Roman
ISBN 978-3-906903-06-4
eISBN 978-3-906903-93-4
© 2018 by Elster Verlagsbuchhandlung AG, Zürich
Weitere Angaben am Ende des Buches
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Dank
«Halt, Militär!», schrie Salinger und hob den Gewehrlauf, um sich Mut zu machen. Diese Gestalt nachts um drei auf dem offenen Feld hatte ihn ganz schön erschreckt. «Solche Scherze können ins Auge gehen, wir haben Schiessbefehl!», sagte Salinger, betont leutselig, als der Fremde näher zu kommen schien, auffällig gebückt, die Schultern hochgezogen, den Mantelkragen hochgeschlagen, der Hals unsichtbar, in beiden Händen hielt die Gestalt eine Tragtasche: ein Obdachloser vielleicht, der seinen Hausrat mit dabei hatte, darin versteckt womöglich die offene Weinflasche.
Konnte es sein, dass ihm die Nerven einen Streich gespielt hatten und dass ihm gar keiner entgegenkam? Sie hätten nicht kiffen sollen am Nachmittag, aber irgendwie hatten sie die Langeweile am zweitletzten Tag dieses Armeedienstes vertreiben müssen. Die Gestalt antwortete nicht, sie war inzwischen schemenhaft geworden und kein Schlurfen war mehr zu hören. Womöglich hatte sich Salinger diese Erscheinung eingebildet? Er war unendlich müde und dann kann einem die Fantasie schon einen Streich spielen. Inzwischen war er bald 24 Stunden auf den Beinen, die letzten drei davon draussen auf dem Feld, und vermutlich auch überreizt. Lange war hier kein Geräusch zu hören gewesen, ausser zeitweilig ein nerviges Rascheln im Gebüsch, dann plötzlich das Schlurfen dieser Gestalt. In der Luft lag Regen und bei jedem Windstoss war auch der Duft einer nahegelegenen Düngemitteldeponie zu riechen. Das Funkgerät war seit einer Stunde stumm geblieben, seit der letzten Verbindung zum Kommandoposten, nach der er die Uhr hätte stellen können:
«Nummer 2 von KP antworten!»
«Verstanden, antworten!»
«Alles ruhig?»
«Ja», antwortete Salinger und wollte anfügen: «Was soll hier draussen schon los sein?», aber er verkniff sich diese Bemerkung.
Zwar führte in der Nähe eine Erdgasleitung durch, die in einem internen Bericht als mögliches Ziel von Terroranschlägen genannt worden war. Ausserdem hatte die Grenzpolizei vor einem Monat in der Umgebung eine Flüchtlingsgruppe aufgegriffen, die von einem Schlepper an der Grenze abgesetzt worden war und illegal über die Brücke gelangte. Die Tatsache, dass diese Gruppe nur wenige hundert Meter unentdeckt blieb, schien den Grenzübertritt für neue Flüchtlingsgruppen wenig attraktiv gemacht zu haben. Seit vier Wochen hatte sich nichts mehr getan.
Persönliche Bemerkungen über Funk waren den Soldaten unter Strafandrohung verboten, seit sie sich vergangene Woche die Wartezeit mit Geplauder und Sprüchen verkürzt hatten. Ein wachhabender Offizier hatte dies bemerkt und angeordnet, dass die Übermittlung von Funksprüchen so kurz wie möglich zu halten sei. Vielleicht sass dieser Offizier ja wieder im Kommandoraum und hätte ihm jede weitere Bemerkung als Kritik an der Organisation des Wachdienstes ausgelegt. Danach wäre Salinger auf diesem ungeliebtesten aller Aussenposten womöglich nicht wie vorgesehen um fünf Uhr, sondern erst um halb sechs oder sechs abgelöst worden.
Im Grunde hätte dieser Aussenposten ohnehin doppelt besetzt sein müssen, wie es das Reglement vorschrieb und es in den Nächten davor auch der Fall war. Nachdem es aber die ganze Woche über ruhig geblieben war, hatte sich der Wachekommandant zu dieser Lockerung entschieden, um möglichst vielen Soldaten an diesem Abend den Ausgang zu ermöglichen. Dass es ausgerechnet ihn und den Kollegen Lutz für diese einsame Wache in der letzten Nacht getroffen hatte, deutete Salinger nicht als Zufall. Das musste die Quittung dafür sein, dass sie die drei Wochen zuvor ihr Desinteresse an jeglichen Armeebelangen offen gezeigt hatten.
