Über das Buch

Denken Sie an eine nette Person aus Ihrem Bekanntenkreis, an den friedfertigsten Mann, der Ihnen einfällt. Stellen Sie sich vor, Sie erfahren, dass dieser Mann jemanden umgebracht haben soll. Es heißt, er habe in einer Kneipe scheinbar wahllos einen Menschen erschossen, ohne Streit, ohne Vorgeschichte, aus dem Nichts heraus. Er habe auch bereits ein Mordgeständnis abgelegt. Er sagt, er hätte die Tat geplant. Aber er gibt keinen Grund dafür an. Der Psychiater kann keine Krankheit an ihm feststellen. Die Menschen um ihn erkennen nichts Böses. Sie mögen ihn. Sie haben das Bedürfnis, ihn vor sich selbst zu schützen.

Sie erfahren ferner aus der Zeitung: Ihr Bekannter rechnet mit lebenslanger Haft. Er wünscht sie sich sogar. Er will für sein Verbrechen büßen. Aber er wird den Grund für seine Tat erst zwanzig Jahre später nennen. Können Sie so lange warten? Eben. Darum müssen Sie dieses Buch lesen.

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Daniel Glattauer

DARUM

Roman

Die Explosion macht meine Ohren taub. Der Marktplatz brennt. Die jetzt noch laufen, haben überlebt. Ich freue mich für sie. Keine fünf Meter vor mir wälzt sich eine alte Frau auf dem Asphalt. Ein roter Splitter steckt in ihrem Kopf. Ihr ist nicht zu helfen. Mir ist nicht zu helfen. Ich betrachte die Hand, die die Granate geworfen hat. Meine Hand. Ich kann nichts Böses daran erkennen.

Xaver Lorenz

EINS

Ich wollte den Tag nicht vor dem Abend verdammen und stand sofort auf, als ich spürte, dass ich wach war. Nur nicht denken, dachte ich. Die rosa Zahnpastawurst hielt sich in der Mitte der Borsten. An schlechten Tagen rutschte sie beim Hinauspressen aus der Tube über den Rand der Bürste ins Waschbecken. Dort klebte sie dann als trauriges Häufchen Missgeschick. Meistens spülte ich sie weg. Zum Glück war ich kein depressiver Mensch.

Diesmal traf ich. Es war ein guter Tag. Mehr dachte ich nicht. Im Spiegel sah ich ein normales Gesicht. Manchmal zeigte ich mir am Morgen die Zunge. Diesmal nicht. Manchmal strich ich mir die Fransen aus der Stirn. Diesmal nicht. Manchmal zählte ich die grauen Haare an den Schläfen. Seit einigen Wochen nicht mehr. In der Küche machte ich Wasser heiß und goss es in die dicke gelbe Tasse, in die ich vor dem Schlafengehen einen Beutel Schwarztee mit Pfirsichgeschmack hineingehängt hatte. So machte ich es immer. Immer die gleiche gelbe Tasse. Immer Schwarztee mit Pfirsichgeschmack. Und immer hatte ich den Beutel schon am Vorabend in die Tasse gehängt. Damit war schon etwas vom nächsten Tag verraten. Das nahm mir die Scheu davor.

Die kleine Reisetasche hatte sich von selbst gepackt. Ich nahm nur schwarze und blaue Sachen mit, die weich und warm waren. Meine Lieblingspullis und die schönen Hosen, bei denen sich die Frauen »schöne Hose, interessanter Mann« dachten, blieben zu Hause. Beim Verlassen der Wohnung spürte ich, dass das eine der heikelsten Situationen des Tages war, aber ich meisterte sie, denn ich verbot mir sofort, daran zu denken. Ich schloss die Augen: zwei sechs null acht neun acht. — Unvergesslich. Ich drehte den Schlüssel bis zum Anschlag. Damit war die Tür meiner Wohnung verriegelt. Das gab mir Sicherheit. Die Tasche warf ich ins Auto und fuhr.

Um elf war ich bei Alex, wie versprochen. Sie lehnte am Türrahmen. Ich legte meine Hände auf ihre heißen Ohren und sagte: »Lass dich ansehen«, oder so einen Blödsinn. Sie sah aus wie eine Frau, die sich nur noch ein einziges Mal kräftig schnäuzen musste, dann konnte sie mit ihrem neuen Leben beginnen. Am liebsten hätte ich sie geküsst und das neue Leben mit ihr begonnen. Nein, am liebsten hätte ich sie geküsst.

»Sind die anderen schon da?«, fragte ich. »Schlechte Nachricht, Jan«, erwiderte Alex. »Es kommt keiner mehr«, scherzte ich. »Sehr schlimm?«, fragte sie. Damit war klar, dass sie es mit mir alleine machen wollte. Umziehen. Ausziehen. Gregor stehen lassen. Es war Samstag. Wenn er am Sonntagabend vom Seminar (sie hieß Uschi) zurückkam, sollte die Wohnung leer sein. Das bedeutete: Hundert Kubikmeter Massivholz, Schwermetall, Hartporzellan und Ähnliches mussten drei Stockwerke hinuntergeschleppt und später anderswo zwei Stockwerke hinaufgewuchtet werden. »Hast du schon gefrühstückt?«, fragte Alex. Ich lächelte. Innerlich schrie ich. Sie frühstückte, ich sah zu, sie sah mir zu, wie ich ihr zusah. »Ist was mit dir?«, fragte sie. »Was soll sein?«, fragte ich. Mit mir war bisher nie etwas.

Wir übersiedelten bis in die Dunkelheit des Oktobertages. Draußen regnete es bestialisch wie immer in dieser Stadt, wenn gerade eine Jahreszeit kippte. Zum Glück war ich kein depressiver Mensch. Als die Fronarbeit ausgestanden war, durfte ich in ihrer neuen Wohnung ein Vollbad nehmen. Das tat mir gut, ohne dass ich es wollte. Ich versuchte mich abzulenken und dachte an Sex. Aber das war kein guter Gedanke, er sprang sofort zu Delia über. Ich brach ihn gleich wieder ab.

Alex brachte mir ein Handtuch. Sie hielt es vor ihre Augen, um mich nicht in Verlegenheit zu bringen. Ich nahm es ihr ab und hielt es zur Seite, um ihr zu zeigen, dass sie mich nicht in Verlegenheit bringen konnte. Leider ging Sex nicht ohne Erregung. Wir hätten es beide gebraucht.

