Der neue Fall für den PHK Egi aus Oberstdorf nervt, aber gewaltig.
Sakradi! Kaum hat PHK (Polizeihauptkommissar) Egi Huber seinen ersten Fall gelöst, taucht schon wieder eine Leiche im idyllischen Oberstdorf im Allgäu auf. Genauer gesagt schwimmt sie in der Breitach. Noch schlimmer: Die verhassten Kollegen der Kripo Kempten mischen sich wieder ein und der Chefmeier liegt ihm in den Ohren, den Fall schnell abzuschließen. Doch die Allgäuer sind ein eigenartiges Völkchen. Keiner scheint etwas über die Tote Annet Balder zu wissen, und wenns drauf ankommt haltens z’sammen, die Einheimischen. Da muss Egi seinen ganzen Charme und seine gewieften Kollegen alle ihre Ermittlungskünste spielen lassen. Denn von der Kemptener Kripo lässt sich der PHK nicht vorführen. Wenn schon in seinem Revier gemordet wird, will Egi denn Fall auch selbst lösen…
Von Nicki Fleischer sind bei Midnight erschienen:
Nebelhorn
Breitachklamm
Ein Allgäukrimi
Midnight by Ullstein
midnight.ullstein.de
Originalausgabe bei Midnight
Midnight ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Mai 2018 (1)
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Titelabbildung: © FinePic®
Autorenfoto: © privat
ISBN 978-3-95819-140-2
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Sakradi, so a Graus, da lag ja eine Leiche in seinem Kofferraum! Dabei hatte er die drei leeren Bierkästen reinstellen wollen. Jetzt war gar kein Platz mehr dafür. Und besonders appetitlich sah das Ganze auch nicht aus, die war etwas angetaut und hatte ihre Körperflüssigkeiten in seinem Heck abgesondert. Pfützen gespickt mit winzigen Gewebefetzen schwammen auf dem blanken Stahl. Und es roch penetrant. Da hätte jetzt keiner mehr Ambitionen, etwas daneben zu platzieren, das später noch einmal Verwendung in der Nahrungs- oder besser Genussmittelkette finden sollte.
»Schätzele, worauf wartest denn? Pack die Kästen endlich nei«, rief seine Frau herüber. Sie stand an der Haustür und hatte noch zwei hinausgestellt. Ihre rote Lackhandtasche hing an ihrem Unterarm, und sie wollte gerade die Tür abschließen.
Was für eine verzwickte Situation. Die sollte besser nix davon mitkriegen, sonst würd die einen Riesenaufstand machen. Eine junge Tote in seinem Kastenwagen, halb nackt. Die würde doch wieder brutal eifersüchtig werden und denken, es wäre eine Beziehungstat vorgefallen. Eine, die er begangen hätt! Hatte er aber gar nicht.
Schweißperlen bildeten sich auf seiner krausgezogenen Stirn. Er hob sein altes Das Höchste-Cappy an und kratzte sich am glänzenden Köpfle. Er überlegte fieberhaft, woher er die Kleine kannte und was er jetzt mit der machen sollte. Einfach nur loswerden wollte er sie, aber wie nur?
»Weißt was, Mäusle, ’s ist so schön heut, da fahr ich mit’m Rad. Kannst daheimbleiben.« Er knallte die Kofferraumtüren wieder zu und verriegelte fix sein geschändetes Gefährt. Zum Glück gab’s aktuell nur einen Schlüssel dafür im Haushalt, und den hatte er. Wo der zweite grad war, wusste er genau.
»Bist jetzt total deppert? Fünf Kästen mit’m Rad?«, merkte seine Angetraute an und schloss die Tür wieder auf.
»Passt schon. Ich häng den Bollerwagen dran.«
Er holte sein klappriges Herrenrad aus der Garage und hängte den Bollerwagen dran.
»Du hast s’ nimmer alle beisammen!« Sie schüttelte den Kopf, ging zurück ins Haus und warf ihr Handtäschle auf den Schuhschrank.
Erleichterung pur war das für ihn. Er stapelte das Leergut aufeinander und fixierte es mit Spanngurten am Bollerwagen. Er bestieg sein Rad. Das stammte noch vom Vatter und hatte nur drei Gänge. Man hörte von Weitem die Flaschen klimpern, als er anfuhr. Er trat in die verrosteten Pedale und machte sich keuchend auf den Weg zum Getränkemarkt FRISTO. Da musste er fünf neue Getränkekästen kaufen, eine schwere Sache würd’s werden. Aber die Strapaze hatte ihren Wert, jede andere Alternative wäre erheblich unbequemer für ihn ausgefallen.