«Ende», quittierte der Kommandoposten, und «Ende» bestätigte auch Salinger, worauf Lutz im Wachposten Nummer 3 beim Forsthaus angerufen wurde.
«Nummer 3 von KP antworten.»
«Verstanden, antworten.»
«Alles ruhig?» «Ja, Ende.» «Ende.»
Hätte Salinger das Auftauchen dieses Fremden melden sollen? Ein Flüchtling war er wohl nicht, ein gegnerischer Soldat auch nicht. Der Gedanke an feindliche Truppen vermochte Salinger vorübergehend zu belustigen, wie der Fremde in diesen Klamotten da auf ihn zuschlurfte. Ein Feind! Ein Spion! Ein Vortrupp bestehend aus 1 (in Worten: einem) Mann in abgewetztem Regenmantel! Ein wandelnder Altkleidersack! Wenn Uniform, dann gute Tarnung! Nein, eine solche Meldung hätte ihm Schwierigkeiten bereiten können. Wäre sie ernst genommen worden, wäre das Alarmdispositiv ausgelöst und ein Pikett losgeschickt worden. Würde sie als Spass gewertet, so würde sie ihm als unzulässige Plauderei ausgelegt.
Was also melden? Ein Landstreicher? Die Bezeichnung war nicht eben freundlich und ausserdem aus der Mode gekommen. Ein Verwahrloster? Das war politisch unkorrekt und ebenfalls wenig freundlich. Der Fremde schien ihm inzwischen doch real auf ihn zuzukommen. Sein Schlurfen war nun deutlicher zu hören, und er war inzwischen so nahe, dass er Salingers Meldung mitbekommen würde. Ein Obdachloser? Das wusste Salinger nicht, ging die Armee auch nichts an. Ein Zivilist? Das schien ihm zu vage, ausserdem war Friedenszeit. Was gingen die Armee Zivilisten überhaupt an? Dass sie hier eine Wache aufgezogen hatten, betraf ausschliesslich Flüchtlinge und supponierte feindliche Truppen.
War es denkbar, dass der wachhabende Unteroffizier das Auftauchen dieses Fremden inszeniert hatte, um zu später Stunde seine Aufmerksamkeit auf diesem einsamen Posten zu testen? Das musste es sein! Es schien ihm schon die ganze Woche, dass er unter besonderer Beobachtung stand. Möglich, dass der Nachrichtendienst seine Fiche ausgegraben hatte und sie ihm nicht trauten auf diesem wichtigen Aussenposten. Wenn er jetzt getestet wurde, war Salinger zur Meldung verpflichtet. Wenn er sie unterliess, dann hatten sie ihn! Dann konnten sie ihm endlich ein Disziplinarverfahren anhängen, wie sie es schon lange planten! Aber nein. Er verwarf den Gedanken, eine solche Perfidie traute er dem Nachrichtendienst nicht zu. Ausserdem würde heute sicher irgendein Reglement den Kontrollorganen solche verdeckten Auftritte und fingierten Überfälle aus Sicherheitsgründen verbieten.
Aber ein ungewöhnlicher Ort war das schon hier draussen, um sich die Nacht um die Ohren zu schlagen. Salinger beschloss abzuwarten, was der Fremde vorhatte. Womöglich war er bloss an den Sternen interessiert, die hier draussen auf dem Feld fernab von der Beleuchtung der umliegenden Dörfer und Strassen besonders hell, aber auch kalt wirkten? Der Grosse Bär tief am Horizont? Dagegen sprach, dass der Mann zwei Säcke mitschleppte, den Blick gesenkt hielt und mehr am Boden denn am Himmel interessiert schien. Selbst das Wetterleuchten am Horizont vermochte seine Aufmerksamkeit nicht zu wecken. In der Nähe würde wohl bald ein lokales Gewitter niedergehen.