»Was hast du heute Abend vor?«, fragte sie mich beim abschließenden Kaffee, der mir den Magen zersetzte. »Nichts Aufregendes«, log ich infam und lächelte so, dass sie die Lüge als kleine Schwindelei deutete. »Eine Neue?«, fragte sie und hob eine Augenbraue. Dafür hätte ich sie gerne geküsst. (Dafür, dass sie mir jederzeit eine Neue zutraute.) »Sei nicht so neugierig«, sagte ich oder eine ähnlich phrasenhafte Scheußlichkeit. Ich musste Alex schleunigst verlassen, obwohl es viel zu früh war. Bei der verabschiedenden Umarmung drückte ich sie. Ich versuchte möglichst viel von ihr mitzunehmen, ohne dass sie es merkte. »Kopf hoch«, rief ich ihr nach. (Wegen Gregor.) Normalerweise wäre ich mir noch: »Du weißt, du kannst mich immer anrufen«, schuldig gewesen. Aber das ging diesmal nicht.

Die nächsten Stunden waren qualvoll. Es gab nichts mehr zu tun. Ich saß hauptsächlich im geparkten Auto und versuchte an nichts zu denken. Zum Glück trommelte Regen aufs Dach, das war ein Sinneseindruck, mit dem ich leben und bei dem die Zeit verrinnen konnte.

Als ich noch Lektor beim Erfos-Verlag war, hatte ich einmal einen Roman bearbeitet, in dem alle paar Seiten Regen auf ein Autodach trommelte. Immer wenn der Autorin die Ideen ausgegangen und die Handlung entglitten war, trommelte Regen aufs Dach. »Ein schönes Bild«, tröstete ich sie bei unserer ersten Besprechung. Sie tat mir Leid. Sie saß neben mir wie eine dreimal gestürzte Kürläuferin, die auf die Noten der Punkterichter wartete. Sie aß vor Ehrgeiz ihre Lippen auf. Sie war erst dreißig und bereits der Illusion von Literatur verfallen. Ihr Roman war erschütternd leer. Sie hatte ihren Lesern nichts mitzuteilen. Sie hatte nichts erlebt. Nichts außer Regen, der auf ein Blechdach trommelte.

Bob’s Coolclub sperrte um zehn Uhr auf. Ich war der fünfte Gast. Die ersten vier hatte ich vom Auto aus hineingehen sehen. Ich kannte keinen von ihnen. »Hallo Jan, Sauwetter«, sagte Bob. Ich senkte meinen Blick zu Boden. Für ihn mag es den Anschein gehabt haben, ich beutelte mir den Regen aus den Haaren. Mit der Linken klopfte ich ihm beim Vorbeigehen auf den Oberarm. Das ging als Begrüßung durch. Zum Glück durfte man in Bob’s Coolclub cool sein. Wer mehr als drei Worte sprach, fiel auf.

Ich hatte den kleinen runden Tisch reserviert, an dem ich schon die Abende davor gesessen hatte. Für mehr als eine Person war in der Nische kein Platz. Man konnte auch keinen Stuhl dazustellen. Ein Wandvorsprung schirmte mich gegen die Nachbartische ab. Von den matt strahlenden Spots, die Bobs düsteren Coolclub beleuchteten, fiel kaum ein Licht in mein Eck.

Die vorangegangenen Nächte hatte ich so getan, als würde ich an einer »Story« arbeiten. Bob und die anderen wussten, dass ich Reporter war. Sie dachten, das sei ein Job, der darin bestand, nächtens in Spelunken wie Bob’s Coolclub rumzuhängen, sich unentwegt Notizen zu machen (egal wie dunkel es war) und dabei Blauen Zweigelt zu konsumieren. Je mehr Blauer Zweigelt, desto stärker die Story, desto bedeutender der Reporter, dachten sie. Mich mussten sie für sehr bedeutend halten.

Die Kellnerin hieß Beatrice. Sie kannte mich vom Sehen. Ich kannte sie vom Wegsehen, ich wollte sie nicht kennen, ich hörte nur ständig ihren Namen. Bob’s Coolclub rief seit einer Woche ununterbrochen bis in meine Träume hinein nach Beatrice. Als sie zu mir an den Tisch kam, vertiefte ich mich in die Getränkekarte, hielt die Hand wie den Schirm einer Kappe vor die Stirn und bestellte beinahe stimmlos einen halben Liter Blauen Zweigelt. Es tat mir weh, eine Kellnerin nicht anzusehen, wenn ich mit ihr sprach. Das taten Gäste, die auf die billigen Machtdemonstrationen des Alltags angewiesen waren. Diesmal wirkte ich wie einer von ihnen.

Ich bekam mein Getränk und war froh, von niemandem mehr angesprochen zu werden. Mein Rücken schmerzte wegen Gregor. In meinem Gehirn vollzogen sich immer härtere Zweikämpfe. Einer geriet in Panik, der andere hielt ihm den Mund zu. Einer wollte denken, der andere wehrte sich dagegen. Ich hielt zum anderen und tat mein Möglichstes, ihm beizustehen. Nur nicht denken, Jan. Es war längst alles ausgedacht.

Gegen elf setzte der Besucherstrom ein. Von meiner Nische waren es nur etwa vier Meter bis zur Eingangstür. Sie lag vollständig in meinem Blickfeld. Kein Hindernis war dazwischen. Rechts davon lehnten Gäste mit dem Rücken zu mir an der Theke. Links schlichteten sich die ersten drei Tische die Wand entlang bis in die Tiefe des Raumes. Der vierte Tisch verschwand in einer Wolke aus Rauch.

Ich wusste immer schon vorher, wenn jemand hereinkam. Ich sah, wie sich die Türschnalle senkte. Von da an dauerte es etwa fünf Sekunden, bis der neue Gast im Lokal stand. Die meisten drehten sich noch mal zur Tür um, um sie zu schließen. Und selbst die, die es nicht taten (weil sie davon ausgingen, dass die Tür von selbst zufiel), verharrten stets einige Sekunden im Stillstand, um sich einen ersten Überblick zu verschaffen, um die Augen an die Nebelwand zu gewöhnen, um Bekannte zu suchen oder interessante Unbekannte anzuvisieren, denen sie vielleicht näher kommen wollten.

