Cover

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, September 2018

Copyright © 2018 by Rowohlt · Berlin Verlag GmbH, Berlin

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung Anzinger und Rasp, München

Coverabbildung Mark Owen/Plainpicture

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-10039-8

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

ISBN 978-3-644-10039-8

Deshalb machen wir ja weiter.»

Geburtstag

Albert Schwingenholtz war jetzt fünfzehn Jahre alt, und er las jetzt die richtigen Bücher. Damit begann wohl etwas. Mit dem Gefühl, die richtigen Bücher zu lesen. Nur was genau damit begann, das wusste er nicht.

Der Wecker klingelte, Albert stellte ihn vor, der Wecker klingelte noch einmal, Albert stellte ihn aus, dann klopfte seine Mutter gegen die Tür. Er öffnete die Augen. Dass er Geburtstag hatte, half ihm nicht weiter, und morgens konnten ihm auch die Bücher nicht helfen. Er musste aufstehen, so wie alle anderen Menschen im Vorort. Und er hatte wieder mal viel zu lange gelesen.

Er hatte heimlich gelesen, ganz allein in der Nacht, während nebenan seine Eltern schliefen und draußen nur das Rauschen der Bäume zu hören war. Im Vorort konnte es totenstill sein, man hörte sich dann selbst atmen, so still konnte es nachts sein.

Albert rubbelte sich durch die Haare. Beim Lesen hatte sich etwas verändert, er hatte es spüren können, er wollte nicht mehr sofort der Held sein, von dem erzählt wurde, oder der beste Freund des Helden. So hatte er früher gelesen, aber so zu lesen war etwas für Kinder, das wusste Albert jetzt.

Fast wäre er über die Taschenlampe neben dem Bett gestolpert. Der geriffelte Metallgriff in seiner Hand. Der Lichtkegel, ein bergendes Zelt in der Dunkelheit. Er hatte

Albert fiel jetzt immer mehr auf, an den Geschichten und an der Art, wie die Geschichten erzählt wurden, an den Wörtern und Sätzen, und er freute sich darüber, dass es so war. Bei Kafkas «Amerika» war es nicht anders gewesen, dabei hatte er beinahe ängstlich angefangen, das Buch zu lesen, weil er gehört hatte, dass Kafka schwer zu verstehen war und man sich sehr anstrengen musste, um sein Genie zu begreifen.

Aber er hatte es begriffen! Und da war noch mehr gewesen als ein Begreifen, es war etwas da gewesen in der vergangenen Nacht, die Schönheit dieses Anfangs war da gewesen, Albert hatte sie mit eigenen Augen gesehen, das Buch hatte sich ihm geöffnet.

Es war ganz einfach. Dieser Karl Roßmann war schon angekommen, er stand am Bordgeländer des Schiffes, das in den Hafen von New York einlief, als er feststellte, dass er seinen Regenschirm in der Kabine vergessen hatte. Ein Regenschirm, so ein unwichtiger Gegenstand. Aber dieser Karl ging also noch einmal zurück, tief in den Bauch des Schiffes, und musste auch noch einen Umweg machen, weil der Gang hinunter versperrt war, und dann verlief er sich natürlich. Das war schon der ganze Anfang. Karl war bereits da, in seinem neuen Leben, und dann war er doch noch nicht wirklich da – weil man sein bisheriges Leben eben nicht so schnell hinter sich lassen kann! Genau das war es, was man an diesem Anfang verstehen musste. Es war gar nicht so kompliziert, man musste es nur sehen.

Vergangene Nacht hatte Albert es gesehen. Da hatte er mitten in der Nacht tatsächlich ein Geburtstagsgefühl gehabt. Er war ganz woanders gewesen als in seinem Zimmer.

Während Albert sich steif anzog, warf er schnelle Blicke auf das Bücherregal und den Schreibtisch. Er fragte sich, ob er krank spielen, Kreislaufschwäche vortäuschen sollte, um die Schule zu schwänzen, im Bett zu bleiben, den ganzen Tag lesen zu können; aber nein, das hatte er erst vergangene Woche gemacht, damit würde er nicht noch einmal durchkommen, auch damit musste man vorsichtig sein.

Immerhin – er knöpfte das Hemd zu –, seine Bücher und sein Schreibtisch würden auf ihn warten.

 

Wenn Albert aus dem Bad kam, war sein Vater immer schon aus dem Haus. Seine Mutter war morgens noch müde, so wie Albert selbst.

«Guten Morgen, Geburtstagskind, wie fühlt man sich mit fünfzehn?»

Auf dem Teller lag ein Stück Kuchen, in dem eine kleine Kerze steckte. Die Mutter lächelte, als Albert sie auspustete. Dann frühstückten sie schweigend. Die Geschenke gab es bei ihnen, Familientradition, immer erst abends.

Zum Glück konnte die Mutter seine Gedanken nicht lesen. Aprikosenmarmelade, das dachte er gerade. Apri-kooo-sen-mar-me-la-de, das klang großartig, auch wenn das Wort mit einem Vokal begann und er bei Vokalen am Wortanfang manchmal stotterte. Im kleinen Laden um die Ecke

Die Küchenuhr tickte.

Irgendwann sagte die Mutter: «So, hopp, hopp, jetzt musst du los. Und vergiss nicht, Onkel Wilhelm kommt heute Nachmittag.» Dabei wischte sie sich mit den Händen über das Gesicht, wie um sich daran zu erinnern, dass sie sich selbst beeilen musste.

Hinter der Tür der Wohnung unter ihnen konnte Albert die Mordhorsts reden hören. «Die wohnen hier schon ewig, die sind hier geboren», hatte die Mutter einmal gesagt, und Albert konnte es einfach nicht begreifen. In den Vorort ziehen, wenn man erwachsen ist und eine Familie gegründet hat, so wie seine Eltern es gemacht hatten und alle anderen Nachbarn auch, das konnte Albert verstehen. Im Vorort groß werden und dann wegziehen, um zu studieren und ein eigenes Leben zu finden, so wie er das machen würde, das verstand er auch. Aber sein ganzes Leben hier verbringen, von der Geburt bis zum Tod, wie es Herr und Frau Mordhorst machten, das ging nicht in Alberts Kopf.