Noch schwerer würd jedoch das anstehende Gespräch wiegen, das mit dem Mann, dem er heute in der Früh den Kastenwagen geliehen hatte. Er trug den Spitznamen Beelzebub.
Ihre Mutter hatte sie kurz nach ihrer Geburt vor der Tür des verdutzten katholischen Pfarrers in Bad Hindelang abgestellt. Der war vielleicht erschüttert gewesen! Er hatte damals bereits ein uneheliches Kind und konnte kein weiteres brauchen. So viel Aufwand war’s gewesen, das zu vertuschen. Zig mal war er deshalb versetzt worden, weil ihm die Allgäuer Schäfle in seinen neuen Kirchengemeinden immer wieder auf die Schliche kamen. Er wollte seinen Sohn schließlich hin und wieder sehen. Letztendlich war er bis in die Oberpfalz versetzt worden, wo ihn niemand kannte. Als er nach zwölf Jahren endlich wieder im Allgäu predigen durfte, hatte sie auf seiner Fußmatte gelegen, mit winzigen blauen Lippen und rotem Näsle, eingepackt in Wolldecken, in einem geflochtenen Korb. Einige seiner kircheninternen Gegner wollten ihm sowieso an den Oratorianerkragen. Die würden bestimmt behaupten, dass es sein Bastard wäre, den er da loswerden wollte. Seine Tage in Bad Hindelang waren nach wenigen Wochen gezählt.
Das Neugeborene hatte trotz allem großes Glück gehabt, dass er sein Geschrei gehört hatte. Es war bitterkalt gewesen, damals im Februar 1992, und er hatte es dann doch hereingeholt. Der Herr würd’s ihm hoffentlich beim jüngsten Gericht anrechnen. Um sicherzugehen, hatte der überrumpelte Pfarrer sich dreimal bekreuzigt, danach den Korb mit dem Schreihals kurz vor das Vordach getragen, das lautstarke Bündel hoch über den Kopf gehoben und ein emotionales Gebet emporgesprochen. So könnt der Herr die Rettungsaktion gewiss nicht übersehen. Denn hätte die Kleine länger dort gelegen, sie hätte vierundzwanzig Jahre eher ihr Leben gelassen.
Nun lag sie, wie Gott sie geschaffen hatte, in der Breitachklamm. Nur ihre Füße ragten aus dem eisigen Bach, der Rest ihres Köpers befand sich unter Wasser. Ihre schwarzen Haarsträhnen wirkten in der tödlichen Strömung wie sich windende Schlangen. Die hellbraunen Augen, immer noch weit aufgerissen, starrten leblos gen unschuldigen Azurhimmel. Die Sonne schlich gerade über die hohen, noch schneebedeckten Berggipfel und kroch langsam in die düstere Schlucht. Ihr Licht brachte die eben noch im Schatten liegenden Farben zum Vorschein. Sie entriss die grausige Szene der Dunkelheit. Ihre gnadenlosen Strahlen wanderten über die kräftig grüne Flora zur glitzernden Breitach und erhellten die leblosen Zehen.
Es war Anfang Mai. Die Breitachklamm war nach der Schneeschmelze bis Mitte April wegen Aufräumarbeiten für zwei Wochen gesperrt gewesen. Heute, am Montag um 10:00 Uhr, ging es los. Christian Berg hatte die Aufgabe, den Weg durch die Schlucht erneut zu inspizieren, da am Wochenende doch noch einige Bäume unerwarteterweise unnötigen Ballast abgeworfen hatten. Für die drohenden Touristenmassen, die den Allgäuer Bergfrühling begaffen wollten, sollte alles tipptopp sein. Die ersten von ihnen hatten sich am Sonntag unverzüglich in der Touristeninformation über den unzulänglichen Zustand der Breitachklamm beschwert. Also musste Christian sich jetzt schon wieder durch die Schlucht quälen. Es war das sechste Mal seit letztem Monat. Er kannte jeden Stein in- und auswendig. Aber der Boss wollte halt heute den finalen Abschlussbericht auf dem Tisch haben. Also schlurfte Christian wiederholt los, mit Rucksack, Klemmmappe, Checkliste und Kugelschreiber im Anschlag.
