utb 3355
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Otto Kruse
Lesen und Schreiben
Der richtige Umgang mit Texten im Studium
3., überarbeitete und erweiterte Auflage
UVK Verlagsgesellschaft mbH · Konstanz
mit UVK/Lucius · München
Zum Autor
Prof. Dr. Otto Kruse war lange Zeit als klinischer Psychologe tätig, dann als Professor für Psychologie der sozialen Arbeit und zuletzt als Dozent für Angewandte Linguistik. Er hat sich auf wissenschaftliches Schreiben spezialisiert und unterrichtet dieses Fach in mehreren Studiengängen. Er lebt in Zürich und Potsdam.
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
1. Auflage 2010
2. Auflage: © Verlag Huter & Roth KG, Wien 2015. www.huterundroth.at
3. Auflage: © Verlag Huter & Roth KG, Wien 2018. www.huterundroth.at
Lizenznehmer: UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz
Satz und Layout: Claudia Wild, Konstanz
Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart
Coverillustration: Graf+Zyx
eBook-Produktion: Pustet, Regensburg
UVK Verlagsgesellschaft mbH
Schützenstr. 24 · D-78462 Konstanz
Tel. 07531-9053-0 · Fax 07531-9053-98
www.uvk.de
UTB-Band Nr. 3355
ISBN 978-3-8385-4999-6 (ePUB)
ISBN 978-3-8252-4999-1 (Print)
Studieren, aber richtig
Herausgegeben von Theo Hug, Michael Huter und Otto Kruse
Die Bände behandeln jeweils ein Bündel von Fähigkeiten und Fertigkeiten. Das gesamte Paket versetzt Studierende in die Lage, die wesentlichen Aufgaben im Studium zu erfüllen. Die Themen orientieren sich an den wichtigsten Situationen und Formen des Wissenserwerbs. Dabei werden auch das scheinbar Selbstverständliche behandelt und die Zusammenhänge erklärt.
Weitere Bände:
Klaus Niedermair: Recherchieren und Dokumentieren (UTB 3356)
Theo Hug, Gerald Poscheschnik: Empirisch Forschen (UTB 3357)
Gerlinde Mautner: Wissenschaftliches Englisch (UTB 3444)
Jasmin Bastian, Lena Groß: Lerntechniken und Wissensmanagement (UTB 3779)
Melanie Moll, Winfried Thielmann: Wissenschaftliches Deutsch (UTB 4650)
Otto Kruse: Kritisches Denken und Argumentieren (UTB 4767)
Informationen, Materialien und Links: star.huterundroth.at
Studieren heißt auch, reflektiert mit Texten umgehen zu lernen. Alles Wissen muss, bevor es von einer Gemeinschaft verwendet werden kann, in Textform gebracht und veröffentlicht werden. Texte herzustellen, zu publizieren und zu lesen, gehört also zum Kreislauf des Wissens oder, was nur ein anderes Wort dafür ist, zur Wissenskommunikation. Und wenn man eines im Studium über Lesen und Schreiben lernen sollte, so sind dies die Regeln und Funktionsweisen dieser besonderen Art von Kommunikation.
Lesen und Schreiben sind keine Kompetenzen, die man einmal lernt und dann »anwendet«, obwohl die Schule anfangs diesen Eindruck erwecken mag. Lesen und Schreiben stehen nicht für sich allein, sondern erfüllen in den Wissenschaften definierte Funktionen im Umgang mit Fachwissen. Sie können dazu dienen, Wissen zu konstruieren, zu dokumentieren, zu reflektieren, zu diskutieren, zu transformieren, zu definieren usw. Es ist wichtig hinter dem Lesen und Schreiben diese Aufgaben wahrnehmen und unterscheiden zu lernen. Auch zu lernen, wer die Menschen hinter den Texten sind, kann ein wichtiges Erkenntnisziel sein.
Am Anfang des Studiums geht es darum, sich mit den wissenschaftlichen Formen von Lesen und Schreiben vertraut zu machen, wie sie beispielsweise in Seminaren oder bei der Prüfungsvorbereitung verlangt werden. Zwischen Schule und Studium gibt es einen relativ großen Bruch, denn sowohl das Lesen als auch das Schreiben verlangen neue Strategien und stellen neue Anforderungen. Das Attribut »wissenschaftlich« im Umgang mit Texten verlangt Genauigkeit, Selbständigkeit und Kenntnis von Textkonventionen. Der Band wird Sie dabei unterstützen, diese Anforderungen zu verstehen, damit Sie Lösungen für die neuen Herausforderungen finden können.
Zur Lese- und Schreibkompetenz gehört es auch zu verstehen, was im eigenen Kopf passiert, wenn er mit einem schwierigen Text konfrontiert wird. Ein wichtiges Anliegen des Bandes ist es, Ihnen zu helfen, das eigene Denken zu steuern und Ihnen Gelegenheit zu geben, Ihre eigenen Lese- und Schreibstrategien zu prüfen und zu optimieren. Wie bei allen Fertigkeiten, über die man zu wenig redet, bilden sich auch beim Lesen und Schreiben persönliche Routinen aus, die man gelegentlich reflektieren und an neue Bedingungen anpassen sollte. Das Studium ist dafür ein guter Zeitpunkt.