Er hatte immer ein bisschen Mitleid, wenn er die beiden morgens traf. Frau Mordhorst arbeitete oft schon in ihrem Garten. Herr Mordhorst stand meist nur herum und rauchte seine erste Zigarre. Nichts bewegte sich dann an ihm. Nur der Rauch der Zigarre stieg auf, wand sich in der Luft und verflog. Albert grüßte kurz, Herr Mordhorst nickte zurück.

Albert holte das Bonanzarad aus dem Schuppen hinter dem Haus, eine Garage hatten sie nicht. Deshalb hatte er auch niemanden einladen wollen. Alle anderen hatten einen Kellerraum oder eben eine Garage, in die sie eine Musikanlage stellen und Matratzen legen konnten. In seinem

Albert stieg auf und strampelte sich in die Welt hinein. Er hatte schwer den Verdacht, auf dem Rad mit den kleinen Rädern, dem großen Lenker und dem Bananensattel inzwischen ziemlich albern auszusehen. Aber was sollte er machen? Sein Achtundzwanziger war ihm geklaut worden, als er einmal vergessen hatte, es anzuschließen. «Ein neues gibt’s erst mal nicht, du hast ja noch dein altes Fahrrad», hatte sein Vater gesagt. Und seine Mutter hatte ihn zwar tröstend angesehen, konnte aber nichts dagegen tun.

Die einzige alte Straße schlängelte sich wie eine Krampfader durch das sonst in großzügigen, ruhigen Bögen angelegte Neubaugebiet bis hoch zur Landstraße. Das mit der Krampfader war Albert einmal aufgefallen, seitdem war er den Gedanken nicht wieder losgeworden. Das Fahrrad klapperte. Die Kette war verrostet, die Gangschaltung funktionierte nicht, das Schutzblech war locker. Albert behauptete immer, dass ihm das gar nichts ausmachte. Und vielleicht würde er am Abend ja endlich ein Rennrad bekommen.

Einfamilienhäuser, sauber und fremd hinter Vorgärten. An ihnen war nichts kaputt. Albert kannte die Namen aller Familien, die in den Häusern wohnten. Viele davon hatten Kinder in seinem Alter. Die mussten jetzt zur Schule, so wie er. Manchmal fühlte sich Albert, als würde er fortgezogen und nicht er steuerte das Rad, sondern das Rad ihn. Er überfuhr einen Regenwurm.

Auf der Landstraße wehte Albert der Fahrtwind ins

Während der Abfahrt wachte er endgültig auf. Die Sätze, die er sonst ständig im Kopf hatte, verstummten. Rechts rauschte der Wald vorbei. Er wäre jetzt gern jemand gewesen, der kurz die Augen schließt und sich abwärtsschießend seinem Schicksal überlässt. Doch er behielt die Augen auf, krampfhaft krallte er sich am Lenker fest. Fünf Kilometer waren es bis in die Stadt und zur Schule, zwanzig Minuten brauchte Albert dafür, bei Gegenwind länger. Bald nach der Abfahrt kam das Schreibwarengeschäft; in einem schmucklosen roten Eckhaus lag es, zusammen mit einer Reinigung, dem Bäcker und einem kleinen Supermarkt. Wenn Albert kurz vor dem Geschäft war, schloss er manchmal tatsächlich kurz die Augen, wieder eingefangen von den Sätzen in seinem Kopf und von seinen Tagträumen.

Er hätte gern angehalten. Die Ruhe in dem Geschäft, die Ordnung, die Türklingel erklang, es roch nach Papier, die Augen mussten sich erst an die Lichtverhältnisse gewöhnen, hinter dem Ladentresen stand Herr oder Frau Michaelsen, der oder die kurz aufsah, unmerklich nickte, als er oder sie Albert erkannte, um sich sofort wieder mit den Abrechnungen zu beschäftigen oder den Bestelllisten oder womit auch immer. Meistens kaufte Albert gar nichts. Wenn er an den Regalen vorbeischlenderte, stellte er sich vor, wie er dicke Notizbücher mit wichtigen Aufzeichnungen füllte.

Hinter dem Schreibwarengeschäft ging das Überholtwerden los. Als Erstes überholte ihn diesmal Frank, mit einem Affenzahn und einem spöttischen Lächeln um den Mund. Frank wählte Albert in der Sportstunde nie in seine

Als Nächstes überholte ihn Silke. Das war schon eher peinlich. Silke war klein und dürr, und Albert hatte keine Ahnung, woher sie die Kraft nahm, zumal ihr Fahrrad auch nicht gerade das neueste war, eine klappernde Gurke, sechsundzwanzig Zoll oder sogar nur vierundzwanzig. Bei einer Geburtstagsfeier in einer Garage hatte Albert sie einmal gefragt, ob sie mit ihm Engtanz machen wollte, und sie hatte ganz sachlich geantwortet: «Nein, da habe ich sowieso keine Lust zu.» – «Okay», hatte er gesagt und sich wieder an den Rand der Tanzfläche gesetzt.

Dann kam Martin, Martin Starowski. Auf seinem gelben Profirennrad mit den extradünnen Reifen schwebte er an Albert vorbei. Martin, dessen Eltern den modernsten Bungalow im Vorort hatten und ein Segelboot dazu. Der bei einem Klassenausflug nach Sankt Peter-Ording seine Jeans hochgekrempelt hatte und auf ein Windsurfboard gesprungen war, einfach so, und schon war er über die sanften Wellen geglitten, als sei es das Leichteste der Welt. Albert hatte mit offenem Mund dagestanden. Wie selbstverständlich das aussah.

Albert hoffte, dass Martin sich im Vorüberfahren wenigstens zu ihm umdrehen würde. Und, tatsächlich, er drehte sich um: «Bis gleich, Berti! Keine Zeit, muss noch Geschi…» Schon sah Albert nur noch seinen Rücken.