Er betrat die Breitachklamm am unteren Ende, folgte dem schmalen Weg, angelegt für die Massenabfertigung kraxelwütiger Besucher. Permanent so nah am Abgrund, das war nur was für Schwindelfreie. Christian grinste bei der Vorstellung, wie einige trotz des horrenden Eintrittspreises von vier Euro pro Erwachsenem nach einigen Schritten umkehrten. Meist kamen die Sandalenträger in knielangen Trekkinghosen und kariertem Hemd mit dem zur Verfügung stehenden einem Meter nicht klar. Hinter dem Geländer ging’s steil runter, unten der reißende Bach, das war nix für die schwachen Tourinerven.
Christian machte das nichts aus, er war ein Bergfex und lebte seit seiner Geburt am Abgrund. Er lief nun durch die offen stehende Holztür in den sparsam in den Fels gehauenen, dunklen Tunnel. Die Luft darin war feucht, an den unteren Teilen der Wände klebten vereinzelt Moosplacken, und es tropfte frisches Felswasser von der Decke. In regelmäßigen Abständen platschte es auf Christians Kopf und lief ihm kalt über die Wangen. Er schnallte seinen Helm vom Rucksack ab, setzte ihn auf und schritt tiefer in die Dunkelheit. Bald würde der Tunnel Tausende Touristen verschlucken und an seinem anderen Ende wieder ausspucken. Zumindest die, die nicht an Klaustrophobie litten und schon nach zwei Schritten kehrtmachten. Und damit einen Tumult verursachten, weil die Rentner mit Krückstock und Familienväter mit quäkenden Kleinkindern in den Kraxen keinen Platz machen wollten. War ja auch nicht ausreichend vorhanden, der Platz; der Tunnel war noch enger als die unzumutbaren Wege.
Jetzt war es aber noch ruhig vor dem Ansturm. Als Christian aus der Finsternis heraustrat, war er geblendet vom rücksichtslosen Sonnenschein. Er musste die vom Licht überforderten Augen zusammenkneifen, Falten eroberten sein junges Gesicht. Als er wieder besser sah, begutachtete er den Untergrund, prüfte die zurückgeschnittenen Äste, sah sich die Felswände an und schätzte den Wasserstand.
Die anderen Bergfexe hatten gute Arbeit geleistet. Die Breitachklamm war während des Jahreszeitenwechsels nicht sehr touristenfreundlich. Nach dem Winter warf sie mit allerlei Objekten natürlichen Ursprungs um sich. Die Kollegen hatten während mehrerer Einsätze die nach der Schneeschmelze abgestürzten Felsbrocken, Bäume und abgeknickten Äste weggeschafft. Das überflüssige Biozeug fristete nun sein Dasein in der Kompostieranlage. Der Weg war frei für die Banausen, die die Natur hier demnächst wieder verschandeln würden mit dem Verpackungsirrsinn der modernen Konsumgesellschaft.
Christian schrieb seine Beobachtungen fein säuberlich in den obligatorischen Abschlussbericht, der gleich heute Nachmittag auf Nimmerwiedersehen in einer Aktenmappe verschwinden würde. Es sei denn, es würde sich wieder jemand über den Zustand der Breitachklamm beschweren. Zum Beispiel, weil er über einen leicht zu übersehenden Baumstamm gestolpert wäre und sich den Fuß verstaucht hätte. Dann würde der Boss den Bericht hervorholen, um damit seine Unschuld zu untermauern oder zumindest zu beweisen, dass die Breitachklamm nach Vorschrift von hinterhältigen Fußangeln und Stolpersteinen befreit worden war.
Christian nahm sich nun den nächsten Abschnitt vor, begleitet von dem stetig dröhnenden Rauschen des in der Klamm herabstürzenden Wassers. Er ging einige Schritte weiter, begab sich dazu um eine vorragende Felswand und schaute auf der anderen Seite in den reißenden Bach. Verwunderung. Vielleicht hatte er sich getäuscht? Er schüttelte sein Haupt, um es von dem trügerischen Bild zu befreien, aber es verschwand nicht. Stattdessen wurde es noch deutlicher, als er erneut herüberschaute. Es schnürte ihm die Kehle zu, denn er blickte in zwei Augen. So gesehen nix Schlimmes, aber bei genauerem Hinsehen schon. Das aufgerissene Augenpaar befand sich unter glasklarem Wasser. Er wollte es nicht begreifen, schaute noch einmal hin. Da lag tatsächlich ein nackter Frauenkörper in den Fluten. Sie war noch jung, wahrscheinlich jünger als er. Aber ziemlich tot, so konnte sie ja nicht atmen. Als er verstand, sah er sich abrupt gezwungen, sich seines Mageninhalts zu entledigen.