Wenn dies der gewohnte nächtliche Rundgang des Mannes gegen Schlaflosigkeit war, dann wäre er hier wohl schon in früheren Nächten aufgetaucht. Die Dienstkameraden hätten Salinger darauf aufmerksam gemacht: Kann sein, dass einer vorbeischleicht mit hochgeschlagenem Mantelkragen, aber kümmere dich nicht um ihn, der ist absolut harmlos. Vielleicht hätte der Kamerad den Fremden am Vorabend schon in ein Gespräch verwickelt und Salinger seinen Besuch angekündigt: Wenn der von gestern wieder kommt, erschreck nicht, sein Aufzug ist zwar seltsam, aber der ist tipptopp, hat einen hausgebrannten Schnaps dabei, mir verging die Zeit wie im Flug. Der war früher bei der Fremdenlegion, was der alles erlebt hat, das glaubst du nicht – ich hätte noch zwei Stunden länger Wache stehen können!
Aber nichts dergleichen war Salinger von den Kameraden übermittelt worden.
Inzwischen war der Fremde so nahegekommen, dass Salinger im fahlen Licht seine Gesichtszüge erkennen konnte. Er erschrak erneut, liess aber den Gewehrlauf jetzt endgültig sinken. Diese Gesichtszüge kannte Salinger: den ernsten, unsicheren Blick aus leicht eingefallenen Augen, die Augenringe, die hohlen Wangen, drei, vier Tage alte Bartstoppeln, die hohe Stirn – das erinnerte ihn an sein eigenes Gesicht! Hätte der Fremde im Mantel nicht deutlich älter und verlebter ausgesehen als Salinger im Kampfanzug, die beiden hätten sich stark geähnelt.
«Sie haben mich ganz schön erschreckt!», sagte Salinger, um die Begegnung nicht unheimlich werden zu lassen. Er wollte nochmals auf den Schiessbefehl hinweisen, auf sein Gewehr deuten, das mit scharfer Munition geladen war und anfügen, dass solche Scherze ins Auge gehen können. Aber Salinger fand den leutseligen Ton nicht mehr. Ausserdem ging es dem Fremden offensichtlich nicht um einen Scherz. Er schien Salinger nicht zur Kenntnis zu nehmen, womöglich mit Absicht, weil er in ihm einen Militärangehörigen sah, vielleicht auch aus Gedankenlosigkeit. Oder er war sich ganz einfach gewohnt, diesen Weg unbehelligt zu gehen. Jedenfalls ging der Mann grusslos an ihm vorbei, knapp drei Schritte neben Salinger, wo der Weg ins Unterholz führte.
Der Gang des Gebückten war auch von hinten auffällig. Er wendete den Blick weiterhin kaum vom Boden ab. Konnte dies der Grund sein, dass sich ihre Blicke nicht begegnet waren und der Fremde ihn nicht beachtet hatte? Wie auch immer, Salinger hatte ihn vorschriftsgemäss angesprochen und auf den Schiessbefehl hingewiesen. Abgesehen von der unterlassenen Meldung, die ihm in diesem Fall aber nicht zwingend schien, hatte er sich bis anhin korrekt verhalten. Natürlich hätte er vom Fremden eine Begründung für dessen nächtliche Wanderung verlangen können, aber dafür hätte der andere überhaupt ansprechbar sein müssen. Erneut verwarf er den Gedanken an eine Meldung über Funk, denn jetzt wäre vom Kommandoposten vermutlich die Aufforderung gekommen, den Fremden anzuhalten oder gar festzunehmen. Das schien ihm nicht nur unverhältnismässig, sondern geradezu lächerlich. Dieser Fremde entzog sich der militärischen Logik.
Einen kurzen Moment zögerte Salinger doch, denn im Unterholz lagerte die Munition, die nach der Feldübung seiner Truppe übriggeblieben war. Sie war zwar gut gesichert, aber die Stahltüre war von geübter Hand unschwer zu öffnen. Der Gedanke, dass dieser Mann jetzt Zugang zu Munition und Handgranaten haben könnte, belustigte Salinger mehr, als dass er ihn beunruhigte. Konnte in den Tragtaschen ein Brecheisen versteckt gewesen sein? Kaum, und selbst wenn, dann würde der Fremde mit dieser Türe eine Weile beschäftigt sein. Einbruchsgeräusche wären hier problemlos hörbar, und Salinger hätte alle Zeit der Welt, um über Funk Verstärkung anzufordern.