Das war in Ordnung. Berti genannt zu werden gefiel Albert eigentlich nicht, aber bei Martin ließ er es durchgehen. Wichtiger war, dass Martin überhaupt etwas zu ihm sagte.

Die Bebauung wurde dichter, die Bäume weniger. Aus den Einfamilienhäusern wurden zweigeschossige Stadthäuser, dann Etagenhäuser mit vier Stockwerken, manchmal auch mit Geschäften im Erdgeschoss.

Als Letzte überholte ihn Katrin, Katrin Michaelsen, mit ihren Sommersprossen und der kleinen Nase, lachend fuhr sie an Albert vorbei. Sie machte immer ein Spiel daraus. Schon von weitem hörte er sie klingeln und rufen. «Aus dem Weg, Kapitalisten!», rief sie. «Platz da für die neue Generation!» Albert zog den Kopf ein und wurde rot, was er hasste. Er verstand es nicht: Warum veranstaltete Katrin immer so eine Show? Wenn man schneller war, okay, dann fuhr man eben vorbei, aber warum das Tamtam?

Mit Caroline machte Albert selbst es ja genauso, mit Caroline Möller, die ihm immer so freundliche, wenn auch leicht schmerzliche Blicke zuwarf, die eine piepsige Stimme hatte, ihre Schultern nach vorne zog, weil sie sich für ihre schon ziemlich großen Brüste schämte, und sowieso die Langsamste von allen war. Als er an ihr vorbeistrampelte, setzte Albert ein unbeteiligtes Gesicht auf. Und er war immer noch ein bisschen wütend auf Katrin.

 

Der Unterricht. Fünf Stunden. Sechs Stunden. Niemand wusste von seinem Geburtstag. Trotzig dachte sich Albert, dass sie auch von seinen nächtlichen Leseabenteuern nichts wussten, und dass sich etwas in ihm verändert hatte, wussten sie erst recht nicht.

Es klingelte, und sofort war ein durchdringendes Johlen in der Luft. Mehrere hundert Schüler hatten Schulschluss, ein lärmendes Geknäuel aus Fahrrädern, fröhlichen Gesichtern und dummen Sprüchen verstopfte die Einfahrt zum Schulhof. Die Fahrten nach Hause, zurück in den Vorort, waren ganz anders als die Hinfahrten morgens. Aus dem Knäuel formierte sich ein Pulk. Wer neben wem fuhr, das war eine wichtige Sache. Wer neben Katrin oder Martin fahren wollte, musste Glück haben oder entschlossen den entscheidenden Moment abpassen und zur Not ein bisschen drängeln. Albert schaffte es an diesem Tag, ohne recht zu wissen, wie.

Je weiter sie sich von der Schule entfernten, desto kleiner wurde der Pulk. Schon an der ersten Kreuzung verabschiedeten sich die Ersten, für die meisten aber ging es weiter, die kleine Steigung hinunter, an der Ampel links, an der nächsten Ampel rechts und dann immer geradeaus die Landstraße entlang.

Der Pulk wurde schneller. Auf dem breiten Radweg legten sich die Mitschüler voll ins Zeug.

Albert fuhr neben Katrin und Martin an der Spitze. Das bedeutete, dass er sich anstrengen musste. Katrin raste sowieso gerne mal ohne Vorwarnung los, einfach nur zum Spaß – ihr Lachen flatterte dann wie ein Umhang hinter ihr her. Und Martin brauchte auf seinem Profirennrad nur ein paar Gänge hoch- oder runterzuschalten, indem er mit lässiger Geste einen der beiden Hebel an der unteren Stange betätigte, um mühelos nachzuziehen.

Einen Teil der Strecke hielt Albert mit, dann fiel er zurück. Martin und Katrin entfernten sich. Frank überholte

Albert spürte einen Druck im Bauch. Ihm fiel ein, dass Onkel Wilhelm zu Besuch kommen würde, eigentlich Großonkel Wilhelm, ein Bruder seines Großvaters väterlicherseits, den Albert nicht mehr kennengelernt hatte, weil er vor seiner Geburt gestorben war. Onkel Wilhelm roch immer ein bisschen. «Weißt du, früher haben die Leute nur einmal in der Woche gebadet», sagte Alberts Mutter zur Erklärung. Außerdem fehlten Onkel Wilhelm drei Finger an der linken Hand, nur der Daumen und der Zeigefinger waren noch vorhanden, und einmal hatte er zu Albert gesagt: «Ihr jungen Leute habt doch keine echten Probleme mehr, ihr wisst doch gar nicht, wie das ist, echte Probleme zu haben.»

Die Empörung, die er damals gespürt hatte, kroch wieder in Albert hoch, während er tapfer in die Pedale trat, Empörung und auch Enttäuschung darüber, dass man ihm nicht ansah, dass er anders war als die anderen in seinem Alter. Hätte er eine große Narbe quer über dem Gesicht oder feuerrote Haare, würde er humpeln oder wäre er, was er nicht ohne Schuldgefühle dachte, eine Waise – dann hätte Onkel Wilhelm so etwas nicht gesagt. Und Katrin und Martin würden ihm vielleicht nicht davonfahren.

Auch für ihn selbst wäre es einfacher. Er wäre ein Außenseiter und müsste nicht mehr darüber nachdenken, ob er einer war. Aber so? Mittelgroß, mittelblond, keine besonderen Kennzeichen, Lehrereltern. Bleibt nur das leichte Stottern, dachte Albert bitter, und um das zu bemerken, musste man schon sehr aufpassen, was offensichtlich niemand tat.

