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Das Buch

Dezember 1773: Nach vierzehn strapaziösen Monaten auf See an Bord der Gorgon kehrt Midshipman Richard Bolitho zurück nach England. Während das Linienschiff in Plymouth im Dock zur dringend notwendigen Überholung liegt, will er Weihnachten bei seinen Eltern in Falmouth verbringen. Doch daraus wird nichts, denn an der Küste Cornwalls treiben übelste Strandräuber, die gezielt Schiffsstrandungen herbeiführen, ihr Unwesen. Für Richard Bolitho heißt es, deren tödlichem Spuk ein Ende zu setzen …

Der Autor

Alexander Kent kämpfte im Zweiten Weltkrieg als Marineoffizier im Atlantik und erwarb sich danach einen weltweiten Ruf als Verfasser spannender Seekriegsromane. Er veröffentlichte über 50 Titel (die meisten bei Ullstein erschienen), die in 14 Sprachen übersetzt wurden, und gilt als einer der meistgelesenen Autoren dieses Genres neben G.S. Forester. Alexander Kent, dessen richtiger Name Douglas Reeman lautet, war Mitglied der Royal Navy Sailing Association und Governor der Fregatte "Foudroyant" in Portsmouth, des ältesten noch schwimmenden Kriegsschiffs.

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Neuausgabe bei Refinery

Refinery ist ein Digitalverlag

der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

Mai 2018 (1)


© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2006

© der deutschen Übersetzung

Verlag Ullstein GmbH, Berlin 1978

© Bolitho Maritime Productions Ltd., 1978

Titel der englischen Originalausgabe: Midshipman Bolitho and the Avenger

Covergestaltung: © Sabine Wimmer, Berlin

E-Book: LVD GmbH, Berlin


ISBN 978-3-96048-134-8


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Inhalt

    I   Heimaturlaub
   II   Die Avenger
  III   Wie ein Vogel
  IV   Keine andere Wahl
   V   Der Köder
  VI   Klarer Auftrag
 VII   Eine Tragödie
VIII   Stimme im Dunkel
  IX   Die Klaue des Teufels
   X   Feuer frei!

I   Heimaturlaub

Schwankend und mit lautem Räderklappern kam die Postkutsche auf dem Hof des Gasthauses zum Stehen, und die kleine Gruppe müder Passagiere stieß Seufzer der Erleichterung aus. Es war Anfang Dezember des Jahres 1773, und Falmouth lag wie ganz Cornwall unter einer dichten Decke von Schnee und Matsch. Die Kutsche mit ihren vier von der raschen Fahrt dampfenden Pferden wirkte in dem schwachen Nachmittagslicht völlig farblos, so sehr war sie mit Schlamm bespritzt.

Midshipman1 Richard Bolitho sprang herab, dann blieb er stehen und starrte einige Zeit bewegungslos auf das ihm vertraute alte Gasthaus und die verwitterten Gebäude dahinter. Die Fahrt war mühselig gewesen: lediglich fünfundfünfzig Meilen von Plymouth bis hierher, aber sie hatten zwei volle Tage dafür gebraucht. Der Kutscher war sehr weit landeinwärts gefahren, beinahe bis zum Bodmin-Moor, um den über die Ufer getretenen River Fowey zu umgehen; auch hatte er sich wegen der schlechten Straßen strikt geweigert, bei Nacht zu fahren. Nach Bolithos Meinung fürchtete er sich jedoch mehr vor Straßenräubern als vor den wetterbedingten schlechten Wegverhältnissen. Die Gentlemen fanden es nämlich sehr viel bequemer, Kutschen auszurauben, die auf schlammigen, ausgefahrenen Wegen steckengeblieben waren, als einen Schußwechsel mit den scharfäugigen Wachen auf des Königs Landstraßen zu riskieren.

Doch dann vergaß er die Reise, die geschäftig die Pferde ausspannenden Knechte und die Mitreisenden, die in die einladende Wärme des Gasthauses strömten, und genoß den Augenblick der Heimkehr.

Es war genau ein Jahr und zwei Monate her, seit er Falmouth verlassen hatte, um in Spithead an Bord der Gorgon zu gehen, eines Linienschiffes mit vierundsiebzig Geschützen. Jetzt lag sie in Plymouth zur dringend notwendigen Überholung und Instandsetzung, und er, Richard Bolitho, war zum wohlverdienten Urlaub nach Hause gekommen.