Letztes Jahr im Juni hatten sie bereits die Vermutung gehabt, dass sie schwanger war, aber es war ein Fehlalarm gewesen. Drei Monate später war sie es dann wirklich. Völlig ungeplant, um genau zu sein, ungewollt. Der Egi hatte mit seinen sechsundvierzig Jahren schon eine enorme Last zu tragen. Seine zwei Kinder, der vierzehnjährige Tommi und die mittlerweile neunjährige Annabelle (die Belli) strapazierten sein Nervenkostüm ins Unermessliche. Ein Entkommen aus dem turbulenten Familienleben war nun vollends unmöglich. Wenn das dritte Kind erst einmal da wäre, sähe es schlecht aus um seinen Seelenfrieden. Er machte sich auf das Schlimmste gefasst: einen pubertätswütigen Sohn, eine zickige Tochter und ein rund um die Uhr schreiendes Baby, dazu eine Ehefrau, die ihn in unzumutbarem Maße Haushaltsaufgaben aufbrummte. Und bei alledem sollte er auch noch Hochdeutsch reden.
Nun, da die zweiundvierzigjährig Elli (seine Ehefrau Elisabeth) mit seinem dritten Kind schwanger war, kam des Öfteren seine Schwiegermutter aus dem Kleinwalsertal zu Besuch. Blöderweise hatte sie heute Geburtstag. Ellis Mutter Traude plante seit Wochen, ihren Geburtstag bei ihrer einzigen Tochter zu verbringen. Auch der Vater Konrad, der sich ansonsten nicht weiter als fünfhundert Meter von seinem Biohof entfernte, wollte ausnahmsweise mitkommen. Das war der Traude gar nicht recht gewesen, denn sobald Konrad einen gehoben hatte, wurde er ausfallend. Egi fand’s total deppert, da hätten die auch bei sich im Nirgendwo feiern können.
Elli hatte sich etwas ganz Besonderes für ihre Mutter ausgedacht. Die liebte Alphorn-Musik, und die Elli hatte sich überlegt, dass ihr Sohn Tommi doch das Alphornlied für die Oma Traude blasen könnte. Der hatte sich vor einem halben Jahr zu einem Blasinstrumente-Karussell für Teenies in der Musikschule angemeldet und bereute es jetzt zutiefst. Eigentlich hatte er sich dort unbeobachtet von den Eltern mit seiner Freundin treffen wollen und hatte als Erstes das Alphorn zugewiesen bekommen, von Begabung keine Spur.
Egi hätte das ganze Geburtstags-Trara am liebsten auch ignoriert. Griesgrämig saß er jetzt am Küchentisch und blätterte in seinem eigenen Hochdeutsch-Ordner. Den hatte die Elli ihm zusammengestellt. Sie hatte bemängelt, dass er bei den Ermittlungen im letzten Sommer eine bessere Figur gemacht hätte, wäre er des Hochdeutschen mächtiger gewesen. Vor der Kripo Kempten sollte er nicht noch einmal den Dummbeutel geben, hatte Elli gemeint, auch wenn er davon ausging, dass die sich nie wieder in Oberstdorf blicken lassen würden. Also hatte Elli dem Polizeihauptkommissar (PHK) Egi einige seiner Standardsätze ins Hochdeutsche übersetzt und niedergeschrieben, zum Beispiel »Jetz hock di da nei, du Saupreiß, sonst kriegst a Watschn, das sag i dir!« in »Bitte setzen Sie sich in den Streifenwagen, wir müssen Sie zur Polizeiinspektion Oberstdorf mitnehmen«. Egi las die Phrasen mit einem Kopfschütteln.
Einige Kilometer entfernt saß er und dachte über seine Tat nach. Vor einigen Wochen hatte er sie am Abend wieder beobachtet, als sie auf dem Weg vom Geschäft zu ihrer Wohnung war. Er folgte ihr im Dunkeln. Er schlich sich hinter ihr her, musste sich aber in einem Busch verstecken, weil jemand mit ihr ins Haus ging. Als derjenige wieder verschwand, ging er durch die gerade zufallende Haustür und die Treppe hoch. Sie lag auf dem Bett, nur mit Unterwäsche bekleidet, und schien zu schlafen. Als er sie packte, öffnete sie benommen die Augen. Er drückte ihr das rote Kissen auf das Gesicht, bis ihre gepressten Schreie verstummten, ihre abwehrenden Schläge und Tritte nachließen und sie schließlich regungslos dalag.