Der Eingang war von der Mauerdecke aus mit einem Spot beleuchtet, aber nur bis zu einer Höhe von etwa anderthalb Metern. Darüber warf ein wuchtiger Balken seinen Schatten. Von meinem Platz aus sah ich Gäste, die eintraten, höchstens bis zur Höhe ihres Halses. Sie trugen Frauen- oder Männerschuhe, spitz oder breit, farbig oder schwarz. Sie hatten lange oder kurze Beine, enge oder weite Hosen, schmale oder dicke Bäuche, umhüllt von flippigen Jacken oder biederen Mänteln. Keiner glich dem Nächsten, jeder war anders, auf seine Weise unverwechselbar. Und doch hatten sie eine Gemeinsamkeit: Sie betraten allesamt kopflos, vom Schatten des Balkens enthauptet, den Raum. Keiner von ihnen hatte ein Gesicht. Keiner hatte eine Mimik. Keiner zeigte Regungen.

Ich schloss die Augen und öffnete sie sofort wieder, als ich merkte, dass ich mich spürte. Ich nahm einen Schluck Blauen Zweigelt. Er schmeckte nach Delia. Ich wischte mir mit dem Handrücken über den Mund, um Spuren zu verwischen, die es nicht mehr gab. Zum Glück war ich kein depressiver Mensch. Vor mir lagen ein paar beschriftete Zettel, die nach einem Skriptum eines Zeitungsreporters aussahen. Ich konnte nicht lesen, was darauf stand. Mir zerflossen die Buchstaben auf dem Weg ins Gehirn.

Um Punkt halb zwölf ließ ich meine linke Hand in die innere Jackentasche fallen, nahm den gefüllten schwarzen Wollhandschuh heraus, legte ihn vor mich auf den Tisch, umrahmte ihn mit den Händen wie ein futterneidisches Kind eine Tafel Schokolade und nahm etwa drei Sekunden Abschied von dreiundvierzig Lebensjahren. Zwei Sekunden davon verbrauchte ich allein für Delia. Anscheinend hatte ich sie geliebt.

Ich drehte den gefüllten Handschuh so, dass der steife dicke Finger, der ein paar Millimeter aus dem Stoff herausragte, zur Ausgangstür zeigte, legte die rechte Innenhand darüber und fixierte das Ding auf dem Tisch. Mein linker Zeigefinger senkte sich in die aufgeschnittene Öffnung der Wolle. Dort durfte er ein paarmal sanft kreisen, um die enge kühle Begrenzung zu fühlen. Dann ließ ich die Fingerkuppe in der metallenen Beugung ruhen.

Bob’s Coolclub hatte inzwischen alles Individuelle verschluckt. Die Stimmen hatten sich zu einem Hörbrei verrührt. Hin und wieder brachen übertrieben schrille Brocken heraus. Da tat der Alkohol schon seine Wirkung. Einzig der Ruf nach Beatrice war konkret. Er allein versetzte mir spitze Stiche im Magen. Im Übrigen tat mir das Kreuz weh und ich war froh, dass mir das noch immer auffiel.

Auf der Tischplatte vor mir hatte nun alles seine Ordnung. Ich hob den Blick zur Eingangstür. Dabei streifte er die Wanduhr über der Theke: 23.38 Uhr. Es dauerte etwa drei Minuten, bis sich die Türschnalle senkte. Ich hatte drei Minuten nicht geatmet. Das beruhigte mich. Mein Gehirn war nun wohl auch aus medizinischen Gründen nicht mehr in der Lage, andere Befehle zu erteilen als die bereits programmierten.

Die Tür öffnete sich. Ich zählte eins, zwei, drei, vier. Meine linke Fingerkuppe bewegte sich wie eine autonome Widerstandskämpferin. Sie drückte gegen den kühlen Metallhebel — und hob den Druck sofort wieder auf. In der Eingangstür verschanzte sich der Körper des Neuankömmlings hinter einem großen dunklen Kreis, stemmte sich frech gegen sein Schicksal. Ich wollte aufschreien, laut protestieren. Der, auf den ich wartete, durfte mir keinen aufgespannten Regenschirm entgegenhalten. Ich wollte aufspringen. Meine Beine waren lahm. Meine Lippen waren starr. Meine Hände konnten sich nicht bewegen. Sie waren mit dem Gegenstand, den sie umklammerten, verschmolzen.

Der Sekundenzeiger der Wanduhr drehte eine Ehrenrunde und legte noch ein paar Sekunden drauf. Dann kippte die Türschnalle wieder nach unten. Und ich begann im Geiste bis fünf zu zählen. Bei drei riss mein Trommelfell und mein Herz stand still: »Haben Sie noch einen Wunsch?« Das galt mir. Ich verlor die Beherrschung und sah Beatrice in die Augen. Sie erschrak über meine Panik. Das wollte ich nicht. Ich hatte niemals Menschen erschreckt. Ich verfluchte mich dafür. »Nein, danke«, hörte ich mich sagen. Vielleicht gelang mir sogar ein Lächeln. Beatrice verschwand. Ich strich ihr erstauntes Gesicht. Damit war mein Gedächtnis wieder leer. Fast leer: zwei sechs null acht neun acht.

Meine Finger hatten ihre Position wieder eingenommen. Rechts oben sprang der Minutenzeiger von 50 auf 51, als sich die Türschnalle senkte. Auf »eins« öffnete sich der Türspalt. Auf »zwei« erkannte ich dunkle Herrenschuhe. »Drei« waren hellblaue Jeans. »Vier« — Rottöne verschwammen und wurden schwarz. Meine Augen tränten. Ich presste sie zu. Ich zog den Kopf ein. Mein linker Zeigefinger krümmte sich. Die verbliebene Kraft meines Körpers und meines Geistes brannte in der Fingerkuppe. Sie überwand alle Schwellen und Barrieren und drückte gegen den Hebel. Meine Zähne bissen mir die Schläfen aus dem Schädel. Dann endlich war der Finger durch. »Fünf« war ein dumpfer Knall und ein schwerer Niederschlag bei der Eingangstür. Das Echo war weit weg von mir. Weit, weit weg, in einem anderen Leben.