Salinger erinnerte sich, wie sie in ihrer wilden Phase vor einem Jahrzehnt einst zu dritt vor einem Munitionsdepot gestanden hatten. Mit dem Trennschleifer hatten Lutz und der andere die Umzäunung überwunden, danach galt es nur noch, die Türe aufzubrechen. Das Krachen, als die beiden anderen das Brecheisen in die Türe stemmten – was für ein Hochgefühl! Abmachungsgemäss hatte Salinger draussen gewartet, um die Umgebung im Auge zu behalten. Dann die unerwartete Schwierigkeit, weil die Türe besser standhielt als erwartet, ausserdem ein Alarm ausgelöst wurde, mit dem sie nicht gerechnet hatten. Jedenfalls war aus einer Richtung, die Salinger in der Euphorie ob dem Bruchgeräusch nicht beachtet hatte, unvermittelt eine Wache aufgetaucht.
Daraufhin war alles sehr schnell gegangen: «Halt, Militär!» Sie waren erst erschrocken, aber dann sahen sie diesen jungen Soldaten vor sich stehen, der war höchstens im ersten oder zweiten Wiederholungskurs, das Gewehr hatte er geschultert wie einen Fremdkörper, irrtümlich oder nur mangels Widerspruch gegen eine Weisung von oben mitgetragen, und es sah keineswegs so aus, als ob er es je, zum Beispiel jetzt, brauchen würde. Sie verständigten sich kurz mittels Zeichen und entschieden abzuhauen. Das schien ihnen ratsam, denn der junge Soldat stand zwar wie angewurzelt da, aber er nestelte an seinem Funkgerät und wollte offenbar Verstärkung anfordern. Und sie wussten nicht, wie nahe der nächste Wachposten gelegen war und ob da nicht einer sass, der vor dem ängstlichen Kollegen seinen Mut beweisen wollte. Sie hatten die Aktion später nicht wiederholt, das Risiko schien ihnen zu gross, und zwei der drei Kumpanen waren bald in Beruf und Familie gut situiert. Die Mitstreiter hatten ihm auch nie vorgeworfen, dass er den Wachsoldaten übersehen hatte. Sie waren Freunde geblieben, mit Lutz war er sogar in derselben Truppe eingeteilt.
In diese Erinnerung versunken hörte Salinger vom Munitionsdepot her Splittergeräusche. Es war ein ähnliches Geräusch wie damals, das Krachen von Holz und Schläge gegen Metall! Sollte sich der Fremde tatsächlich am Munitionsdepot zu schaffen machen? Dann war er deshalb so gebückt gegangen, um das Brecheisen unter dem Mantel versteckt zu halten? Das wäre dann allerdings sehr dreist gewesen, damit seelenruhig an ihm als Wache vorbeizugehen. Hatte er ihn so wenig ernst genommen wie sie damals den jungen Soldaten? Und was um Himmels willen hatte dieser Mann vor?
Salinger war beunruhigt und sah sich nun zur Meldung verpflichtet: «Kommandoposten von Nummer 2 antworten!»
Das Funkgerät blieb ruhig. Der Kamerad auf dem Kommandoposten schien seines offenbar nicht direkt zur Hand zu haben, in eine Patience vertieft zu sein oder verbotenerweise Musik zu hören.
«Kommandoposten von Nummer 2 antworten!», wiederholte Salinger, nun eine Spur lauter, den Kopf vom Munitionsdepot abgewandt, damit der Fremde ihn nicht hören konnte. Die Pause gab Salinger Zeit, sich über die Formulierung seiner Meldung klar zu werden.
«Verstanden, antworten!»
«Ein Obdachloser bricht eben das Munitionsdepot auf, antworten!»
