Lektorat Katharina Raabe
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Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Oktober 2018
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ISBN Printausgabe 978-3-498-04699-6 (1. Auflage 2018)
ISBN E-Book 978-3-644-00136-3
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ISBN 978-3-644-00136-7
Ausgehend von der genauen Betrachtung eines einzelnen Wildbirnenbaums
Seit ich in der Nähe dieses gigantischen Wildbirnenbaums lebe, brauche ich mich nicht mehr fortzubewegen, um in die Ferne zu sehen oder in die Zeit zurückzublicken.
Die Zweige der Wildbirne sind dicht mit kleinen runden bauchigen Blättern bewachsen, glänzend und hart wie Rindsleder. Ihre belaubten Äste neigen sich bis zur Erde, die Hauptäste stemmen die ebenmäßige Kugelkrone gegen den Himmel, schirmen die Hitze ab, dämpfen das Licht, lassen die Niederschläge abprallen.
Auch anderswo im Landstrich Göcsej, auf seinen Hügeln, an den Südosthängen der langgestreckten Höhenzüge, findet man vereinzelte Wildbirnenbäume. Von Ende August bis Anfang Oktober werfen sie zu Unmengen ihre herben Früchte ab und bedecken damit die magere Erde. Die Einheimischen verarbeiten das Fallobst zu Schnaps und Essig, und beides ist von unvergleichlicher Qualität.
Seine Fruchtbarkeit ist das Verderben des Wildbirnenbaums.
Nach schweren Wolkenbrüchen, wenn Bäume und Pflanzen keine Feuchtigkeit mehr aufnehmen, können die Hauptäste das Gewicht der Früchte nicht länger tragen und brechen. Solche Sommerkatastrophen verwüsten die Laubkronen, sie werden verwundbar, aber selbst in diesem zerrauften Zustand, immer stärker verwitternd, halten sie sich jahrhundertelang. Unser gigantischer Wildbirnenbaum hat seine ebenmäßige Krone bewahrt. Arbores excelsae, wie es in der Fachsprache der Forstwissenschaft heißt, ein hervorragendes Exemplar seiner Gattung. Wenn auch einmal, an einem dösigen Sommernachmittag, ein gewaltiges Krachen die Stille zerriss und gleichzeitig der Boden unter mir schmerzlich aufstöhnte. Ich rannte hinaus, um zu sehen, was geschehen war, abgebrochen lag da ein mächtiger Seitenast. Auf den ersten Blick konnte ich gar nicht ermessen, welche Tragödie sich ereignet hatte. Als wäre ihm ein Arm abgerissen. Ich zersägte ihn, im Herbst wurde er in unserem Kachelofen zu Wärme. Seitdem bekümmert mich, dass er fehlt. Ich versuche den Baum so anzuschauen, dass ich seine Wunde nicht sehe. Im Laufe eines Jahrzehnts hat das Laub anderer Äste die Lücke in der Krone auch fast wieder gefüllt. Beinahe möchte ich sagen, unser Wildbirnenbaum weiß wohl, was er wann tun muss. Allmählich stellt er die Vollkommenheit wieder her, zumindest den Anschein der Vollkommenheit.
Zum zweiten Mal schreibe ich unser Wildbirnenbaum, obwohl ich ihn niemals als Eigentum betrachtet habe. Eher ist es umgekehrt. Ich empfinde es als besonderes Glück, seit zwei Jahrzehnten in seiner Nähe leben und ihn in voller Blütenpracht, dicht belaubt oder über Monate ganz kahl sehen zu dürfen, wenn ich von meiner Arbeit aufblicke.
Wie die ältesten Bewohner erzählen, hat sich das Dorf schon zu ihrer Jugend an Sommerabenden, wenn die Hitze nicht weichen wollte, unter dem Baum versammelt. Demnach muss er bereits vor achtzig Jahren eine beachtliche Größe gehabt haben. Solange wir keinen Zaun hatten, kamen die Alten zur Dämmerstunde mit ihrem Bier und setzten sich an unseren weißen Gartentisch unter dem Baum, und wenn die Nacht hereinbrach, unterhielten sie sich, leise, immer noch. Man muss dazu wissen, dass die Temperatur unter einer so großen Wildbirne auch in der drückendsten Sommerhitze erträglich bleibt. Inzwischen lebt von diesen Alten keiner mehr.
Ergänzend möchte ich sagen, dass die Einheimischen unter dem, was sie Dorf nennen, nicht einfach den Ort mit seinem geographischen Namen verstehen. Sie gebrauchen das Wort im Sinne von Welt, ähnlich wie die Franzosen, wenn sie von tout le monde sprechen. Das Dorf ist gleichbedeutend mit tout le monde, wer jedoch außerhalb dieses Umfelds lebt, zählt natürlich nicht dazu. Damit halten sie es ein wenig so wie die Spartaner, die Lesbier, die Athener und die übrigen Griechen, die alle, die keine Griechen waren, für Barbaren hielten. Oder zumindest für animalische Wesen, die nichts von ihren Göttern wussten und nicht ihre Sprache sprachen, mithin keine Menschen waren. Oder so wie jenes aus deutschen, polnischen, ungarischen, tschechischen und italienischen Söldnern zusammengetrommelte Heer, das einst unweit des Dorfes gegen die furchterregenden Türken kämpfen sollte. Die Krieger der verschiedenen Nationalitäten wurden in der Nacht vor der Schlacht von so heftigem Zorn ergriffen, dass sie mit ihren Waffen übereinander herfielen. Sie konnten es nicht ertragen, dass die anderen anstelle normaler Rede eher tierische Laute von sich gaben und die Sprache normaler Menschen nicht verstanden. So metzelten sie sich gegenseitig nieder, schlugen einander in die Flucht und verschafften damit dem gefürchteten Feind freie Bahn, der dann für viele Jahrhunderte fast alles verwüstete.
Bei uns gehören die Bewohner naher Dörfer zur vorhandenen Welt dazu, die Bewohner entfernterer Dörfer nicht.
