Sibylle Lewitscharoff – Najem Wali

Abraham trifft Ibrahîm

Streifzüge durch Bibel und Koran

Die von Najem Wali verfassten Kapitel
wurden von Christine Battermann
aus dem Arabischen übersetzt.

Suhrkamp

»Die Wahrheit war einst ein Spiegel in der Hand Gottes.
Sie fiel und zerbrach in Stücke.
Jeder nahm ein Stück davon,
und sie schauten es an und dachten, sie hätten die Wahrheit.«

Dschalâl al-Din Muhammad al-Rûmi

Inhaltsverzeichnis

Najem Wali

Vorwort

Sibylle Lewitscharoff

Vorwort

Najem Wali

Einleitung

Grenzgänge zwischen Bibel und Koran

Sibylle Lewitscharoff

Eva

Najem Wali

Hawwâ

Sibylle Lewitscharoff

Abraham

Najem Wali

Ibrahîm

Sibylle Lewitscharoff

Moses

Najem Wali

Mûsa

Sibylle Lewitscharoff

Lot

Najem Wali

Lût

Sibylle Lewitscharoff

Hiob

Najem Wali

Ayyûb

Sibylle Lewitscharoff

Jona

Najem Wali

Yûnus

Sibylle Lewitscharoff

König Salomo

Najem Wali

Sulaimân

Sibylle Lewitscharoff

Maria

Najem Wali

Maryam

Sibylle Lewitscharoff

Der Teufel

Najem Wali

Schaitân oder Iblîs

Literaturverzeichnis

Textnachweise

Najem Wali

Vorwort

Jahrelang trug ich mich mit einer Idee. Eines Tages wollte ich ein Buch schreiben, in dem ich die Geschichten der Propheten und anderer wichtiger Figuren der Bibel und des Korans erzählte. Seit langem fiel mir auf, dass die drei Weltreligionen Judentum, Christentum und Islam über fast die gleichen Legenden verfügen, von Ibrahîm/​Abraham, Lût/​Lot, Ayyûb/​Hiob, Sulaimân/​Salomo und anderen. Natürlich gibt es Nuancen und Unterschiede, aber sie haben unverkennbar denselben Kern.

Die Geschichte der Menschheit bis zu unserer heutigen Zeit zeigt, mit welchen Schwierigkeiten diejenigen konfrontiert sind, die sich als Vermittler zwischen Konfliktparteien verstehen, die Brücken bauen und Grenzen öffnen wollen. Viele sind gläubig, ohne zu wissen, was genau in den Büchern steht. Man ist Jude, Christ oder Muslim von Geburt an, geht in die Schule, kämpft sich durchs Leben und bekommt die immer gleichen religiösen Geschichten erzählt, die seit Generationen weitergegeben werden. Warum also sollte man das Alte Testament, das Evangelium oder den Koran überhaupt noch lesen? Mûsa/​Moses führte sein Volk in das Gelobte Land, aber hat es selbst nicht erreicht. Wer war der Mann, der seinen Platz einnahm? Yunûs/​Jona war im Bauch des Wals gefangen. Aber wie er dort gelandet ist, wissen nur wenige. Die Jungfrau Maryam/​Maria gebar den Messias, aber wie viele Geschwister er hatte, weiß man nicht. Muhammad fuhr von Jerusalem aus in den Himmel auf. Aber was tat er in einer Stadt, in der es damals weder Muslime noch Moscheen gab? Diese und andere Fragen ließen mich nicht los, und immer wieder plante ich, dieses Buch zu schreiben. Meine Freundin riet mir, ein solches Buch nicht alleine zu verfassen, als zu einseitig könnte meine Betrachtung der drei sogenannten Heiligen Bücher interpretiert werden, gab sie zu bedenken. Die Idee blieb also weiterhin in meinem Kopf.

