Die Rede «The Clothing of Books», zunächst in Italien auf dem «Festival degli Scrittori» («Festival der Autoren») vorgetragen, wurde 2015 als zweisprachige Ausgabe – Englisch/Italienisch – herausgegeben von der Santa Maddalena Foundation, Donnini/Florenz.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, November 2018
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«The Clothing of Books» Copyright © 2015 by Jhumpa Lahiri
Redaktion Lea Daume
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Covergestaltung any.way, Hamburg, nach der Originalausgabe von Bloomsbury Publishing Plc
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ISBN Printausgabe 978-3-499-27563-0 (1. Auflage 2018)
ISBN E-Book 978-3-644-40527-1
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-40527-1
Camerado! Dies ist kein Buch.
Wer dies berührt, berührt einen Menschen.
Walt Whitman, Grasblätter
Im Haus der Familie meines Vaters in Kalkutta, wohin ich als Kind auf Besuch kam, sah ich morgens meinem Cousin und meiner Cousine beim Ankleiden zu. Sie machten sich für die Schule fertig – ich hingegen hatte Ferien. Jeden Tag, nach dem Bad und vor dem Frühstück, zogen sie das Gleiche an: eine Uniform.
Sie besuchten zwei verschiedene Schulen, daher unterschieden sich ihre Uniformen. Mein Cousin trug eine lange Hose aus marineblauer Baumwolle, meine Cousine, die ein paar Jahre älter war, einen himmelblauen Rock. Abgesehen von diesen Farben und der gelben Krawatte, die sich mein Cousin umbinden musste, waren die restlichen Teile der Uniform gleich: ein kurzärmeliges weißes Hemd, weiße Strümpfe, schwarze Schuhe.
Wahrscheinlich hatten sie im Schrank zwei Paar marineblaue Hosen und zwei himmelblaue Röcke, so konnten sie stets saubere und gebügelte Sachen anziehen. Bevor wir nach Indien reisten, kaufte meine Mutter ziemlich viele Paare weißer Strümpfe, da sie wusste, dass die bei meiner Tante sehr willkommen wären.
Obwohl sie vor allem einfach und funktional waren, fand ich die Uniformen meines Cousins und meiner Cousine wunderbar, faszinierend. Ob auf der Straße, im Bus oder in der Tram – ich war beeindruckt von dieser zwingend vorgegebenen visuellen Sprache, mit der sich in so einer großen und dicht bevölkerten Stadt Tausende von Schülern identifizieren und zuordnen ließen. Jede Uniform bedeutete die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schule. Jeder meiner Altersgenossen in Kalkutta hatte dadurch in meinen Augen einerseits eine starke Identität und genoss andererseits eine Art Anonymität. Das ist die Wirkung der Uniform.
Auch ich wollte eine Uniform. Immer wenn ich in die Schneiderei ging, um mir neue Kleider machen zu lassen – ein besonderes Abenteuer, das ich nur in Indien erleben konnte, wo es in den siebziger Jahren üblich war, maßgeschneiderte statt im Geschäft gekaufte Kleider zu tragen –, war ich versucht, eine Uniform in Auftrag zu geben. Es war ein unsinniger Wunsch von mir; ich hätte ein solches Kleidungsstück nicht gebrauchen können. In Amerika besuchte ich eine öffentliche Schule, wo alle trugen, was sie wollten. Mich jedoch quälte diese Wahlmöglichkeit, diese Freiheit.
Schon als Kind verunsicherte es mich, durch meine Kleiderwahl etwas auszudrücken. Ich fühlte mich schon besonders, aufgrund meines Namens, meiner Familie, meines Aussehens. In den übrigen Aspekten wollte ich sein wie alle anderen. Ich träumte von Gleichheit, ja, sogar von Unsichtbarkeit. Doch stattdessen war ich gezwungen, meinen eigenen Stil zu finden. Ich fühlte mich schlecht gekleidet, die Ausnahme statt die Regel.
Es half auch nicht gerade, dass einige meiner Mitschülerinnen mich schief ansahen, weil sie meine Kleider komisch fanden. Sie sagten: Was für ein hässliches Outfit. Die zwei Muster beißen sich, weißt du das nicht? Niemand trägt mehr Schlaghosen, die sind aus der Mode. Sie lachten. Auf diese Weise habe ich meinen Tag viele Jahre lang, schon während ich auf den Schulbus wartete, mit einer Demütigung begonnen.
Sie verhöhnten zwar mich, aber meinten damit auch meine Eltern. Als Ausländer versuchten diese, überall zu sparen, und suchten meine Kleider nicht nach der Mode oder der Norm aus. Sie kauften meine Kleidung im Ausverkauf zu Saisonende oder gar gebraucht, da sie wussten, dass ich binnen eines Jahres sowieso rausgewachsen sein würde.