Wahrscheinlich verhält sich das so, weil nach langwierigen, komplizierten, geheimen und öffentlichen Abstimmungsmanövern alle im Dorf ganz plötzlich etwas in gleicher Weise tun müssen, während andere in anderen Dörfern fraglos etwas ganz anderes anders und zu einer anderen Zeit erledigen müssen, und das definiert den Unterschied. Wenn das Dorf die Zeit zum Kartoffelsetzen oder zur Maisernte gekommen sieht, steht außer Frage, dass jeder Kartoffeln setzen oder Mais ernten muss, und also setzt das Dorf Kartoffeln oder erntet Mais. Lange habe ich diese koordinierten und wetterabhängigen Aktivitäten mit Befremden beobachtet, doch mit meinen Alleingängen immer das Nachsehen gehabt. Tue ich etwas nicht so und nicht dann, wie und wann das Dorf es tut, mache ich mir im physischen Sinne des Wortes das Leben schwer. Was das Verhältnis von Himmel und Erde, von Boden und Niederschlag angeht, kann auch das Dorf auf nichts anderes setzen als auf Wahrscheinlichkeit. Nur dass keine abweichende Meinung eines Einzelnen es daran hindert, sich dieser Wahrscheinlichkeit zu unterwerfen. Es ist ein so tiefer und auf alle Lebensphänomene ausgedehnter Zwang, dass sich ihm das an individuelle Entscheidungen gewöhnte Bewusstsein nur schwer unterordnen kann.
Wenn das Dorf etwas tut oder wahrnimmt, dann haben weder die Handlung noch die Wahrnehmung ein Subjekt; eine Person beziehungsweise die an der Handlung oder Wahrnehmung beteiligten Personen werden rituell vom kollektiven Bewusstsein verschlungen. Heute setzt das Dorf Kartoffeln. Natürlich gibt es immer tonangebende Leute, die auf die langwierige, kompliziert und geheimnisvoll vorbereitete Entscheidung wahrscheinlich größeren Einfluss gehabt haben als andere, nachdem sie aber einmal gefallen ist, unterwerfen sich ihr ausnahmslos alle, und die Rolle einer einzelnen Person hat keine Bedeutung mehr. Egal, ob ihre Einschätzung richtig oder falsch gewesen ist. Im Laufe von zwanzig Jahren habe ich in Zusammenhang mit den gemeinsamen Entscheidungen noch nie von einem nachträglichen Vorwurf gehört. Es wird höchstens vermerkt, dass es in diesem Jahr so, in einem anderen Jahr anders gemacht worden ist. Die Verantwortung dafür wird nicht mit dem Namen einer Person verknüpft, auch nicht mit dem eigenen – selbst im Falle augenfälliger Versäumnisse nicht. Die Dinge sind schon im Universum geregelt, und sie geschehen auch so.
Bei mir hat es mindestens zehn Jahre gedauert, bis ich akzeptiert habe, dass ich beim Mähen auch bei größter Hitze eine lange Hose und ein langärmeliges Hemd tragen und das Hemd bis zum Kragen zuknöpfen muss. Wer es anders macht, kann seine Körpertemperatur nicht richtig regulieren, der Schweiß erkaltet auf der Haut, die Bremsen peinigen ihn zu Tode.
Der Begriff Dorf hat jedoch noch einen weiter gefassten, abstrakteren Sinn. Er umfasst nicht nur alle, die zu uns gehören, ihre Wahrnehmungen und Handlungen, alle, die uns durch Blutsbande nahestehen samt ihrem Tun oder Lassen, sondern auch den vollkommen kollektiven Bewusstseinsinhalt, an dem jeder teilhat. Außerhalb des Dorfwissens existiert kein Wissen.
Ich will eine Geschichte erzählen, um diesen Wortgebrauch zu erhellen beziehungsweise die unanfechtbare und wasserdichte Vorstellung von der Welt, die dahintersteht.
Im Zweiten Weltkrieg ging die Front mehrmals über diese Gegend hinweg. Einmal, als die Russen dabei waren, die Deutschen zu vertreiben, desertierten sechs deutsche Soldaten von ihrer Einheit und versteckten sich in einem nahe gelegenen Weinberg auf dem Dachboden des Kelterhauses. Nicht dass sie sich gerne ergeben hätten, aber sie hatten genug vom Krieg. Das Dorf respektierte ihren Entschluss und versteckte sie sechs Jahre lang. Was nicht heißt, dass sie sechs Jahre lang nicht vom Dachboden herunterkonnten, im Gegenteil, sie lebten und arbeiteten draußen auf den Feldern wie alle anderen auch. Im ersten Frühling verletzte sich einer der Soldaten mit dem Pflug am Fuß, bekam eine Blutvergiftung, hohes Fieber und starb innerhalb weniger Tage. Das Dorf wusste, dass der Mann mit dem Tode rang, dennoch holte niemand einen Arzt. Der in einer entfernten Ortschaft lebende Bezirksarzt zählte nicht zum Dorf. Auch der Pfarrer nicht, deswegen wurde der Tote ohne Pfarrer beerdigt.
Das undurchdringliche und wasserdichte Weltverständnis, das den einen Deutschen das Leben kostete, machte jedoch die anderen fünf so unverletzlich und frei, dass sie nach kurzer Zeit nicht nur bei ortsansässigen Landwirten arbeiteten, sondern auch in benachbarten Dörfern als Tagelöhner beschäftigt waren. Dem stand nichts im Wege, denn die Bewohner der benachbarten Dörfer sind ebenfalls tout le monde, und über das, was jeder weiß, muss nicht geredet werden, und jemand anderer kann es tatsächlich nicht wissen. Deswegen meine Feststellung, dass ich in einer Gegend lebe, wo die Menschen in prämodernen Begriffen denken.
In den dunkelsten Jahren des Kalten Krieges, als die ganze ungarische Gesellschaft von einem unglaublichen Netz von Spitzeln und Geheimagenten überzogen war, genossen die fünf deutschen Männer nicht nur vollkommenen Schutz; eines schönen Tages, als sie ihr Heimweh nicht mehr bezähmen konnten, brachten die Einheimischen sie sogar über die nahe gelegene österreichische Grenze. Über Stacheldraht, über Minenfelder, den gefürchteten Eisernen Vorhang hinweg.
Man bekommt das Gefühl, dass das Leben hier nicht aus persönlichen Erlebnissen, nicht aus Erinnern und Vergessen, sondern aus tiefem Schweigen besteht.
Was auch verständlich ist, sind doch die mit individuellem Bewusstsein gesegneten Menschen gezwungen, immer etwas mehr zu sagen, als sie wissen, während man in einem prämodernen Umfeld als Einzelner wesentlich weniger sagt, als jeder weiß.
