sondern sie sich regelrecht dienstbar zu machen. Wodurch sie zwar über Jahrzehnte den Glauben an die Notwendigkeit und Heiligkeit des Privateigentums verteidigten, paradoxerweise jedoch den kollektivistischen Charakter ihres Denkens vertieften. Im kollektiven Bewusstsein wurden, wenn auch aus der Not heraus, Betrug und Diebstahl

Von der Betrachtung des Birnbaums ausgehend, ist die Geschichte des Dorfes auch deshalb so gut überschaubar, weil von großen Ereignissen, alles umwälzenden Veränderungen kein Nachhall bleibt.

Der erste richtige Lärm, den ich hier in der Nacht hörte, war das Dröhnen von Flugzeugen, riesigen Transportmaschinen über uns, die unterwegs in den Kosovokrieg waren. Seit Frieden herrscht, ist wieder Stille.

Unter dem großen Wildbirnenbaum wurde manchmal zum Gesang musiziert, leise, erzählt man. Wahrscheinlich gab man mit solcher uralten Rücksicht auf die Nacht den Göttern zu verstehen, dass man sich nicht leichtfertig vergnügte und die erdgeschichtliche Stille nicht stören wollte. Damals gab es im Dorf nur ein einziges brauchbares Musikinstrument, einen Kontrabass, den ein Heimkehrer nach dem Ende des Ersten Weltkriegs von der italienischen Front mitgebracht hatte. Aber niemand erinnert sich mehr, mit welchem Musikinstrument der Gesang vorher begleitet wurde.

Man stelle sich den tiefen Klang des Kontrabasses, den Gesang der vielen gleichstimmigen Kehlen, das Schreien der Eulen und das Zirpen der Grillen in der reglosen Sommernacht vor.

Wenn nur Mond und Sterne die Szenerie beleuchten.

In dieser Gegend kannte man früher keine Zäune, die Gemüsegärten wurden durch Hecken vor streunenden Tieren geschützt. Die Häuser wurden aus Pfählen erbaut, mit Lehm verputzt und abgedichtet.

Die letzte Hexe ist erst Ende des achtzehnten Jahrhunderts bei lebendigem Leibe verbrannt worden.

Bis Ende des neunzehnten Jahrhunderts war der Schornstein unbekannt, der Rauch vom Herd zog durch eine Öffnung über der Küchentür ab.

Die Elektrifizierung wurde Mitte der sechziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts durchgeführt.

Wie ein Märchenspielzeug in einer Modelllandschaft tuckert sie bis heute mit Brennholz beladen an den stillen Waldrändern entlang.

Es dürfte unbezweifelbar sein, dass sich das Dorf in den warmen Sommernächten unter dem großen Wildbirnenbaum der rituellen Kontemplation hingab, gewissermaßen dem kollektiven Bewusstseinsinhalt Rechnung trug. Und wer sich dies vergegenwärtigt, blickt in eine Zeit von tausend Jahren vor dem Christentum zurück. Das in dieser Gegend in Wirklichkeit erst achthundert Jahre alt ist. Nach der Landnahme lebte in den hiesigen Siedlungen ein Geschlecht, das lange Zeit auch durch Anwendung brutalster Methoden nicht mit den Institutionen des christlichen Königtums auszusöhnen war. In diesem westlichen Grenzgebiet des ungarischen Königreichs, das Palisaden und Erdwälle unpassierbar machten und wo die tüchtigsten Burgsassen von den frühmittelalterlichen Königen von ihrer Dienstpflicht befreit und

Was in der Geschichte der europäischen Christenheit nicht ohne Beispiel ist. Weitaus größere, bedeutendere Gebiete sind über längere Zeiten heidnisch geblieben, und Spuren dieser Jahrhunderte haben sich auf der geistigen Landkarte des Kontinents bis heute als Unterschiede im Entwicklungsstand erhalten.

Oben im fernen Norden zum Beispiel, in den weiten bewaldeten Gebieten zwischen der Nordsee und den bis heute unberührten Masurischen Seen, zwischen Weichsel und Memel, wo einst die Pruzzen, Prussen oder, mit ihrem heute üblichen Namen, die Preußen lebten, hat sich etwas ganz Ähnliches abgespielt. Die Bekehrung der Preußen hatte der Prager Bischof Adalbert zu seiner Sache gemacht, der auch bei der Bekehrung der Ungarn eine wichtige Rolle spielte. Es lohnt sich, seine Lebensgeschichte kurz zu rekapitulieren, weil darin Verbindungen und Zusammenhänge sichtbar werden, die schon vor Urzeiten das Leben innerhalb jener größeren geographischen Einheit bestimmten, welche der zeitgenössische politische Sprachgebrauch gern von «Europa» abtrennt und mit dem Begriff Mittel- oder manchmal Osteuropa belegt, manchmal auch mit beiden zugleich, obschon er die Grenzen Europas nicht lokalisieren kann oder zu lokalisieren wagt, trotz der unerlässlichen Anstrengung, sie zu definieren.