Lesen und Schreiben sind geistige Tätigkeiten, die eines gemeinsam haben: den Text. Texte sind Wissensspeicher und stellen die Schnittstelle zu den Wissensvorräten Ihres Faches dar. Durch Lesen können Sie sich das vorhandene Wissen Ihres Fachs selbst erschließen und durch Schreiben erhalten Sie eine Stimme, mit der Sie sich in die kollektive Wissenskonstruktion einschalten können, auch wenn Ihnen das am Studienanfang noch etwas weit hergeholt erscheinen mag. Lesen und Schreiben machen Sie tendenziell selbständig und schließen Sie an die Diskussionen an, die in Ihrem Fach geführt werden. Zu zeigen, wie man durch Lesen und Schreiben Anschluss an die Kommunikation in einer fachlichen Gemeinschaft finden und dadurch die eigene Wissensentwicklung steuern kann, ist das zentrale Anliegen dieses Bandes.
Noch ein Element bedarf der Erläuterung, da es Lesen und Schreiben verbindet, und das ist das Denken (im letzten Abschnitt noch als »geistige Tätigkeit« bezeichnet). In dieser dritten Auflage ist hierzu ein eigenes Kapitel eingefügt worden, das Ihnen zeigen soll, wieso und inwiefern Lesen und Schreiben Denkaktivitäten sind. Der Text dient dem Transport von Gedanken zu einem Publikum. Lesen, so können wir sagen, dient dazu, Gedanken, die in Texten enthalten sind, wieder zu aktivieren. Das Schreiben hingegen dazu dient, eigene Gedanken zu verfestigen und sie dann als Text zu übermitteln.
Was uns beim Lesen und Schreiben besonders beschäftigt: Im Kopf sind die Gedanken beweglich, dynamisch, multimodal, aber verhältnismäßig wenig organisiert und wenig expliziert. Zudem können wir nicht zu viele Gedanken auf einmal im Kopf bewegen. Haben wir Gedanken auf Papier oder einem anderen Medium deponiert, so sind die Gedanken unbeweglich und statisch. Dafür aber können wir sie besser organisieren, explizieren und mit beliebig vielen anderen Gedanken verbinden. Gedanken sind im Text auf Sprache reduziert (sofern wir keine Bilder zur Ergänzung einsetzen). Ein großer Teil der Denkaktivitäten im Studium besteht nun darin zu lernen, das in Texten enthaltene Wissen wieder in eigene Gedanken zu transformieren und eigene Gedanken im Gegenzug wieder in Texten einzufrieren. In Kapitel II erfahren Sie, was wir tun, wenn wir denken, und wie wir das Denken durch Lesen und Schreiben unterstützen.
Nutzen können Sie diesen Band auf zwei Arten. Die erste ist die systematische. Sie setzen sich mit einer Tasse Tee in einen Lehnstuhl, legen sich einen Bleistift zum Anstreichen parat und beginnen den Text von vorne bis hinten durchzuarbeiten. Dafür dürften Sie schätzungsweise acht Stunden Zeit benötigen, die Pausen nicht eingerechnet. Der Vorteil dieser Art des Lesens ist, dass Sie einen Überblick über alle Themen erhalten, die mit dem Lesen und Schreiben verbunden sind. Nach Bedarf zu lesen, ist die zweite Art, diesen Band zu verwenden. Sie ist insofern vorteilhaft, als Sie dadurch Informationen genau zu dem Zeitpunkt erhalten, an dem Sie sie zur Lösung eines Problems brauchen. Das erleichtert das Behalten. Für diese zweite Art des Lesens ist der Band mit einem fein aufgelösten Inhaltsverzeichnis versehen, das auf die Probleme ausgerichtet ist, die beim Lesen und Schreiben am häufigsten auftreten. Es wird Ihnen helfen, die rechte Information im rechten Augenblick zu finden.
Fragen, auf die Sie Antworten bekommen
Literaturtipps
Sowohl zum Lesen als auch zum Schreiben wissenschaftlicher Arbeiten gibt es Vertiefungsliteratur, die Sie als Ergänzung zu diesem Band verwenden können. Hier zwei Empfehlungen:
Brun, Georg / Hirsch Hadorn, Gertrude (2009): Textanalyse in den Wissenschaften. Eine methodische Einführung. Zürich: vdf (= UTB 3139)
Frank, Andrea / Haake, Stefanie / Lahm, Swantje (2007): Schlüsselkompetenzen: Schreiben in Studium und Beruf. Berlin: J. B. Metzler
Die Leute wissen nicht, was es einen Zeit und Mühe kostet, um Lesen zu lernen. Ich habe achtzig Jahre dazu gebraucht und kann noch nicht sagen, daß ich am Ziele wäre.