Es klingelte an der Tür, aber keiner hörte es. Die lärmende Feiergesellschaft saß am Montagmorgen um 10:00 Uhr bei herrlichem Frühlingswetter im Garten des feinen Mehrgenerationenhäusles vom Egi in Oberstdorf. Das stand in der Ebene in der Nähe vom Moorweiher. Mutter und Vatter hatten es Egi bereits überschrieben und seinen Bruder Volker ausbezahlt. Die Eltern lebten mit Uroma Bruni (Vatters Mutter Brunhilde Huber) im Erdgeschoss.
Seine Eltern waren heute aus gutem Grunde geflüchtet, in die atemberaubende Bergwelt. Aber Uroma Bruni hatten sie daheim im Rollstuhl sitzen lassen. Sie döste nun auf der Hauptterrasse vor dem Wohnzimmer. Die Gäste bestaunten das angerichtete Buffet vom Partyservice Heiß & Scharf. Der Tapeziertisch konnte die Geburtstagsbrunch-Schmankerln kaum tragen, hier reihte sich eine Allgäuer Spezialität an die nächste. Es duftete nach deftigen Krautkrapfen, Kässpatzen, heißem Bergkäse, gerösteten Zwiebeln und Wurstsalat. Dazu gab es Allgäuer Schweineschnitzel für die Nichtvegetarier. Unter einer Glaskuppel wartete noch Zwetschgendatschi, und für die österreichischen Enklaven-Nachbarn gab es eine riesige Pfanne, in der ein XXXL-Kaiserschmarrn schmorte. Das alles für Traudes Feierlichkeiten. Egi hoffte insgeheim, dass er nicht mehr allzu viele Jahre mit ihr verbringen müsste. Als dieser Gedanke wieder hochkam, senkte er seinen Blick und hoffte, dass es ihm niemand ansah, ein bissle makaber war’s ja schon. Traude hatte viele ihre Freundinnen mitgebracht, deren Männer bereits abgetreten waren. Das österreichische Bergleben war hart und die Frauen robuster, vermutete der Egi und befürchtete, dass auch die Traude steinalt werden würde.
Panisch hatte er in den Schränken nach einem geeigneten Stück Stoff gesucht. Erleichtert holte er einen hellgrauen Bettbezug aus dem Kleiderschrank, packte sie grob unter den Achseln, zerrte sie vom Bett und schob sie in den umfunktionierten Leichensack, zog dessen Reißverschluss zu und wartete, bis er draußen keine Geräusche mehr wahrnahm. Dann warf er sich das Bündel über die Schulter, schob seine Kapuze tief ins Gesicht, verließ das Haus und machte sich auf den Weg durch die Dunkelheit.
Es klingelte erneut, nun hörte Egi es. Er war erleichtert, dass es endlich losging, die Horde Senioren in seinem Garten nervte ihn, er sehnte den Abend herbei. Er stemmte sich am Küchentisch hoch und schleppte sich zum Flur. Zwei Kumpel vom Tommi standen vor der Tür und lieferten das Alphorn aus der Musikschule an. Vor einer Stunde, als der Egi noch unter der Dusche gestanden hatte, hatten sie bereits ein grässliches Gerät auf der Terrasse aufgestellt, mit zwei Boxen so groß wie Kühlschränke. Mit Sackkarren hatte Elli sie durchs Wohnzimmer fahren lassen, zum Glück war es das von Egis Eltern. Der PHK lebte mit Frau und Kindern im Obergeschoss. Tommi hatte seinem Vater später erklärt, dass das Gerät ein Karaoke-Player wäre, mit richtig geilen Songs. Egi ließ ihn gewähren. Hoffentlich würde die Halbstarken-Musi die Schwiegermutter und ihre kleinwalsertaler Feiergesellschaft vorzeitig vertreiben.
Der PHK öffnete den Halbwüchsigen die Tür und sprang erschrocken zurück. Die beiden Alphorn-Lieferanten trugen knallbunte T-Shirts in Übergröße mit grellen Skateboard-Aufdrucken, dass Egi die Augen wehtaten. Darunter baumelten Jeanshosen, die mindestens fünf Nummern zu groß waren und deren Schritt ihnen bis zu den Knien hing. Bruno, Egis Golden Retriever, stand schwanzwedelnd vor ihnen, er schien sie trotz der fürchterlichen Gewänder zu mögen. Tommi traute sich nicht an die Tür, er war nicht angemessen gekleidet.