Der Kamerad auf dem Kommandoposten schien ob dieser Meldung perplex oder nun seinerseits mit der Formulierung seines Funkspruchs beschäftigt. Jedenfalls dauerte es erneut eine Weile bis zur Antwort:
«Verstanden. Mach keine Sprüche, du kennst doch die Order: keine Geplauder über Funk – antworten!», sagte er schliesslich.
Salinger nahm dem Kameraden nicht ab, dass er ungehalten war, wenn er von einem Spass ausging. Eine kleine Unterhaltung zu dieser Zeit musste auch ihm gelegen kommen. Vermutlich befürchtete er, dass ein Vorgesetzter am Funk mithörte.
Was sollte Salinger antworten? Die Angelegenheit konnte so gewichtig nicht sein, wenn sie der andere nicht ernst nahm. Und hereinlegen oder in unnötige Aufregung versetzen, wollte er den Kameraden auf dem Kommandoposten zuletzt; er gehörte zu jenen, die er mochte. Vielleicht hatte sich Salinger das Geräusch ja auch nur eingebildet. Nach ein paar Stunden Einsamkeit, nachts auf dem Feld draussen, kann die Fantasie schon ihre Blüten treiben.
«Verstanden. Ich sag ihm, dies sei keine Notschlafstelle», antwortete Salinger schliesslich gesucht originell. Und hängte nach einer kleinen Pause nicht «antworten!», sondern ein saloppes «ok?» an, um den Kameraden auf dem Kommandoposten in seiner Sorglosigkeit zu bestärken. Falls dies denn nötig war.
«Okay», quittierte der andere jetzt rasch und ebenfalls unmilitärisch und fügte in freundschaftlichem Ton an: «Aber klemm jetzt ab. Die Goldhüte pennen zwar, aber man weiss nie, für wie lange.»
«Verstanden, Ende», quittierte Salinger militärisch. «Ende», bestätigte der andere.
Das Rauschen in Salingers Funkgerät war kaum verstummt, als im Unterholz eine gewaltige Detonation die Stille zerriss.
Ich habe, ehrlich gesagt, Zweifel an dieser Geschichte. Diesen «Salinger» halte ich für eine Kunstfigur, geschaffen von einem Mann, den ich im Frühling zufällig im Zivilschutz getroffen habe. Ich war damals für eine Woche in den Pflegedienst der Klinik Königshofen eingeteilt, und verantwortlich dafür, dass die Männer in der Aussenstation um sieben Uhr beim Frühstück waren. Danach hatte ich sie abwechselnd in die Ergotherapie oder in die Werkstatt zu begleiten. Kurz vor Mittag musste ich sie dort abholen und in den Essraum führen. In der Zwischenzeit war ich der Putzequipe zugeteilt.
Schon am ersten Tag fiel mir ein Patient auf, der im Garten der geschlossenen Abteilung über einem Manuskript brütete. Meist sass er dabei im selben weissen Plastiksessel, möglichst weit entfernt vom Ort, wo seine Mitpatienten grölend Tischtennis spielten. Er schien diese Geräuschkulisse schlechter zu ertragen als das anhaltende dumpfe Stöhnen, das aus einem offenen Fenster der benachbarten Kinderpsychiatrie drang.
Dieser Patient hütete sein Manuskript wie einen Schatz. Meine Kollegen im Personal mokierten sich über die lose Beige vollgekritzelter Blätter. Er murmelte einzelne Sätze tonlos vor sich hin und unterstrich Worte, die ihm wohl im Nachhinein als besonders wichtig erschienen. Der Stationsleiter raunte, Salinger sässe wieder über seinem «Geheimdokument». Dabei zwinkerte er mir zu und gab mir mit übertriebenem Flüsterton und erneutem Augenzwinkern zu verstehen, für wie brisant er dieses Papier hielt. Andere Pfleger machten ähnliche Bemerkungen. Einer bezeichnete den Papierstoss als «Salingers Offenbarung». Anfänglich hielt ich mich aus dieser kollektiven Blödelei heraus. Aber sie war ansteckend und nach zwei, drei Tagen lachte ich über die Spässe mit. Womöglich waren sie der Eintrittspreis, um beim Pflegepersonal dazuzugehören.