Er reichte seinem Reisegefährten die Hand, als dieser jetzt zu ihm in den naßkalten Wind herabkletterte; Midshipman Martyn Dancer war am selben Tag an Bord der Gorgon gekommen wie er selbst und ebenfalls siebzehn Jahre alt.

»So, Martyn, wir sind am Ziel!«

Bolitho lächelte, froh darüber, daß Dancer mit ihm gekommen war. Das Haus der Dancers lag in London und war völlig verschieden von dem der Bolithos, die seit Generationen Seeoffiziere waren. Dancers Vater dagegen war ein reicher Teehändler in der Londoner City. Aber auch wenn ihre Welten meilenweit auseinanderlagen, so stand ihm Martyn doch ebenso nahe, als sei er sein leiblicher Bruder.

Als die Gorgon vor Plymouth geankert hatte und die an Bord gekommene Post verteilt wurde, stellte Dancer fest, daß seine Eltern im Ausland weilten. Er schlug vor, Bolitho solle mit ihm nach London kommen, aber der stets wachsame Erste Offizier der Gorgon, Mr. Verling, hatte kalten Tones gesagt: »Ich denke, das lassen Sie lieber. Allein in dieser Stadt – Ihr Vater würde mich dafür zur Rechenschaft ziehen!«

So hatte Dancer bereitwillig Bolithos Einladung angenommen, was diesem insgeheim lieber war, brannte er doch darauf, seine Familie wiederzusehen und sich ihr mit all den Veränderungen vorzustellen, die vierzehn Monate harten Dienstes bei ihm bewirkt hatten. Genau wie sein Freund, war auch er magerer geworden – soweit dies überhaupt noch möglich war – und vor allem selbstsicherer. Auch war er dankbar dafür, daß er alle Stürme und Gefechte überlebt hatte.

Der Kutscher berührte grüßend seinen Hut, nahm die Münzen, die Bolitho ihm in die Hand drückte, und sagte:

»Seien Sie unbesorgt, Sir. Ich passe auf, daß der Wirt die Kisten zu Ihrem Haus bringen läßt.« Dabei zeigte er mit dem Daumen auf die bereits hell erleuchteten Fenster des Gasthauses. »Jetzt werde ich mich für ein Stündchen zu den Mitreisenden setzen, dann geht’s weiter nach Penzance.« Im Weggehen rief er: »Viel Glück, die jungen Herren!«

Bolitho blickte ihm sinnend nach. So viele Bolithos waren hier schon ein- oder ausgestiegen, auf dem Weg zu Schiffen, die sie in ferne Länder bringen sollten, oder von weiter Reise heimgekehrt.

Manch einer von ihnen war niemals mehr zurückgekommen.

Er warf seinen blauen Umhang über die Schultern und sagte: »Laß uns gehen, das bringt das Blut wieder in Bewegung!«

Dancer nickte zähneklappernd. Genau wie Bolitho, war er sonnengebräunt, und beide konnten sich nach gut einem Jahr an Afrikas Küsten noch nicht mit dem schroffen Klimawechsel abfinden.

Als sie jetzt durch den Schneematsch schritten, vorbei an der alten Kirche und den uralten Bäumen, mochten sie kaum glauben, daß sie all das wirklich erlebt hatten: die Jagd nach Seeräubern, die Zurückeroberung der Brigg Sandpiper, mit der sie dann nach einer hitzigen Verfolgung durch gefährliche Riffe ein Piratenschiff vernichtet hatten. Männer waren gefallen, andere hatten Verwundungen erlitten: das Los der Seeleute überall in der Welt. Bolitho hatte im Nahkampf Mann gegen Mann gestanden, hatte töten müssen und einen Fähnrichskameraden beim Angriff auf die Festung von Skavenhändlern fallen sehen2. Sie waren keine Knaben mehr, sie waren gemeinsam zu jungen Männern geworden.

»Da ist es.« Bolitho wies auf das große graue Haus, viereckig, unbeugsam und fast von der gleichen Farbe wie die niedrig dahin jagenden Wolken und das Vorland dahinter.