In dieser von Wäldern durchzogenen stillen Gegend, an deren westlichem Rand die Landstraße immer noch dort verläuft, wo die Römer sie einst erbaut haben und die lateinischen Namen der Provinzstädte so dauerhaft sind wie der Spitzname eines nahen Bekannten, schlägt die Erde starke und regelmäßige Wellen. Asphaltierte Straßen wurden erst von englischen und amerikanischen Ölgesellschaften in den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts angelegt, als Geologen in den Tiefen dieser schön gewellten Erde große Ölvorkommen entdeckten. Die Straßen folgen größtenteils dem Verlauf der ehemaligen Fahrwege, sie steigen aus den von unbedeutenden Bächen durchzogenen Tälern zu den Hügeln auf, um sich dann behutsam in ein anderes Tal hinabzusenken, wo zwischen Weiden und Hainbuchen ebenso Schilf, Teichsimse, Dotterblume und Wasserschwertlilie auf den Bulten wachsen und ein ebensolches namenloses Bächlein dahinplätschert. Täler und Hügel ziehen sich von Nordwesten nach Südosten. Die Dämmerung hüllt sie in dichten Dunst, den erst der nächste Morgen lichtet. Eine düstere Landschaft, deren heutige Formation nicht durch die Erdbewegungen und nicht durch die Fluten des einstigen Meeres, sondern durch die von den Alpen herabgleitenden Schnee- und Eismassen am Ende der Eiszeit entstanden ist. Wer auf einer Anhöhe innehält und in die Richtung blickt, wo er die sanfte Adria und die Halbinsel Istrien vermutet, vernimmt noch etwas von dem zehntausend Jahre anhaltenden unheimlichen Knirschen und Poltern der Moräne. Oder zumindest lassen die physischen Gegebenheiten der Landschaft ihn den unheimlichen Klang und das Maß des einstigen Zerstörens und Aufbauens erahnen.
Die kleinen Ortschaften auf den Hügelkuppen liegen so nah beieinander, dass das Dorf nicht nur die Glocken herüberläuten hört, dank deren es weiß, dass jemand gestorben ist, jemand zu Grabe getragen, eine Hochzeit abgehalten, in einer weiter entfernten Kirche ein Neugeborenes getauft wird oder dass es einfach nur Mittag, Abend oder Morgen geworden ist und das Leben danach gleichmäßig und ereignislos in den gewohnten Bahnen weiterläuft; bei klarem Wetter sind zwischen Zwetschgen- und Apfelbäumen sogar die ersten Häuser zu erkennen.
Nicht nur das Wissen, auch das Hören und Sehen funktioniert auf der Ebene des entpersönlichten Kollektivs. Man hört und sieht gemeinsam. Immer von neuem überrascht es mich zutiefst, dass es genügt, wenn jemand neue, noch nie gezeigte Kleider trägt, um nicht mehr erkannt zu werden. Plötzlich versteht man, dass die Menschen im Zeitalter vor der Individualisierung tatsächlich durch Verkleidung zu täuschen waren. Mehr noch, kommt ein Fremder ins Dorf, sind die Einheimischen unfähig, sein Alter einzuschätzen. Sie haben dafür keinen Blick, wahrscheinlich weil sie ihr Augenmerk nicht auf das Äußere, sondern auf den Charakter, die Eigenschaften richten. Im Hinblick auf das äußere Erscheinungsbild können sie sich gegebenenfalls auch völlig konträr verhalten. Obwohl sie allen Fremden gegenüber auf eine maßlose, geradezu peinliche Weise misstrauisch sind, lassen sie gleichzeitig jeden, der Anzug und Krawatte trägt und irgendein Papier vorweist, ohne Bedenken ins Haus. Dementsprechend geben sich Schleichdiebe als Steuerbeamte oder Landmesser aus. Der Trick gelingt immer. Jedem Fremdwort schreiben die Dorfbewohner eine zu seinem Klang passende Bedeutung zu und bauen es so in ihre Sprache ein. Sie unterscheiden nur Grundfarben, Gelb, Rot, Blau, weshalb Farben braun genannt werden, die anderswo Lila, Ocker oder Beige heißen. Dunkelbraun, Dunkelgrau oder Dunkelblau gelten auch im Kleidergeschäft der nahen Kleinstadt als Schwarz. Falls jemand bezweifelt, dass differenziertes Farbempfinden nicht auf einer naturgegebenen menschlichen Fähigkeit, sondern auf Übereinkunft beruht und sich manchmal sogar aus lokalen Konventionen herleitet, hier kann er sich davon überzeugen.
Die Kenntnis dieser tiefsitzenden prämodernen Eigenschaften hilft uns zu verstehen, warum diese Region den tödlichen Versuchungen der europäischen Geschichte – Nationalsozialismus, Faschismus und Bolschewismus – erlegen ist. Da tritt plötzlich einer auf und spricht, persönliche Intentionen verfolgend, im Namen eines kollektiven Bewusstseins. Für das prämoderne Bewusstsein ist die persönliche Intention hinter der Deklaration jedoch nicht erkennbar.
Wenn irgendwo Rauch aufsteigt, weiß das Dorf, wer Feuer gemacht hat, riecht das Dorf, was er verbrennt. Die Welt ist überschaubar, ein jeder im Auge zu behalten. Jemanden, der über das im Auge zu Behaltende hinausgeht, kann sich das Dorf nicht vorstellen.
Als im Frühling 1990 jeder Bürger der frisch gegründeten Republik erstmals frei wählen konnte, bat mich der Gemeindevorsteher, ihm doch zu sagen, wen das Dorf wählen solle. Er kam wie einer, den das Dorf geschickt hat. In der Tat war er vom Dorf geschickt worden, denn soweit das Auge reicht und noch ein gutes Stück weiter, hatte kein Mensch irgendeine Ahnung vom Sinn und Inhalt politischer Freiheit. Vielleicht in ein paar fernen Großstädten, Prag, Warschau, Wien, Berlin oder Budapest, doch auch dort nur einige wenige. Die Diktatur war ja 1989 auch nicht zusammengebrochen, weil die Völker Ost- und Mitteleuropas allmählich zu der Überzeugung gelangt wären, die Weltordnung der liberalen Demokratie und der Marktwirtschaft sei doch besser und gerechter als die des real existierenden Sozialismus oder des noch nie realisierten Kommunismus, da sie dem Einzelnen eine größere Portion Glück bietet. Schön wäre es, wäre es so gewesen. Doch die Wahrheit ist, dass die Völker Ost- und Mitteleuropas, dem Gebot ihres animalischen Egoismus und Überlebenstriebs gehorchend, hartnäckig auf einem Minimum an Privateigentum und Selbstbestimmung bestanden; dass sie darauf bestanden, sich zu beschaffen oder wiederzubeschaffen, was ihnen zusteht. In dieser Absicht hatten sie gemeinsam jenes System untergraben, das danach strebte, dem uralten menschlichen Hang zur Kollektivität und dem mindestens ebenso alten Wunsch, dass der Mensch gleich sei, schon hier auf Erden, dank Diktatur, Terror, Massenmord, der rigiden Beschränkung von Rede-, Versammlungs- und Pressefreiheit, eine märchenhafte Form zu verleihen.