Der Stationsleiter bot Salinger an, das Dokument einem Kleinverlag oder der Regionalpresse zu vermitteln – hier würde verschiedentlich Eingesandtes aus dem Leserkreis publiziert. Der Patient ignorierte sein Angebot, ohnehin zeigte er kaum Reaktionen gegenüber dem Personal und blieb stumm. Möglich, dass der Stationsleiter seinen Vorschlag in Absprache mit der Klinikleitung vorbrachte. Sie hatte dem Vernehmen nach seit Salingers Eintritt versucht, ohne Zwang Einsicht in das Papier zu erhalten. Man hoffte, so die Umstände klären zu können, die zur Einweisung geführt hatten.
Der Oberarzt erklärte mir später, dass er den Mann zur freiwilligen Übergabe seines Manuskripts zu überreden versucht habe. Aber Salinger habe kein Verständnis für dieses Anliegen gezeigt. Er habe sich an allen Therapiesitzungen sehr verschlossen gegeben. Sie vermuteten auch, dass er seine Medikamente nicht regelmässig einnahm, und baten mich, einen Blick darauf zu werfen. Einmal sah ich in der Tat, wie er die ihm abgegebenen Medikamente wegschmiss. Er musste bemerkt haben, dass ich ihn beobachtete, denn er warf mir einen konspirativen Blick zu – offenbar gewiss, dass ich ihn bei der Stationsleitung nicht verpfeifen würde. Die Ärzte setzten vorderhand noch auf die freundliche Tour: Zeitweilig hätten sie zwar erwogen, die Medikamente zwangsweise abzugeben und auch die Herausgabe des geheimnisvollen Manuskripts mittels einer gerichtlichen Verfügung zu erwirken. Dies wären allerdings die letzte Massnahmen, die sie erst anordnen wollten, wenn keine Aussicht mehr auf eine Rehabilitierung ohne Zwang bestünde.
Salingers Papier begann mich zu interessieren. Es war weniger journalistisches Interesse als Neugierde, die in einem ansonsten wenig spannenden Alltag an Bedeutung gewinnt. Dazu kam der Reiz des Geheimnisvollen, den der Patient durch sein Verhalten womöglich bewusst schuf, jedenfalls genoss. Ich versuchte verschiedene Male einen beiläufigen Blick auf das Manuskript zu werfen, konnte dabei aber nicht mehr erkennen, als dass die Blätter beidseitig mit kleiner, schwer leserlicher Handschrift bekritzelt waren. Wenn es mir gelang, einen Blick auf das Manuskript zu werfen, kam ich nicht zum Lesen, denn der Autor verdeckte das Blatt rasch mit einem Arm. Ich sah indessen, dass längere Passagen gestrichen und neu formuliert worden waren. Verschiedentlich hatte Salinger einen Bleistift in der Hand, und es schien, als ob er auch jetzt noch Korrekturen anbrachte.
Das war umso erstaunlicher, als ihm sonst jede Erinnerung abhanden gekommen schien. Ob wirklich oder nur vorgegeben, sollte der Klinikaufenthalt klären. Andere Patienten berichteten, dass ihnen der Mann durchaus bei Sinnen schien. Er habe mit ihnen zeitweilig gesprochen, wenn auch nur über Beiläufiges. Allen Fragen nach seiner Person oder Geschichte sei er ausgewichen, er habe sie wohl als Bespitzelung im Interesse der Klinikleitung empfunden. So blieb alles, was sie über ihn persönlich wussten, die Tatsache, dass er vor einer Woche in der Unterführung des Bahnhofs aufgegriffen worden war.
Der Oberarzt habe berichtet, dass Salinger dort zuvor tagelang auf einem Steinkubus gesessen habe, neben sich nichts als einen Plastiksack. Schliesslich sei er einem Bahnhofsangestellten aufgefallen, weil er die Durchfahrt des Reinigungsfahrzeugs erschwert habe. Der Bahnhofsangestellte habe ihn einmal laut schreien gehört, im Übrigen sei der Mann aber nicht ansprechbar gewesen. Sonderbar sei dem Putzmann insbesondere erschienen, dass dieser Sonderling keine Anstalten gemacht habe, dem Reinigungsfahrzeug auszuweichen, aber des Öfteren selber mit einem Kugelschreiber Kaugummis aus den Rillen des Bodenbelags gekratzt habe. Er hätte zwar schon einen Assistenten für die Feinarbeit brauchen können, habe der Bahnhofsangestellte gewitzelt, aber dieser Kandidat schien ihm nicht bei Sinnen.