ZWEI

Denken war wieder erlaubt. Ich dachte, sie würden sich jetzt gleich alle auf mich stürzen. Sie würden mich überwältigen, zu Boden reißen, auf den Rücken legen. Sie würden auf meinen Unterarmen knien und auf mich einschlagen, mit ihren äußeren Handflächen, einmal links, einmal rechts. Meinen Kopf hätte es von einer Seite auf die andere gebeutelt. Und auf meinen Wangen hätten sich blutige Kratzspuren ihrer Fingernägel gebildet. »Lasst ihn, er hat jetzt genug«, hätte irgendwann eine raue vernünftige Stimme im Hintergrund gerufen. Danach hätte ich das Bewusstsein verloren. Und in der Zelle wäre ich aufgewacht, dachte ich. Ja, ich hatte verdammt viele schlechte Kriminalfilme gesehen.

Ich erhob mich von meinem Sitz und streckte den Handschuh mit der Pistole von mir. Es sollte heißen: Ich ergebe mich. Ich wollte festgenommen werden, man hätte mich schlagen dürfen, es hätte wehtun müssen. Aber keiner sah mich, keiner interessierte sich für mich, keiner nahm Notiz von mir.

Der Schauplatz der Geschehnisse war etwa vier Meter von mir entfernt, vor der offenen Eingangstür. Alle Geräusche und Bewegungen fanden dort statt. Der mit der roten Jacke lag flach ausgestreckt auf dem Boden und rührte sich nicht. Bob und ein anderer beugten sich über ihn. Beatrice stand mit einem Wasserkrug daneben. Sie tat mir Leid, sie hatte scheue Augen und musste das alles mit ansehen. Ich dachte an Delia. Ich überprüfte, ob es den Gedanken an sie noch gab. Es gab ihn. Wenn es möglich war, eine Sekunde lang trocken zu weinen, dann hatte ich soeben eine Sekunde lang trocken geweint.

Bob richtete sich auf und nahm eine hilflos-hysterische Haltung ein, wie man sie aus Kriminalfilmen kannte. Jetzt fehlte nur noch: »Wir brauchen einen Arzt. Ist jemand von Ihnen Arzt?« Dann wäre ein Sir mit Staubmantel hervorgetreten, hätte sich über das Opfer gebeugt, hätte (vergeblich) nach dem Puls gefühlt und den schlaffen Arm fallen lassen, hätte mit dem Ohr nach Herztönen gesucht, hätte mit den Fingern an den Augenlidern des Patienten herumgerührt, hätte sich vom Liegenden abgewandt, hätte sich aufgerichtet, hätte in die betretene Gruppe gestarrt und schwermütig verkündet: »Da ist nichts mehr zu machen. Der Mann ist tot.«

Mit der Waffe in der Hand kam ich mir irgendwie lächerlich vor und ließ sie fallen. Ich hörte sie nicht aufschlagen, sie hatte kein Gewicht mehr. Vielleicht klebte sie auch an mir fest. Jemand hatte inzwischen meinen halben Liter Blauen Zweigelt ausgetrunken. Ich, wer sonst. Zeit war verloren gegangen. Es war ein Uhr nachts. Bei der Tür lief der Katastrophenfilm seinem Ende zu. Zwei weiße Männer stürzten herein, hoben den mit der roten Jacke auf eine Bahre und verschwanden. Bob’s Coolclub atmete erstmals kurz durch. Die Hysterie verteilte sich gleichmäßig auf den Raum und nahm dadurch an Lautstärke ein wenig ab. »Die Lage normalisierte sich«, hätte es in den Nachrichten geheißen.

Niemand durfte das Lokal verlassen. Das war klar. Ich wollte die Sache verkürzen und endlich alles aufklären. Wie kamen die anderen dazu? Vielleicht machten sich Angehörige schon Sorgen um sie. Ich holte Luft, um die letzten Reste von Panik mit »Ich hab’s getan« zu überschreien. Ich legte meine Hände über Kreuz, wie man es tut, um sich Handschellen anlegen zu lassen. Da machte ich eine grauenhafte Entdeckung: Ich sah Inspektor Tomek. Zu spät, er hatte mich bereits erkannt, eilte auf mich zu, legte mir den Arm um die Schulter, lachte grob auf und sagte: »Hätte ich wetten können, dass ihr wieder vor uns da seid.«

Für ihn gab es kein Du und Ich, immer nur »Wir« und »Ihr« — »wir Polizisten« und »ihr Journalisten«. Er hatte keine Ahnung, wie sehr er mich mit diesem Plural demütigte. Aber sonst war er ein feiner Mensch. Er kaufte seinen Töchtern zum Geburtstag Pferde und solche Sachen.

»Ist er tot?«, fragte ich. Tomek lächelte. Die Frage kam ihm naiv vor. Er dürfte erkannt haben, dass es mir nicht gut ging. Er sah mich mitleidig an. Er mochte mich. Ich war einer seiner Lieblingsjournalisten. Ich war von vielen einer der Lieblingsjournalisten. Ich stellte niemals lästige Fragen. Ich spürte nie wem nach. Ich nahm, was man mir gab, und ich schrieb, was ich fühlte. Ich war kein guter Journalist, denn ich war gar kein Journalist. Keiner hatte das je bemerkt.

»Habt ihr schon was rausgekriegt?«, fragte er. Ich erklärte ihm, dass ich privat hier sei, ich verwendete das Wort »zufällig«. Das war nicht vorgesehen. Ich schämte mich. Ich konnte Tomek die Wahrheit nicht zumuten. Ich hätte seinen Blick nicht überlebt.

Er erklärte mir, dass sie noch nicht viel wussten. (Das sagten sie immer, meistens stimmte es auch.) Den Toten kannte hier niemand. Ob »wir« ihn vielleicht kannten? Nein, wir kannten ihn nicht, stotterte ich. Es fiel nur ein einziger Schuss, erfuhr ich. Er drang aus kurzer Distanz durch den Rücken in die Herzkammer. »Durch den Rücken?«, fragte ich entsetzt. Tomek glaubte, ich fände das besonders perfide, so erklärte er sich meine Aufregung. Der mit der roten Jacke muss sich also umgedreht haben, dachte ich. »Wir glauben, er ist beim Eintreten ins Lokal von der Straße aus erschossen worden«, meinte Tomek. »Aber die Tür war doch schon zu«, protestierte ich. (Oder war sie offen?) Tomek lächelte und rührte väterlich an meiner Schulter. Er glaubte, ich stünde unter Schock. Er hatte Recht.