Hätte ich dem Gemeindevorsteher gesagt, wen das Dorf wählen soll, dann hätte es seine Stimme zweifellos der Partei oder dem Kandidaten gegeben, denen ich meine gab, ich habe es aber nicht gesagt. Nicht dass ich die Verantwortung des ausgesprochenen Wortes gescheut hätte. Sondern weil ich vom ersten Moment an die Auffassung, die ich mir selbst von politischer Freiheit und Demokratie gebildet hatte, nicht verleugnen wollte. Ich habe lieber kurz dargelegt, welche Anschauungen die einzelnen Kandidaten meiner persönlichen Meinung nach vertreten und mit welchem Vor- oder Nachteil das Dorf demgemäß im Zusammenhang mit welchem Kandidaten zu rechnen hätte. Währenddessen sah ich dem Gemeindevorsteher an, dass er mein Verhalten als Zurückweisung empfand und meinem Vortrag seiner Enttäuschung wegen nur teilweise folgen konnte. Unmutig ging er davon, sozusagen unverrichteter Dinge, mit mehr Zweifeln beladen, als er gekommen war. Es war mir immer noch lieber, als wenn ich ihn auf seiner magischen und mythischen Bewusstseinsebene erreicht und so getan hätte, als sei ich ein Schamane, der ihm Dinge sagen kann, die anderen vorauszusehen nicht möglich sind. Inzwischen ist auch er tot, und noch heute erfüllt mich ein Gefühl von Zufriedenheit, dass ich ihn zwar enttäuscht, ihm aber hinsichtlich des Grundcharakters der Demokratie nichts vorgemacht habe.
Das Dorf musste die Erfahrung machen, dass es zum ersten Mal in seiner Geschichte nicht mehr über eine unanfechtbare, von den Ereignissen der Außenwelt wasserdicht abgeschlossene Meinung verfügen kann. Jeder muss einzeln über seine persönliche Meinung entscheiden, was diese Meinung natürlich höchst fragil und das persönliche Leben höchst gefährlich macht.
In jenen heißen Sommernächten, von denen die Dorfältesten erzählen, hat man unter der Wildbirne leise gesungen. Alle, die es erzählen, betonen, leise.
Das Dorf hat leise gesungen.
Sicherlich wollte das Dorf die Nacht nicht ungebührlich stören.
Die Mentalität der Einheimischen weist bis heute starke magische und mythische Bewusstseinsinhalte auf, obgleich die Welt um sie herum offenkundig in eine ganz andere Richtung geht. Ich werde ein paar leichter verständliche Beispiele anführen, damit wir uns diese eigenartige Spaltung klarmachen können.
Die Einheimischen wissen zum Beispiel, dass die Menschen sich anderswo grüßen, da sie auch auswärts arbeiten gehen, doch innerhalb des Dorfes ist der Gruß nach wie vor unbekannt. Auch die Bewohner der umliegenden Dörfer grüßen sich nicht. Sie verabschieden sich auch nicht voneinander. Wenn sich Nachbarn, Verwandte oder Bekannte auf der Straße oder im Bus begegnen, fangen sie statt eines Grußes auf der Stelle zu sprechen an und reden so lange, bis der andere außer Hörweite ist. Alles andere wäre unhöflich. Sie fragen auch nicht, wie es um das werte Befinden steht. Höfliche Erkundigungen dieser Art erregen bei ihnen eher Betroffenheit und Schrecken. Hinsichtlich des täglichen Seelen- und Körperzustands gibt es nämlich keine abstrakten Reflexionen, obgleich sie gerne und ausführlich über die qualvollsten Krankheiten berichten und stolz die Blessuren an ihren Körpern vorzeigen. Womöglich schlagen sie die Röcke hoch und schieben die Hosen herunter, um zu demonstrieren, dass sie trotz allem überlebt haben. Während des Gesprächs hören sie einander nicht zu, der Dialog ist ihnen unbekannt. Sie haben keine Meinung zu diesem und jenem, sondern reden unausgesetzt, erzählen eine einzige große Geschichte. Sind mehrere zur Stelle, dann reden sie sozusagen parallel übereinander hinweg, manchmal zu dritt oder zu viert, als sprächen sie ihre unpersönlichen Monologe auf ein einziges, endloses Tonband. In solchen Fällen entsteht ein fürchterliches Stimmengewirr, trotzdem registrieren sie die Behauptungen und Äußerungen in den Erzählungen der anderen genau, analysieren und interpretieren sie vom Standpunkt des kollektiven Bewusstseins und fügen sie dann an entsprechender Stelle in die große Chronologie der Dorfgeschichte ein.
Es ist nicht möglich, die Behauptungen und Äußerungen aufgrund späterer Erkenntnisse oder früherer Trugschlüsse zu korrigieren. Das wird nicht toleriert, und es wird auch gar nicht erst versucht. Der Vorgang der Korrektur ist vollkommen unbekannt, deswegen ist es nicht nur nicht möglich, Missverständnisse aufzuklären, es ist auch nicht möglich, unbekannte Begriffe einzuführen oder falsch verstandene Begriffe zu berichtigen. Wahrscheinlich ist es nicht möglich, weil das Zeitempfinden und die örtliche Zeitrechnung anders sind. Damit sich im kollektiven Bewusstsein etwas ändert, bräuchte es wahrscheinlich noch die Erfahrung mehrerer hundert Jahre, die von der eigenständigen Äußerung eines Einzelnen nicht ersetzt werden kann. Die Eigenart des Zeitempfindens geht auch daraus hervor, dass es in der großen dorfgeschichtlichen Erzählung zwar Tage gibt und an diesen dicht aufeinanderfolgende Ereignisse, doch wie bei den antiken Geschichtsschreibern keine Jahreszahlen.
Es wird stets viel gemeinsam gearbeitet. Man arbeitet in möglichst großem Kreis, die ganze Familie arbeitet mit den Angehörigen anderer Familien zusammen, mit denen sie aus irgendwelchen Gründen in eine wirtschaftliche Verbindung treten muss. Während der Arbeit wird unaufhörlich geredet, zuweilen anhaltend geschrien, da beim Gerede unter freiem Himmel beträchtliche Entfernungen zu überbrücken sind. Die Lautstärke übertrifft immer die individuelle Notwendigkeit. Für fremde Ohren klingt das wie ein sonderbares Arbeitslied, das jeder, den gemeinsamen Rhythmus einhaltend, mit erhobener Stimme sich selbst vorträgt. Als müsste sich jeder andauernd den Sinn der gemeinsamen Arbeit bestätigen.
Über den Wert des Geldes ist jeder genauestens im Bilde, über den Zusammenhang von Geld und Arbeit nicht weniger. Im internen Leben des Dorfes ist Geld trotzdem kein Zahlungsmittel, und daher lässt sich der Wert der hier verrichteten Arbeit wohl kaum in Geld ausdrücken. Wenn jemand von auswärts kommt, um eine Arbeit zu verrichten, wird er bezahlt, innerhalb der Dorfgrenzen aber macht bis auf den heutigen Tag niemand irgendetwas für Geld. Ein außenstehender Beobachter erhält natürlich selten Einblick in diese Naturalwirtschaft. Es wird Tauschhandel mit Materialien, Naturalien und Arbeit betrieben, der Marktwert der Transaktionen aber wird nicht von äußeren Faktoren, sondern von den jahrhunderteweit zurückgehenden inneren Marktbedingungen bestimmt. Die mit Geld oder Geldmarkt nichts zu tun haben. Merkwürdigerweise auch dann nicht, wenn es sich um Waren handelt, die für Geld erworben wurden. Wie etwa Backsteine, Dachziegel, Brunnenringe oder Betonträger, die im internen Kurs durch Arbeit, Naturalien oder irgendwelche anderen Güter ablösbar werden, wenn auch keinesfalls für jeden.
Man behält nicht nur über Jahrzehnte hinweg im Gedächtnis, wer wem wann was gegeben und im Tausch dafür bekommen hat beziehungsweise schuldet, sondern diese Tauschhandelsakte prägen auch das Verhältnis von Familien und Personen untereinander entscheidender als irgendetwas sonst. Dieses dem Fremden unbekannte und unüberschaubare System von Interessen ist irgendwann in grauer Vergangenheit entstanden und geht einer nicht absehbaren Zukunft entgegen. Und da somit der Wert von Beziehungen wesentlich höher ist als der Wert einzelner Dinge und die einzelnen Dinge wiederum nicht in kommerzielle Werte konvertierbar oder in Geld einwechselbar sind, gibt es innerhalb der Dorfgrenzen keine Forderungen und Schulden im klassischen Sinn. Wenn ich etwas bekommen habe, ist es unausbleiblich, dafür auch zu geben, doch das auf gegenseitigem Vertrauen beruhende, niemals schriftlich fixierte Geschäft kann so lange auf Eis gelegt werden, bis der Partner etwas braucht, das ich ihm geben kann. Weder hat es der eine eilig, die virtuelle Forderung zu begleichen, noch der andere, die virtuelle Schuld einzutreiben, er macht gar keine Anstalten dazu, im Gegenteil, er will ja gar nichts Gleichwertiges zurückbekommen. Anscheinend liegt diesen Geschäften die Erfahrung zugrunde, je mehr Schuldner jemand in Reserve hat und je ansehnlicher die Schuld, umso größer seine Chancen, in Notlagen Hilfe zu bekommen. Was vor wenigen Jahrzehnten noch Voraussetzung zum Überleben war.
Natürlich sind auch Betrug, Diebstahl und Gewalt, Willkür und sexuelle Exzesse keine unbekannten Phänomene. Für diese Fälle gibt es Sanktionen und für diese wieder verschiedene Abstufungen, jedoch erinnern weder Verfahren noch Strafe an Verfahren und Strafen, wie sie in den verschiedensten modernen Gesellschaften oder schon in den näher liegenden Städten üblich sind. Schon allein deswegen nicht, weil man Betrüger, Diebe, Gewalttäter oder Verrückte nicht aus dem Dorf entfernen kann. Das ginge nur mit behördlicher Hilfe, doch im Laufe von zwanzig Jahren ist dergleichen nicht vorgekommen, und soweit man den Erzählungen glauben darf, auch früher nicht. In zwanzig Jahren habe auch ich den Eindruck gewonnen, dass kein Dorf ohne ein paar Verrückte existieren kann, es zumindest immer einen Dieb geben muss. Der Diebstahl gemahnt zumindest daran, dass man auch selbst nichts anderes ist als ein fürchterlicher Parasit am Leib der Natur und mit seinen heimlichen Passionen eine ziemliche Last auf dem Rücken der Gesellschaft. Es gibt Übergeschnappte, Diebe, verirrte Schafe, sie alle sind Angehörige von Familien, die in engen verwandtschaftlichen Beziehungen zu anderen Familien stehen, die aber nicht nur untereinander, sondern mit allen anderen enge Beziehungen des Gebens und Nehmens unterhalten.
Eigentlich wäre nichts zu machen, das Dorf muss jedoch im Interesse von Ruhe und Ordnung etwas tun.
Wenn ein außergewöhnlicher Vorfall das Dorf erschüttert, wird zuerst ein schnelles Abstimmungsverfahren eingeleitet. Aus der Notwendigkeit dieser Prozedur wird rückblickend verständlich, warum jeder ständig über alles und jedes Bescheid wissen muss. Wer war wo, wer hat was gesehen, was ist wann und wo geschehen. Solche Fragen muss in diesen bedrohlichen Stunden jeder beantworten. Aus den Antworten ergibt sich selbst dann noch ein Bild, wenn keiner etwas gesehen hat, denn jeder kennt die Gewohnheiten von jedem, und so wird in diesem Fall das Ausschlussverfahren angewendet. Der Verdächtige ist schnell ausgemacht, im Allgemeinen ein Rückfalltäter. Was wiederum das Dorf nur in der Überzeugung bestärkt, dass Verbrechen unvermeidlich sind und man höchstens das Ausmaß des Schadens begrenzen kann. Welche Person gemeint ist, teilt man sich untereinander durch allgemeine Andeutungen mit, so dass der Name nicht ausgesprochen werden muss. Die äußerste Grenze des Namhaftmachens ist erreicht, wenn man sagt: «Ich weiß es, aber ich sage nicht, an wen ich denke. Du weißt es ja selbst.» Und so ist es wirklich. Per Ausschlussverfahren weiß es das Dorf, aber es weiß es, als hätte es dieses Wissen vom ersten Augenblick an gehabt. Jeder weiß, um wen es sich handelt, obwohl niemand seinen Namen ausgesprochen hat.
Mit der Verurteilung wartet man so lange, bis eine größere Gruppe mit dem Verdächtigen an einem Ort versammelt ist. In seiner Gegenwart tragen sie das Geschehene vor und beobachten ihn. Entsetzliche Augenblicke. Und das ist noch die mildeste Strafe. Es gibt die Prügelstrafe, es gibt die regelmäßige Prügelstrafe, es gibt das Anzünden der Scheune und das Anzünden des Hauses, und es gibt Mord. Einer ist zufällig in den Brunnen gefallen. Als ich vor vierzig Jahren zum ersten Mal in das Dorf kam, habe ich selbst noch den verkohlten Dachstuhl eines Hauses gesehen.
Über die schwereren Strafen sprechen sie auch untereinander nicht. Als drückendes Schweigen, als schwarze Löcher leben sie in der großen Erzählung fort.
Ich kann nicht sagen, dass das Dorf tot ist. Es lebt. Allerdings haben sich in den letzten Jahren die Lebensbedingungen grundlegend verändert, ein Teil der Bevölkerung ist abgewandert, die Abgeschlossenheit hat sich beträchtlich gelockert. Seit langem gibt es keine so schweren Delikte mehr, dass das Dorf zu den am strengsten verschwiegenen Mitteln greifen müsste. Bei der Vollstreckung einer verbalen Verurteilung dagegen bin ich selbst noch Zeuge gewesen.
Während der langen Jahre der Diktatur hatte sich dank dieses Systems familiärer, die Geldwirtschaft außer Kraft setzender Beziehungen, das schwere Sanktionen kennt, eine sogenannte zweite Wirtschaft oder auch Schattenwirtschaft aufgebaut, durch die die Gesellschaften Ost- und Mitteleuropas imstande waren, die auf den gemeinsamem Besitz von Produktionsmitteln gegründete Planwirtschaft nicht nur zu umgehen, sondern sie sich regelrecht dienstbar zu machen. Wodurch sie zwar über Jahrzehnte den Glauben an die Notwendigkeit und Heiligkeit des Privateigentums verteidigten, paradoxerweise jedoch den kollektivistischen Charakter ihres Denkens vertieften. Im kollektiven Bewusstsein wurden, wenn auch aus der Not heraus, Betrug und Diebstahl in den Rang von einhellig akzeptierten natürlichen Phänomenen erhoben. Das kollektive Bewusstsein betrachtete es nicht länger als Vergehen, Genossenschaften und Staatsbetriebe, die wichtigsten Institutionen des kollektiven Besitzes, zu bestehlen und zu betrügen. Im Gegenteil, das kollektive Bewusstsein billigte es und ermunterte dazu. Wenn ich die Gemeinwirtschaft bestohlen habe, dann habe ich als mutiger und freier Mensch gehandelt, denn ich habe mir im Namen von jedermann Genugtuung verschafft für all das, was im Namen der Kollektivität gegen mich verübt worden ist, beziehungsweise ich habe mir etwas von dem zurückgeholt, was mir gehören könnte oder tatsächlich gehört hat. Die allgemeinen ethischen Barrieren, die zum Schutz des öffentlichen Eigentums errichtet worden sind, lösten sich im kollektiven Bewusstsein buchstäblich auf. Im zwanzigsten Jahr der Diktatur fragte niemand mehr danach, ob wenigstens eine nominelle Rechtfertigung für sein Handeln vorhanden war, jeder nahm sich, was er sah und wegschleppen konnte, und das hat sich als ethisch anerkanntes, politisch sogar wünschenswertes Verhalten im kollektiven Bewusstsein festgeschrieben. Die demokratische Wende hat die Grundstruktur des gesellschaftlichen Bewusstseins nicht verändert. Binnen weniger Jahre wurden zwar Privatisierung und Reprivatisierung vollzogen, doch das konnte den am Gleichheitsprinzip orientierten, in den Jahren der Diktatur erheblich vertieften Kollektivismus dieser Gesellschaften nicht befriedigen, wie es andererseits nicht verhindern konnte, dass die früher fundierte Wirtschafts- und Bewusstseinsstruktur in Form einer die ganze Gesellschaft durchdringenden Korruption weiterwirkt. Was das Funktionieren der Demokratie gefährdet oder unmöglich macht.
Von der Betrachtung des Birnbaums ausgehend, ist die Geschichte des Dorfes auch deshalb so gut überschaubar, weil von großen Ereignissen, alles umwälzenden Veränderungen kein Nachhall bleibt.
Als hätte Giuseppe Tomasi di Lampedusa eigenhändig über jede Toreinfahrt geschrieben: «Es muss sich sehr viel ändern, damit alles beim Alten bleibt.»
Der erste richtige Lärm, den ich hier in der Nacht hörte, war das Dröhnen von Flugzeugen, riesigen Transportmaschinen über uns, die unterwegs in den Kosovokrieg waren. Seit Frieden herrscht, ist wieder Stille.
Unter dem großen Wildbirnenbaum wurde manchmal zum Gesang musiziert, leise, erzählt man. Wahrscheinlich gab man mit solcher uralten Rücksicht auf die Nacht den Göttern zu verstehen, dass man sich nicht leichtfertig vergnügte und die erdgeschichtliche Stille nicht stören wollte. Damals gab es im Dorf nur ein einziges brauchbares Musikinstrument, einen Kontrabass, den ein Heimkehrer nach dem Ende des Ersten Weltkriegs von der italienischen Front mitgebracht hatte. Aber niemand erinnert sich mehr, mit welchem Musikinstrument der Gesang vorher begleitet wurde.
Man stelle sich den tiefen Klang des Kontrabasses, den Gesang der vielen gleichstimmigen Kehlen, das Schreien der Eulen und das Zirpen der Grillen in der reglosen Sommernacht vor.
Wenn nur Mond und Sterne die Szenerie beleuchten.
In dieser Gegend kannte man früher keine Zäune, die Gemüsegärten wurden durch Hecken vor streunenden Tieren geschützt. Die Häuser wurden aus Pfählen erbaut, mit Lehm verputzt und abgedichtet.
Die letzte Hexe ist erst Ende des achtzehnten Jahrhunderts bei lebendigem Leibe verbrannt worden.
Bis Ende des neunzehnten Jahrhunderts war der Schornstein unbekannt, der Rauch vom Herd zog durch eine Öffnung über der Küchentür ab.
Die Elektrifizierung wurde Mitte der sechziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts durchgeführt.
Als ich als junger Mann zum ersten Mal hierherkam, ging der Tag im Dorf bereits mit der Dämmerung zu Ende, in den Küchen leuchtete nur das Herdfeuer, kein Petroleum, kein Öllämpchen. Auch heute noch begeben sich die sparsameren oder geizigeren Alten, sobald es dunkel wird, langsam zur Ruhe. Durch die Landschaft eilt auch kein Zug, der Fremdgeräusche erzeugen und die überflüssige Vorstellung erwecken könnte, er würde einen hier heraus- und in ferne Welten bringen. Ende des neunzehnten Jahrhunderts, als das Eisenbahnnetz der österreichisch-ungarischen Monarchie den verschiedenen Wirtschaftsinteressen entsprechend seine endgültige Form erhielt, setzte die katholische Kirche durch, dass die Bahnlinie nicht bis in diese Gegend verlegt wurde – sie hoffte, dadurch die Ordnung der Sitten aufrechtzuerhalten. Seither gibt es keinen Bahnanschluss. Nur die Wälder des Fürsten Esterházy wurden durch eine Schmalspurbahn mit der fernen Hauptstrecke verbunden.
Wie ein Märchenspielzeug in einer Modelllandschaft tuckert sie bis heute mit Brennholz beladen an den stillen Waldrändern entlang.
Es dürfte unbezweifelbar sein, dass sich das Dorf in den warmen Sommernächten unter dem großen Wildbirnenbaum der rituellen Kontemplation hingab, gewissermaßen dem kollektiven Bewusstseinsinhalt Rechnung trug. Und wer sich dies vergegenwärtigt, blickt in eine Zeit von tausend Jahren vor dem Christentum zurück. Das in dieser Gegend in Wirklichkeit erst achthundert Jahre alt ist. Nach der Landnahme lebte in den hiesigen Siedlungen ein Geschlecht, das lange Zeit auch durch Anwendung brutalster Methoden nicht mit den Institutionen des christlichen Königtums auszusöhnen war. In diesem westlichen Grenzgebiet des ungarischen Königreichs, das Palisaden und Erdwälle unpassierbar machten und wo die tüchtigsten Burgsassen von den frühmittelalterlichen Königen von ihrer Dienstpflicht befreit und in den Adelsstand erhoben wurden, haben sich die alten Gebräuche und Götter noch über zweihundert Jahre lang erhalten. Sie werfen ihre Schatten bis in die Gegenwart und stehen den Seelen der hier Lebenden näher, als diese wahrhaben wollen.
Was in der Geschichte der europäischen Christenheit nicht ohne Beispiel ist. Weitaus größere, bedeutendere Gebiete sind über längere Zeiten heidnisch geblieben, und Spuren dieser Jahrhunderte haben sich auf der geistigen Landkarte des Kontinents bis heute als Unterschiede im Entwicklungsstand erhalten.
Oben im fernen Norden zum Beispiel, in den weiten bewaldeten Gebieten zwischen der Nordsee und den bis heute unberührten Masurischen Seen, zwischen Weichsel und Memel, wo einst die Pruzzen, Prussen oder, mit ihrem heute üblichen Namen, die Preußen lebten, hat sich etwas ganz Ähnliches abgespielt. Die Bekehrung der Preußen hatte der Prager Bischof Adalbert zu seiner Sache gemacht, der auch bei der Bekehrung der Ungarn eine wichtige Rolle spielte. Es lohnt sich, seine Lebensgeschichte kurz zu rekapitulieren, weil darin Verbindungen und Zusammenhänge sichtbar werden, die schon vor Urzeiten das Leben innerhalb jener größeren geographischen Einheit bestimmten, welche der zeitgenössische politische Sprachgebrauch gern von «Europa» abtrennt und mit dem Begriff Mittel- oder manchmal Osteuropa belegt, manchmal auch mit beiden zugleich, obschon er die Grenzen Europas nicht lokalisieren kann oder zu lokalisieren wagt, trotz der unerlässlichen Anstrengung, sie zu definieren.
Würde sich jemand dieser schwierigen Aufgabe unterziehen, dann müsste er zunächst angeben, wo sich das Zentrum des Kontinents befindet und was im Verhältnis dazu als Peripherie gelten soll. Dazu aber müsste man den historischen Begriff Europas erst einmal aus dem Kontext nationalistischer und kolonialistischer Mythologien verschiedener Provenienz befreien, um die Geschichte des Kontinents als deren Wechselwirkung und Beziehung, als einen komplizierten und vielseitigen Prozess der Akkulturisation zu beschreiben. Dann aber würde klar werden, dass geographische Begriffe zu eng sind, um die Geschichte und Kultur Europas darzustellen. Die Religionsgeschichte Russlands zum Beispiel unterscheidet sich tiefgreifend von der Geschichte der europäischen Länder, die keine Verbindung zum byzantinischen Christentum hatten, während sich die Geschichte seiner Kunst, Philosophie und Mentalität nicht als Spezifikum aus ihr herauslösen lässt; während der europäische Kontinent geographischen Begriffen nach am Ural endet, endet doch die europäische Geschichte nicht dort. Geistreicher als die Willkür geographischer Begriffe war Metternichs Bemerkung im Jahr 1814. Auf dem Wiener Kongress, auf dem die Gesandten der europäischen Monarchien über das Schicksal des Kontinents entschieden, befand er, «Europa endet bei der Wiener Landstraße». Dahinter beginnt der Balkan, wo bekanntlich keine menschlichen Wesen leben.
Doch wie dem auch sei, jener treffliche Mann namens Adalbert, der 955 als Graf von Libice das Licht der Welt erblickte und mit knapp dreißig das Prager Bistum unter der Bedingung übernahm, ausreichende Machtbefugnisse zum Ergreifen außerordentlicher Maßnahmen zu erhalten, um den Sittenverfall aufzuhalten und die gute Ordnung wiederherzustellen, sah nach wenigen Jahren ein, dass seine Maßnahmen zu nichts führten. Aus seiner Geschichte wird evident, was Adalbert unter dem Niedergang sittlicher Normen verstand. Dass eine Dame aus einer vornehmen Familie ihren Ehemann betrog, noch dazu mit dem Priester, der ihr Beichtvater war, gehörte nicht dazu. Mit derart banalen Vorkommnissen gab er sich nicht ab. In Zorn versetzte ihn vielmehr, dass der Ehemann seine Gemahlin nach heidnischem Brauch selbst hinrichten wollte, was nicht nur die Mitglieder beider Familien, sondern ganz Prag für rechtskonform befanden.