Laut dem Oberarzt haben sie sich danach rundum über andere Beobachtungen erkundigt. Die Verkäuferin im gegenüberliegenden Panini-Stand hat beobachtet, dass der Unbekannte seit drei Tagen da sass. Er habe den Kopf meist in die Hände gestützt und sein Gesicht verborgen. Das Sitzen unterbrach er einzig durch eine Art von Patrouillengängen zwischen zwei abstrakten Steinmonumenten an der Wand und dem Schaufenster eines Dekorladens. Aber weder die Kunstwerke noch die Tassen und Regenschirme im Ladenfenster schienen ihr dieses Interesse wert, meinte die Frau. Sie konnte sich nicht erklären, warum der Mann in den ersten Frühlingstagen dieses Jahres ausgerechnet diesen Ort zum Verweilen wählte.
Alkoholiker sei er nicht gewesen, eher ein Spinner, vermutete sie. Das Bier in ihrer Auslage hat ihn jedenfalls nicht interessiert. Am zweiten Tag hat er wortlos auf ein Brötchen gedeutet und ein paar Münzen auf den Tresen gelegt. Zu wenig übrigens, aber sie habe nichts gesagt. Sie habe ihn danach auf den Obdachlosentreff in der Altstadt hingewiesen, aber der Mann schien kein Ohr für Ratschläge zu haben. Er hat dann die Hälfte des Brötchens den Tauben und Spatzen verfüttert. Kein Wunder, dass er so immer schwächer geworden sei. Am dritten Tag hat der Unbekannte auf dem Steinkubus schon mehr gelegen als gesessen, daraufhin habe sie die Ambulanz kommen lassen. Der Mann sei widerstandslos mitgegangen und habe sich sogar den Plastiksack abnehmen lassen. Dabei sei festgestellt worden, dass sich darin einige lose Blätter mit Platzskizzen befanden, eine Zahnbürste, Lippenpomade, ein wenig Kleingeld und ein Halbpreis-Abonnement auf den Namen Walter Salinger. Die Sanitäter hätten ihn mehrfach mit diesem Namen angesprochen, aber der Mann habe nicht reagiert.
Ob das Abonnement tatsächlich ihm gehörte, war dabei so wenig geklärt wie die Frage, ob es diesen Salinger überhaupt gab. Solche Abonnements liessen sich, bevor sie das Kreditkartenformat hatten, leicht erwerben und auch fälschen. Das Foto war herausgerissen worden und an der angegebenen Adresse war ein solcher Name unbekannt. Dem Mann selber schien es egal, wie man ihn in der Klinik nannte. Er reagierte weder auf den Namen Salinger noch auf irgendwelche anderen Anreden. Er schien für den Moment einzig froh zu sein, dass ihn der zugewiesene Name vor weiteren Nachforschungen nach seiner Identität schützte.
Meine Verwunderung war gross, als mir Salinger bei meiner frühmorgendlichen Wecktour am letzten Arbeitstag in der Klinik den Papierstoss unvermittelt entgegenstreckte. Der Mann schien in dieser Nacht sein Bett nicht benutzt zu haben. Er sass angekleidet am Schreibtisch, als ich eintrat. Ich zögerte erst. Mir war nicht klar, ob er mit dieser Geste tatsächlich mich meinte und das Papier, das er die Tage zuvor so gut gehütet hatte, tatsächlich weggeben wollte. Oder wollte er mich necken, weil er mein Interesse am Manuskript bemerkt hatte? Humor traute ich ihm nicht zu, ausserdem blieb sein Arm in meine Richtung ausgestreckt.
