image

Inspector
Swanson

und die Frau mit dem
zweiten Gesicht

Ein Kriminalroman
aus dem Jahre 1894
von Robert C. Marley

image

image

Dieses Buch ist in tiefer Zuneigung
Philip Kretzer
und meinem Bro Sven
gewidmet
.

Ich bin heilfroh,
dass ihr beiden die Welt
nicht größer gemacht habt!

»Der größte Haufen
hört beim hellen Tage mit Vergnügen
über die Gespenster spotten
und bei dunkler Nacht mit Grausen
davon erzählen.«

Gotthold Ephraim Lessing

Inhalt

Vorbemerkung

PROLOG

ERSTER TEIL

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

ZWEITER TEIL

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

DRITTER TEIL

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

VIERTER TEIL

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

FÜNFTER TEIL

KAPITEL 18

SECHSTER TEIL

KAPITEL 19

SIEBTER TEIL

KAPITEL 20

KAPITEL 21

EPILOG

Personen

Nachwort

Danksagung

Vorbemerkung

»Kill your darlings! – Töte deine Lieblinge!« – dieser Ausspruch William Faulkners ist der wohl am meisten missverstandene Rat eines etablierten Schriftstellers an junge Autoren. Er bedeutet nämlich nicht, einen dem Leser und dem Autor lieb gewordenen Charakter des kurzen emotionalen Effekts wegen zu opfern, sondern jene Wörter, Phrasen und Redewendungen zu streichen, die man im Übermaß verwendet, so, wie man im Garten das Unkraut herausrupft.

Das habe ich versucht. Lediglich eine Person in diesem Roman habe ich willentlich getötet – die erste. Bei den anderen konnte ich nichts dagegen tun.

Schriftsteller mögen auf den ersten Blick einen ziemlich einsamen Job haben. Und doch ist er, wenn man genau hinschaut, unglaublich vielschichtig. In Personalunion sind sie die Bühnenbildner, Drehbuchautoren, Maskenbildner, Beleuchter, Schauspieler und Regisseure eines Films, der allein in den Köpfen der Leser gespielt wird. Aber sie sind auch Mütter und Väter. Und manchmal verlieben sich Autoren in ihre Figuren. Wie Väter und Mütter sich in ihre Kinder verlieben. Warum das geschieht, ist ebenso rätselhaft, wie es die Liebe im wahren Leben ist. Sie passiert einfach. Man kann kaum etwas dagegen tun. Diesmal ist es mir passiert. Ob es Liebe auf den ersten Blick war? Bestimmt nicht. Aber eines ist sicher: Ich habe mich verliebt. Hals über Kopf und bis über beide Ohren. In einen kleinen neunjährigen Jungen, dessen geistiger Vater ich bin. Bis zuletzt war ich mir nicht sicher, was aus ihm werden würde, denn gelegentlich verselbstständigen sich Figuren. Manchmal meint es das Schicksal gut mit ihnen, doch manchmal schaffen sie es einfach nicht.

Dies ist ein Kriminalroman. Aber es ist auch ein Roman über die Liebe, die Freundschaft und den Tod.

R.C.M.

PROLOG

image

» Heutzutage hat jeder vor sich selbst Angst. «

Oscar Wilde

image

Nummer 50 Berkeley Square, Mayfair, London

Sie lag im Bett, zitternd vor Angst.

Louisa!, flüsterte die Stimme in ihrem Nacken. Louisa! Was hast du getan, Louisa? Du hast dich geweigert, mit uns zu sprechen. Du bist sehr böse gewesen, Louisa. Sehr, sehr böse.

Es war eine leise, kratzende Stimme. Sie kannte sie mittlerweile wie ihre eigene. Anfangs hatte sie angenommen, sie würde mit der Zeit verstummen – Louisa hatte versucht, sie so gut es eben ging zu ignorieren.

Doch die Stimme blieb.

Sie sprach mit ihr.

Sie flüsterte.

Sie schmeichelte ihr, und sie drohte.

Wisperte. Wisperte. Wisperte. Unablässig wisperte diese Stimme.

Und sie machte Louisa Angst. Auf eine Art, wie keine der anderen Erscheinungen in diesem Haus ihr je Angst gemacht hatten. Sie hörte sie nun beinahe jede Nacht. Und das war das Schlimmste.

Louisa zog sich die Decke bis zur Nase über das Gesicht. Minutenlang wartete und lauschte sie in die Schwärze des nächtlichen Zimmers. Was würde die Stimme als Nächstes sagen? Würde sie ihr wieder drohen, wenn sie sich abermals verweigerte?

Dabei benötigte Louisa nichts dringender als Ruhe. Ein paar Tage Entspannung. Nichts weiter. Nur ein paar Tage, an denen sie allein mit sich wäre. Allein mit ihren Gedanken, ohne für andere da sein zu müssen. Allein mit sich selbst und ihren Bedürfnissen. Ohne die Geister. Ohne die Stimmen. Ohne die vielen Menschen, die sie tagtäglich belästigten, um mit den Verstorbenen Kontakt aufzunehmen.

Louisa fragte sich manchmal, ob es diesen Leuten nicht bewusst war, dass die toten Verwandten, so lieb sie einem auch im Leben gewesen sein mochten, vielleicht gar kein Interesse daran hatten, weiter mit ihnen zu kommunizieren. Vielleicht, so dachte Louisa in letzter Zeit oft, wollten die Geister selbst auch nichts anderes, als endlich in Ruhe gelassen zu werden. Als endlich tot sein zu dürfen. Als endlich schlafen zu können. Für immer …

Louisa!