Der Pulk der Mitschüler war noch in Sichtweite. Eigentlich gar nicht schlecht. Er war kein Teil der Gruppe mehr, er fuhr allein, aber so konnte er viel besser beobachten, was sich innerhalb der Gruppe abspielte. Wie Katrin manchmal Silke herankommen ließ und wie sie, sobald sich Silke auf der Höhe ihres Hinterrads befand, doch wieder schneller wurde. Oder wie Martin von allen Seiten lautstark und lachend verabschiedet wurde, als er in die Straße zum See abbog; der Bungalow seiner Eltern lag im ältesten Bauabschnitt des Vororts, der wie in Jahresringen Schicht für Schicht aus der Stadt herausgewachsen war. Bei Silke, so nett sie war, hoben die anderen zum Abschied nur kurz die Hand, und manche ignorierten sie ganz.

Das war der Moment, als Albert aufging, dass er sich die Sache mit dem Nachhausefahren auch ganz anders erzählen konnte. Er brauchte sich gar nicht einzureden, dass er auf seiner alten Gurke langsamer war als die anderen. Er konnte sich vielmehr sagen, dass er mehr Zeit hatte als sie. Denn das stimmte schließlich. Seine Eltern kamen erst am Nachmittag heim. Während seine Mitschüler zu ihren Müttern nach Hause hetzten, wartete auf Albert nur das vorgekochte Mittagessen in einem Topf. Sollte es warten. Er hatte alle Zeit der Welt.

Albert beschloss, den Pulk Pulk sein zu lassen und lieber noch einen Zwischenstopp bei «Schreibwaren Michaelsen» einzulegen.

 

Ganz beschwingt fing er an, doch er kam schnell ins Grübeln. «Robinson Crusoe» von Daniel Defoe, das war ein Klassiker, nicht nur etwas für Jugendliche, sondern richtige Literatur, aber die Ausgabe, die in seinem Bücherregal stand, war nun einmal bloß eine Jugendausgabe, gekürzt und mit bunten Zeichnungen. Würde ein Erwachsener in sein Zimmer kommen, das Buch sehen – «Ach, das hast du auch schon gelesen?» –, es in die Hand nehmen und feststellen, dass es nur eine gekürzte Ausgabe war, dann wäre das peinlich. Andererseits: Wenn er das Buch in den Karton packte, würde der Erwachsene vielleicht denken, dass er den «Robinson Crusoe» noch gar nicht gelesen hätte. Das wäre auch wieder nicht gut.

Albert entschied sich, das Buch in den Keller zu bringen. Kaum war diese Frage geklärt, kam gleich die nächste: Was war eigentlich mit «Emil und die Detektive»?

Zwischendurch las sich Albert immer wieder fest. Die Wasserschlacht in «Burg Schreckenstein» las er noch einmal ganz. Manche «Was-ist-was»-Bücher kannte er fast auswendig. Über «Urmel aus dem Eis» musste er wieder lachen. Über den «Sagen des klassischen Altertums» vergaß er die Zeit. Und in welchem Karl-May-Buch gab es noch mal diese Rinderhirten, die sich, wenn sie der Hunger trieb, lachend ein Stück Fleisch aus lebenden Kühen schnitten, die dann vor Schmerz elendig brüllten?

Er hörte den Schlüssel in der Wohnungstür. Am Geräusch

Die Zimmertür öffnete sich, seine Mutter steckte den Kopf herein.

«Berti.»

«–»

«Berti?»

«Mann, Mutti!»

«Ach, entschuldige!»

«Du sollst das nicht …»

«Tut mir leid.»

«I-ich bin kein …»

«Ich weiß, tut mir leid.»

«Mann.»

«Ja, ich weiß, Albert, dass du kein kleines Kind mehr bist, das weiß ich, ist mir rausgerutscht, tut mir leid. Ich sag’s nie wieder.»

«Mann.»

«Versprochen.»

«Mann.»

Albert spürte, dass er rot geworden war.

Als die Mutter sah, womit er sich beschäftigte, bekam sie gleich wieder ihren stolzen Blick. «Du räumst auf, das ist doch schon mal gut.»

Alberts Zimmer war groß für ein Kinderzimmer, größer als das Schlafzimmer der Eltern, größer auch als das angebliche Gästezimmer, das in Wirklichkeit das Lesezimmer der Mutter war, da sie nie Übernachtungsgäste hatten, fast so

Neben der Mutter hatte sein Vater gestanden. Nachsichtig lächelnd hatte er seine Frau angesehen. Dann sagte er zu Albert: «Nein, Albert, hier kannst du dich bilden, dich ausruhen und dich bilden, das wollte deine Mutter dir sagen.» Woraufhin die Mutter wiederum nachsichtig lächelnd ihren Mann angesehen hatte.

Den Satz der Mutter fand Albert später in einem Buch wieder, das aufgeschlagen auf dem Tisch neben dem Sofa im Gästezimmer lag. «Ein Zimmer für sich allein» lautete der Titel, die Autorin hieß Virginia Woolf. Eine Vorlage für den Satz des Vaters fand Albert auch, als er einmal in den Schubladen des väterlichen Schreibtisches wühlte. Sorgfältig abgetippt lag dort eine Rede, die sein Vater irgendwo gehalten haben musste, mit dem Titel «Non studet libenter. Die Bedeutung der humanistischen Bildung für die Gegenwart».

Albert folgte dem Blick der Mutter durch das Zimmer. Da war das Bett, das seine Eltern ihm gekauft hatten. Früher konnte er sich darin so lang machen, wie er wollte, er kam an das Fußende nicht heran. Oder er kam nur dann an das Fußende heran, wenn er mit dem ganzen Körper nach unten rutschte und dann wiederum mit den Fingern nicht mehr an das Kopfende herankam. Dass er beide

Den großen Schreibtisch hatte Albert sich dagegen selbst erbettelt, ertrotzt und ernörgelt, Weihnachts- und Geburtstagsgeschenk in einem. «Wenn man es genau nimmt, musst du ihn dir erst noch verdienen», hatte sein Vater irgendwie feierlich zu ihm gesagt, als der Schreibtisch endlich in seinem Zimmer stand.