Durch das Gartentor ging es den breiten Weg zum Eingang hinauf, und Bolitho brauchte nicht einmal zu dem massiven Ring des Türklopfers zu greifen; denn schon flog die Tür auf, und Mrs. Tremayne, die Haushälterin, lief ihm entgegen, das rote Gesicht strahlend vor Freude.

Sie schloß ihn in die Arme und drückte ihn an sich. Ihr Geruch nach frischem Leinen, Lavendel, nach Küche und geräuchertem Speck weckte noch mehr alte Erinnerungen in ihm. Sie war über fünfundsechzig und genauso ein Teil des Hauses wie dessen Grundmauern.

Sie wiegte ihn in ihren Armen wie ein Kind, obwohl er einen ganzen Kopf größer war als sie.

»Oh, junger Master Dick, was haben sie dir angetan?« Sie brach beinahe in Tränen aus. »So dünn wie ein Schilfrohr, wohl nichts zu essen gekriegt, aber ich werde dir bald wieder Fleisch auf die Knochen bringen.«

Nun entdeckte sie Dancer und entließ Bolitho widerstrebend aus ihren Armen. Der grinste verlegen, aber erfreut über ihre Anteilnahme. Sie war allerdings noch viel stärker gewesen, als er damals, im Alter von zwölf Jahren, zum ersten Mal zur See gegangen war.

»Dies ist mein Freund Martyn Dancer. Er bleibt über Weihnachten bei uns.«

Alle wandten sich um, als Bolithos Mutter auf der Treppe erschien.

»Und Sie sind uns herzlich willkommen!«

Dancer betrachtete sie hingerissen. Er hatte während der langen Seewachen oder während der wenigen ruhigen Augenblicke unter Deck schon viel von Harriet Bolitho gehört. Aber sie war doch ganz anders als in seiner Vorstellung. Sie schien viel zu jung, um Richards Mutter zu sein, viel zu zerbrechlich, um so oft allein gelassen zu werden in diesem großen Steinhaus unter dem Vorland von Pendennis Castle.

»Mutter!«

Bolitho lief zu ihr, und sie umarmten sich lange. Noch immer beobachtete Dancer Richard, seinen Freund, den er so genau zu kennen glaubte, der gewöhnlich seine Gefühle hinter einem unbeteiligten Gesicht und dem ruhigen Bück seiner grauen Augen verbarg. Richard, dessen Haar so schwarz war wie sein eigenes blond, der zwar Bewegung zeigte über den Tod eines Freundes, im Kampf aber ein Löwe wurde, er wirkte hier mehr wie ihr Freier als ihr Sohn.

Endlich sagte sie ruhig zu Dancer: »Wie lange könnt ihr bleiben?«

Die Frage war beherrscht ausgesprochen, aber er spürte die Spannung darin.

Bolitho erwiderte für ihn: »Vier Wochen, vielleicht länger, wenn …«

Sie streckte die Hand aus und streichelte sein Haar.

»Ich weiß, Dick, wenn. Die Marine muß dieses Wort erfunden haben.«

Sie hakte die beiden jungen Männer unter.

»Aber du bist wenigstens zu Weihnachten zu Hause und hast einen Freund mitgebracht. Das ist gut. Dein Vater ist noch in Indien.« Sie seufzte. »Und ich fürchte, Felicity bleibt mit dem Regiment ihres Mannes in Canterbury.«

Bolitho betrachtete sie ernst. Er hatte nur an sich selbst gedacht, an seine Heimkehr, an seinen Stolz über das Vollbrachte. Seine Mutter dagegen hatte allem allein gegenübergestanden, wie es so oft das Los der Frauen war, die in die Familie Boütho einheirateten.

Seine Schwester Felicity, jetzt neunzehn, war glücklich gewesen über die häufigen Besuche eines jungen Offiziers der hiesigen Garnison. Während Bolithos Abwesenheit hatte sie ihn geheiratet und das Elternhaus verlassen.

Daß sein einziger Bruder Hugh nicht zu Hause sein würde, hatte Bolitho erwartet. Hugh war vier Jahre älter, des Vaters Augapfel und tat zur Zeit Dienst als Leutnant auf einer Fregatte.