Lass mich in Ruhe, dachte sie. Lass mich schlafen. Lass mich endlich schlafen!

Den Atem anhaltend, lauschte sie in die erdrückende Stille, die seit dem letzten Wort der geisterhaften Stimme auf ihrer Brust lastete wie eine schwere Decke.

Louisa zwang sich zur Ruhe. Mit klopfendem Herzen lag sie da. Horchte, wartete angespannt, ob die Stimme abermals zu sprechen beginnen würde.

Doch die Stimme schwieg. War sie eingeschlafen? So, wie sie die Stimme des anderen Gesichts kannte, würde sie nur für ein paar Minuten Ruhe geben. Sie sprach in letzter Zeit des Nachts vor dem Einschlafen so häufig zu ihr, dass sie sich des Eindrucks nicht erwehren konnte, sie schliefe die meisten Stunden des Tages, ruhte sich aus, nur um sie des Nachts mit ihrem unheimlichen Geflüster umso hartnäckiger quälen zu können. Es kam ihr so vor, als fände diese Stimme ein teuflisches Vergnügen daran, sie langsam, aber stetig in den Irrsinn zu treiben.

Louisa! Hör mir zu!

Doch sie wollte nicht länger zuhören. Sie hatte die Stimmen satt.

Sei still!, dachte sie. Sei bitte endlich still!

Sie konnte das Geflüster kaum mehr ertragen. Louisa spürte, wie sich die Härchen auf ihren Armen und in ihrem Nacken aufstellten. Und als sie die leise, nagende Stimme abermals vernahm, schlug sie rasch die Decke zurück, schwang die Beine aus dem Bett und suchte mit den nackten Füßen panisch nach ihren Pantoffeln.

Sie waren nicht dort, wo sie sie hingestellt hatte. Die Decke glitt zu Boden, und sie sprang auf die Füße.

Im Zimmer war es stockfinster. Nicht ein Lichtstrahl der Laternen, die den Berkeley Square umstanden und ihn für gewöhnlich nachts in flackernden gelben Schein tauchten, drang von draußen durch die hohen Fenster herein.

Louisa hatte das Gefühl, der Raum um sie herum würde in seiner undurchdringlichen Schwärze immer größer und größer werden. Die Hände vor sich ausgestreckt, tappte sie im Dunkeln vorwärts, bis sie die Wand vor sich ertastete. Irgendwo musste doch die verdammte Tür sein.

Panisch schlug sie mit den flachen Händen gegen die Täfelung der Wand.

»Lasst mich in Frieden!«, schrie sie verzweifelt. »Geht weg! Lasst mich in Ruhe! Ich will euch nicht!«

Ein eisiger Windhauch streifte ihre Schultern, und sie schrie laut auf. Dann ertasteten ihre zittrigen Finger plötzlich den kalten Türknauf. Louisa drehte ihn und zog daran. Doch das Türblatt rührte sich nicht. Sie zog abermals daran – doch es bewegte sich nicht einen Millimeter.

Sie wusste ganz genau, dass sie die Tür nicht abgeschlossen hatte; sie hätte es gar nicht tun können, denn ihr Bruder hatte sämtliche Schlüssel im Haus entfernt. Doch aus irgendeinem Grund bewegte sich die Tür nicht.

Louisa schrie. Schrie, so laut sie nur konnte. Und in ihrer Panik hämmerte sie weiter mit den flachen Händen gegen die Tür.

»Hilfe!«, schrie Louisa. »Hilfe! Hilfe!«

Dann wurde die Tür mit einem Mal aufgerissen. Sie öffnete sich zum Gang, und Louisa stolperte vorwärts. Direkt in die Arme des Mannes, der sie geöffnet hatte.

Es war Dr. Brian Gosport, ihr Leibarzt.

»Miss Louisa!«, sagte er. Sein Blick war sorgenvoll. Sein Atem roch nach Whisky. »Was ist geschehen?«

»Oh, Doktor.« Sie schlang ihre Arme um ihn und barg Schutz suchend ihr Gesicht an seiner kräftigen Brust. »Ich … ich …« Sie verstummte.

»Was um Himmels willen ist passiert?«, fragte er. »Ich habe Sie schreien hören. Haben Sie schlecht geträumt?«

Geträumt, dachte Louisa. Oh, Gott, könnte ich doch nur träumen. Sie begann zu schluchzen. Sie klammerte sich an Dr. Gosport, als sei er der einzige Mensch auf dieser Welt. Es war ein gutes Gefühl, seine körperliche Anwesenheit zu spüren. Sie sog den Geruch seines Rasierwassers ein und fühlte sich so sicher und geborgen, wie sie sich seit Langem nicht gefühlt hatte. »Ich …«, begann sie, doch die Stimme versagte ihr, und sie verfiel erneut in haltloses Schluchzen.

»Sie sind in Sicherheit, Madam«, sagte Dr. Gosport. Er legte ihr die Hände auf den Rücken. »Sie sind in Sicherheit. Ich bin ja bei Ihnen.«

»Die Stimme«, hauchte sie. »Diese grässliche Stimme.«

»Jetzt kann Ihnen nichts mehr geschehen«, sagte er. »Ich bin hier. Ich bin hier.«

Louisa warf einen Blick zurück in ihr Zimmer. Die Dunkelheit dort schien so massiv zu sein wie schwarzes Eis. Trotz der Gaslampen an den Wänden des Korridors drang keinerlei Licht über die Schwelle. Sie war froh, endlich in Gesellschaft zu sein.