»Servus Egi, hier kommt noch das Horn«, meinte einer von den beiden und drückte Egi einen monströsen Koffer in die Hand. »Der Tommi weiß, wie man’s zusammenschraubt. Wird bestimmt eine heiße Party! Ciao!«
Die beiden lachten und verschwanden in einem klapprigen hellblauen VW-Bus, der von einem älteren Kumpel gefahren wurde. Hoffentlich war der schon achtzehn, dachte sich der PHK. Egis Mundwinkel zeigten gen Süden. Ihm graute vor der abscheulichen Party. Elli kam schnell hinzu, um Egi samt Koffer auf die Terrasse zu bugsieren. Er trottete mit Bruno vor ihr her in den Garten. Das siebzigjährige Geburtstagskind hockte dort bereits erwartungsvoll am ersten Tisch und tätschelte ihrem Enkel Tommi die Hand. Der verzog sein Gesicht, als er den Koffer sah. Einen Ausweg sah er nicht, also ergab er sich in sein Schicksal. Heute Morgen hatte ihn seine Mutter Elli bereits in krachlederne Hosen und Rüschenhemd gesteckt, nun ging die Tortur weiter.
Uroma Bruni schnarchte noch immer neben dem Buffet in ihrem Rollstuhl. Tommi setzte ihr seinen grünen Filzhut mit angestecktem Edelweiß auf, was sie mit einem Grunzen kommentierte. Nun hieß es, das Alphorn fachmännisch zusammenzubauen. Es bestand aus fünf Teilen: Mundstück, Handrohr, Mittelrohr und Becherrohr mit Becher sowie einem Füßchen. Das dicke Becherrohr legte Tommi auf die Terrasse und schob die schmaleren Teile ineinander. Dabei entfernte er sich immer weiter von dem Becher, das Alphorn war über drei Meter lang. Er lief wieder nach vorne auf die Terrasse und legte den Becher des Alphorns auf das Füßchen, dann spazierte er zurück zum Mundstück und hob das ganze Monstrum hoch an seine Lippen.
Einige Autofahrer hatten ihn am Abend gesehen, aber er hatte sich mit seinem Schal so vermummt, dass ihn niemand erkennen würde. Außerdem regnete es, und sie hatten bestimmt schlechte Sicht. Ihm war das auch ganz egal, er wollte sie nur noch wegschleppen und verstecken. Er nutzte jeden Schatten, um darin zu verschwinden, bevor ihn jemand erspähen konnte. Er kroch mit dem schweren Sack von hinten an sein Grundstück. Sie schien nicht ganz tot zu sein, ihr Körper zuckte manchmal kaum merklich.
Das Geburtstagskind Traude saß direkt neben dem hölzernen Ungetüm und schaute es liebevoll an, ihre Augen wurden feucht. Sie legte sich ein mit Häkelrand verziertes rosafarbenes Taschentüchle bereit. Elli war begeistert. Sie schob Egi auf die Terrasse und drückte ihm ein Mikrofon in die Hand.
»Was soll das denn?«, fragte er verblüfft.
»Na, du machst jetzt deine Ansprache zum Geburtstag, Brummerle!«, fauchte Elli.
Egi fasste sich mit der Hand an die Stirn. Wenn doch bloß etwas passieren würde, damit er hier verschwinden könnte.
Er begann mit den Worten »Liebe Gäste«, und ein unerträgliches Pfeifen tönte aus den Mammutboxen. Die Geburtstagsgäste verzogen ihre Gesichter und steckten sich die Finger in die Ohren bzw. hielten sich die Hände vor die Hörgeräte. Elli drehte den Ton etwas leiser und setzte sich zu ihrer Mutter an den Tisch.
Egi versuchte es noch einmal: »Liebe Gäste, unsere Traude, die wird heut siebzig Jahr! Das ist doch ein Grund zu feiern, oder nicht?«
»Ja!«, »Juhu!«, »Und ob!«, johlten die Gäste und klatschten.
Jetzt konnten Traudes Freundinnen die Im-Ohr-Geräte wieder zur vollen akustischen Versorgung ihrer Hörorgane freigeben.
»Die Traude liebt Alphornmusik, und darum bläst unser Tommi ihr nun ein alpenländisches Liedle. Bitt’ schön!«
Er schlich sich mit dem zuckenden Sack durch die knarrende Tür. Er zog schnell den regennassen Bettbezug ab, der würde in der Gefriertruhe bestimmt festfrieren. Dann würde er die Leiche mit dem Stoff später nur noch schlecht wieder herausbekommen. Er nahm eine Rolle Gefrierbeutel vom Tisch, zog sie aus der Packung und legte sie einzeln auf seine tiefgefrorene Schweinehälfte, die auf mehreren Säcken mit Eiswürfeln ruhte. Darauf bettete er sie.
Wieder ein markerschütternder Ton, dieses Mal kam er nicht aus den Boxen. Tommi versuchte sich gerade an einem Fis, dem Grundton seines Alphorns, darauf sollte der tiefste Ton, ein Ges, und danach unterschiedliche Melodien von ihm erzeugt werden, womit er die Schönheit der alpenländischen Landschaft in akustischer Wehmut darbieten sollte. Es gelang ihm nicht, das ganze Gejaule war eine unmögliche Tonfolge. Verwundertes Gemurmel kam auf. Traude machte eine erschrockene Miene. Hatte Tommi das Alphorn richtig zusammengebaut?
Bruno, der die ganze Zeit auf der Terrasse gesessen und seine Familie mit großem Erstaunen beobachtet hatte, fing nun an zu jaulen. Uroma Bruni zuckte mit geschlossenen Augen. Tommis grüner Filzhut wippte auf ihrem hängenden Haupt. Nun holte er ein blau kariertes Tüchle aus der Gesäßtasche seiner Krachledernen und wischte das Mundstück ab. Sein Kopf war bereits hochrot, und er war völlig außer Atem. Dann probierte er es noch einmal, aber jetzt ging ihm langsam die Puste aus. Er schraubte verzweifelt das Mundstück ab, und statt zu blasen, röhrte er nun Töne in das offene Handrohr, um das Alphornlied mit seiner verstellten Stimme zu imitieren. Sein Stimmbruch gab dem Ganzen eine zusätzliche Note, es hörte sich an wie ein in Rage geratener Elefant.
Konrad, Ellis Vater, hatte bereits einige Male auf den Geburtstag seiner Frau angestoßen und in kurzer Zeit drei Weizenbiere hinuntergestürzt. Er beobachtete die Aufführung der ungewohnten heimatlichen Klänge mit breitem Grinsen und verklärtem Blick. Tief betroffen saß seine Frau Traude neben ihm. Die ersten Tränen rollten, dann heulte sie los und griff nach ihrem für den Ernstfall bereitgelegten Taschentuch. Was war nur aus ihrem kleinen Enkel geworden? Sie wies Elli bereits seit Jahren darauf hin, das Egis Erziehungsstil völlig unakzeptabel wäre. Aber es hörte ja niemand auf sie.
Leider hatten sich einige der Gefrierbeutel verschoben, als er sie unter Keuchen und Stöhnen auf die Schweinehälfte gehievt hatte, ohne dabei den Rand der Kühltruhe zu berühren. Kleine Hautpartien lagen nun direkt auf dem toten Schwein. Aber egal, wenn man das Tier später zubereiten würde, würde davon keiner mehr etwas schmecken. Wichtig war ihm jetzt nur, dass sie nicht die Wände der Kühltruhe berührte und so keine DNS-Spuren hinterließ.
Traude stieß ihren Mann an und raunte ihm aufgelöst zu: »Konrädle, jetzt unternimm doch was! Der Tommi hat hier wieder mal was Unmögliches veranstaltet, der ungezogene Lausbub.«
Konrädle zeigte keine Reaktion, er wankte weiter auf seinem Gartenstuhl. Tommi legte das Alphorn daraufhin beiseite, lief auf die Terrasse und schnappte sich das Mikrofon, um seine Oma wieder etwas aufzuheitern. Er behauptete: »Liebe Oma Traude, liebe Gäste, ich muss euch was verraten. Mein Papa Egi hat sich auch was überlegt. Er möchte der Oma unbedingt ein Ständle singen!«
Das war jetzt in keinster Weise mit Egi abgesprochen gewesen. Sein Sohn warf den Karaoke-Player an. Er zog Egi am Ärmel nach vorne und stellte ihn vor den Bildschirm, auf dem nun ein Text eingeblendet wurde. Tommi reichte ihm das Mikrofon. Egi wurde schwarz vor Augen, der DJ-Ötzi-Hit »Ein Stern, der deinen Namen trägt « jaulte aus den Boxen.
Auch wenn der Egi solch Liedgut nicht kennen wollte, musste er nun gute Miene zum bösen Spiel machen. Wenig textsicher kam Egi beim Refrain an und beging einen verhängnisvollen Fehler, den die kühlschrankgroßen Boxen gnadenlos preisgaben. Er versang sich vor der heulenden Schwiegermutter »Ein Stein, der deinen Namen trägt«. Den Kleinwalsertaler Gästen blieb der Mund offen stehen. Das Oberstdorfer Publikum brüllte los, einige hielten ihre Hände hoch und formten mit ihren Zeigefingern Kreuze über ihren Köpfen. Egi schoss eine Hitzewelle ins Haupt. Die dachten jetzt alle, er meinte damit einen Grabstein mit Traudes Namen drauf!.
»Egi, bist du eigentlich total deppert? Was fällt dir ein, meiner Mutter so etwas anzutun?«, kreischte Elli. Sie war aufgesprungen, ihr Bauch schien sich dabei noch mehr aufzublähen. Es war zu befürchten, dass hier und jetzt eine Sturzgeburt drohte.
Dem armen Bruno war das alles nicht geheuer, Herrchen und Frauchen im kampfwütigen Streit. Er versteckte sich unter dem Buffet-Tisch. Uroma Bruni wachte von dem Gerumpel auf. Als sie eingeschlafen war, hatte sie noch in der Küche gesessen, jetzt befand sie sich auf der Terrasse und blinzelte in eine illustre Runde. Dort sah sie gackernde Teenager, schreiende Senioren, einen tobenden Greis mit Dreitagebart, einen erzürnten Egi, eine giftspritzende Elli und ein monströses Alphorn auf sich gerichtet. Die Bruni konnt’s sich nicht erklären, also schloss sie die Augen wieder und schlummerte weiter. Es war bestimmt nur ein absonderlicher Traum, ihr mittlerweile sechsundneunzig Jahre altes Hirn spielte ihr halt des Öfteren einen Streich.
»Konrädle, verstehst nit? Der will mi killen!«, schrie das Traudele.
»Du bisch a ganz großes Arschloch, Egi!«, brüllte das Konrädle, ohne die Aussage seiner Frau weiter zu hinterfragen.
Er verschloss die Kühltruhe mit einem Vorhängeschloss und zog den Schlüssel ab. Den würde er die nächste Zeit verstecken. Dann ging er zurück, betrat sein Wohnzimmer und warf den Bettbezug in das Kaminfeuer. Es knackte und zischte, Funken schossen hoch. Bald war nur noch ein schwarzer Haufen zu sehen, der in kurzer Zeit zwischen den lodernden Holzscheiten verschwinden würde. Er war sich sicher, dass sie das Bewusstsein nicht mehr wiedererlangen würde. Und selbst wenn, sie würde nicht aus ihrer Eishöhle fliehen können. Irgendwann müsste er sie noch loswerden. Aber das hatte Zeit.
Bruno bekam Angst, hechtete unter dem Tapeziertisch hervor und brachte damit das Buffet zum Wanken. Einige Schüsseln fielen klirrend zu Boden. Der Golden Retriever rannte in das Wohnzimmer und verkroch sich hinter das Sofa. Uroma Bruni riss die Augen auf. Tommis grüner Filzhut stürzte von ihrem Kopf in eine Schüssel Wurstsalat. Das angesteckte Edelweiß brach dabei ab und lag nun dekorativ auf einer öligen Zwiebelscheibe.
»Ögi, hosch osch ho hös?«, schrie sie zitternd. Sie war fast taub, hörte ihre eigene Stimme kaum noch. Die dentalen Konsonanten waren aus ihrer Greisinnensprache verbannt worden. Ihr Gebiss, ein antiquarisches Produkt der Zahnmedizin, hatte bereits vor Jahrzehnten die Zunge in Mitleidenschaft gezogen. Ihr Genuschel verstand niemand mehr.
Egi trat zu ihr herüber, hielt ihr die Hand und schrie, damit sie ihn verstand: »Alles gut, Uroma Bruni, alles gut. Das Hündle hat nur ein paar Schüssele runtergeworfen, gell?«
Grad jetzt, um 10:38 Uhr, ertönte aus Egis Beinkleidern scheppernd eine Melodie, die immer lauter wurde. Die Gäste verstummten. Es war Resi, i hol di mit mei’m Traktor ab, der Klingelton von seinem Handy. Er fingerte hektisch in seiner Hosentasche herum, zog es heraus und starrte auf das Display. Er erkannte den Anrufer sofort, eine Erlösung für ihn. Daniel Müller rief ihn aus der Einsatzzentrale der Polizeiinspektion Oberstdorf an. Egi lauschte der femininen Stimme und befand die Nachricht als glückliche Fügung, es war jemand ermordet worden. Der PHK musste die Feierlichkeiten unverzüglich verlassen.
»Meine lieben Gäste, ich muss euch leider allein weiterfeiern lassen, hab jetzt einen Einsatz. Macht ihr mal schön weiter!«
Er machte sich unverzüglich auf den Weg zur Breitachklamm.
»Ögi, hosch mo no ohoi!«, schrie Uroma Bruni hinter ihm her.