Johann Wolfgang von Goethe
1 Warum sich mit Lesen beschäftigen?
2 Literalität
3 Das Erlernen der Langsamkeit
4 Platz für das Lesen schaffen
5 Arten des Lesens
6 Die Texte hinter dem Text
7 Lesepensum im Studium
8 Leseleistung und Leseprobleme
9 Verbindung von Lesen und Denken
10 Aktives Lesen
11 Texte entschlüsseln
12 Zusammenfassen von Texten
13 Kritisches Lesen
14 Exzerpieren: Das Gelesene dokumentieren
15 Arten von Texten in Bibliothek und Internet
Texte unterschiedlicher Art zu lesen und zu verarbeiten, ist das täglich Brot des Studierens. Betrachtet man genauer, was Lesen bedeutet, so findet man heraus, dass erstaunlich komplexe Fähigkeiten dafür erforderlich sind. Dieses Kapitel bietet eine Übersicht darüber, was das Lesen verlangt und wie man es optimiert.
Lesen ist ein störanfälliger Prozess, der oft nur widerwillig vollzogen wird oder zu ungenügenden Resultaten führt. »Ungenügend« kann heißen, dass man nicht versteht, was man liest, es nicht behält, zu lange dafür braucht oder nicht damit zu Ende kommt, obwohl man eigentlich will. Nicht alles davon ist ein Problem, denn manchmal signalisiert ein vermeintliches Leseproblem, dass es besser ist, einen Text beiseite zu legen, um einen besseren zu suchen. Aber es ist sinnvoll, sich darauf einzustellen, dass das Lesen eine Herausforderung darstellt, der man nicht immer auf Anhieb gewachsen ist. Deutschsprachige Autoren lieben es, ihre Lesenden lange Zeit im Dunkeln tappen und selbst herausfinden zu lassen, worum es ihnen geht. Das erfordert spezielle Lesetechniken, die dabei helfen, den Sinn eines Textes zu entschlüsseln und das enthaltene Wissen zu rekonstruieren. Auch erfordert es Techniken, die einem verstehen helfen, welche Texte der Mühe wert sind und welche nicht. Nicht alles, was kompliziert klingt, hat auch Substanz.
Lesen führt Sie in neue gedankliche Welten ein, in neue Wissensgebiete, in unbekannte symbolische Interaktionsfelder und in schriftliche Konversationen, die seit langer Zeit geführt werden. Wenn Sie ein solches Feld symbolischen Handelns betreten, müssen Sie herausfinden, wie man sich dort verhält. Auch in symbolischen Welten gibt es Regeln des Umgangs und Regeln zur Orientierung, die aber schwerer sichtbar sind, als in der begehbaren Welt.
Lesen ist ein direkter Weg zur Begegnung mit der Kultur eines Faches, eines Landes oder Sprachraums. Lesen ist eine Tätigkeit, die zu vielen unterschiedlichen Aspekten einer Kultur in Beziehung steht, wie nachfolgende Abbildung zeigt.
Der engste Kreis des Lesens ist der Kreis der Gedanken und der kognitiven Aktivitäten, die Sie dabei ausführen. Hier geht es um die Steuerung der Aufmerksamkeit, die Verarbeitung des Gelesenen (Integration in Vorwissen, Interpretation etc.) und der Lesestrategien, die Sie verwenden. Dies ist sicherlich ein vertrauter Kreis für Sie, den Sie naturgemäß als Erstes zu beeinflussen versuchen, wann immer Sie Ihr Lesen optimieren wollen.
Der zweite, etwas weitere Kreis des Lesens ist der physische und mediale Kontext. Sie müssen eine Lesesituation (Ort, Haltung, Arbeitsplatz) schaffen und Entscheidungen treffen, wie Sie mit den Medien umgehen. Lesen bringt Sie in Kontakt mit Papier, Büchern, Bibliotheken, Bildschirmen und virtuellen Umgebungen. Sie müssen lernen, welche Unterschiede zwischen Medien und Situationen bestehen und wie man sein Lesen entsprechend anpassen kann.
Der dritte Kreis umfasst die funktionalen Kontexte, also die Einbettung des Lesens in Lernkontexte, Lehrveranstaltung, Studiengänge oder aber in die Kontexte von Literatur, Freizeit, Unterhaltung, Alltag, Religion. Jeder Kontext stellt andere Aufgaben und verlangt andere Arten des Lesens. Müssen Sie für ein bestimmtes Fach etwas lesen, dient das vielleicht der Prüfung, dem Verfassen einer Hausarbeit oder der Vorbereitung einer Seminardiskussion. Hochschulen sind allerdings nicht immer genau darin, Ihnen zu sagen, welche Leseleistung jeweils verlangt wird und überlassen es Ihnen, die richtige Lesestrategie und die passende Antwort auf die überall herrschende Papier- und Informationsflut zu finden.