Auf dem Schreibtisch hatte Albert sein Büro eingerichtet. Mit Karteikästen, Ablagekästen und später dann mit der elektrischen Schreibmaschine der Mutter, die leise surrte, wenn er sie anschaltete, und schnelle, harte Anschläge auf das Papier hämmerte, wenn er die Tasten nur leicht berührte. Die Schreibmaschine sah cool aus. Aber die Ablagekästen erinnerten inzwischen doch sehr an die Spielzeugpost, mit der Albert als kleines Kind so begeistert gespielt hatte. Auch sie mussten bald in den Keller wandern.

An der Wand neben dem Schreibtisch hing die Karte des Vororts, eigenhändig und mit feinen Filzstiften gemalt. Manche Straßen war Albert extra abgegangen, um sie mit Schritten auszumessen. Sein Zimmer lag auf der Karte genau im Zentrum des Vororts, was sogar einigermaßen hinkam. Neben der Karte hing ein Puzzle. Die Ruinen des zerfallenen Forum Romanum in dreitausend Teilen, zusammengesetzt mit dem Vater, als Albert zehn Jahre alt war. Säulen, kaputte Fassaden, ein Triumphbogen in

«Kaffeesahne ist alle», sagte die Mutter.

Albert verstand nicht: «Was?»

«Kaffeesahne. Ist alle. Würdest du so nett sein und welche holen gehen – Albert?»

«Mann.»

«Sei ein guter Sohn!»

«Ja, okay.»

Und schon war die Mutter wieder weg. Albert wusste, sie würde in der Küche warten und ihm Geld in die Hand drücken. Und dann würde sie ihm kurz über die Wange streichen.

Albert maulte noch ein bisschen vor sich hin. «Ausbeutung, Kinderarbeit, Talentverschwendung, und das an meinem Geburtstag.» Aber tatsächlich war er ganz froh. Er brauchte ja auch noch neue Batterien für die Taschenlampe.

Ein letzter Blick auf die Bücher auf dem Fußboden und auf das jetzt unordentlich aussehende Bücherregal. Zwischen den Büchern klafften Lücken.

Onkel Wilhelm, wenn er seinen Kaffee mit Kaffeesahne trank, würde bestimmt wieder fragen, was Albert später mal werden wollte, das fragte er immer. Zumindest strich er Albert nicht mehr mit seiner verkrüppelten linken Hand über das Haar.

Und Albert antwortete immer: «Ich weiß nicht, irgendwas mit Büchern.»

 

Erschöpft war Albert am Abend ins Bett gegangen, beim Lesen waren ihm die Augen zugefallen. Mitten in der Nacht wachte er auf.

Draußen pfiff der Wind, und es regnete. In der Dunkelheit konnte Albert die Umrisse der Dinge nur erahnen. Es waren die gewohnten Silhouetten, aber es fühlte sich leicht unheimlich an. Er tastete neben seinem Bett nach der Taschenlampe und schaltete sie ein.

Auf dem Fußboden vor dem Regal standen noch immer Bücherstapel. Albert strampelte die Bettdecke weg, stand schnell auf, spürte die Kälte an den nackten Beinen, griff sich ein Buch von dem Stapel seiner neuen Bücher. «Mutmassungen über Jakob» von Uwe Johnson, er hatte in der Zeitung darüber gelesen, sich Titel und Autorennamen aufgeschrieben und es sich, als er vergangene Woche mit seiner Mutter in der Stadt gewesen war, gleich in der Buchhandlung hinter dem Alten Markt gekauft. Nun eilte er zurück ins Bett, zog die Decke über seinen Körper, und ein Gefühl von Wärme und Geborgenheit breitete sich in ihm aus. Er schlug das Buch auf und begann zu lesen.

Onkel Wilhelm hatte am Nachmittag wie immer seine Sprüche losgelassen. So ganz verstand Albert seine Eltern nicht. Freuten sie sich, wenn der Onkel zu Besuch kam? Schämten sie sich für ihn? Albert konnte ihre Signale nicht deuten.

Bereits in der Tür hatte Onkel Wilhelm gesagt: «Du bist aber groß geworden!» Nachdem er den Mantel ausgezogen und abgelegt hatte, drehte er sich zu Albert um: «Wie alt bist du denn jetzt geworden? Fünfzehn! Schon? Kinder,

Onkel Wilhelm schenkte ihm den Bausatz für ein Modell des Segelschulschiffs Gorch Fock. «Jungs basteln immer so gern», sagte er dazu. Albert bemühte sich, ein erfreutes Gesicht zu machen. Er legte den Karton auf den kleinen Geschenketisch neben das lange Paket mit «Kindlers Literaturlexikon» in vierundzwanzig grauen Bänden, das seine Eltern ihm geschenkt hatten.

Es gab Apfel- und Streuselkuchen vom Bäcker, Onkel Wilhelm kippte sich großzügig Sahne in den Kaffee – «Ach, Kinder, was geht’s uns gut!» –, und schon bald kam die Frage, auf die Albert sich vorbereitet hatte. Zuerst brachte er das «I» in «Irgendwas» nicht heraus, dann aber schloss er kurz die Augen, konzentrierte sich, und schließlich gelang es, einigermaßen zumindest.

Onkel Wilhelm schien mit Alberts Antwort zufrieden zu sein. Er nahm einen Schluck Kaffee und sagte dann mit einer Ernsthaftigkeit, als läge darin das Geheimnis der Welt begründet, noch einmal: «Ach ja, Kinder, was geht’s uns aber gut.» Daraufhin veränderte sich etwas in seinem Gesicht. Skeptisch sah er hinüber zum Bücherregal des Vaters, das das Wohnzimmer beherrschte.

Alberts Vater erhob sich, ging zum Regal und rückte ein paar Bücher gerade, die, wohl beim Staubwischen, verschoben worden waren. Sie mussten immer ganz gerade stehen, die Bücher des Vaters.

 

Lag es, Albert war plötzlich hellwach, vielleicht daran, dass die richtigen Bücher sich ihm doch nicht öffneten? War er noch zu jung, um sie zu verstehen? Oder – und jetzt erschrak er – würden ihm die Bücher, nicht alle, aber manche, die richtigen, für immer verschlossen bleiben?