»Geht es Ihnen besser, Madam?« Dr. Gosport machte ihre Arme von sich los, hielt ihre Hände und sah sie freundlich an. »Sie haben sicher bloß schlecht geträumt.«

»Ich danke Ihnen«, sagte sie.

»Verflucht noch mal, was ist das für ein unsäglicher Lärm?« Es war Victor, ihr Bruder, der das Zimmer neben ihr bewohnte, sich eben den Gürtel seines Morgenmantels um die Hüften wickelte und mit ernstem, ärgerlichem Gesicht und wirren schwarzen Haaren über den Flur auf sie und Dr. Gosport zueilte. Einen Meter vor ihnen blieb er stehen. Er sah zwischen Louisa und Dr. Gosport hin und her. »Was ist hier los?«, fragte er. Dann änderte sich schlagartig sein Gesichtsausdruck, und er nahm ihre Hände. »Großer Gott, Louisa, du zitterst ja. Was ist denn geschehen, um Himmels willen?«

»Miss Louisa hat schlecht geträumt«, sagte der Arzt. Er legte ihr beide Hände auf die Schultern, und Louisa spürte, wie sich ein wohlig warmes Gefühl von Beruhigung über ihren Rücken ausbreitete.

»Es ist das Haus, Victor«, sagte Louisa ein wenig atemlos. »Es … es ist verflucht.«

»Ach, rede keinen Unsinn«, meinte ihr Bruder. Er ließ ihre Hände los. »Du bist ja völlig hysterisch.«

»Du weißt genau, dass es das Haus ist«, beharrte sie. »Du hast gesagt, du hättest es auch gespürt. Weißt du noch? Am Anfang, als wir das erste Mal herkamen, um es uns anzusehen. Du hast gesagt, es ist voller Geister.«

»Louisa.« Victor stieß einen Seufzer aus, lächelte sie an, die Stirn in Falten. »Ich habe nichts dergleichen gesagt. Jedenfalls sprach ich nicht von Gespenstern, die nachts durch die Zimmer geistern und ehrliche Leute erschrecken. Ich meinte die Geister der Vergangenheit, Louisa. Es ist ein geschichtsträchtiges Haus. Und wenn die Wände reden könnten –«

»Aber sie können es, Victor!«, unterbrach sie ihn. »Sie können es. Und sie tun es. Jede Nacht sprechen sie mit mir.«

»Und deswegen verdienen wir so viel Geld«, stellte Victor fest. »Vergiss das nicht.«

»Es geht mir nicht um das Geld, das weißt du sehr wohl.«

»Natürlich nicht.« Er trat einen Schritt auf seine Schwester zu, streckte die Hand aus und berührte sanft ihre rechte Wange. »Es ist eine Gabe, Liebes. Ich kann mir denken, wie schwer es manchmal für dich sein muss.«

»Oh, Victor.« Sie schlug die Hände vors Gesicht. »Ich wünschte, ich hätte diese Gabe nicht. Ich wünschte, ich könnte eine ganz normale Frau sein.«

»Aber das bist du doch«, sagte er.

»Nein. Nein, Victor, das bin ich nicht.« Sie blickte zur geöffneten Tür ihres Schlafzimmers, dessen Schwärze ihr so dicht und massiv vorkam, dass sie beinahe erwartete, sie würde jeden Moment wie Sirup aus dem Türrahmen laufen und auf den Gang schwappen. »Das ist es ja! Sie sprechen nicht nur durch mich. Sie sprechen auch mit mir. Immerzu. Jede Nacht!«

»Du bist einfach überreizt. Das wird sich geben.«

»Du nimmst mich nicht ernst, Victor.«

»Das stimmt nicht«, versicherte er. »Ich weiß nur, dass du jetzt unbedingt zu Bett gehen musst. Es ist mitten in der Nacht, und wir stehen hier auf dem Gang herum. Du brauchst deinen Schlaf.«

»Aber ich bekomme ihn nicht. Das ist es ja! Diese Stimmen halten mich wach. Ich liege in meinem Bett und mache kein Auge zu, bis der Tag anbricht.« Sie griff sich in einer hilflosen Geste an den Hals. »Ich werde morgen keine Séance abhalten können, Victor. Bitte lass mich einmal keine Gäste empfangen. Nur einen Tag lang nicht. Bitte.«

Victor Balshaw stieß einen tiefen Seufzer aus, sagte jedoch nichts.

Es war Dr. Gosport, der schließlich das Wort ergriff: »Ihre Schwester benötigt dringend Ruhe«, sagte er. Er hatte seine Hände noch immer auf ihren Schultern. »Gönnen wir ihr morgen einen Tag ohne jede Verpflichtung. Nach meinem Dafürhalten würde sich das äußerst positiv auf sie auswirken. Ich fürchte, wenn wir ihr die Erholung nicht zugestehen, wird sie noch ernstlich krank werden. Und damit ist letzten Endes niemandem geholfen, habe ich recht?«

»Wir haben Termine für morgen Abend«, protestierte Victor, aber der Protest war schwach und ohne Nachdruck. Offensichtlich sah er ein, dass es nicht gut war, die Dinge erzwingen zu wollen.