Beatrice brachte uns Kaffee und Wasser. Sie dachte, wir arbeiteten gemeinsam an dem Fall. Sie schlug einmal kurz die Augen zu mir auf. Ich wäre daraufhin gern mit ihr nach Brasilien ausgewandert. Sie vertraute mir. Das tat scheußlich weh. Zum Glück war ich kein depressiver Mensch. Im Hintergrund arbeitete die Spurensicherung. Die Gäste wurden abgegriffen. Sie mussten ihre Arme zur Seite strecken. Einige mussten sich ausziehen. Sie wurden sicherheitshalber wie Verbrecher behandelt. Alles wegen mir. Es waren zum Glück fast nur Männer im Raum. Und sie wirkten von weitem alle sehr cool. Das beruhigte mich ein bisschen.

Mich durchsuchte keiner. Ich gehörte zu Tomek dazu, dachten sie. Und für Tomek war ich hier der einzige Unverdächtige. Bob nahm mir gegenüber eine demütige Haltung ein. Er hatte Angst vor »Schlagzeilen«. Als Journalist galt ich automatisch als brutaler Zeilenschläger, der wirtschaftlich labile Lokale wie seines mit wenigen Worten zerschmettern konnte. Ich fühlte mich mies. Alles lief falsch.

Ich musste mich setzen. Meine Magensäure ätzte. Ich hatte dreißig Stunden nichts gegessen. Ich verspürte diesen schmerzhaften Hunger, der nicht mehr zu stillen war. Man hätte mir trockene Semmeln in den Mund stopfen müssen. Aber wer hätte mich zwingen können, sie zu schlucken? Das Wichtigste fiel mir gerade noch ein, ehe ich mit mir hätte geschehen lassen, was der Zufall wollte: die Waffe. Sie lag unter dem Tisch, ich schaufelte sie mit den Füßen unter meinen Sitz und hob sie auf. Mit »Hier ist die Tatwaffe« wollte ich mir eine letzte Chance auf ein sofortiges Geständnis einräumen. Aber die Worte blieben mir in der Kehle stecken. Die linke Hand war flinker und verschlagener. Sie ließ die Pistole in die Jackentasche gleiten.

Die Beinklötze trugen mich an Bob vorbei zum Ausgang. Von dem mit der roten Jacke war eine Kreideumrandung auf dem Holzboden übrig geblieben. In der Schule musste man von solchen geometrischen Figuren den Umfang und die Fläche ausrechnen. Ich machte das gern, ich war ein guter Schüler. »Er darf gehen, er ist Journalist«, rief Tomek seinen beiden uniformierten Türpfosten zu. »Schlaf dich aus, Jan«, sagte er zu mir. (Er hatte auf den Plural verzichtet, ich muss schreckliches Elend ausgesendet haben.) »Und komm morgen früh bitte ins Kommissariat, damit wir das Protokoll erledigen.« Er konnte nicht aufhören mir nachzurufen. »Vielleicht wissen wir dann schon mehr.« — »Viel Glück«, murmelte ich. Allein deswegen hätte man mich verhaften müssen.

In der Tür drehte ich mich noch einmal um. Ich starrte zu dem Platz, von dem aus ich geschossen hatte. Ich schoss im Geiste zurück. Dabei streifte mich Beatrices Blick. Brasilien, dachte ich. Aber wie viele Leben verlangte ich noch?

DREI

Draußen war ich gleichzeitig Treiber und Getriebener. Ich versteckte mich und fand mich in meinem Auto wieder. Es stand nicht mehr da wie vorher. Es war ein Fluchtauto geworden. Auf dem Rücksitz lag sinnlos die Tasche mit den Sachen für die Untersuchungshaftzelle, in der ich aufgrund der Verkettung widriger Umstände nicht gelandet war. »Verkettung widriger Umstände« war ein scheußlicher Begriff aus den Medien. Eine Zeit lang verwendete ich selbst solche Phrasen. Ich tat es, um mich über die leblose Sprache der Journalisten lustig zu machen. Ich machte mich dabei über mich selbst lustig. Keiner lachte. Die Leute fanden das normal. So widrig konnten die Umstände sich verketten.

Es hatte aufgehört zu regnen. Das bedeutete: Der Regen trommelte nicht mehr aufs Dach. Ich musste losfahren. Ich musste davonfahren. Ich musste mich einholen. Ich beschloss, die nächste Polizeiwachstube aufzusuchen und mich zu stellen. Ich fand keinen Parkplatz. Mir fehlte die Kraft, einen Parkplatz zu suchen, und mir fehlte die Courage, in zweiter Spur stehen zu bleiben. Also fuhr ich weiter. Ich hatte bereits mindestens zwei qualvolle Zustände mehr als Hunger. Meine Wirbelsäule presste mir die letzten Reste Verstand aus dem Kopf.

Ich hatte Sehnsucht nach meiner Sehnsucht nach Delia. Und ich kannte einen Weg dorthin. Mein Fluchtauto lenkte mich, ehe ich gegensteuern konnte, zu Alex. Ihre Wohnung kam mir von der Straße aus seltsam verlassen vor. Ich brauchte eine Weile um mich daran zu erinnern, dass wir Alex’ Leben mit Gregor am Ende meiner regulären Spielzeit gemeinsam aufgegeben hatten. Mein Fluchtauto mühte sich durch die Einbahnstraßen und fand schließlich das neue Haus. Ich drückte auf den Knopf der Fernsprechanlage, bis mir der Daumen wehtat. Endlich rauschte der Lautsprecher. »Wer ist da?« Das war ein Klageruf. Verständlich, es war etwa drei Uhr nachts. »Ich bin es, Jan«, hauchte ich. »Darf ich zu dir?« — »Was ist passiert?« Das klang schlimm. Alex’ Verzweiflung schien ihren eigenen Lautsprecher zu haben.