Der vierte Kreis umfasst den disziplinären Kontext. Die Besonderheiten der Fächer bestimmen sehr stark, wie Texte aussehen, in welchen Traditionen sie stehen, welcher Art das in ihnen enthaltene Wissen ist, welchen intellektuellen Habitus die Autoren annehmen und wie die jeweilige Geschichte des präsentierten Wissens aussieht. Lesen dient letztlich der Selbstsozialisation in ein bestimmtes Fach und zeigt Ihnen, wie man dort denkt und spricht. Ähnliches gilt natürlich auch außerhalb der Wissenschaft in Domänen wie der Literatur, der Technik, der Religion oder des Journalismus. Jede Domäne besitzt andere Textgenres und Textgewohnheiten. Sie haben gelernt, schnell zu unterscheiden, welchem Genre ein Text, den Sie gerade lesen, angehört, ob es also ein Kochrezept, eine Kaufhauswerbung, eine Kirchenzeitung oder ein wissenschaftlicher Text ist. Im Studium geht es darüber hinaus darum, die Tiefenstrukturen der wissenschaftlichen Textgenres kennen zu lernen und letztlich auch darum, deren Herstellung zu verstehen.
Der fünfte und letzte Kreis schließlich umfasst die Besonderheiten des Kulturraumes und seiner dominierenden Sprache. Deutschsprachige Texte unterscheiden sich merklich von englischen, französischen oder italienischen. Der Umgang mit Sprache, die Autorenrollen und Genreinterpretationen sind anders. Auch die Leseerfahrungen in den Schulen, die familiären Lesetraditionen und die Lesesozialisation sind kultur- und sprachspezifisch. Welche Ihre eigenen kulturellen Prägungen sind, und wie diese Prägungen Ihre Einstellungen zu Sprache, Lesen und Schreiben bestimmen, merken Sie oft erst bei einem Auslandsaufenthalt (manchmal auch schon, wenn Sie Bücher in anderen Sprachen lesen). Sofern Sie mehrsprachig aufgewachsen sind und entsprechend von Kind auf den Spagat zwischen Sprachen und Kulturen managen mussten, kennen Sie kulturelle Unterschiede schon länger.
Typische Leseschwierigkeiten im Studium
von Teilnehmenden eines Workshops genannt
Bewusstes und reflektiertes Lesen wird sich der unterschiedlichen Bezugsfelder, in denen es steht, nach und nach bewusst. Lesen steht nicht für sich allein, sondern ist Teil dessen, was man »Literalität« nennt (Definition siehe Kasten), der Bezüge also, die Menschen, nachdem sie einmal Lesen und Schreiben gelernt haben, zur Schrift aufbauen. Literalität hat viele Schichten, deren innerste der Umgang mit Buchstaben, Wortverbindungen und Sätzen ist, den wir in der Grundschule lernen, und um den herum sich immer komplexere kognitive Leistungen, Verwendungsweisen und soziale Bezüge aufbauen.
Lesen und Schreiben begleitet Sie also lebenslang und öffnet Ihnen immer wieder Bezüge zu neuen Lebensbereichen, stellt Sie aber auch immer wieder vor neue Herausforderungen. Die Anforderungen an Lesen und Schreiben ändern sich nicht nur deshalb schnell, weil Sie sich entwickeln, sondern auch, weil die Schriftlichkeit selbst sich ständig wandelt, so dass wir im Laufe einer Lebensspanne mehrfach umlernen müssen.
Ein guter Auftakt zu einer Auseinandersetzung mit Ihrer eigenen Literalität könnte darin bestehen, dass Sie Ihre eigene Literalitätsbiographie aufschreiben (siehe Anregung, S. 16). Sie können damit ermessen, an welchem Punkt Sie gerade stehen und mit welchen Voraussetzungen Sie in die Auseinandersetzung mit dem wissenschaftlichen Lesen und Schreiben einsteigen.
Definition
»Literalität« bezeichnet die Bezüge, die Menschen zur Schrift und Schriftsprache (im Gegensatz zur Mündlichkeit) aufbauen. Sie umfasst also Fähigkeiten, Gewohnheiten und Kommunikationsformen, die auf dem Schriftgebrauch beruhen, sowie Einstellungen und Meinungen dazu. Da Schrift immer an ein Medium gebunden ist (wie Wachstafel und Griffel, Papier und Stift, Computer und Schreibprogramm, Handy und SMS etc.), ist der Mediengebrauch zwangsläufig Teil von Literalitätskonzepten. Wissenschaft ist von fixierten Texten in einem Speichermedium abhängig, da erst dadurch die Aufzeichnung, Sammlung und Systematisierung größerer Wissensmengen möglich wird. In diesem Band geht es nicht einfach um Lesen und Schreiben, sondern um »akademische Literalität«, also um den Schriftgebrauch in den Wissenschaften in Abhängigkeit von den intellektuellen Traditionen, Forschungsmethoden, Medien und Kommunikationsformen.