Ich griff nach dem Papier, eine Zeitlang hielten wir es beide, dann liessen wir beide gleichzeitig los und der Stoss fiel zu Boden. Ich hob die Blätter auf, ordnete sie behelfsmässig und wollte sie dem Mann zurückgeben oder wenigstens eine eindeutige Geste der Übergabe provozieren. Aber der Mann hatte seinen Blick schon nach innen gewendet. Er sass wieder so teilnahmslos in seinem Sessel wie die ganze Woche während den Mahlzeiten und machte nicht die geringsten Anstalten, die Notizen wieder an sich zu nehmen.
Sollte ich ihm das Papier zurück in den Schoss legen? Hätte ich geahnt, wie stark es mich in den kommenden Wochen und Monaten beschäftigen würde, ich hätte es wohl getan. Aber der Mann war mir sympathisch und faszinierte mich. Vermutlich hätte ihn die Rückgabe gekränkt und er hätte das Papier so rasch nicht wieder hergegeben. Oder, was mir noch weniger gepasst hätte, er würde es nach dem Frühstück dem Stationsleiter übergeben. Nein, ich musste es als Vertrauensbeweis werten, dass er es mir zugesteckt hatte. Womöglich hatte er bemerkt, dass ich mit der Klinikleitung nichts zu tun hatte? Dass wir das unbehagliche Gefühl hier teilten?
Salinger wollte auf Nummer sicher gehen, dass er sich die Detonation nicht nur eingebildet hatte. Stand er wirklich auf dem Feld draussen? Hatte es nun eben geknallt aus der Richtung des Munitionsdepots oder nicht? Konnte es sein, dass das Gewitter jetzt genau dort niederging und er Blitz und Donner für eine Detonation hielt? War er überhaupt im Wachdienst? Hatte er sich nicht ausbedungen, an diesem Abend früh zu Bett zu gehen, weil er anderntags fit sein wollte? Oder war er gar mit den Kollegen im Ausgang gewesen und hatte ihnen diese alte Geschichte erzählt, wie sie einst nachts ein Munitionsdepot aufgebrochen hatten? Wie hiess doch diese Bar in der Nähe, die sie zwei- oder dreimal besucht hatten? Bronx? Hatte er die damalige Geschichte vor den interessierten Zuhörern heroisch ausgemalt, nichts von ihrem Abhauen erzählt, sondern geblufft, wie sie die Wache in die Flucht geschlagen und die Munitionsbaracke angezündet hätten?
Salinger kniff sich ins Bein. Nein, er stand wirklich im Feld draussen. Hinter ihm züngelten unübersehbar Flammen aus dem Depot. Sollte der Gebückte tatsächlich das Munitionslager in die Luft gejagt haben? Und sich selber womöglich gleich mit? Der Gedanke war Salinger unerträglich, denn diese Erscheinung mit so ähnlichen Gesichtszügen war ihm nahe gegangen. Aber nein, der Fremde stand da, gut sichtbar im Feuerschein, unverwechselbar in seiner gebeugten Gestalt, in gehörigem Abstand zum Feuer. Offenbar hatte er sich rechtzeitig in Sicherheit bringen können oder die Sprengung ferngezündet. Ein so planmässiges Handeln hatte ihm Salinger nicht zugetraut. Womöglich war das Ganze bloss ein Missgeschick gewesen? Dann hatte der Mann einfach Glück gehabt, dass ihm selber nichts passiert war. Glück auch, dass die Gegend hier sehr feucht war und kein Übergriff des Feuers aufs Unterholz drohte.
Salinger wollte sich versichern, dass dem Mann tatsächlich nichts passiert war. Je näher er kam, desto unnötiger schien diese Sorge: Der Fremde strahlte eine tiefe Genugtuung aus, da war jedes Missgeschick ausgeschlossen. Wenn der Mann das Depot nicht vorsätzlich gesprengt hatte, so schien ihn die Detonation jedenfalls nicht traurig zu stimmen oder auch nur zu beunruhigen. Salinger fiel es nicht schwer, diesen Gedanken nachzuvollziehen – zerstörte Munition war für jeden Pazifisten eine gute Nachricht. Zwar hatten sie seinerzeit beabsichtigt, die Munition abzutransportieren. Aber als zweitbeste Lösung hätten auch sie das Depot in Brand gesteckt, wenn dieser junge Wachposten nicht plötzlich neben ihnen gestanden hätte.