Das Haustor schnappte auf. Die Treppen kamen mir entgegen. Oben war die Tür schon offen. Alex war eine Säule aus Ratlosigkeit und Müdigkeit. Sie stand da wie ein eingeknickter Kleiderständer unter einem laschen blauen Schlafmantel. Die kurzen blonden Haare zeigten in alle Richtungen. Die Augen waren halb zu, die Wangen zerknittert, die Lippen schmollten wie die eines aus dem Schlaf gerissenen Kindes. Ich musste sofort Sex mit ihr haben.

Ich fiel ihr in die Arme und presste ihren Körper fest an mich. »Was ist passiert, Jan?«, fragte sie ängstlich. Ich schloss ihren Mund mit meinem. Ich vergrub meine Hände in ihren Frottee-Hüften und schob den Stoff zurück. Sie wehrte sich nicht. Sie stöhnte leise. Oder seufzte sie? So kannte sie mich nicht. Ich wusste nicht, ob sie wollte, was geschehen würde. Aber ich wusste, dass sie es gern für mich tat.

Wir stolperten über Kartons und Kisten in ein kahles Schlafzimmer. Sie half mir, das Bett anzusteuern. Sie ließ sich wie eine Rückenschwimmerin darauf fallen und schüttelte dabei ihren Mantel ab. Meine Hände gruben sich unter ihr T-Shirt und schoben es bis zum Hals. Ich saugte ihr die Hitze aus der Haut, Millimeter für Millimeter.

Ich nahm ihre Hände, führte sie hastig zu den Innenseiten meiner Oberschenkel und gab ihnen die Richtung an, in die sie sich bewegen sollten. Nach wenigen Sekunden war ich von meiner Kleidung befreit, lag nackt auf ihr, rieb mich zwischen ihren abgewinkelten Beinen, hob diese mit den Oberarmen an und schob sie hinter ihren Kopf zurück. Alex’ Jan-Schreie hatten einen flehentlichen Unterton angenommen. Ich stützte mich mit den Armen von ihrem Oberkörper ab und stieß sie mit heftigen Bewegungen.

Was in mir die letzten Stunden überlebt hatte, schien sich aufzubäumen. Was noch nicht abgestorben war, schien sich zu sammeln und meinen Körper als geballte Ladung verlassen zu wollen. Ein stechender Gedanke an Delia war darunter. Konnte ich nie aufhören, bei ihr zu sein? Nahm ich sie auf jede Reise mit? Folgte sie mir sogar in meinen tiefsten Abgrund? Ich blickte Alex in ihre vor Lust zitternden Augen und schloss meine sofort. Der mit der roten Jacke betrat immer und immer wieder Bob’s Coolclub. Ich hatte keine Chance, ihm diese Tür zu verriegeln.

Alex stöhnte dem Höhepunkt entgegen oder tat zumindest so. Ich zählte im Geiste unsere gemeinsamen Schreie. Eins. Zwei. Rottöne verschwammen und wurden schwarz. Drei. Vier. Ich presste meine Augen zu und öffnete die letzte Schleuse. Fünf. Die Befreiung. Die Entleerung. Das Elend war draußen. In mir war nichts mehr. Meine Arme knickten ein. Ich sackte nieder. Alex fing mich auf. Sie bettete meinen Kopf zwischen ihre Brüste. Sie streichelte meine Wangen. »Warum weinst du, Jan?«, fragte sie. — »Ich hab Hunger«, hörte ich mich noch sagen. Dann holte mich der Schlaf.

Als ich aufwachte, war alles anders und nichts besser. Ich spürte mich wieder, leider. Ich befand mich im freien Fall von der behaglichen Traumlosigkeit in die Realität und wartete vergeblich auf den Aufprall. Ich wusste, ich durfte nicht hier sein. Das war eine »Verkettung widrigster Umstände«. Zwei Radioboxen bestraften mich dafür mit Elton John. Von lindgrünen Jalousien gefiltertes Sonnenlicht bedeckte das Bett. Alex lag zum Glück nicht mehr neben mir. Wie hätte ich sie streicheln können? Es roch nach dem ersten Sonntagskaffee in einer voreilig zur Wohnung ernannten Baugrube und ich hörte aus der Tiefe eines Hohlraums Klappergeräusche von Holzpantoffeln. Neben dem Bett lag meine Jacke. Ich durchwühlte die Taschen, griff nach dem mit der Pistole gefüllten Handschuh, wusste endgültig, dass alles wahr war, und bohrte die Waffe tief in den Stoff, um sie vor mir zu verstecken. Ich presste die Augen zu und wiederholte: zwei sechs null acht neun acht.

Beim Eingang in den Raum, aus dem später einmal eine Küche werden sollte, lehnte Alex und bemühte sich vergeblich, nach »Sonntagmorgen und strahlendem Sonnenschein« zu lächeln. Hundert kummervolle Fragezeichen waren auf mich gerichtet. »Hast du zufällig eine trockene Semmel für mich?«, fragte ich. — Jetzt waren es hundertundeins kummervolle Fragezeichen.

»Hat es etwas mit Delia zu tun?«, fragte sie. »Nein«, sagte ich. »Ich habe jemanden umgebracht.« Nein — das sagte ich nicht. Ich wollte ihr den Sonntag nicht verderben. Ich sagte: »Ja. Delia. Sie ist in Paris. Sie hat mich angerufen. Sie will ihn heiraten. Den Schriftsteller. Du weißt schon. Diese französische Arschgeige. Heiraten und französische Arschgeigenkinder mit ihm kriegen.« Ich spielte harmlosen Zorn, ich ballte meine Fäuste. Zwanzig kummervolle Fragezeichen waren aus ihren Augen verschwunden. Blieben einundachtzig.

»Was war das für eine Sexattacke mitten in der Nacht, Jan? Was sollte das sein?«, fragte sie. »Alex, ich wünschte, ich könnte es dir erklären«, erwiderte ich wahrheitsgemäß. — Es war trotzdem keine gute Antwort. Nicht einmal ein halbes Fragezeichen verschwand aus ihren Augen. Wir waren einmal ineinander verliebt, Alex und ich. Lag viele Jahre zurück und dauerte zwei Sekunden. Erst war sie eine Sekunde in mich verliebt. Dann ich eine in sie. Leider verfehlten sich unsere beiden Sekunden. Danach waren wir Freunde.