Adalbert hielt die kollektive heidnische Regression für unsittlich. Wie überhaupt die prämoderne Regression vom Standpunkt der Demokratie nicht der günstigste Nährboden ist. Sie verringert den Wirkungsgrad der demokratischen Institutionen erheblich.
Adalbert ließ die Dame von seinen Dienern rauben und in ein Nonnenkloster sperren. Er rechnete nicht damit, dass auch unter den Bräuten Christi Anhängerinnen der heidnischen Riten waren und es der vornehmen Familie daher nicht schwerfiel, den Aufenthaltsort der Dame zu erkunden. Die Diener der Familie raubten das sündige Weib zurück, und so konnte der Ehemann es zur größten Zufriedenheit aller eigenhändig abschlachten. Aus Angst vor dem Volkszorn verließ Adalbert seinen Bischofsstuhl und suchte mit seinem Gefolge bei den heidnischen Ungarn Zuflucht, wo er sich mehr Erfolg erhoffte. Er hatte durch seine Gesandten erfahren, Geisa, der Fürst der ungarischen Stämme, zeige sich bereit, den christlichen Glauben anzunehmen. 994 trifft Adalbert am Sitz des ungarischen Fürsten ein, wo es ihm gelingt, mehrere ungarische Edelleute zu taufen, wir wissen allerdings nicht, wie lange er sich hielt. Wir wissen hingegen, dass er seinen Hofkaplan Astrik zurückließ, der in Missionsangelegenheiten Ratgeber am Hof des ersten ungarischen Königs wurde und im Frühling 1001 mit einer Huldigungsabordnung zu Papst Silvester II. nach Rom aufbrach.
Zu dieser Zeit weilte der arme, verjagte Adalbert schon nicht mehr unter uns Lebenden.
Von seinem weiteren Schicksal wissen wir nur, dass er sich kurze Zeit im fernen Norden, am Hofe des Herzogs Boleslaw, aufhielt, und vermutlich war er dem Ruf des polnischen Herzogs nicht nur gefolgt, um endlich die heidnischen Preußen zu bekehren, sondern weil man am Prager Hof nichts von seiner Rückkehr auf den Bischofsstuhl wissen wollte.
Seit das größte Bauwerk des Kalten Krieges, die Berliner Mauer, gefallen ist und jene Länder wieder zugänglich sind, die, eingezwängt zwischen den starken europäischen Demokratien und der russischen Diktatur, bis dahin ein isoliertes Dasein fristeten, haben Scharen andächtig staunender Touristen und agiler Unternehmer die von der menschlichen Zivilisation unberührte, von dunklen Wäldern und kristallklaren Seen bedeckte polnische Landschaft wiederentdeckt, wo Bischof Adalbert samt seinem Gefolge von den heidnischen Preußen umgebracht wurde. Nur vermöge eines hohen Lösegeldes gelang es Herzog Boleslaw, den Leichnam des Bischofs in seinen Besitz zu bringen, um ihn den Regeln seiner neuen Religion gemäß beizusetzen. Danach jedoch mussten noch mehr als zweihundert Jahre ins Land gehen, bis die polnischen Herzöge es wagten, an die gewaltsame Bekehrung der preußischen Nachbarn überhaupt nur zu denken. Schließlich einigte sich Herzog Konrad 1226 in Palästina mit dem Großmeister des Deutschen Ordens, der beim römisch-deutschen Kaiser und beim Papst um Bestätigung bat, dass er für seine missionarische und kolonisierende Unternehmung auch wirklich in den Besitz des Kulmerlands und Preußens käme, wie ihm der polnische Herzog versprochen hatte. Ein halbes Jahrhundert dauerte der im Namen christlicher Nächstenliebe geführte blutige Missionskrieg. Von solchen alten Zeiten schweigt selbst unser gigantischer Wildbirnenbaum.
Nicht weit von ihm entfernt gibt es jedoch eine uralte Edelkastanie, die von Forstkundigen auf achthundert Jahre geschätzt wird. Jedes Jahr pilgere ich mehrere Male zu ihr. An einem stillen Waldrand steht sie, auf der Kuppe eines Hügels.
Vermutlich war sie gerade zu der Zeit zum Baum herangewachsen, als die Bekehrung der Einheimischen endlich gelang. Was in dieser Gegend nicht viele konkrete Spuren hinterlassen hat. In Lebensgewohnheiten oder Redensarten findet sich kaum ein Hinweis. Man ruft Jesus Christus oder die Jungfrau Maria nicht an, betet nicht zu ihnen, lästert sie nicht, allenfalls führt man Gott im Munde, wenn jemand in Schwierigkeiten ist. Von den Siedlungen, die sich auf den Hügeln ducken, hat bis heute nicht jede eine Kirche, wofür die große Armut nicht unbedingt als Erklärung reicht. Bis heute aber wird die Messe noch in jenen drei kleinen Kirchen abgehalten, deren Fundamente von den Missionaren des frühen Mittelalters gelegt worden sind. Auch eine Kapelle oder ein Kreuz am Wegrand gibt es im weiten Umkreis kaum. Viel Zeit dürfte in diesen uralten Siedlungen zur Befestigung des Christentums nicht gewesen sein, noch dürften die Methoden, mit denen die Nächstenliebe vertieft wurde, hinreichend überzeugt haben. Allenfalls Grabsteine und aus Holz gezimmerte Glockentürme erinnern daran, dass hier Christen leben.
Als dann das erste frei gewählte ungarische Parlament das Verhältnis von Staat und Kirche gesetzlich regelte und diese zum ersten Mal in ihrer Geschichte einander nicht mehr über- oder unter-, sondern nebengeordnet waren, wollte ich einem Nachbarn, einem älteren Mann, mit dem ich im Bus saß, meine Freude darüber kundtun. Er schwieg lange. Dann antwortete er bekümmert, ihm wäre es nicht lieb, wenn seine Enkelkinder am Sonntag mit Gendarmen zur Kirche gebracht würden, wie es einst mit ihm geschehen war.
Die Namen der Siedlungen sind immer aus zwei Wörtern zusammengesetzt, einem Familiennamen und einer die Art der Besiedelung bezeichnenden Beifügung, altungarisch in der Bedeutung von Rodung beziehungsweise Sitz oder Niederlassung: Eck, Egg. Jedes Dorf ist ursprünglich ein Sitz oder die Niederlassung einer Adelsfamilie. Dort leben die Nachfahren jener zum Grenzschutz verpflichteten Burgsassen, die 1178 zur Belohnung für ihren jahrhundertelangen Dienst und ihre erfolgreiche Bekehrung von König Béla III. beziehungsweise einige Jahrzehnte später von Andreas II