»Die können wir absagen«, meinte Dr. Gosport. »Das schadet Miss Louisas Reputation nicht im Mindesten. Im Gegenteil. Es zeigt den Gästen, dass sie nicht immer und zu jeder Zeit zur Verfügung steht. Außerdem kann sie es sich leisten. Immerhin genießt sie den Ruf, eines der besten Medien Londons zu sein.«

»Also schön.« Victor Balshaw verschränkte die Arme vor der Brust und nickte nachdenklich. »Wahrscheinlich war ich zu selbstsüchtig. Das tut mir aufrichtig leid, Louisa. Natürlich sollst du deine Ruhe haben.« Er lächelte sie aufmunternd an. Es war ein warmes, ehrliches Lächeln, das nichts Geschäftsmäßiges an sich hatte. »Ich sage die Séance für morgen ab. Und du ruhst dich aus. Vielleicht möchtest du etwas lesen. Oder wir fahren nach Hampstead Heath oder gehen im Hyde Park spazieren.«

Sie nickte langsam. »Danke, Victor«, flüsterte sie. Die Vorstellung, morgen tun und lassen zu können, was ihr gefiel, überwältigte sie beinahe.

»Und nun musst du schlafen, ja?«, sagte er.

Sie blickte abermals in den schwarzen gähnenden Schlund der offenen Schlafzimmertür, und das Grauen kehrte zurück. »Ich … ich kann nicht.«

»Möchtest du heute Nacht lieber in einem anderen Zimmer schlafen, Liebes?«, fragte ihr Bruder.

»Es wird nichts helfen«, entgegnete sie resigniert.

»Woher willst du das wissen, wenn du es nicht ausprobierst?«

»Ihr Bruder hat recht, Madam«, sagte Dr. Gosport. »Ich halte die Idee für ausgesprochen vernünftig.«

»Sie werden mich trotzdem nicht in Frieden lassen. Solange wir in diesem Haus leben, bin ich nirgends sicher. Sie wollen uns hier nicht, Victor. Wir haben sie gestört. Es war nicht recht, sie zu stören.«

»Mach dir darüber jetzt bitte keine Gedanken«, sagte ihr Bruder. »Nachts haben die Geister die meiste Macht über uns, stimmt’s? Da machen sie uns die meiste Angst. Wir reden morgen darüber. Und wir finden eine Lösung. Das verspreche ich dir.«

Sie nickte abermals. »Aber ich kann nicht zurück in mein Zimmer gehen«, sagte sie. »Das ertrage ich nicht.«

»Ich werde Mrs Boyle bitten, Ihnen den Salon im ersten Stock herzurichten und ein Feuer im Kamin zu entzünden«, meinte Dr. Gosport. »Und dann wird es meiner Ansicht nach das Beste sein, wenn sie heute Nacht bei Ihnen bleibt.«

Louisa nickte. Vielleicht war es wirklich besser, die restliche Nacht nicht allein zu verbringen. Mrs Boyle war ein Engel. Seit sie dieses Haus bewohnten, kümmerte sie sich liebevoll um sie und Victor.

»Du musst jetzt versuchen, ein wenig zu schlafen, Louisa«, sagte Victor. »Morgen hast du deinen freien Tag, Liebes, aber es liegt noch eine anstrengende Woche vor dir.«

»Muss ich denn diese Woche unbedingt noch Gäste empfangen? Ich benötige dringend etwas Erholung«, sagte sie.

»Nächsten Monat fahren wir nach Eastbourne«, sagte Victor. »Es ist nicht mehr lange bis dahin. Dann bekommst du deine Erholung. Versprochen«, setzte er hinzu.

»Aber ich werde morgen schrecklich müde sein. Ich werde ohnehin nicht schlafen können.«

»Dr. Gosport hat sicher etwas, was er dir geben kann, Liebes.« Er sah den Arzt an, der mit zusammengepressten Lippen nickte.

»Ich werde Ihnen ein leichtes Schlafmittel geben, Miss Balshaw«, sagte er schließlich. »Kommen Sie, gehen wir hinunter in den Salon.«

Mrs Boyle, die erste Haushälterin, eine an Lebenserfahrung reiche Frau von gut sechzig Jahren, wurde damit beauftragt, auf der Couch ein notdürftiges Nachtlager für Louisa herzurichten, brühte ihr auf Geheiß des Arztes einen frischen Baldriantee auf und machte es sich selbst mit einem Buch im Ohrensessel bequem.

In Mrs Boyles Gegenwart fühlte sich Louisa gleich viel besser. Ihr Herz klopfte nun ruhiger, und zum ersten Mal seit Tagen fühlte sie sich wieder etwas entspannter.

»Ich weiß, es steht mir eigentlich nicht zu, so etwas zu sagen, Ma’am, aber man verlangt Ihnen einiges ab«, bemerkte Mrs Boyle, die Louisas Kissen aufgeschüttelt hatte und sich nun selbst eine Decke um die Beine wickelte. »Sie sollten sich etwas mehr Ruhe gönnen. Wenn es nach mir ginge, würde ich Sie für wenigstens eine Woche an die See schicken.«

»Und wenn es nach mir ginge, würde ich sofort fahren«, sagte Louisa mit einem schwachen Lächeln. »Danke, dass Sie heute Nacht bei mir bleiben.«

»Das tue ich doch gern.«

»Ich bin so müde, Mrs Boyle«, sagte Louisa matt. »So schrecklich müde. Ich kann kaum noch eine Nacht durchschlafen, seit wir jeden Abend diese vielen Leute zu Besuch haben.«

»Ich kann mir vorstellen, wie anstrengend es für Sie ist«, meinte Mrs Boyle. »Aber sehen Sie, Ihre Gabe hat auch viel Gutes.«

»Finden Sie?«

»Ich weiß nicht, ob es Ihnen so deutlich bewusst ist, Ma’am, aber die Menschen in diesem Haus sind von Ihnen abhängig. Sie sind es, die für uns sorgt, Ma’am. Es sind allein Ihre Arbeit und Ihr Wohlstand, dem wir unsere Beschäftigung hier verdanken.«

»Darüber habe ich mir, ehrlich gesagt, noch niemals Gedanken gemacht«, sagte sie.

»Ich weiß, Ma’am«, entgegnete Mrs Boyle. »Und das spricht sehr für Ihren Charakter.« Sie schenkte ihr ein warmherziges Lächeln, das beinahe etwas Mütterliches hatte, wie Louisa fand.

»Meinen Sie, ich sollte mehr an mich denken?«

»Sie sind sehr privilegiert, wissen Sie? Das müssen Sie sich öfter vor Augen führen. Die wenigsten Frauen haben heutzutage diese Möglichkeiten.«

»Ach, ich stelle mich an wie ein kleines Mädchen, nicht wahr? Ich heule herum, dabei sollte ich vernünftiger sein. Aber es ist alles so neu für mich. Das Haus, die vielen Gäste und die … die …« Sie stockte.

Mrs Boyle nahm ihren Kneifer von der Nase und klappte das Buch zu, in dem sie gelesen hatte. »Und die Geister, wollten Sie sagen?«

»Ja.« Louisa zog sich die Decke bis zum Kinn hoch. »Sie sind überall im Haus, Mrs Boyle. Wirklich überall.«

Wieder eine Weile Stille. Und dann: »Ich weiß, Ma’am.«

»Sie halten mich nicht für verrückt?«

»Nein, Ma’am, das tue ich nicht.« Mrs Boyles Stimme klang leise und beruhigend. »Im Gegenteil. Ich halte Sie für eine sehr sensible Frau. Sie spüren Dinge, die andere Menschen nicht spüren. Das habe ich gleich bei unserer ersten Begegnung gemerkt.«

Louisa versuchte sich den Tag ihres ersten Zusammentreffens ins Gedächtnis zu rufen. Mrs Boyle hatte sie und Victor an der Haustür empfangen und sie durch das ganze Haus begleitet. Die Quartiere für die Bediensteten, die Küche, den Salon und durch die oberen Stockwerke. Sie erinnerte sich noch sehr genau an das Unbehagen, das sie ganz plötzlich befallen hatte, als Mrs Boyle sie in die oberste Etage führen wollte.

Jetzt, wo sie noch einmal darüber nachdachte, kam es ihr beinahe so vor, als habe die Haushälterin damals gar nicht vorgehabt, sie überhaupt bis dorthin zu bringen. Sie war nämlich am oberen Treppenabsatz stehen geblieben, hatte sie beide angesehen und gesagt: »Diese Räume sind unbewohnbar. Ich komme selbst kaum dort hinauf. Gehen wir wieder nach unten, und lassen Sie uns einen Tee in der Küche nehmen.« Und sie hatten gehorcht. Damals, das ging Louisa nun erst auf, war sie heilfroh gewesen, nicht weitergegangen zu sein. Etwas dort oben hatte ihr ein Gefühl von Endgültigkeit vermittelt. Wie ein kalter Hauch von Zugluft, der einem Zimmer jede Gemütlichkeit nahm. Sie hatten einfach kehrtgemacht und waren, ohne die oberste Etage zu sehen, zurück nach unten gegangen.

»Sie denken nicht, dass ich mir diese Stimmen lediglich einbilde?«

Mrs Boyle schwieg eine Weile. Dann sagte sie: »Nein. Ich bin mir sicher, Sie hören sie wirklich.«

Louisa richtete sich plötzlich auf. »Mrs Boyle?«, sagte sie.

»Ja, Ma’am?«

»Darf ich Sie etwas fragen?«

»Aber selbstverständlich, meine Liebe.«

»Sie leben doch schon so lange in diesem Haus.«

»Oh, ja.« Ihr Blick wanderte gedankenverloren zur Zimmerdecke hinauf. »Ja, das stimmt wohl.«

»Dann sagen Sie mir bitte eines – und bitte lachen Sie mich nicht aus, ja?«

»Das tue ich bestimmt nicht«, versicherte Mrs Boyle. »Was wollten Sie fragen?«

»Haben Sie selbst …« Louisa raffte die Decke über ihrer Brust zusammen. »Haben Sie selbst je diese Stimmen gehört?«

Mrs Boyle blinzelte, nahm das Buch von ihrem Schoß und legte es umständlich auf das Beistelltischchen, das neben dem Ohrensessel stand. »Das Haus hat eine lange Geschichte«, entgegnete sie schließlich, statt ihr eine direkte Antwort zu geben. »Wissen Sie, es sind viele Dinge innerhalb dieser vier Wände geschehen.«

»Was für Dinge?«

»Schlimme Dinge«, sagte Mrs Boyle. »Das Haus kommt mir manchmal vor wie ein Schwamm, der all das Schlechte aufgesogen hat und es zu bestimmten Zeiten nach und nach wieder abgibt. Ich habe vieles gesehen in all den Jahren. Über das meiste davon kann man mit niemandem sprechen, weil es zu merkwürdig ist. Doch wenn Sie mich fragen, ob es in diesem Haus umgeht –« Sie blickte Louisa traurig und sorgenvoll an. »Dann lautet meine Antwort: Ja. Es geht um in diesem Haus. Besonders unter dem Dach. Ihr Gefühl hat Sie damals nicht getrogen.«

»Aber die Stimmen«, beharrte Louisa, die allmählich eine Gänsehaut bekam. »Haben Sie die Stimmen jemals gehört?«

»Nein, Ma’am. Stimmen habe ich nie gehört«, sagte Mrs Boyle. »Nie. Aber das bedeutet gar nichts. Vielleicht haben sie bislang bloß geschwiegen.«

Und in dieser Nacht schwiegen die Stimmen auch.

ERSTER TEIL

image

Badger

image

» Der Tod ist unser aller Erbteil und kommt am besten, wenn er plötzlich kommt. «

Oscar Wilde

image

KAPITEL 1

49 Gordon Square, Bloomsbury, London,
September 1894

Seit Frederick Greenland Chief Inspector Donald Swanson bei einigen seiner Fälle inoffiziellen Beistand geleistet und dabei auch Oscar Wilde und Arthur Conan Doyle kennen und schätzen gelernt hatte, war es während der letzten Monate zu einer lieb gewonnenen Gewohnheit geworden, dass sich die vier Gentlemen in Fredericks Haus am Gordon Square gelegentlich zu abendlichen Plaudereien und Sherry trafen. So auch an diesem Abend. Während Swanson sich der Arbeit wegen entschuldigt hatte, war am späten Nachmittag zunächst Wilde und gegen acht Uhr auch Conan Doyle eingetroffen.

Zunächst hatte man sich über die Tagespolitik ausgetauscht, der Frederick wenig bis gar nichts abgewinnen konnte.

Gladstone war als Premierminister zurückgetreten, um sich ganz dem Teetrinken zu widmen, und im März war Archibald Primrose, der fünfte Earl of Rosebery, zu seinem Nachfolger gewählt worden, führte mit den Liberalen nun eine Minderheitsregierung an, und man bezweifelte, dass er es wesentlich besser hinbekommen würde. Im Juni war die Tower Bridge, dieses hässliche Konstrukt, das außer den Architekten selbst kein Londoner hatte haben wollen, endlich für den öffentlichen Verkehr freigegeben worden, was sowohl den Fährmännern von Wapping als auch den Schifffahrtsgesellschaften gehörig gegen den Strich ging; freilich jedem aus anderen Gründen. Und eine allgemeine Sterbesteuer hatte man eingeführt – wie Frederick mutmaßte, um die Kosten für den Bau der vermaledeiten Brücke und dieses grässlichen Turms zu decken, den man kürzlich in Blackpool errichtet hatte. Robert Ballantyne, der schottische Autor von Büchern für Heranwachsende, war in Rom an einer unbekannten Krankheit verstorben, und soweit man hörte, ging es Stevenson, der mittlerweile mit seinem Neffen und einer Handvoll Eingeborenen auf Samoa lebte, auch nicht sonderlich gut.

Mit der Zeit waren draußen die Gaslaternen entzündet worden, die den kleinen Park am Gordon Square umstanden, und man war, Gott sei’s gedankt, zu heiteren Themen übergegangen.

»Geister?« Frederick Greenland streckte amüsiert die Beine aus und zog grinsend an seiner Zigarre. Um ein Haar hätte er laut gelacht. »Ich weiß nicht, Arthur. Das Leben ist auch ohne Gespenster schon erschreckend genug, finden Sie nicht?«

Nach dem Sherry war der Brandy entkorkt worden.

»Es gibt so vieles in der Welt, was wir nicht verstehen«, entgegnete Conan Doyle. »Da können wir uns nicht unentwegt lustig über die Dinge machen, die unser Verstand noch nicht zu begreifen in der Lage ist.«

»Aber Geister!« Frederick setzte sich aufrecht hin, angelte nach seinem Glas Brandy und nahm einen kräftigen Schluck. »Das sind doch Ammenmärchen. Ich bitte Sie, Arthur. Sie lassen Ihren Detektiv Sherlock Holmes mit dem gesündesten Menschenverstand die kompliziertesten Verbrechen aufklären und wollen uns erzählen, Sie hielten die Existenz von Geistern für möglich?«

»Ich sehe nicht, wie die eine Tatsache die andere ausschließt«, warf Wilde ein.

»Und solange noch niemand das Gegenteil bewiesen hat«, meinte Conan Doyle, »sehe auch ich nicht, wo das Problem liegt. Schon Shakespeare sagte, es gäbe mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als unsere Schulweisheit sich träumen ließe … Oder war es Ihr deutscher Dichter, dieser Goethe?«

»Wahrscheinlich beide«, meinte Frederick. Er sah Conan Doyle und dann Wilde kopfschüttelnd an. Die beiden schienen sich gegen ihn verschworen zu haben. »Warum sollte ich dorthin mitgehen?«

»Weil es ein richtiges Spukhaus ist, Freddy«, sagte Wilde. »Es ist entsetzlich aufregend, dorthin zu gehen. Es ist ein richtiges kleines Abenteuer. Sie müssen zugeben, in unserer modernen Zeit, in der kaum noch Duelle stattfinden und bald alles entdeckt worden ist, was es an Aufregendem überhaupt zu entdecken gibt, sind Abenteuer doch enttäuschend rar gesät. Außerdem sind diese Séancen jetzt der neueste Schrei. Alle Welt nimmt daran teil.«

»O, ich nahm an, Sie bevorzugten gerade das, was nicht alle Welt tut, und zögen es vor, lieber gegen den Strom zu schwimmen.« Frederick trank aus und stellte sein Glas hin.

»Papperlapapp.« Wilde winkte ab. »Ich war so frei, Conan Doyle und mich bereits anzumelden. Und Sie müssen ganz selbstverständlich ebenfalls mitkommen, Freddy. Ein Nein akzeptiere ich nicht.«

50 Berkeley Square, London

Miss Louisa Balshaw saß im Salon auf einem Stuhl am Kamin und las in einem Buch. Ihr Bruder Victor achtete streng darauf, dass sie nicht in die Tageszeitungen blickte, obwohl sie es dann und wann heimlich getan hatte, wenn sie eine Ausgabe der Times auf der Anrichte in der Bibliothek gefunden hatte. Doch Victor war dahintergekommen und hatte Masterman, den Butler, angewiesen, vor dem Zubettgehen sämtliche Zeitungen, die er fand, in den Küchenofen zu werfen. Manchmal fühlte sich Louisa deshalb wie ein kleines Kind behandelt.

In den letzten Tagen waren ihr Mrs Boyles Bemerkungen darüber, sie, Louisa, sei hier im Hause diejenige, die das Geld verdiente, immer wieder durch den Kopf gegangen. Zuvor hatte sie niemals auch nur einen einzigen Gedanken daran verschwendet. Jetzt, nach den Tagen der Ruhe, die man ihr gegönnt hatte, kam es ihr beinahe lächerlich vor, nicht früher darüber nachgedacht zu haben. Ja, Mrs Boyle hatte recht. Es war Louisas Gabe, die dem Haushalt der Balshaws und auch Dr. Gosport ein recht angenehmes Leben bescherte. Victor selbst war zwar ab und zu in Geschäften unterwegs, aber sie glaubte nicht, dass sie sonderlich viel abwarfen. Als sie ihn einmal danach gefragt hatte, war sie sehr unwirsch von Victor darauf hingewiesen worden, dass sie als Frau sich um solche Dinge nicht zu kümmern bräuchte.

»Das ist Männersache, Louisa«, hatte er sie gescholten. »Davon verstehst du nichts.«

Danach hatte sie das Thema vermieden, denn sie bemerkte selbstverständlich auch das Verstummen der Gespräche zwischen Victor und dem Doktor, wenn sie zufällig einmal in den Salon hinunterkam. Offenkundig waren das Gespräche über Victors Geschäfte und über ihre Finanzen gewesen.

Louisa seufzte, legte den Zeigefinger zwischen die Seiten, die sie gerade las, und warf einen Blick auf die Kaminuhr.

Schon kurz vor zehn.

Bald würde Victor oder der gute Doktor auftauchen und sie wie eine Zehnjährige zu Bett schicken; mit der Begründung, morgen sei ein anstrengender Tag.

Doch sie wollte noch nicht schlafen, denn das Buch war aufregend. Ganz anders als diese rührseligen Schmonzetten, die man den Frauen gemeinhin erlaubte. Die Heldin des Romans war eine starke junge Dame, die auf eigenen Beinen stand und die von niemandem bevormundet wurde. Das Buch trug den Titel »Lady Audleys Geheimnis«. Eine Frau namens Mary Elizabeth Braddon hatte es geschrieben. Darin ging es um einen Londoner Anwalt, der versuchte, den Mord an einem seiner Freunde aufzuklären. Louisa hatte es sich heimlich aus der Bibliothek mitgenommen. Sie war sich sicher, ihr Bruder würde es ihr sofort verbieten, wenn er erfuhr, worum es in dem Roman ging. Zwar hatte er gefragt, was sie denn da lese, doch er war viel zu beschäftigt und zerstreut gewesen, um ihre Antwort abzuwarten.

Sie klappte das Buch wieder auf, las ein paar Zeilen und verbarg es rasch unter den Falten ihres Kleides, als sie draußen auf dem Korridor Schritte vernahm und kurz darauf die Tür geöffnet wurde. Zu ihrer Überraschung war es Mrs Boyle, die ins Zimmer trat.

»O, Sie sind noch wach?«, fragte die Haushälterin. »Ich nahm an, Sie hätten sich ebenfalls bereits zurückgezogen.«

»Ich bin nicht müde«, sagte Louisa und nahm das Buch wieder hervor. »Ich lese noch. Sagen Sie, Mrs Boyle, kennen Sie diesen Roman?«

Mrs Boyle trat zu ihr und warf einen warmen Blick auf den Titel des Buches, das Louisa ihr hinhielt. Dann nickte sie. »Ich habe es verschlungen«, sagte sie dann mit einem verschwörerischen Lächeln. »Nur lassen Sie es besser nicht Ihren Bruder sehen.«

Louisa lachte. »Nein. Gewiss nicht. Ich wundere mich, dass er mich noch gar nicht auf die vorgerückte Stunde aufmerksam gemacht hat. Haben Sie ihn übrigens gesehen?«

»Ich begegnete ihm vor etwa einer Viertelstunde auf der Küchentreppe«, sagte Mrs Boyle. »Er bat mich, Masterman anzuweisen, die Hintertür für die Nacht zu versperren. Er selbst wolle früh zu Bett, da er sich nicht ganz wohl fühle.«

Louisa erschrak. »Ist er krank?«

»Ich glaube nicht, dass Sie sich Sorgen machen müssen, Ma’am. Er wird einfach bloß müde gewesen sein. Oder er hat das Nachtessen nicht vertragen.«

»Das Lamm war vorzüglich«, sagte Louisa. Sie legte das Buch beiseite. »Ich habe selten Besseres gekostet.«

»Ich werde es Mrs Talbot sagen, Ma’am. Da wird sie sich freuen.«

»Mrs Boyle?«

»Ja?«

»Würden Sie mir einen Gefallen tun?«

»Wenn ich kann, sehr gern.«

»Würden Sie mich Louisa nennen, bitte.« Sie schaute die Haushälterin an, die Louisa mit einem milden, fast weisen Blick betrachtete. »Sie sind immer so freundlich zu mir, und es erscheint mir seltsam, wenn Sie mich ansprechen, als sei ich etwas Besonderes.«

»Aber das sind Sie«, entgegnete sie. »Sie sind sogar etwas sehr Besonderes.«

»Würden Sie es trotzdem tun?«

»Es schickt sich nicht, fürchte ich«, sagte Mrs Boyle. »Und ich bezweifle, dass es Ihrem Bruder gefiele, würde ich Sie bei Ihrem Vornamen ansprechen.«

Louisa erhob sich. Sie machte einen Schritt auf die Haushälterin zu, nahm deren rechte Hand in ihre beiden Hände und sagte mit leiser Stimme: »Ich habe nicht vergessen, was Sie neulich zu mir sagten.«

»Was habe ich denn gesagt?«

»Dass ich nicht vergessen soll, wer in diesem Haus das Geld verdient«, entgegnete sie.