Anregung
Schreiben Sie Ihre Literalitätsbiographie
Versuchen Sie, Ihrer eigenen Literalitätsentwicklung (= Lese- und Schreibsozialisation) auf die Spur zu kommen, indem Sie sich dran machen, sie aufzuschreiben. Sie können damit herausfinden, wie sich Ihr Verhältnis zur Schrift entwickelt hat. Beginnen Sie, in einem Brainstorming von 10 Minuten Stichworte zu sammeln, und schreiben Sie dann einen Fließtext zu zwei bis drei Punkten davon, die Ihnen gerade interessant erscheinen:
Da beim autobiographischen Schreiben das Gedächtnis immer nur einige wenige Erinnerungen preisgibt, sollten Sie sich mehrfach an diese Aufgabe setzen. Sie werden feststellen, dass Ihnen immer wieder neue Aspekte Ihrer literalen Entwicklung in den Sinn kommen.
Da Geschwindigkeit heute als zentrale Tugend angesehen wird und unsere Fähigkeiten danach bemessen werden, wie schnell wir bestimmte Aktivitäten hinter uns bringen, ist es wichtig, darauf aufmerksam zu machen, dass die Schwierigkeit beim Lesen in der Bewältigung der Langsamkeit liegt. »Bewältigung« ist hier in dem Sinne gemeint, dass es notwendig ist, Langsamkeit zuzulassen. Es ist nicht in dem Sinne zu verstehen, dass wir das Lesen schnell hinter uns bringen sollten. »Effizient lesen« heißt, den Verstand auf die Geschwindigkeit abzubremsen, die erforderlich ist, komplexe Gedankengänge in einem Text nachzuvollziehen und zu durchdenken. Der Versuch, schnell zu lesen, führt meist zu ineffizientem Lesen, weil wir dann nur ungenügend Kapital aus dem gelesenen Text schlagen können. Daran ändern auch die oft propagierten »Schnelllesemethoden« nichts, die zwar geeignet sind, Information in vertrauten Themenfeldern zu suchen, die aber versagen, wenn es um die Aneignung neuen Wissens geht.
Eine besondere Herausforderung für langsames Lesen ist das Internet. Der Austausch von Texten hat sich durch die elektronischen Medien so beschleunigt, dass wir mit einer nie gekannten Inflation an verfügbaren Texten konfrontiert sind. Dieser Vielfalt von Texten steht deren Ungerichtetheit und schwer zu beurteilenden Qualität gegenüber. Wer aus Büchern schlau werden will, muss Zeit investieren, um in die Tiefe zu gehen. Die Autoren, Lektoren und Verleger haben sich um die Verdichtung von Wissen bemüht, was eine gewisse Anstrengungsbereitschaft auf der Seite des Lesers verlangt. Wer hingegen aus dem Web schlau werden will, muss seine Zeit ins Suchen investieren und sich das Wissen selbst aus verschiedensten Quellen zusammenstellen. Die Tugenden des Internet liegen nicht in Verdichtung und Ordnung, wie die der Printmedien, sondern in Grenzenlosigkeit, Vielfalt und freier Kombinierbarkeit.
Mit dem beschleunigten Austausch von Texten im Web entstehen neue Literalitätsformen. Die Schrift erobert weitere Bereiche, die früher dem Mündlichen vorbehalten waren. Wo das Telefon benutzt wurde, schreibt man jetzt E-Mails. Wo vordem Hören gefragt war, wird jetzt Lesen verlangt. Zur Schreib- und Lesekompetenz muss jetzt Medienkompetenz treten, damit effektiver Umgang mit Information möglich ist. Such- und Selektionsverhalten sind in den digitalen Medien wichtiger als das Lesen selbst. Statt, wie die Leser eines Buches, ein festes Menü zu erhalten, stehen die Teilnehmer im Web an einem endlosen Büffet, aus dem sie ihren Speiseplan selbst zusammenstellen müssen.
Das Internet kommt den Lesern bei dieser Auswahl insofern entgegen, als es Häppchen anbietet, kurze, eingängige Texte, bei denen man nicht ein einziges Mal ins Nachdenken kommt. Nachdenken, das wissen die Internet-Texter, bedeutet, dass der Text weggeklickt wird. »Don’t make me think«, heißt denn auch eines der bekanntesten Bücher zum Web Design (Krug 2005), das davon ausgeht, dass wir im Internet nicht lesen, sondern es nach Schlüsselwörtern »scannen« und hauptsächlich nach dem nächsten klickbaren Element suchen. So ist auch das Lesen im Internet merklich anders als das Lesen von gedruckten Texten. Es ist flüchtiger, fragmentarischer, kursorischer, mehr ein «Durchwursteln« als ein Lesen, wie Krug weiter sagt. Soll ein Text gründlicher gelesen werden, drucken wir ihn aus und hoffen, ihn in einer ruhigen Stunde genauer durchgehen zu können.