Als ich im Sommer 2015 zu den Nibelungenfestspielen in Worms eingeladen wurde, wusste ich nicht, dass ich dort jemanden kennenlernen würde, mit dem ich das Buch endlich schreiben konnte: Sibylle Lewitscharoff. An einem Abend saßen wir beim Wein nebeneinander, und unvermittelt sagte ich: »Frau Lewitscharoff, Sie sind die Autorin, die mit mir dieses Buch schreiben wird!«, und erzählte ihr von meiner Idee.

Jetzt ist so weit, verehrte Leserinnen und Leser, Sie halten das Buch in den Händen. Ich wünsche Ihnen Freude beim Lesen, neue Kenntnisse und nicht zuletzt Erkenntnis.

Mein Dank gilt in besonderer Weise Verena Kurth, der Freundin, die mich gewarnt hat, dieses Buch alleine zu verfassen.

Sibylle Lewitscharoff

Vorwort

Vor etwa drei Jahren haben wir uns bei einer Veranstaltung über die Nibelungen in Worms kennengelernt. Ein gutes und munteres Gespräch ergab sich, in dessen Verlauf Najem Wali mir von seiner Idee erzählte, wir könnten die Bibel und den Koran nach den wichtigsten Figuren durchkämmen, die in beiden Schriften vorkommen, und darüber ein Buch schreiben. Gesagt, vereinbart. Es dauerte natürlich seine Zeit, bis wir loslegen konnten.

Wir haben uns rasch auf die Figuren verständigt, über die wir schreiben wollten: Eva/​Hawwâ, Abraham/​Ibrahîm, Moses/​Mûsa, Lot/​Lût, Salomo/​Sulaimân, Hiob/​Ayyûb, Jona/​Yûnus, Maria/​Maryam und den Teufel/​Iblîs. Natürlich haben wir im Lauf der Zeit über sie diskutiert, geschrieben jedoch auf getrennten Wegen. Ich habe die Texte zu den biblischen Figuren verfasst, die jeweils am Anfang eines Kapitels stehen, Najem Wali widmet sich anschließend deren Auftritt und Wirken im Koran. Diese Aufteilung ergab sich von selbst – die behandelten Figuren sind in der altehrwürdigen jüdischen Bibel und im Neuen Testament wesentlich früher präsent, ihr Erscheinen im Koran erfolgt Jahrhunderte später. Wir mussten uns auf eine Auswahl beschränken. Jesus, der im Koran Îsa genannt wird, hätte natürlich auch ein eigenes Kapitel verdient gehabt. Nun haben wir von Maria ausgehend Jesus in den Blick genommen.

In der Annahme, dass die wichtigen Figuren der Bibel hierzulande eher bekannt sind, habe ich mir erlaubt, die Interpretation der Texte bisweilen mit kleinen Geschichten zu umzirken. Der Leser wird jedoch sofort merken, in welchen Passagen es sich um eigene Zutat handelt und wo es nur um die Deutung der Bibel geht. Da weder Najem Wali noch ich Theologen sind, bitten wir darum, etwaige Ungereimtheiten milde zu belächeln.

Um nicht auf gar zu schwankendem Grund herumzutappen, habe ich drei Ratgeber um Beistand gebeten, und es hat mir großes Vergnügen bereitet, mit ihnen über die biblischen Texte zu sprechen. Besonders zu Dank verpflichtet bin ich Jan-Heiner Tück, einem herausragenden Professor an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien für Systematische Theologie. Wahrlich, ein kluger Kopf! Er hat großzügig Material beigesteuert, vor allem schreibt er erstklassige Bücher. Die Gespräche mit Professor Tück, das Hin- und Herwitschen unserer schriftlichen Botschaften, sie waren für mich mehr als nur ein bisschen erhellend, bisweilen auch sehr erheiternd.