»Das passt nicht zu dir, das bist nicht du«, sagte sie. (Sie meinte den Sex, es klang wie eine Beleidigung, aber sie hatte Recht.) »Ich war so alleine und ich hatte auf einmal solche Lust auf dich«, sagte ich. Man konnte gut lügen, schlecht lügen und peinlich schlecht lügen. Ich log peinlich schlecht.

»Hat sich Gregor gemeldet?«, fragte ich. — Kein Fragezeichen verschwand. Sie merkte sofort, dass mich das im Augenblick überhaupt nicht interessierte. »Er hat sich nicht gemeldet«, sagte sie und rieb sich mit dem Knöchel die Wange, als würde sie über eine längst getrocknete Träne noch einmal drüberwischen. (Vermutlich hatte er sich gemeldet. Sie liebte ihn. Arschlöcher werden immer geliebt. Meistens von den besten Frauen.)

»Willst du mir nicht sagen, was los ist?«, fragte sie später noch einmal. Ich hatte drei alte Semmeln gegessen und eine Kanne Schwarztee mit Pfirsichgeschmack getrunken und fühlte mich etwas besser. »Meine liebe Alex«, sagte ich und das klang nach einer Grundsatz- bis Abschlusserklärung, »ich hatte einfach eine hundsmiserable Nacht und du hast mich aufgefangen …« — »Und das vergisst du mir nie«, spöttelte sie. Ich streichelte ihr Gesicht und legte ihr den Finger auf den Mund, wie in einem relativ schlechten Liebesfilm. In einem ganz schlechten hätte ich noch »Pssst« geflüstert.

Als ich sie verließ, hatte sich der Morgenschleier ihrer Augen bereits gehoben. Die einundachtzig Fragezeichen waren jetzt stechend scharf auf mich gerichtet. Zum Glück werde ich nicht dabei sein, wenn sie es erfährt, dachte ich. Das würde ich nicht überleben.

VIER

Ich hätte nicht gedacht, dass es Täter wirklich zum Tatort zurückzieht. Jedenfalls parkte ich mein Fluchtauto zu Mittag gegenüber von Bob’s Coolclub, starrte durch das Seitenfenster auf das geschlossene Lokal, das tatsächlich aussah, als wäre dort erst vor wenigen Stunden jemand ermordet worden, und wartete auf irgendein Ereignis, das mich von meinem lähmenden Zustand befreien und mir die Handschellen anlegen konnte.

Etwa eine halbe Stunde später trat dieses Ereignis ein, und zwar ruckartig durch die Beifahrertür. Ich ergab mich sofort — vielleicht ein bisschen zu früh. Mona Midlansky von der »Abendpost« nahm unaufgefordert, wie es ihre Art war, neben mir Platz. »Hey, Jan, ich wollte dich nicht erschrecken«, log sie. »Zu spät«, sagte ich und legte meine Hand aufs Herz, wie ein schlechter Schauspieler, der einen Infarkt mimte. Dabei war ich ein guter Schauspieler: Ich hatte tatsächlich einen Infarkt, tat aber so, als mimte ich nur einen.

»Was machst du hier?«, fragte ich hastig, um Midlanskys »Was machst du hier?« den Weg abzuschneiden. — »Ich recherchiere den Schwulenmord im Coolclub«, sagte sie ungeschminkt, wie man im Boulevard rund um die Uhr sein musste, um als Polizeireporterin bestehen zu können. »Und da bin ich bei dir ja goldrichtig«, fügte sie an und klopfte mir derb auf die Schulter. »Ich weiß nämlich, dass du es warst.« Nein, das sagte sie nicht. Wäre mir übrigens egal gewesen. Mir war im Moment alles egal. Ich steckte bei dem Wort »Schwulenmord« fest. Mein Magen erinnerte mich an die Zeit vor den drei Semmeln bei Alex.

»Schwulenmord?«, fragte ich. »Inspektor Tomek meint, dass es möglicherweise ein Mord im Schwulenmilieu war«, erwiderte Midlansky. »Oder weißt du Genaueres? Du warst ja dabei. Tomek sagt, du bist im Lokal gesessen. Weißt du, wer’s war? Hast du’s schon rausgekriegt? Ein Bier, wenn du mir einen Tipp gibst.« Sie machte eine taktische Pause. »Okay — drei Bier.« Zu anderen sagte sie angeblich gern: »Drei Bier und einmal auf die Brust greifen«, hieß es. Vor mir hatte sie etwas mehr Respekt. Natürlich ließ sie sich niemals von einem Kollegen auf die Brust greifen. Aber so ging das Spiel, und es gefiel ihnen. Es wertete ihre miesen Jobs auf. Jedes kleinste Rechercheergebnis war für sie, als würden sie Mona Midlansky auf die Brust greifen. Vermutlich deshalb recherchierten sie Tag und Nacht.

Ich erklärte ihr, dass ich von dem Mord nichts mitbekommen hätte, dass ich mit dem Fall journalistisch gar nicht befasst sei, dass ich nur aus persönlichem Interesse nochmals hierher gekommen sei. »Es ist ein eigenartiges Gefühl, wenn man so etwas selbst erlebt, ich meine, wenn man unmittelbar daneben sitzt und es wird jemand umgebracht«, sagte ich. Sie warf mir einen mitleidigen Blick zu. Sie hielt mich für weich und weltfremd. Sie spürte wohl auch, dass ich keiner von ihnen war. Aber sie erwies mir die Ehre des Berufstandes und sagte: »Wenn du was erfährst, ruf mich doch in der Redaktion an, das wäre supertoll, die drei Bier stehen, Tschüssi.«

Als die Tür zugeknallt war, startete ich sofort und fuhr ins Wachzimmer Traubergasse. Dort kannte ich niemanden. Ich musste endlich mein Geständnis ablegen. Das Leben in dieser entarteten Freiheit mit den Gesichtern von früher, die mich ansahen wie früher, war keine Minute länger auszuhalten. Die Stube roch nach Polizei um ein Uhr mittags an einem sonnigen Sonntag im Oktober. Der Beamte war zwar in Uniform, schien aber nicht im Dienst zu sein. Er hielt eine gelbe Kaffeetasse mit roten Marienkäfern in der Hand. Vor ihm lag ein geöffnetes Comicheft. Polizisten waren im Grunde Kinder, die nicht aufhören konnten, Polizei zu spielen.