Ein wenig verlegen fragte er: »Und Nancy? Geht es ihr gut, Mutter?«

Ihr Gesicht erhellte sich und ließ sie noch jünger erscheinen.

»Ja, Dick, es geht ihr gut. Sie ist augenblicklich unterwegs und macht einen Besuch, trotz des Wetters.«

Dancer fühlte sich seltsam erleichtert. Er hatte viel gehört von Nancy, dem jüngsten Familienmitglied. Sie mußte ungefähr sechzehn sein und wohl eine Schönheit, nach der Mutter zu schließen.

Bolitho sah seines Freundes Gesichtsausdruck und bemerkte: »Das ist eine gute Nachricht.«

Seine Mutter blickte von einem zum anderen und lachte. »Aha, ich verstehe.«

»Ich bringe Martyn in sein Zimmer, Mutter.«

Sie nickte und sah ihnen nach, als sie die Treppe hinaufstiegen, vorbei an den Porträts längst verblichener Bolithos.

»Als wir vom Postboten hörten, daß die Gorgon in Plymouth eingelaufen sei, da wußte ich, daß du nach Hause kommen würdest, Dick. Ich hätte es Kapitän Conway niemals verziehen, wenn er mir diese Freude verweigert hätte.«

Bolitho sah den Kommandanten vor sich, zurückhaltend, von beeindruckender Ruhe in allen Gefahrensituationen. Er konnte sich ganz und gar nicht vorstellen, daß er auf Frauen hörte.

Dancer betrachtete eingehend eines der Porträts im Treppenhaus.

»Mein Großvater Daniel«, erklärte Bolitho. »Er war mit Wolfe in Quebec. Muß ein großartiger alter Herr gewesen sein. Manchmal weiß ich nicht mehr genau, ob ich ihn wirklich kannte, oder ob es nur Erinnerung ist an das, was mein Vater mir über ihn erzählt hat.«

Dancer grinste. »Er sieht recht verwegen aus, und Konteradmiral war er auch!« Damit folgte er Bolitho über den Treppenabsatz und hörte, wie der Wind Hagel gegen die Fenster peitschte. Es wirkte alles so seltsam nach den ständigen Bewegungen an Bord, den Geräuschen und Gerüchen eines mit Menschen überfüllten Kriegsschiffes.

Es war immer dasselbe mit den Fähnrichen. Stets waren sie hungrig, stets wurden sie gejagt, in alle Richtungen gehetzt. Jetzt würde er, wenn auch nur für ein paar Tage, Frieden finden, und wenn es nach Mrs. Tremayne ging, auch einen vollen Magen.

Bolitho öffnete eine Tür. »Eins der Mädchen wird dein Gepäck her aufbringen, Martyn.« Er zögerte ein wenig, seine Augen blickten so grau drein wie die See jenseits des Vorlandes. »Ich bin froh, daß du mitgekommen bist. Einige Male«, er zögerte erneut, »während der letzten Monate dachte ich, daß ich niemals mehr nach Hause kommen würde. Daß auch du jetzt hier bist, macht es erst vollkommen.«

Er wandte sich abrupt ab, und Dancer schloß leise die Tür hinter ihm. Er wußte, was Bolitho hatte ausdrücken wollen, und war gerührt darüber, daß er es ihm gegenüber ausgesprochen hatte.

Dann trat er an eines der Fenster und blickte durch das triefende Glas. Im trüben Winterlicht wirkte die bewegte, mit weiß leuchtenden Schaumkronen bedeckte See sehr einsam.

Dort draußen lag sie und wartete auf ihre Rückkehr.

Er lächelte und begann, sich zu entkleiden.

Nun, sie sollte nur warten!

»So, Martyn, was hieltest du von deinem ersten freien Abend?«

Die beiden Fähnriche saßen mit ausgestreckten Beinen vor dem prasselnden Kaminfeuer, die Augen fielen ihnen fast zu von der Hitze und dem üppigsten Mahl, das Mrs. Tremayne seit langem zubereitet hatte.

Dancer hob sein Glas, sah zu, wie der Flammenschein durch den rubinfarbenen Portwein changierte, und lächelte zufrieden.

»Sieht einem Wunder verdammt ähnlich.«

Es war ein sehr ausgedehntes Mahl gewesen, und Bolithos Mutter sowie seine jüngere Schwester Nancy hatten sich alle Mühe gegeben, die beiden zum Erzählen zu bringen. Bolitho ertappte sich bei der Vorstellung, wie viele Erzählungen dieser Tisch wohl schon mit angehört hatte, einige sicherlich ein wenig ausgeschmückt, aber alle wahr und erlebt.

Nancy hatte aus diesem Anlaß ein neues Kleid getragen, das offensichtlich in Truro angefertigt worden war: »Das Neueste aus Frankreich.« Es war tief ausgeschnitten, und obwohl ihre Mutter einige Male die Stirn gerunzelt hatte, ließ es sie eher jünger wirken als leichtfertig.

Sie glich ihrer Mutter viel stärker als ihre Schwester, die mehr nach der Bolitho-Seite schlug. Nancy hatte das gleiche, leicht hervorbrechende Lächeln, mit dem Harriet seinerzeit Kapitän James Bolitho so bezaubert hatte, daß er das schottische Mädchen zur Frau nahm.

Auf Dancer hatte Nancy großen Eindruck gemacht, und Bolitho schien es, als beruhe dies auf Gegenseitigkeit.

Draußen war es ruhiger geworden, der Hagel ging allmählich in Schnee über. Die Ställe und anderen Gebäude waren bereits mit einer dicken, glitzernden Schicht bedeckt. Niemand würde heute nacht mehr weit kommen, dachte Bolitho und bedauerte den Kutscher auf seinem Wege nach Penzance.

Wie still das Haus wirkte. Die Dienstboten waren schon lange zu Bett gegangen, nur die beiden Freunde saßen noch träumend oder ihr Garn spinnend vor dem Kamin.

»Morgen gehen wir zum Hafen hinunter, Martyn, wenn mir auch Mr. Tremayne gesagt hat, daß im Augenblick so gut wie nichts auf Reede liegt, was des Ansehens wert sei.«

Die männliche Hälfte der Familie Tremayne war Butler und Faktotum im Haus und wie alles andere Personal recht alt. Obgleich der Siebenjährige Krieg schon vor zehn Jahren zu Ende gegangen war, waren die vielen Lücken, die er in den Dörfern und Siedlungen hinterlassen hatte, immer noch fühlbar. Manch junger Mann war in den Kämpfen gefallen, anderen hatte es draußen in der Welt besser gefallen als in ihrer engen, ländlichen Heimatgemeinde, und sie waren nicht mehr zurückgekehrt. In Falmouth wurde man entweder Seemann oder Landarbeiter, so war es seit alters her.

»Vielleicht ist es morgen klar genug, daß wir reiten können?«

»Du kannst reiten?«

»Wir fahren in London nicht immer nur Kutsche, oder was glaubst du?«

Ihr Gelächter verstummte abrupt, als zwei laute Schläge von der Eingangstür durch das Haus dröhnten.

»Wer ist um diese Zeit noch unterwegs?« Dancer war schon aufgesprungen.

Bolitho hob die Hand. »Warte!« Er trat an einen Schrank und nahm eine Pistole heraus. »Wir wollen lieber vorsichtig sein, selbst hier.«

Zusammen öffneten sie die große Doppeltür; der kalte Wind umfing ihre überhitzten Körper wie ein Leichentuch.

Bolitho erkannte den Jagdhüter seines Vaters, John Pendrith, der dicht beim Haus eine Kate bewohnte. Es war ein mürrischer Mann von mächtigem Körperbau, gefürchtet von den Wilderern, deren es nicht wenige gab.

»Tut mir leid, wenn ich störe, Sir.« Er gestikulierte vage mit seiner langläufigen Flinte. »Aber da ist einer aus der Stadt gekommen, und der alte Reverend Walmsley sagte, am besten sollte ich zu Ihnen gehen.«

»Komm herein, John.«

Bolitho schloß die Tür hinter ihm. Der späte Besuch des riesigen Jagdaufsehers wie auch dessen geheimnisvolles Gehabe beunruhigten ihn etwas.

Pendrith nahm dankend ein Glas Brandy an und wärmte sich am Feuer. Dampf stieg von seinem dicken Überrock auf wie von einem Zugpferd.

Was auch geschehen sein mochte, es muß etwas Wichtiges sein, wenn Pfarrer Walmsley es für nötig hielt, mitten in der Nacht einen Boten zu schicken.

»Dieser Bursche hat eine Leiche gefunden, Sir, unten am Strand. Sie hat wohl schon einige Zeit im Wasser gelegen.« Trübe blickte er auf. »Es ist Tom Morgan, Sir.«

Bolitho biß sich auf die Lippen. »Der Zolleintreiber?«

»Aye. Er ist umgebracht worden, bevor man ihn ins Wasser warf, sagt der Junge.«

Im Treppenhaus waren Geräusche zu hören, dann kam Bolithos Mutter herabgeeilt, in einen grünen Samtumhang gehüllt; fragend sah sie Bolitho an.

»Ich mache das schon, Mutter«, sagte Bolitho beruhigend. »Sie haben Tom Morgan am Strand gefunden.«

»Tot?«

Pendrith antwortete grob: »Ermordet, Madam.« Zu Bolitho gewandt, erklärte er: »Sehen Sie, Sir, die Soldaten sind nämlich weg, und der Friedensrichter ist in Bath, also wandte sich der alte Reverend an Sie.« Er schnitt eine Grimasse. »Schließlich sind Sie ein Offizier des Königs, Sir.«

Dancer rief: »Sicherlich ist da noch sonst wer zuständig?«

Aber Bolithos Mutter zog schon an der Klingelschnur, das Gesicht blaß, doch entschlossen.

»Nein. Sie kommen immer zu uns. Ich lasse Corker zwei Pferde satteln. Du begleitest sie, John.«

Bolitho sagte ruhig, aber bestimmt: »Ich möchte lieber, daß er hier bei dir bleibt, Mutter.« Er drückte ihren Arm. »Es geht schon in Ordnung, wirklich. Ich bin nicht mehr der kleine Junge, der mit einer Stulle in der Tasche zur See gegangen ist. Das ist vorbei.«

Seltsam, wie leicht ihm die Umstellung fiel. Vor ein paar Minuten hatte er noch ins Bett gehen wollen. Jetzt war er hellwach, jeder Nerv gespannt und bereit, plötzlicher Gefahr zu begegnen. Aus Dancers Gesichtsausdruck ersah er, daß es diesem genauso ging.

Pendrith ließ sich vernehmen: »Ich habe den Jungen zurückgeschickt, er sollte bei dem Leichnam bleiben. Sie kennen die Stelle, Sir, es ist die kleine Bucht, wo Sie und Ihr Bruder im Dory3 gekentert sind und eine gehörige Tracht Prügel dafür bezogen haben!« Er grinste vielsagend.

Ein Dienstmädchen erschien und nahm die Anweisung entgegen, Corker, den Kutscher, zu wecken.

Bolitho sagte: »Wir haben keine Zeit, die Uniformen anzuziehen, Martyn. Laß uns gehen, wie wir sind.«

Sie hatten irgendwelche Zivilkleider angezogen, die sie in Kisten und Schränken fanden. In einem Haus, das seit Generationen das Heim von Seeoffizieren war, gab es genug überzählige Röcke und Kniehosen.

In einer Viertelstunde waren sie abmarschbereit, die schläfrige Entspannung war wacher Gespanntheit gewichen. Wenn die Marine ihnen nichts anderes vermittelt hatte, das auf alle Fälle hatten sie gelernt. Die einzige Möglichkeit, auf einem Kriegsschiff am Leben zu bleiben, war stete Wachsamkeit.

Draußen hörte man jetzt das Klappern von Pferdehufen, und Bolitho fragte: »Wer ist der Junge, der den Toten gefunden hat, John?«

Pendrith hob die Schultern. »Der Sohn vom Schmied.« Er tippte mit dem Finger an die Stirn. »Er ist nicht ganz richtig im Kopf.«

Zum Abschied küßte Bolitho seine Mutter auf die Wange. Ihre Haut war eiskalt.

»Geh ins Bett, ich bin bald zurück. Morgen schicken wir jemanden zum Richter nach Truro oder zu den Dragonern.«

Sie waren draußen und zu Pferde, bevor der wirbelnde Schnee ihren Ritt nur noch schwieriger machen konnte. Man sah kaum Lichter im Ort, die meisten Bewohner waren längst im Bett.