Nicht vergessen darf ich meine beiden langjährigen Freunde Dorothee von Tippelskirch-Eissing und Ilan Diner. Beide sind Psychoanalytiker, Dorothee auch evangelische Theologin. Uns vereint die Debattierfreudigkeit, die mir immer wieder frisch Vergnügen bereitet. Mit Hilfe von klugen Freunden, die einem munter widersprechen, wird man klüger und kann den Fährnissen des Alltags trotzen. Dorothee hat einige Texte durchgesehen und Ergänzungen vorgeschlagen, vor allem aber hat sie mir zu einer wichtigen Lektüre verholfen, deren Existenz mir völlig unbekannt war. Dabei handelt es sich um ein vielstündiges Gespräch, das Josy Eisenberg und Elie Wiesel 1985 im französischen Fernsehen etappenweise miteinander geführt haben.1 Ein schier unglaublicher Dialog! Undenkbar, dass etwas von derartiger Intensität und Qualität, noch dazu in zahlreichen Folgen, auf einem deutschen Fernsehkanal je hätte ausgestrahlt werden können. Ilan wiederum hat sich ausführlich über das Moses-Kapitel gebeugt und mir in seiner freundlichen, umsichtigen Art zu etlichen Verbesserungen geraten.

Eines scheint mir gewiss: Eine intensive Beschäftigung mit Bibel und Koran lohnt sich. Beide Bücher haben sich tief in das Gedächtnis vieler Generationen eingegraben und eine Fülle von Kommentaren hervorgelockt. Die Diskussionen um diese Werke, auch der Streit darüber, dieses seltsame Gemisch aus Liebe, Hass und vernünftiger Analyse, sie reißen nicht ab.

1

Abgedruckt in: Job ou Dieu dans la Tempête, Éditions Fayard 1986.

Najem Wali

Einleitung

Grenzgänge zwischen Bibel und Koran

Dem Koran1 zufolge gab es, von Âdam bis Muhammad2, insgesamt fünfundzwanzig Propheten (arabisch: Anbiyâ, Singular: Nabi). Manche von ihnen werden auch als Rasûl (»Gesandter«) betitelt, wobei die Religionsgelehrten unterschiedliche Definitionen aufstellen. Folgen wir der Argumentation, dass ein Prophet bei einer bestimmten Gruppe von Menschen eine göttliche Mission erfüllt, während die Aufgabe des Gesandten weiter reicht – er soll die gesamte Menschheit zur Umkehr bewegen –, kommen wir auf fünf Gesandte.

Daraus erklärt sich auch, warum drei von ihnen im Islam mit heiligen Büchern verbunden sind: Mûsa (Moses) mit der Thora, Îsa (Jesus) mit dem Indschîl (den Evangelien) und Muhammad mit dem Koran. Die übrigen zwei Gesandten brachten zwar keine heiligen Bücher, trugen diesen Titel aber dennoch, weil auch sie allen Menschen gegenüber eine heilige Mission versahen. Die Aufgabe des einen, Âdam, bestand darin, Gottes Stellvertreter auf Erden zu sein, die des anderen, Nûh (Noah), war es, die Menschheit durch den Bau eines großen Schiffs, auf das er von jeder Art Lebewesen ein Paar lud, vor der vollständigen Vernichtung durch die Sintflut zu bewahren.

Jeder Gesandte ist also zugleich auch Prophet, umgekehrt gilt dies jedoch nicht. Unbekannt ist dabei, warum der Prophet Dawûd (David) nicht ebenfalls den Titel eines Gesandten trägt, sagt Gott doch im Koran über ihn: »David [Dawûd] gaben wir den Psalter« (Sure 4,163 – gemeint sind die Psalmen). Denn der Psalter ist ebenso ein heiliger Text wie jene, die mit Mûsa, Îsa und Muhammad in Zusammenhang gebracht werden. Dasselbe gilt für Sulaimân (König Salomo), Ayyûb (Hiob) und die alttestamentlichen Propheten. Zudem spricht der Koran selbst in zahlreichen Suren von den Ahl al-Kitâb, den Buchbesitzern, zu denen nach islamischem Recht die Juden und die Christen gehören, die er den übrigen Glaubensgemeinschaften gegenüber privilegiert und denen er einen hohen Rang zuweist.