Er blickte zu mir auf, als hätte ich soeben meinen größten Fehler begangen (um ein Uhr mittags an einem sonnigen Sonntag im Oktober eingetreten zu sein). »Ich habe jemanden umgebracht«, sagte ich. Kein Wort davon blieb mir in der Kehle stecken. Er nickte verständnisvoll und bot mir einen Platz an. Er stellte seine Tasse ab, klappte das Heft zu (»Asterix bei den Römern«) und fragte übertrieben leise: »Können Sie sich ausweisen?« — Ich griff in die Jackeninnentasche, zog den gefüllten Handschuh heraus, legte das Knäuel auf den Tisch und sagte: »Das ist die Tatwaffe.« Er schob das Ding mit dem Ellbogen zur Seite und verlangte stur einen Ausweis. Er ähnelte Mike Hammer — nach zwanzig Jahren Innendienst ohne Vorfälle. Er glaubte wohl bereits fest an das Harmlose im Menschen.

Meine größte Stärke und Schwäche war es, Erwartungen zu erfüllen. Ich zeigte ihm den Journalistenausweis, einen besseren hatte ich nicht bei mir. Er schmunzelte, brach das Schmunzeln aber sofort wieder ab und verlas: »Jan Haigerer von der Kulturwelt.« Es klang wie eine überfällige Entwarnung, als glaubte er, auf alle im Raum stehenden Fragen die logische Antwort gefunden zu haben. Ich bemühte mich, laut und eindringlich zu reden: »Der Mord gestern Nacht — das war ich. Ich hab den Mann in Bob’s Coolclub erschossen. Und zwar mit dieser Waffe!« — Ich deutete auf den Handschuh. Der Beamte schien erstmals Notiz davon zu nehmen. Er war verwirrt. Er konnte die vier Dinge nicht in Zusammenhang bringen: meine Erscheinung, meine Pistole, meine Identität und meine Worte.

Immerhin durfte ich bleiben. Ich saß lange dort und beobachtete ihn bei seinen geheimnisvollen Funksprüchen hinter vorgehaltener Hand, wie er mich dabei beobachtete, wie er sich bemühte, misstrauisch zu sein, wie er mir gleich darauf vertraulich zulächelte. Dazwischen machten wir Protokoll, das heißt: Er schrieb, ich sprach. Keine Ahnung, was ich ihm alles erzählte. Es konnte nicht sehr wichtig gewesen sein. (Mein Leben war nicht sehr wichtig gewesen.) Es strengte mich nicht an, ich musste mich nicht darauf konzentrieren. Ich konnte an Delia denken, ich durfte sie sogar küssen, obwohl wir schon vier Jahre getrennt voneinander lebten — die eine besser, der andere schlechter. Ich wünschte, sie würde mich dafür wieder lieben. Dafür, dass ich hier gelandet war.

Irgendwann kamen zwei Kollegen dazu. Sie rochen nach Bereitschaftsdienst an einem sonnigen Sonntag im Oktober. Der Geruch war intensiv, das Wirtshaus musste gleich um die Ecke sein. Einer kümmerte sich um die Waffe. Er studierte sie, ohne sie zu berühren. Dann wurde sie umständlich verpackt, wie man das oft in schlechten Kriminalfilmen sah. Der andere erzählte mir, dass er die »Kulturwelt« abonniert habe, dass das eine sehr gute, seriöse Zeitung sei. Ich bedankte mich, obwohl es nicht stimmte. Es gab keine seriösen Zeitungen. Es gab auch keine schwarzen Schimmel.

Am späten Nachmittag brachten sie mich ins Hauptkommissariat. Dort empfing mich der Amtsarzt wie einen Ehrengast. Er stellte seine Diagnose gleich bei der Begrüßung: »Dem Herrn von der Zeitung ist das Verbrechen gestern Nacht anscheinend sehr nahe gegangen.« Ich versuchte mich zu wehren. Aber er war der Arzt. Er nahm mir Blut ab, roch meinen Atem (da hätte er mit den Polizisten mehr Freude gehabt) und vertiefte sich in meine Augen, um etwas Irres zu erkennen. »Man möchte das nicht für wahr halten, aber es gibt in dieser Welt noch Ereignisse, die einem nahe gehen«, hauchte er mir in die Nase. (Er hatte Mundgeruch, wie alle Ärzte.) Ich nickte, weil ich gut erzogen war. Dafür bekam ich Tee und Sandwiches mit Schinken und Tomaten. Ich aß sie gegen die Übelkeit. Dabei wurde mir schlecht. Mir graute vor mir und den Menschen, die sich jetzt mit mir beschäftigen mussten.

Ich dürfte dann auf der Couch eingeschlafen sein. Wahrscheinlich hatte mir der Amtsarzt eine Injektion gegen Ereignisse, die einem zu nahe gehen, verpasst. Als ich aufwachte, saß Inspektor Tomek wie ein großer Bruder neben mir. Gerade, dass er nicht mein Händchen hielt. »Ihr seid mir welche!«, sagte er und lachte laut auf. »Einmal erlebt ihr, was für uns Alltag ist, und schon gehen euch die Nerven durch.« Ich schloss die Augen, um mich aus dieser grauenvollen Szene auszublenden. Vergeblich. »Kopf hoch, Jan, wir haben schon eine heiße Spur«, tröstete er. »Sehr heiß, brandheiß sozusagen.« Das gefiel ihm, er lachte. »Morgen habt ihr’s groß in euren Zeitungen.« Er hörte nicht auf, mich zu quälen. »Der Tote war heiß wie eine Herdplatte. Und drei seiner wärmsten Freunde haben kein sehr gutes Alibi.«

Er klopfte auf die Bettkante, um das Gespräch für beendet zu erklären. »Darf ich hier bleiben?«, fragte ich. Es klang wie ein Gewinsel. Ich genierte mich dafür. »Klar, Jan, schlaf dich aus, du hast dich übernommen. Burnout-Syndrom nennt ihr das, nicht wahr?« Tomek machte sich zum Gehen bereit. »Eines noch.« Er drehte sich um und warf mir einen bemüht strengen Blick zu. »Hast du eigentlich einen Waffenschein?« — »Hab ich nicht«, sagte ich. Er hob den Zeigefinger und schaukelte ihn einige Male nach links und nach rechts.

FÜNF