Die Welt der Printmedien, die fünfhundert Jahre Literalitätsentwicklung geprägt hat, ist vergleichsweise pointiert, geordnet, von Zufälligem befreit, wohl strukturiert und gut expliziert. Sie unterstellt der Welt Ordnungen, die einem Inhaltsverzeichnis ähneln und suggeriert Wirklichkeiten, die einem durchdachten Text gleichen. Das Web hingegen ist weniger strukturiert und scheint zufällig organisiert, persönlicher, vitaler, chaotischer. Die in Printmedien wohl unterscheidbaren Momente von Unterhaltung, Wissen, Kommunikation und Werbung sind aufgeweicht und schwerer durchschaubar. Absichten, Einflussnahme, Kontrolle und Lesersteuerung werden subtiler und schwerer wahrnehmbar ausgeübt. Die ordnende Hand eines Herausgebers fehlt ebenso wie die Sicherheit einer durchgehenden Paginierung. Linear geschriebene Texte legen Weltordnungen nahe, in denen es Anfang und Ende gibt. Das Web kennt vernetzte Textstrukturen, in denen man über Links quer durch die ganze Galaxie springen kann. Dabei ist das Web selbst – trotz seiner umfassenden Präsenz – unhistorisch, indem es alles Unaktuelle still und heimlich überschreibt oder löscht. Als kulturelles Gedächtnis jedenfalls, wie es die Bibliotheken immer waren, eignet sich das Web nicht.
Es ist von Bedeutung, dass Sie die Unterschiede im Leseverhalten wahrnehmen, die von den verschiedenen Medien ausgehen, und zwar nicht nur, weil Sie dann beide differenziert behandeln können, sondern auch, weil beide Medien etwas anderes mit Ihnen machen. »The medium is the massage« (anstatt »message«), sagte Marshal McLuhan (1967) und versuchte damit auszudrücken, dass nicht nur der Inhalt, sondern noch mehr das Medium bestimmt, wie Menschen denken und die Welt wahrnehmen. Der Umgang mit dem Internet macht also etwas anderes mit Ihnen als der Umgang mit dem Papier. Es verlangt andere Vorgehensweisen, es räumt Ihnen mehr Spielraum bei der Auswahl ein, es bietet Ihnen Interaktivität statt fester Ordnungen an. Es verhindert auf vielfache Weise aber auch, dass Sie das Gelesene nachvollziehen. Es nimmt Ihnen die Ruhe, die es braucht, sich auf Texte einzustellen, in denen verdichtete Botschaften über die Welt enthalten sind, die Nachdenken erfordern.
In der Hand halten Sie ein Buch aus der Gutenberg-Galaxie, das Sie auf das Lesen auf dem Papier vorbereiten will. Es soll Ihnen helfen, die innere Freiheit (wieder) zu finden, sich auf einen längeren, strukturierten und sein Thema langsam entfaltenden Text einzulassen. Dies ist nach wie vor der wichtigste Weg, auf dem Wissen kommuniziert wird und auf dem sich Ihr Denken mit den Gewohnheiten der Wissenskommunikation synchronisieren lässt. Ihre Aufgabe besteht darin, immer wieder den Wechsel von der Hochgeschwindigkeitswelt des Web auf die langsame Postkutschenwelt des gedruckten Textes zu schaffen. Sie müssen den Punkt finden, an dem Sie Ihr Notebook zuklappen und das Buch aufschlagen, um sich Satz für Satz durch eine wohl organisierte, verdichtete, gedankliche Welt hindurchzuarbeiten.
Lesen ist ein essentieller Teil des Lebens und nicht eine isolierte Aktivität, die irgendwo nebenbei stattfindet. Immer mehr von dem, was in Privatleben und Beruf geschieht, geschieht auf dem Papier. Handeln wird immer mehr zum symbolischen Handeln. Beziehungen zwischen Menschen werden zunehmend durch schriftliche Texte vermittelt. Aus Texten schlau zu werden und auf Texte mit Texten zu reagieren, wird einen Hauptteil Ihres Berufes ausmachen. Ihr Kopf wird also eine Art Durchlauferhitzer für Geschriebenes sein, und es wird darauf ankommen, ihn auf diese Aufgabe vorzubereiten.
Schaffen Sie also dem Lesen den Platz, den es verlangt und versuchen Sie, das Lesen bewusst zu gestalten, statt sich von ihrem Lesepensum bedrängen zu lassen. Die acht goldenen Regeln (siehe Kasten) sollen Ihnen dazu dienen, Ihre Einstellung zum Lesen zu reflektieren. Natürlich können Sie den Regeln auch folgen.
Lesen lässt sich optimieren. Um auf dem Hochschulniveau flexibel lesen zu können, müssen Sie metakognitive Kompetenzen entwickeln. Das heißt, Sie müssen Ihre eigenen Denkoperationen und Denkgewohnheiten beim Lesen verstehen und steuern lernen. Sie müssen Lesestrategien finden, die zu Ihren eigenen intellektuellen Gewohnheiten, den Eigenarten der Texte und den jeweiligen Aufgaben passen. Zudem müssen Sie lernen, während des Lesens zu prüfen, ob Ihr Leseverhalten noch angemessen ist, ob die Verständnis-, Behaltens- oder Wiedergabeleistung und das Lesetempo dem Lesezweck noch entsprechen oder ob Sie Ihr Leseverhalten modifizieren müssen.