»Bitte verzeihen Sie«, sagte Mrs Boyle und schlug die Augen nieder. »Das war anmaßend, ich weiß. Ich hätte es nicht sagen sollen. Sie kamen mir nur so hilflos vor, und da dachte ich …« Sie verstummte, als Louisa ihre Hände drückte und lebhaft den Kopf schüttelte.

»Nein, nein, Mrs Boyle«, sagte sie. »Ich bin Ihnen unendlich dankbar dafür. Sie haben mir die Augen geöffnet. Ich …« Sie nahm Mrs Boyles Hände und legte sie auf die Stelle über ihrem Herzen. »Ich glaube, Sie sind der einzige Mensch in diesem Haus, der mich wirklich versteht.«

»Na, na, meine Liebe«, meinte Mrs Boyle. »Ich sehe viel Wohlwollen aufseiten Ihres Bruders. Und Dr. Gosport …« Sie lächelte augenzwinkernd. »Er betet den Boden an, über den Sie gelaufen sind.«

»Sehen Sie.« Louisa strahlte. »Das meine ich, Mrs Boyle – Sie erkennen solche Dinge. Victor ist ein lieber guter Kerl, aber er hat hauptsächlich die Geschäfte im Kopf. Für ihn scheint es wichtiger zu sein, jeden Abend genügend Gäste für die Séancen im Haus zu haben. Sie wissen, wie sehr ich um die wenigen freien Tage betteln musste. Und der Doktor …« Wieder verstummte sie.

»Oh, er wird sicher eines Tages um Ihre Hand anhalten«, sagte Mrs Boyle. »Das ist so gewiss wie der jüngste Tag.«

»Ja. Und das macht mir Angst.«

»Er ist eine gute Partie.«

»Ohne Zweifel.« Louisa nickte ernst. »Dessen bin ich mir bewusst, nur …« Sie nahm das Buch vom Boden auf und hielt es in die Höhe. »Ich möchte nicht geheiratet werden«, sagte sie. »Ich weiß selbst, was gut für mich ist. Diese Frau, die diesen Roman geschrieben hat – Mary Braddon – sie weiß es auch. Sie schreibt. Und wer solche Romane verfasst, muss auch lesen. Ich kann mir nicht denken, dass Mrs Braddon sich vorschreiben lässt, was sie zu lesen hat und was nicht. Und das will ich auch; besonders nachdem mir nun klar geworden ist, worauf der Wohlstand in diesem Haus beruht.« Louisa ging der Atem aus, und sie musste vor lauter Aufregung nach Luft schnappen. »Verstehen Sie das? Ich will selbst entscheiden, wem ich meine Gunst schenke. Lieber heirate ich einen Mann, den ich liebe, als mich des Geldes und des Ansehens wegen an eine ›gute Partie‹ zu verschenken.«

»Louisa«, sagte Mrs Boyle und legte ihr die rechte Hand auf den Rücken. »Ich kann Sie nur zu gut verstehen. Ich selbst habe es in meinem Leben stets so gehalten. Und ich darf sagen, dass ich es niemals bereut habe.«

Louisa schlang ihre Arme um Mrs Boyle und hielt sie ganz fest. »Danke«, sagte sie leise.

»Nur muss man lernen, über manche Dinge zu schweigen«, sagte die Haushälterin. »Wir Frauen müssen lernen, im Stillen zu wirken. Solange die Männer es nicht bemerken und wir ihnen das Gefühl geben, sie seien die Herren im Haus, werden sie uns gewähren lassen. Wenn uns das gelingt, gelingt uns auch alles andere.«

»Dann lassen Sie uns gleich damit anfangen«, sagte Louisa aufgeregt. Sie ließ Mrs Boyle los und trat wieder einen Schritt zurück. »Ich betrachte Sie als meine Freundin, Mrs Boyle. Und ich bestehe einfach darauf, dass mich meine Freunde beim Vornamen nennen. Die Männer müssen es ja nicht unbedingt wissen, nicht wahr?«, setzte sie fröhlich hinzu.

»Nun, wenn Sie tatsächlich darauf bestehen«, sagte sie. »Dann freue ich mich sehr darüber, Louisa.«

»Danke«, sagte sie noch einmal. »Danke, Mrs Boyle.«

»Harriett.«

»Harriett«, wiederholte Louisa, und ihre Augen leuchteten vor Freude. »Ich glaube, ich möchte jetzt zu Bett gehen. Weil ich es so will.«

»Ich werde das Buch zurück in die Bibliothek bringen«, sagte die Haushälterin, und Louisa reichte ihr den Band. »Gute Nacht, Louisa.«

»Gute Nacht, Harriett.«

Mrs Boyle war schon fast zur Tür hinaus, als sie sich nochmals umwandte: »Darf ich Ihnen eine sehr persönliche Frage stellen, Louisa?«

»Aber natürlich.«

»Haben Sie die Stimmen in Frieden gelassen, oder hören Sie sie noch immer?«