Er blätterte zurück und begann noch einmal von vorn. Der erste Satz war berühmt, das wusste er. «Aber Jakob ist immer quer über die Gleise gegangen.» Okay, der Satz war nicht schwer. Aber warum stand er da, gleich am Anfang? Und warum kamen gleich danach zwei Leerzeilen? Und warum kam dann ganz etwas anderes?

Im zweiten Absatz unterhielten sich offenbar zwei Männer miteinander. Aber was waren das für Männer? Man las nur ihre Stimmen. Und warum hörte dieser zweite Absatz ganz plötzlich auf? Noch nicht mal einen Punkt gab es da.

Der dritte Absatz begann so, wie der vorangegangene endete, ohne richtigen Anfang, mit einem kleinen Buchstaben, als sei der Beginn abgeschnitten worden und verloren gegangen. Wer redete da? Dann kam wieder die Unterhaltung. Und dann sprach plötzlich ein Ich. «Mein Vater», sagte jemand, und die Schrift war mit einem Mal kursiv. «Mein Vater war achtundsechzig Jahre alt in diesem Herbst und lebte allein in dem Wind …» Eine schöne Formulierung, aber was hatte das jetzt wieder mit den Gleisen vom Anfang zu tun?

Albert ließ das Buch sinken.

Nach einer Weile nahm er es wieder hoch und blätterte darin. An einer Stelle las er sich fest und stieß auf den Satz:

Das hatte wieder etwas. Aber wer war dieser Jonas?

Albert legte das Buch beiseite, knipste die Taschenlampe aus, lag auf dem Rücken, schloss probehalber die Augen und spürte, dass er nicht einschlafen konnte.

Er hörte seinen Atem. Er fühlte, wie sich sein Brustkorb hob und senkte.

Mit einem Ruck stand er auf. Wieder die Kälte an den Beinen. Vorsichtig schlich er aus dem Zimmer. Vor der Schlafzimmertür der Eltern horchte er auf. Es war nichts zu hören, absolut nichts. Dadrin, dachte er, hinter dieser Tür, liegen jetzt meine Eltern in ihrem Bett und schlafen.

Durch den Flur, an Bad und Küche vorbei, schlich er ins Wohnzimmer. Die Vorhänge waren nicht zugezogen. Das Licht einer Straßenlaterne fiel durch das Fenster, die Schatten der Blätter bewegten sich auf dem Boden. Albert kam sich wie ein Einbrecher vor, der sich auf Zehenspitzen durch eine fremde Wohnung tasten musste, mit gespannten Sinnen.

Die Einfamilienhäuser auf der anderen Straßenseite wirkten, als hätten sie sich ihre Dächer über den Kopf gezogen. Hinter einem Baum stand der Mond. Niemand war unterwegs.

Albert lief zum Bücherregal des Vaters und legte sich davor auf den Boden. Er sah nach oben. Die Bücher standen dicht an dicht, exakt ausgerichtet, wie eine Wand.

Er schloss die Augen.

Der fremde Blick Onkel Wilhelms auf das Bücherregal.

Karl Roßmanns Regenschirm.

Dann der Satz von eben: «Verfolgte Jonas den Zweck die Welt zu bereichern um seine Weise sie anzusehen?»

Doch, er war etwas Besonderes.

Blutkörperchen

Der Tag, an dem sich alles änderte, begann damit, dass Herr Moritz ihnen die Hausaufgabe zurückgab, die er eine Woche zuvor eingesammelt und mit undurchdringlichem Gesicht mit nach Hause genommen hatte. Bio. «Einmal zum Herzen und zurück» hatte Albert als Titel über seinen Aufsatz gesetzt. Den Blutkreislauf hatten sie beschreiben sollen, möglichst detailliert und unter Verwendung der im Unterricht erlernten Fachbegriffe.

Bei Herrn Moritz wussten sie oft nicht, ob sie über ihn lachen oder ihn fürchten sollten. Den Zweiten Weltkrieg hatte er noch mitgemacht, mit dem letzten Aufgebot, so hieß es. Er war unverheiratet. In der Schule lief das Gerücht um, dass es in seinem Leben eine tragische Liebe gab, über die er einen unveröffentlichten Roman geschrieben hatte. Was an der Geschichte dran war, wusste niemand. Dennoch pflanzte sie sich fort, von Schülergeneration zu Schülergeneration, eine dieser Geschichten, die interessant und so leicht zu erzählen waren, dass es auf die Wahrheit nicht ankam.

Herr Moritz humpelte, vielleicht eine Kriegsverletzung. Er hatte eine Glatze, über die er seine letzten Haare kämmte. Stets trug er schwarze Anzüge, auch im Hochsommer. Er hatte häufig Kopfschmerzen (dass er viel trank, sollte Albert erst später aus der Erinnerung heraus aufgehen), außerdem litt er an einer Kreideallergie. Bevor er etwas an die Tafel schrieb, streifte er sich weiße Handschuhe über.

Auf Albert wirkte Herr Moritz wie ein Überbleibsel aus längst vergangenen Zeiten, noch von vor den Beatles, unheimlich. Er wirkte aber auch ungeheuer real. Mit Herrn Moritz umzugehen, das war eine dieser seltsamen Aufgaben, die die Wirklichkeit für Jugendliche bereithielt und die es zu meistern galt, auch wenn man sie nicht verstand. Wie die Musterung zur Bundeswehr, die irgendwann kommen würde. Oder die Notwendigkeit, einmal einen Beruf zu ergreifen und eine Familie zu gründen, etwas zu werden. Dass es letztendlich darauf hinauslaufen würde, das sagten einem alle Erwachsenen, nicht nur Onkel Wilhelm. Oft wurden sie dabei melancholisch. Dass der Spaß dann vorbei sein würde, sagten sie. Welcher Spaß? Albert empfand es nicht als großen Spaß, Jugendlicher zu sein.