Sämtliche Prophetengeschichten im Koran haben einen Vorläufer im Alten Testament (abgesehen von der Christusgeschichte bei Matthäus, Markus, Lukas und Johannes im Neuen Testament). Dies schlägt sich auch in seiner Erzählweise und Erzählstruktur nieder. Denn unabhängig davon, welchen Rang Muhammad den ihm vorausgegangenen Propheten zuerkennt, sind von ihren Legenden im Koran nur Bruchstücke überliefert, die sich zudem auf verschiedene Suren und Verse verteilen. Der Anspielungsreichtum und die Knappheit der Schilderungen zeigen, dass Muhammads Publikum die entsprechenden Geschichten schon gehört oder gelesen haben musste und die fehlenden Informationen zu ergänzen vermochte, sonst wären sie kaum verständlich gewesen. Dafür wurde später der Begriff der Israiliyât geprägt. Um ihn zu erläutern, muss man auf die These von den Buchbesitzern, den Juden und Nasâri, »Nazarenern« (wie die Christen im Koran genannt werden), zurückkommen. Die religiöse Kultur der Juden stützte sich hauptsächlich auf den Tanach, die der Christen auf das Neue Testament. Als nun viele Anhänger dieser beiden Glaubensrichtungen dem Islam beitraten, brachten sie das Wissen und die Überlieferungen, die zu ihrer religiösen Kultur gehörten, mit. Wenn sie dann die Geschichten im Koran lasen, erinnerten sie sich all der Details, die in der Bibel Erwähnung fanden.

Wie sollte es auch anders sein, da doch der Koran selbst seine Geschichten zu großen Teilen aus dem Alten und dem Neuen Testament importiert hatte. Dieses Eindrucks konnte sich auch Umar Bin al-Chattâb, ein berühmter Zeitgenosse Muhammads, der nach dessen Tod der zweite Kalif werden sollte, nicht erwehren. Wie in der Koranexegese des islamischen Geschichtsschreibers Ibn Kathîr berichtet wird, kam er eines Tages mit einem Buch, das er von einigen Buchbesitzern erworben hatte, zu Muhammad und las es dem Propheten vor. Dieser geriet daraufhin in Zorn, hinderte ihn am Weiterlesen und wies den Vorwurf, die Geschichten der Juden übernommen zu haben, weit von sich.

Der tatsächliche Befund des Korans allerdings widerspricht Muhammads Behauptung. An einundvierzig Stellen werden explizit die Kinder Israel erwähnt. Dies legt nahe, dass Muhammads Publikum zum größten Teil aus Juden bestand oder dass Muhammad sie auf seine Seite ziehen wollte, um im Bündnis mit ihnen den Stamm der Quraisch, die nach dem Verständnis sowohl der neuen als auch der alten – jüdischen – Religion Götzendiener und Heiden waren, schlagen zu können. Und so geschah es tatsächlich: Im Jahre 622 wanderte Muhammad nach Yathrib (das spätere Medina, von »Medina al-munawwara«, »die erleuchtete Stadt«) aus. Dort wurde zwischen seinen muslimischen Anhängern und den nichtmuslimischen arabischen und jüdischen Stämmen Yathribs die Gemeindeordnung von Medina vereinbart. Es handelte sich dabei um einen Vertrag, der festlegte, dass die jüdischen und muslimischen Stämme jeweils ihre eigene Religion besaßen, im Krieg aber Verbündete waren und nicht einer den anderen verraten durfte. Dieses Abkommen versetzte Muhammad und seine Anhänger in die Lage, sich zunächst ausschließlich dem Krieg gegen die mekkanischen Quraisch zu widmen.

Als es Muhammad aber trotz aller Bemühungen nicht gelang, die jüdischen Stämme Yathribs zum Islam zu bekehren, wandte er sich auch gegen sie und vertrieb sie aus der Stadt. Kaum hatte er mit den Oberhäuptern und Kaufleuten der Quraisch den Vertrag von Hudaibîya geschlossen, der einen Nichtangriffspakt enthielt und ihm und seinen Anhängern die Pilgerfahrt nach Mekka erlaubte, bekämpfte er die ehemaligen Verbündeten noch verbissener. Nach ihrer Vertreibung aus Yathrib wurden sie vom muslimischen Heer nun auch aus ihrem kulturellen Zentrum Chaibar vertrieben. Der vordringliche Grund dafür war, dass die sich dem Islam anschließenden Kaufleute die Juden der Arabischen Halbinsel, vor allem des Hedschas, der an das Rote Meer grenzenden Landschaft, als Handelsrivalen betrachteten.

Im Zuge des Bruchs mit den jüdischen Stämmen vollzog Muhammad auch die Änderung der Qibla, der Gebetsrichtung. Statt weiterhin wie die Juden in Richtung Norden zu beten, in Richtung des Tempels in Jerusalem, beteten die Muslime nun Richtung Mekka, wo sich die Kaaba, das erste Gotteshaus der Muslime, befindet. Dabei ist zu bedenken, dass diese historischen Städte sowohl wirtschaftlich wie religiös gesehen gleichermaßen wichtige Zentren waren. Nachdem Muhammad 630 nach Mekka zurückgekehrt war und den mekkanischen Kaufleuten zugesichert hatte, die Kaaba zu einem islamischen Zentrum der Verehrung zu machen, willigten sie in die Zerstörung ihrer Götzenbilder und den Beitritt zum Islam ein. Schon Rom hatte es so gehandhabt, als es die christliche Religion als neue Ideologie für seine Weltherrschaft übernahm. Die Quraisch hatten die Lektion gelernt. Muhammad auch.

Würden wir die im Koran aufgeführten Geschichten untersuchen, würden wir feststellen, dass sie sich vor allem auf zwei Aspekte konzentrieren: Drohung und Verheißung. Denn wir haben es beim Koran mit einer Textgattung zu tun, deren Aufgabe es war, sich auf die missionarischen Lehren zu konzentrieren. Deshalb mussten die erzählten Geschichten – so sinnentstellt und widersprüchlich sowie fragmentarisch in Form und Erzählstruktur sie auch sein mögen – ihr Augenmerk auf ein einziges Ziel richten: auf das Publikum, das sie ansprechen sollten. Damit die missionarische Botschaft des Korans ihre Adressaten aber erreichte und Muhammad am Ende sein Ziel verwirklichen konnte, die Arabische Halbinsel zu einen und sie sich, dem Propheten und Überbringer der neuen Religion, zu unterwerfen, musste er, wenn er alte Geschichten vor allem jüdischer Herkunft übernahm, diese umdichten und dem arabischen Wüstenklima anpassen. Als die Zeiten sich änderten, das neue Reich sich immer weiter ausbreitete und schließlich große Kalifate und Imperien umschloss, die verschiedene Völker und Nationen diverser Kulturen beherbergten; als die Widersprüchlichkeit der koranischen Texte so offenbar wurde, dass sie nicht mehr in Einklang zu bringen waren mit den Erfordernissen, die sich aus dem Beitritt nichtarabischer Völker und Nationen ergaben – da behalfen sich die islamischen Rechtsgelehrten (Fuqahâ) oder Religionsgelehrten (Ulama) damit, diese Geschichten durch die Prophetenbiographie (Sîrat an-Nabi) sowie durch die sogenannten Hadîthe zu ergänzen. Dazu beriefen sie sich auf eine Überlieferungskette – eine Äußerung stamme von Person X, die sie von Person Y übernommen habe, welche sich wiederum auf Person Z beziehe –, bis sie schließlich bei Muhammad angelangt waren, um die behauptete Handlung oder Aussage auf ihn zurückzuführen.

Es ist nicht nötig, hier weiter auszuholen, sämtliche koranischen Geschichten aufzuzählen und sie mit den Israiliyât zu vergleichen. Denn all dies und noch Weiteres, wie die Übernahme des persischen und des christlichen Erbes in den Koran, ist bereits hinreichend erforscht. Betonen müssen wir an dieser Stelle allerdings, dass der Koran einerseits in den nahöstlichen theologischen Kontext gehört und in ihm verwurzelt ist, andererseits aber auch in die arabische Gesellschaft, in der er formuliert wurde.