Würde sich jemand dieser schwierigen Aufgabe unterziehen, dann müsste er zunächst angeben, wo sich das Zentrum des Kontinents befindet und was im Verhältnis dazu als Peripherie gelten soll. Dazu aber müsste man den historischen Begriff Europas erst einmal aus dem Kontext nationalistischer und kolonialistischer Mythologien verschiedener Provenienz befreien, um die Geschichte des Kontinents als deren Wechselwirkung und

Doch wie dem auch sei, jener treffliche Mann namens Adalbert, der 955 als Graf von Libice das Licht der Welt erblickte und mit knapp dreißig das Prager Bistum unter der Bedingung übernahm, ausreichende Machtbefugnisse zum Ergreifen außerordentlicher Maßnahmen zu erhalten, um den Sittenverfall aufzuhalten und die gute Ordnung wiederherzustellen, sah nach wenigen Jahren ein, dass seine Maßnahmen zu nichts führten. Aus seiner Geschichte wird evident, was Adalbert unter dem Niedergang sittlicher Normen verstand. Dass eine Dame aus einer vornehmen Familie ihren Ehemann betrog, noch dazu mit dem Priester, der ihr Beichtvater war, gehörte nicht dazu. Mit derart banalen Vorkommnissen gab er sich nicht ab. In Zorn versetzte ihn vielmehr, dass der Ehemann seine Gemahlin nach heidnischem Brauch selbst hinrichten wollte, was nicht nur die Mitglieder beider Familien, sondern ganz Prag für rechtskonform befanden.

Adalbert ließ die Dame von seinen Dienern rauben und in ein Nonnenkloster sperren. Er rechnete nicht damit, dass auch unter den Bräuten Christi Anhängerinnen der heidnischen Riten waren und es der vornehmen Familie daher nicht schwerfiel, den Aufenthaltsort der Dame zu erkunden. Die Diener der Familie raubten das sündige Weib zurück, und so konnte der Ehemann es zur größten Zufriedenheit aller eigenhändig abschlachten. Aus Angst vor dem Volkszorn verließ Adalbert seinen Bischofsstuhl und suchte mit seinem Gefolge bei den heidnischen Ungarn Zuflucht, wo er sich mehr Erfolg erhoffte. Er hatte durch seine Gesandten erfahren, Geisa, der Fürst der ungarischen Stämme, zeige sich bereit, den christlichen Glauben anzunehmen. 994 trifft Adalbert am Sitz des ungarischen Fürsten ein, wo es ihm gelingt, mehrere ungarische Edelleute zu taufen, wir wissen allerdings nicht, wie lange er sich hielt. Wir wissen hingegen, dass er seinen Hofkaplan Astrik zurückließ, der in Missionsangelegenheiten Ratgeber am Hof des ersten ungarischen Königs wurde und im Frühling 1001 mit einer Huldigungsabordnung zu Papst Silvester II. nach Rom aufbrach.

Zu dieser Zeit weilte der arme, verjagte Adalbert schon nicht mehr unter uns Lebenden.

Von seinem weiteren Schicksal wissen wir nur, dass er sich kurze Zeit im fernen Norden, am Hofe des Herzogs Boleslaw, aufhielt, und vermutlich war er dem Ruf des polnischen Herzogs nicht nur gefolgt, um endlich die heidnischen Preußen zu bekehren, sondern weil man am Prager Hof nichts von seiner Rückkehr auf den Bischofsstuhl wissen wollte.

Nicht weit von ihm entfernt gibt es jedoch eine uralte Edelkastanie, die von Forstkundigen auf achthundert Jahre geschätzt wird. Jedes Jahr pilgere ich mehrere Male zu ihr. An einem stillen Waldrand steht sie, auf der Kuppe eines Hügels.

Vermutlich war sie gerade zu der Zeit zum Baum herangewachsen, als die Bekehrung der Einheimischen endlich gelang. Was in dieser Gegend nicht viele konkrete Spuren hinterlassen hat. In Lebensgewohnheiten oder Redensarten findet sich kaum ein

Als dann das erste frei gewählte ungarische Parlament das Verhältnis von Staat und Kirche gesetzlich regelte und diese zum ersten Mal in ihrer Geschichte einander nicht mehr über- oder unter-, sondern nebengeordnet waren, wollte ich einem Nachbarn, einem älteren Mann, mit dem ich im Bus saß, meine Freude darüber kundtun. Er schwieg lange. Dann antwortete er bekümmert, ihm wäre es nicht lieb, wenn seine Enkelkinder am Sonntag mit Gendarmen zur Kirche gebracht würden, wie es einst mit ihm geschehen war.

Die Namen der Siedlungen sind immer aus zwei Wörtern zusammengesetzt, einem Familiennamen und einer die Art der Besiedelung bezeichnenden Beifügung, altungarisch in der Bedeutung von Rodung beziehungsweise Sitz oder Niederlassung: Eck, Egg. Jedes Dorf ist ursprünglich ein Sitz oder die Niederlassung einer Adelsfamilie. Dort leben die Nachfahren jener zum Grenzschutz verpflichteten Burgsassen, die 1178 zur Belohnung für ihren jahrhundertelangen Dienst und ihre erfolgreiche Bekehrung von König Béla III. beziehungsweise einige