Es gab Lehrer, deren Autorität sie einfach wegkichern konnten. Bei Herrn Moritz funktionierte das nicht. Wenn bei ihm in der Klasse Unruhe aufkam, wurde er nicht lauter wie die anderen Lehrer, und er wurde auch nicht wütend. Er wurde leiser und kälter. In aller Seelenruhe sprach er weiter und erklärte den Unterrichtsstoff, wie nur für sich allein. Man hatte den Eindruck, dass es ihn sogar freute, wenn ihm niemand zuhörte. Ein eisiges Lächeln zuckte um seine Mundwinkel. Albert nahm es deutlich wahr.

Je leiser Herr Moritz redete, desto sicherer war es, dass sich die Fragen in der nächsten Klassenarbeit genau auf das beziehen würden, was er gerade erklärte. Und Herr Moritz konnte sehr leise reden. «Ich werde hier schließlich nicht nach Lautstärke bezahlt», sagte er einmal.

Das wirkte. Nach ein, zwei Klassenarbeiten mit

 

Die Rückgabe der Hausaufgaben folgt einem Ritual. Herr Moritz legt die Schulhefte vor sich auf das Lehrerpult, in einem ordentlich geschichteten Stapel, dessen Ränder er auch noch sorgfältig ausrichtet. Dann nimmt er das oberste Heft und verliest den Namen auf dem Titelblatt. Der oder die Aufgerufene muss vortreten und bekommt das Heft überreicht, jeweils mit einem kurzen Kommentar. Martin erhält ein «Gut gemacht» und ein sachliches Nicken. Zu Katrin sagt Herr Moritz: «Fräulein Michaelsen, Sie haben wieder keine rechte Lust aufbringen können, die in Sie gesetzten Erwartungen zu erfüllen. Schade. Potenzial wäre vorhanden.» Katrin nimmt das Heft mit einer abfälligen Handbewegung entgegen. Niemandem bleibt der Gang nach vorne erspart, nicht Silke, nicht Frank und auch nicht Caroline.

Als Allerletzter kommt an diesem Vormittag Albert an die Reihe. Sein Heft liegt als einziges noch auf dem Pult. Während er nach vorne geht, blättert Herr Moritz noch einmal darin. Sein kaltes Lächeln ist verschwunden, stattdessen zuckt er mehrmals unmerklich mit dem Kopf. Albert zieht seinerseits schon mal den Kopf zwischen die Schultern. Wie ferngesteuert bewegt er sich auf das Lehrerpult zu. Ihm ist in diesem Moment, als ob er sich selbst von oben zusehen würde. Einen Augenblick lang wünscht er sich in sein Zimmer zurück. Er weiß ja, dass er etwas abgegeben hat, das ungewöhnlich ist.

Er steht vorn, am Lehrerpult. Herr Moritz hält das DIN-A4-Heft in den Händen, blau, Brunnen, liniert, mit Rand, bei Katrins Eltern gekauft, auf dem Deckblatt steht, sorgfältig und eigenhändig eingetragen, sein Name, Albert Schwingenholtz.

Mit leiser Stimme sagt Herr Moritz: «Ich bin mir nicht sicher, Albert, ob Sie sich» – er sieht Albert an, ein Blitzen in den Augen – «einen Spaß erlauben wollten oder ob Ihnen tatsächlich eine Inspiration widerfahren ist …»

Herr Moritz räuspert sich. Es wird still im Klassenraum.

«Ich möchte Ihnen sagen, Albert, Ihre Geschichte hat mich erheitert. In einem Wettbewerb für, wie heißt das heutzutage: kreatives Schreiben hätte ich Ihnen ein Gut gegeben, womöglich sogar ein Sehr gut. Aber das Fach, das ich Ihnen zu vermitteln habe, ist, wie Sie sich vielleicht erinnern, die Biologie. Dabei handelt es sich, wie Sie wissen, um eine Naturwissenschaft, und in der Naturwissenschaft ist Exaktheit gefragt und keineswegs – Poesie.»

Für einen Moment hält Herr Moritz inne.

«Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Sie sich» – er erhebt die Stimme – «hochnäsig über die Erfordernisse der Wissenschaft lustig machen wollten. Bei anderer Gelegenheit mag das angehen. Doch dies ist eine Schule, und es geht hier darum, die vorgegebenen Aufgaben zu erfüllen. Es ist also meine pädagogische Pflicht, Ihnen zwei Dinge zu sagen. Erstens, Sie haben einen, für Ihr Alter, interessanten kleinen Aufsatz geschrieben. Zweitens, Sie haben zwar nicht das Thema, aber doch die geforderte Textgattung weit verfehlt, und das, wie ich annehmen muss, mit Vorsatz. Ich gebe Ihnen dafür ein Ungenügend.»

Raunen im Klassenraum. Albert hat noch nie eine Sechs bekommen. Alle wissen das. Kein Gekippel mit dem Stuhl, keine geheimen Botschaften unter dem Tisch. Alle sehen nach vorn.

Albert will etwas erwidern. «Aber es ist doch nur ein Spaß gewesen», will er sagen. Das «Aber» schafft er noch, beim «es» bleibt er hängen. Seine Kehle verkrampft sich. Er presst mit Zwerchfell und Bauchmuskeln, aber es geht nicht, den Widerstand in der Kehle kann er nicht brechen. So bleibt das «Aber» allein in der Luft stehen.

Martin meldet sich, vielleicht um Albert beizustehen. Herr Moritz sieht ihn an und schüttelt nur kurz den Kopf. Albert registriert, dass Katrin mit empörtem Gesichtsausdruck die Szene beobachtet. Er weiß nicht recht, was zu tun ist.

Schon will Albert sich umdrehen, um zu seinem Platz zu gehen, aber Herr Moritz hält ihn mit einem Blick zurück. Er faltet die Hände und lässt die Daumen schnell gegeneinanderklopfen.

«Albert, Sie werden das, was ich Ihnen jetzt sage, vielleicht noch nicht verstehen, aber merken Sie es sich, irgendwann werden Sie es verstehen. Was ich Ihnen sagen möchte, ist dies: Ihre Hausaufgabe ist originell, das unbedingt. Aber, glauben Sie mir, man muss der Versuchung, originell sein zu wollen, auch widerstehen können. Vielleicht ist es das, was Sie heute lernen sollten.»