Jenseits aller kognitiver Gewandtheit aber sollten Sie bedenken, dass Lesen im Studium immer auch davon abhängig ist, wie sehr Sie mit dem Fachgebiet und den Menschen vertraut sind, die hinter den Texten stehen. Anfangs, wenn Ihnen solches Hintergrundwissen noch fehlt, ist es oft nötig, sich durch Sekundärliteratur, Recherche oder Gespräche mit dem Hintergrund vertraut zu machen. Auch Wikipedia bietet Ihnen oft wichtige erste Anhaltspunkte zur Einordnung. Wichtige Informationen über die Hintergründe erhalten Sie in Seminaren und Vorlesungen, weshalb es sinnvoll ist, das Lesen mit diesen Veranstaltungen zu koppeln.
Bevor wir uns Lesetechniken ansehen, ist es wichtig, zu verstehen, dass wir nicht nur lesen, um mit einem Fach vertraut zu werden, sondern dass wir uns mit dem Fach vertraut machen, um besser und schneller lesen zu können. Das Ziel des Studierens (und der fachlichen Sozialisation) ist nicht das Fachwissen selbst, sondern die Fähigkeit, sein Fachwissen lebenslang auf dem neusten Stand zu halten. Dem dient das Lesen.
Wichtig
Die goldenen Regeln des Lesens
Eine wichtige Voraussetzung, um zu einem flexibleren Leseverhalten zu gelangen, ist die Prüfung des Lesezweckes. Die Wahl einer Lesestrategie hat vor allem die Bedeutung, dass Sie aktiv an das Lesen herangehen. Sie sollten selbst entscheiden, was Sie mit dem Text machen und nicht den Text entscheiden lassen, was er mit Ihnen macht. Die Zwecke des Lesens:
Diese Lesezwecke verlangen jeweils andere Vorgehensweisen und unterschiedliche Lesestrategien.
Texte stehen nicht für sich allein. Hinter jedem Text stehen Dutzende von weiteren Texten, die die Voraussetzung dafür bilden, dass der Text überhaupt geschrieben werden konnte. Und hinter den Dutzenden stehen wieder Dutzende, die noch weiter in die Vergangenheit zurückreichen. Einige der Texte im Hintergrund werden im Text zitiert und damit offen gelegt. Sehr viel mehr bleiben jedoch unbenannt, da sie die Vorläufer der Vorläufertexte sind oder nur einen unspezifischen Beitrag geleistet haben. Jeder Text ist also als Spitze eines Eisbergs zu verstehen, der von vielen vorhergehenden Texten gebildet wird, wobei, wie bei jedem Eisberg, ein großer Teil des Eises unter Wasser bleibt, so dass man ihn nicht sieht.
Betrachtet man Texte im Kontext der vorhergehenden und benachbarten Texte, so analysiert man Diskurse. Diskurse lassen sich als Textsysteme oder Textnetzwerke verstehen. Diskurse stehen in Kontexten, also fachlichen, ideologischen, politischen, beruflichen oder wissenschaftshistorischen Zusammenhängen. Nur im Lichte dieser Kontexte sind Diskurse verständlich und nur im Lichte der Diskurse sind Texte verständlich.
Aber hinter dem Text steht doch eine Autorin oder ein Autor? Ist es nicht wichtiger, Schlüsse auf diese Figur zu ziehen und deren Meinung zu verstehen versuchen? Gewiss doch, die Autoren sind diejenigen, die im Text Regie geführt haben. Die Musik haben jedoch meist andere gemacht, auf die die Autoren in ihren Texten zurückgreifen. Die Ideen, aus denen Texte gemacht sind, existieren in der Regel bereits, bevor der Autor sie aufgegriffen hat. Das ist in Lehrbüchern am augenfälligsten. Dort wird tatsächlich vorwiegend das berichtet, was andere erforscht und entwickelt haben. Lehrbuchautoren versuchen zwar, eine eigene Darstellungsform zu finden, damit ihre Texte eingängig und gut verständlich sind, bringen aber vor allem die Ideen ihrer fachlichen Gemeinschaft zum Ausdruck.
Alle wissenschaftlichen Texte tragen auch selbst etwas zum Wissen ihres Fachs bei. Es kann sein, dass ihre Autoren von eigenen Forschungsarbeiten berichten oder, unter Rückgriff auf vorhandene Forschungsergebnisse, eine neue Sicht auf bestimmte Themen präsentieren. Nichts davon geht ohne Rückgriff auf früher Geschriebenes. In den Wissenschaften ist deshalb der Bezug auf frühere Texte genau reglementiert. Es besteht die Pflicht, alle Gedanken, die anderen Texten entnommen sind, zu zitieren. Tut man dies nicht, kann man des Plagiats bezichtigt werden, also des Diebstahls fremder Ideen oder wissenschaftlicher Leistungen.