Selbstverständlich ist die Entlehnung und Aneignung von Geschichten kein rein islamisches Phänomen. Wenn wir uns einig sind, dass der Koran zahlreiche bekannte Geschichten aus dem Alten Testament übernimmt, wie die Schöpfung von Himmel und Erde in sechs Tagen und die Erschaffung Adams, die Prophetengeschichten, einige gesetzliche Regelungen und noch Weiteres, was ist dann mit der Quelle? Wissenschaftler haben festgestellt, dass die Geschichten und gesetzlichen Bestimmungen in den Büchern des Alten Testaments auf sumerischen, babylonischen und assyrischen Aufzeichnungen fußen und die Verfasser vieles übernahmen, was ihnen nützlich war, jedoch in großem Umfang alles strichen, was nicht ihre Billigung fand. Genauso verfuhren die Verfasser des Korans, wenn sie Geschichten entlehnten und so modifizierten, dass sie im Einklang mit der Wüstenumgebung standen, wie zum Beispiel die Darstellung des Paradieses, wo Bäche fließen und an Früchten vorhanden ist, was das Herz begehrt, eben alles, was der Mensch in der Wüste entbehrte.

Aber ist Literatur dies nicht immer: eine Reihe von Variationen, die um nur wenige Grundthemen kreisen? Eines dieser Themen ist die Rückkehr. Ein gutes Beispiel dafür bildet die Odyssee. Ein anderes Motiv sind die Liebenden, die einander finden, die Liebenden, die gemeinsam sterben, Romeo und Julia beispielsweise. Oder die Opferung des Helden für die Gemeinschaft, Prometheus, der für die Menschen das Feuer raubt, und desgleichen mehr. Ohne Homer hätte es keinen Vergil gegeben, ohne Vergil keinen Dante. Ilias, Aeneis, Göttliche Komödie – ihnen kann man den Tanach, das Neue Testament und den Koran gegenüberstellen. Jedes ist eine Fortsetzung von Vorausgegangenem, angewendet auf die Fragen seiner Zeit. Mündliche Erzählungen verbreiteten sich in verschiedenen Sprachen, wanderten von einem Ort zum anderen, um schließlich zu schriftlichen Texten zu werden.

Früher, in grauer Vorzeit, dem Tag am Fuße der Leiter, wussten die Menschen noch nicht, dass die Nachkommenden die Aufzeichnungen in politische Dogmen verwandeln würden, in Aufrufe zu Hass und Krieg, zum Liquidieren des anderen, ohne dass irgendetwas an den Geschichten dies erzwänge. Einzigartig sind sie allesamt, und einst erzählte sie jemand, der über die Bühne des Lebens irrte. Wer ihnen zuhörte, fand vielleicht einen gewissen Nutzen oder Genuss in ihnen und dachte nicht daran, dass sie ihm den Tod bringen könnten – Geschichten, die einander durchdrangen, bis sie Eigentum sämtlicher Sprachen und Kulturen wurden.

1

Für sämtliche Koranzitate in dieser Übersetzung siehe: Der Koran. Neu übertragen von Hartmut Bobzin, München 2015 (Anm. d. Übers.).

2

Für die Propheten im Islam wurde jeweils die arabische Namensform verwendet, wie sie sich im Koran findet. Zugunsten der besseren Lesbarkeit wurde dabei auf eine vereinfachte Umschrift zurückgegriffen und auf Sonderzeichen weitgehend verzichtet. Nur lange und gleichzeitig betonte Vokale wurden durch einen Zirkumflex gekennzeichnet. Die in den Zitaten aus Hartmut Bobzins Koranübertragung leicht abweichende Schreibung arabischer Namen resultiert aus der Verwendung eines anderen Umschriftprinzips. Wo Bobzin die Namen aus dem Koran in die im Deutschen geläufige Form übersetzt hat, wurde jeweils der arabische Name in eckigen Klammern hinzugefügt (Anm. d. Übers.).