Die Daumen klopfen noch ein paar Atemzüge gegeneinander. Dann stoppen sie.

Albert kehrt zu seinem Platz zurück, unter den Blicken von Katrin, Martin, Silke, Frank, Caroline und allen anderen. Er ist verwirrt, was meinte Herr Moritz damit nur? Und

In diesem Moment fühlt Albert nicht nur Scham und Empörung, sondern auch einen heimlichen Stolz. Dann fällt ihm der Satz ein, den er bei Uwe Johnson gelesen hat. Genau, auch er will die Welt bereichern um seine Weise sie anzusehen, und Herr Moritz will ihn daran hindern. Oder?

 

In der Pause herrschte natürlich große Aufregung. Alle standen sie auf dem Schulhof um Albert herum. «Sechs, der spinnt doch!», rief Frank. «Das kannst du dir nicht bieten lassen!», meinte selbst Silke. Caroline guckte ihn mit tief empfundenem Mitleid schmerzlich an. «Das ist echt ungerecht», sagte Katrin, als hätte sie das endgültige Urteil über den Zustand der Welt gefällt.

Und dann passierte es.

«Vorlesen!», rief jemand, und andere fielen ein: «Ja klar, los, vorlesen!» Schließlich riefen alle durcheinander: «Vorlesen! Vorlesen!»

«Nun lasst ihn doch mal in Ruhe», versuchte Martin zu beschwichtigen, aber Albert zog ihn am Jackenärmel. «Doch, lass mich das vorlesen», sagte er.

Der heimliche Stolz von eben war noch da. Albert wollte nicht, dass er wieder wegging. Es war so: Er wollte es jetzt wissen. Dieses eine Mal wollte er jemand sein, der nicht groß nachdachte, sondern einfach machte. So wie Martin beim Klassenausflug. Er wollte sich in seinen Text stürzen wie Martin auf sein Surfbrett.

Und da war noch etwas, wie in der Nacht, in der er die

«Du bist ganz weiß im Gesicht», sagte Martin.

«Macht nichts», sagte Albert. «Geht schon mal zur Mauer!»

Und schon rannte er zurück in den Klassenraum, um das Heft zu holen.

 

Die Mauer, das war eine Ansage. Hüfthoch und aus rotem Backstein, trennte sie den Schulhof vom Bürgersteig. In Freistunden und langen Pausen, wenn die Sonne schien und die Abiturienten die Mauer nicht für sich beanspruchten, setzten sie sich gern darauf. Das war zwar verboten, aber nur die strengsten Lehrer blafften ein «Runter da!» herüber, wenn sie es sahen.

War es warm genug, zogen die Mädchen an der Mauer ihre Sandalen aus, manche aus der Oberstufe rauchten, andere, die schon volljährig waren und ein Auto hatten, das auf der anderen Seite der Mauer geparkt war, huschten schnell hinüber und stellten das Autoradio an oder legten eine Kassette ein. Musik wehte dann in die Pause herein. Ganz von ferne leise Freiheitsgefühle. Etwas an der Mauer sagte: Coolness. Etwas sagte auch: Hier spielt das wirkliche Leben. Es war der Ort, an dem man sich noch auf dem Schulgelände befand und gleichzeitig so weit weg von der Schule wie möglich sein konnte.

Albert flitzte in den Klassenraum und griff sich das Heft, das noch auf seinem Tisch lag. Da war noch alles gut. Auf

Alle warteten sie jetzt auf ihn. In seinen Tagträumen und nachts, wenn er wach lag, hatte Albert sich oft gewünscht, so im Mittelpunkt zu stehen. Innere Zeitlupenaufnahmen von entscheidenden Toren bei Klassenspielen in der Nachspielzeit. Phantasien von Gitarrensoli auf dem jährlichen Schulfest (er konnte noch nicht einmal Gitarre spielen). Jetzt wünschte er sich aber doch, er hätte nicht gewollt, seinen Text vorzulesen. Es hätte noch ein halbwegs normaler Tag werden können, ohne große Aufregung. Der seltsame Vorfall bei der Rückgabe der Hausaufgabe wäre bestimmt schnell vergessen gewesen. Er selbst war es, Albert Schwingenholtz, der gerade sein Schicksal herausforderte. Was ist, wenn alle lachen?

Er atmete tief ein und wieder aus. Da kam er jetzt nicht mehr raus, das war klar. Wie um sich irgendwo festzuhalten, sah er sich um. Er stand mitten in der gewohnten Umgebung. Fünfziger-Jahre-Bau. Die Flachdächer der in Zeilen angeordneten Klassenräume. Um die Ecke der efeubewachsene fünfstöckige Turm mit den Fachräumen, das Wahrzeichen der Schule. Wenn er den offenen Gang entlangschaute, konnte er seine Klassenkameraden sehen, die schon an der Mauer standen. Ein paar aus dem Abschlussjahrgang hatten sich dazugestellt.

Im nächsten Moment kam es Albert vor, als würde die Gegenwart stolpern. In seltsamer Überdeutlichkeit bemerkte er, dass es ein schöner Tag war. Grüne Blätter wiegten sich im Wind. Die Sonne musste aus den Wolken hervorgekommen sein. Spatzen tobten im Gebüsch neben dem Gang.

Energisch hielt er das Heft vor seine Brust und ging weiter, Schritt für Schritt. Ohne auf die Mitschüler zu achten, die auf ihn gewartet hatten, schritt er zur Mauer und sprang mit einem Satz hinauf. Er durfte sich nur nicht ablenken lassen, von nichts und von niemandem. Und so, während er wie von ferne registrierte, dass die anderen Schüler sich in einem Halbkreis um ihn verteilten und ihm lächelnd zuhörten – Martin und Katrin standen nebeneinander in der ersten Reihe –, las er seinen Aufsatz vor und stotterte dabei tatsächlich kein einziges Mal.