Wenn man die Texte hinter dem Text in den Blick nimmt, sieht man, dass Wissen nicht statisch, sondern im Fluss ist und ständig weiterentwickelt wird. Jeder Text bezieht sich auf frühere Texte und stößt neue Texte an. Die Wissenschaft ist aber nicht additiv, denn es gibt auch Beiträge, die zu einer Art Revolution der Betrachtungsweise führen, die aus den gewohnten Denkbahnen ausbrechen und ein neues Paradigma einführen. Kuhn (1973) hat die Vorstellung aufgebracht, dass die Wissensentwicklung nicht kontinuierlich, sondern eher revolutionär verläuft. Diese Sprünge nennt er »Paradigmenwechsel«. Sie können aus großen Neuentdeckungen entstehen oder aus Neuinterpretationen bekannter Fakten. Texte zu lesen, die solche Wechsel einleiten und einem neuen Paradigma Platz machen, ist immer etwas Besonderes, da man damit an einem Neuanfang teilhaben kann. Ein neues Paradigma ist oft auch Ausgangspunkt für neue Konversationen in wissenschaftlichen Gemeinschaften. Rückbezüge in Texten gehen meist nur bis zu dem letzten Paradigmenwechsel zurück.
Für das Verständnis von Texten ist das Zurückverfolgen des Dargestellten auf die Vorläufertexte oft eine wichtige Basis, vor allem in den textintensiven Studiengängen. Man spricht auch von Rezeptionstiefe, also davon, welcher Zeitraum im Erscheinen von Publikationen dabei noch berücksichtigt wird. Einen Teil der Hintergrundinformation liefert Ihnen dabei der gelesene Text selbst, der, sofern wissenschaftlich, immer verpflichtet ist anzugeben, worauf er aufbaut. Die Rezeptionstiefe kann man also anhand des Literaturverzeichnisses abschätzen, aus dem ersichtlich ist, wie weit die Autoren ihr eigenes Thema zeitlich zurückverfolgt haben. Da die Autoren nicht alle Literatur, sondern immer nur eine Auswahl angeben, ist es auch Aufgabe der Leser, den Hintergrund des Textes weiter zu ergründen.
Viele Lese- und Verständnisprobleme sind damit verbunden, dass man mit den historischen und thematischen Kontexten nicht vertraut ist. Lesen heißt deshalb auch immer, sich diese Kontexte zu erschließen, denn erst damit lassen sich die gelesenen Inhalte in einen Rahmen stellen. Das Lesen wird sicherer, schneller und gezielter. Je größer die kulturelle oder historische Distanz zwischen Lesenden und Kontext ist, desto schwerer ist es auch, Texte zu entschlüsseln und desto mehr Energie muss in das Studium von Kontext und Diskursen investiert werden.
Wie viel kann ich lesen, wie viel muss ich lesen? »Das ist doch durch den Studienplan vorgegeben«, sagen Sie vermutlich. Da ist etwas Wahres dran, denn viele Kurse verlangen ein hohes Lese- und Arbeitspensum, und die Prüfungsvorbereitungen tun ein Übriges.
Aber wollen Sie sich damit zufrieden geben, sich die wichtigste Quelle Ihrer intellektuellen Entwicklung so reglementieren zu lassen? Lesen von Vorgegebenem vermittelt zwar Wissen, bildet aber nicht. Was der Unterschied ist? Zur Bildung gehören die bewusste Auswahl von Lektüre und die Übernahme von Verantwortung für das, was man dem eigenen Kopf antun will. Die deutschsprachigen Universitäten, wie sie von Humboldt konzipiert wurden, ließen den Studierenden große Freiheit darin, was sie lernen wollten. Sie sollten selbst auswählen, ihren eigenen Interessen nachgehen und eigene Schwerpunkte setzen können.
Das Bologna-Studium hat die Universitäten weit in die entgegengesetzte Richtung getrieben. Das Lernen wird auf die Stunde genau verplant und das Lesepensum wird genauer reglementiert als der Fahrplan der Bundesbahnen (und genau so wenig eingehalten, aber das nur am Rande). Die Wahlmöglichkeiten wurden stark reduziert. Da gilt es gegenzusteuern.
Versuchen Sie zunächst einmal zu planen, wie viel Sie während des nächsten Semesters und während der Semesterferien lesen wollen oder müssen. Das ist keine leichte Aufgabe, da nie ganz klar ist, wie groß das Lesepensum für die einzelnen Kurse sein wird, aber gerade deshalb ist es wichtig, sich einmal einen Überblick zu verschaffen.
Wenn Sie Ihre Eintragungen im Kasten betrachten, versuchen Sie einmal zu eruieren, mit welchen realen und symbolischen Welten Sie durch das Lesen verbunden sind. Texte sind Brücken oder Fenster zu symbolischen Welten, zu Teilgebieten Ihres Fachs, zu Nachbardisziplinen, Anwendungsfeldern, religiösen, literarischen oder sozialen Welten.
Betrachten Sie die Zusammenstellung bitte noch einmal und beantworten Sie für sich die folgenden Fragen: