you’d better let love depart

I know it’s so, and yet I know

I can’t get you out of my heart

Buddy Johnson,

›Since I Fell For You‹

 

Maskiert trete ich auf.

René Descartes

An einem Dienstag im Mai, im Alter von sechsunddreißig Jahren, erschoss Rachel ihren Mann. Er stolperte mit einem seltsam wissenden Gesichtsausdruck rücklings, als ob er schon immer geahnt hätte, dass sie es tun würde.

Gleichzeitig wirkte er auch überrascht. Sie nahm an, dass sie ähnlich aussah.

Ihre Mutter wäre nicht überrascht gewesen.

Ihre Mutter, die niemals verheiratet gewesen war, hatte einen berühmten Ratgeber geschrieben, wie man erfolgreich verheiratet blieb. Die einzelnen Kapitel waren nach Phasen benannt, welche Dr. Elizabeth Childs in allen Beziehungen ausgemacht hatte, die mit gegenseitiger Zuneigung begannen. Das Buch trug den Titel Die Treppe und war so erfolgreich, dass man ihre Mutter überzeugte (»nötigte«, hätte sie gesagt), zwei Fortsetzungen zu schreiben, Höher auf der Treppe und Treppenstufen: ein Arbeitsbuch, von denen sich jedes ein wenig schlechter verkaufte als das vorangegangene.

Insgeheim hielt ihre Mutter alle drei Bücher für »emotional unausgegorene Quacksalbereien«, aber sie bewahrte sich in ihrem Herzen eine wehmütige Zuneigung für Die Treppe, denn ihr war beim Schreiben nicht klar gewesen, wie wenig sie tatsächlich wusste. Das sagte sie Rachel, als diese zehn war. Im selben Sommer, sie hatte schon einige ihrer

Dann hatte ihre Mutter sie auf den Kopf geküsst. Ihre Wange getätschelt. Ihr gesagt, dass sie nichts zu befürchten habe.

Rachel war sieben gewesen, als Die Treppe erschien. Sie erinnerte sich an die endlosen Telefongespräche, die nie endende Abfolge von Reisen, die neu auflebende Zigarettensucht ihrer Mutter und den verzweifelten, seltsam abgeklärten Ruhm, der sie plötzlich ereilte. Sie erinnerte sich an ein Gefühl, das sie kaum ausdrücken konnte: dass nämlich ihre stets unglückliche Mutter mit wachsendem Erfolg nur verbitterter wurde. Viele Jahre später vermutete sie, dass der Ruhm und das Geld ihrer Mutter die Ausflüchte für ihre Unzufriedenheit nahmen. Zwar konnte sie die Probleme anderer Menschen hervorragend diagnostizieren, hatte aber keinen Schimmer, wie sie sich selbst analysieren sollte. So suchte sie ihr Leben lang nach Lösungen für Probleme, die ihr so tief in den Knochen steckten, dass sie sie gar nicht erkannte. Davon wusste Rachel mit sieben Jahren natürlich noch nichts, und auch nicht mit siebzehn. Sie wusste nur, dass ihre Mutter eine unglückliche Frau war – und folglich war Rachel ein unglückliches Kind.

Als Rachel ihren Mann erschoss, standen sie auf einem Boot in Boston Harbor. Ihr Mann hielt sich nur kurz auf den Beinen – sieben Sekunden? Zehn? –, ehe er vom Hinterdeck ins Wasser stürzte.

Bestürzung. Selbstmitleid. Entsetzen. Eine Verlassenheit, die so umfassend war, dass sie ihn dreißig Jahre jünger machte und vor ihren Augen in einen Zehnjährigen verwandelte.

Wut natürlich. Empörung.

Eine plötzliche und erbitterte Entschlossenheit, als ob alles in Ordnung kommen würde, als ob er diese Sache gesund und munter überstehen würde, obwohl das Blut aus seinem Herzen floss und über die Hand, mit der er die Wunde bedeckte. Er war schließlich stark, er hatte alles, was in seinem Leben von Wert war, durch bloße Willenskraft erreicht, und mit Willenskraft würde er auch hier durchkommen.

Dann das Dämmern der Erkenntnis: nein, würde er nicht.

Er sah ihr direkt in die Augen, während das unbegreiflichste aller Gefühle sein Recht einforderte und alle anderen überlagerte:

Liebe.

Aber das war unmöglich.

Und dennoch …

Es konnte kein Zweifel daran bestehen. Wild, hilflos, rein. Rot erblühend und um sich greifend wie das Blut auf seinem Hemd.

Er formte die Wörter mit den Lippen, wie er es oft von der anderen Seite eines überfüllten Raumes aus getan hatte: Ich. Liebe. Dich.

Und dann fiel er aus dem Boot und verschwand unter der schwarzen Wasseroberfläche.

Wäre sie zwei Tage zuvor gefragt worden, ob sie ihren Mann liebte, hätte sie »ja« gesagt.

Ihre Mutter hatte ein Kapitel darüber geschrieben – Kapitel 13: »Missverhältnis«.

Oder war das nächste Kapitel – »Tod eines Mythos« – zutreffender?

Rachel wusste es nicht genau. Manchmal brachte sie die beiden durcheinander.

Rachel im Spiegel
19772010

Dreiundsiebzig Mal James

Rachel wurde im Pioneer Valley in West-Massachusetts geboren. Die Gegend war bekannt als die Region der fünf Colleges – Amherst, Hampshire, Mount Holyoke, Smith und die Universität Massachusetts –, und sie beschäftigte zweitausend Lehrkräfte, um fünfundzwanzigtausend Studenten zu unterrichten. Rachel wuchs in einer Welt der Cafés, Frühstückspensionen, weitläufigen öffentlichen Grünanlagen und altmodischen Holzschindelhäuser auf – Häuser mit umlaufenden Veranden und modrig riechenden Dachböden. Im Herbst begruben die Blätter die Straßen und Bürgersteige unter sich und blieben in den Zwischenräumen der Holzlattenzäune stecken. Manchen Winter deckte der Schnee das Tal so dicht zu, dass Stille zum vorherrschenden Geräusch wurde. Im Juli und August trug der Postbote die Briefe mit dem Fahrrad aus, eine altmodische Klingel am Lenker, und es kamen Touristen, welche die Theater und Antiquitätengeschäfte bevölkerten.

Ihr Vater hieß James. Sonst wusste sie wenig über ihn. Sie erinnerte sich an sein dunkles, gewelltes Haar und dass sein überraschend hervorbrechendes Lächeln immer ein wenig unsicher gewirkt hatte. Mindestens zweimal war er mit ihr auf einem Spielplatz mit einer dunkelgrünen Rutsche gewesen, über dem die Wolken von Berkshire so tief hingen, dass

James war Lehrer an einem College gewesen. Sie hatte keine Ahnung, an welchem, und sie wusste auch nicht, ob er wissenschaftlicher Mitarbeiter, Dozent oder fest angestellter Professor gewesen war. Sie wusste nicht einmal, ob er an einem der »berühmten Fünf« unterrichtet hatte. Er hätte auch am Berkshire oder Springf‌ield Technical, am Greenf‌ield CC oder am Westf‌ield State arbeiten können oder an irgendeinem der anderen Colleges, von denen es in der Region mindestens ein Dutzend gab.

Ihre Mutter unterrichtete am Mount Holyoke, als James die beiden verließ. Rachel war nicht mal drei Jahre alt und hätte später nicht mit Sicherheit sagen können, ob sie dabei gewesen war, als ihr Vater fortging, oder ob sie sich das bloß eingebildet hatte, um sich über seine Abwesenheit hinwegzutrösten. Sie hörte, wie die Stimme ihrer Mutter durch die Wände des kleinen Hauses an der Westbrook Road drang, das sie in jenem Jahr gemietet hatten. Hast du mich verstanden? Wenn du durch diese Tür gehst, werde ich dich aus meinem Leben auslöschen. Kurz darauf das dumpfe Poltern eines Koffers auf der Hintertreppe, gefolgt vom Zuschnappen der Kofferraumklappe. Das Krächzen und Pfeifen eines kalten Motors in einem kleinen Auto, der gegen das Anlassen protestiert. Dann Reifen, die über das herbstliche Laub und die gefrorene Erde gleiten, gefolgt von … Stille.

Vielleicht hatte ihre Mutter nicht geglaubt, dass er wirklich gehen würde. Vielleicht hatte sie sich nach seinem

»Er ist weg«, sagte sie, als Rachel ungefähr fünf war und begonnen hatte, hartnäckige Fragen nach seinem Verbleib zu stellen. »Er will nichts mit uns zu tun haben. Und das ist in Ordnung, Liebling, weil wir ihn nicht brauchen, um uns zu definieren.« Sie kniete vor Rachel nieder und strich ihr eine widerspenstige Haarsträhne hinter das Ohr. »Und jetzt werden wir nie wieder von ihm sprechen. Einverstanden?«

Aber natürlich sprach Rachel weiter von ihm und stellte ihre Fragen. Anfangs machte das ihre Mutter wütend; wilde Panik flammte dann in ihren Augen auf, und sie atmete scharf ein. Aber schließlich trat an die Stelle der Panik ein seltsames schwaches Lächeln. So schwach, dass man es kaum ein Lächeln nennen konnte, nur ein leises Aufwärtszucken ihres rechten Mundwinkels, das zugleich arrogant, bitter und triumphierend war.

Es dauerte Jahre, bis Rachel in diesem Lächeln den Entschluss ihrer Mutter erkannte (ob bewusst oder unbewusst, war ihr nie ganz klar), die Identität ihres Vaters zum zentralen Schlachtfeld eines Krieges zu machen, der Rachels gesamte Jugend bestimmen sollte.

Es begann damit, dass sie versprach, Rachel an ihrem sechzehnten Geburtstag James’ Nachnamen zu nennen, vorausgesetzt, dass Rachel bis dahin die nötige Reife zeigen würde. Aber in dem Sommer bevor sie sechzehn wurde, verhaftete man sie in einem gestohlenen Auto zusammen mit Jarod Marshall, mit dem sie sich eigentlich nie mehr hatte treffen wollen – so lautete zumindest das Versprechen, das

Sie stritten dauernd deswegen. Rachel schrie und warf Sachen durch die Gegend, und das Lächeln ihrer Mutter wurde kälter und noch schwächer, als es sowieso schon war. Immer wieder fragte sie Rachel: »Warum?«

Warum willst du das wissen? Warum willst du einen Fremden kennenlernen, der niemals Teil deines Lebens war oder irgendetwas zu deiner finanziellen Sicherheit beigetragen hat? Solltest du nicht erst einmal herausfinden, was in dir selbst dich so unglücklich macht, ehe du in die Welt hinausgehst und einen Mann suchst, der dir keine Antworten geben kann und keinen Frieden?

»Weil er mein Vater ist!«, schrie Rachel immer wieder.

»Er ist nicht dein Vater«, sagte ihre Mutter mit einem Anflug salbungsvoller Anteilnahme. »Er ist mein Samenspender.«

Das sagte sie am Ende einer ihrer schlimmsten Auseinandersetzungen, dem Tschernobyl der Mutter-Tochter-Debatten. Rachel glitt geschlagen an der Wand des Wohnzimmers hinab und flüsterte: »Du bringst mich um.«

»Ich beschütze dich«, sagte ihre Mutter.

Rachel sah hoch und erkannte zu ihrem Entsetzen, dass es ihrer Mutter ernst war. Schlimmer noch, sie hielt sich an dieser Überzeugung aufrecht.

Als Rachel während ihres ersten Collegejahres in Boston

Der Fahrer des Tanklasters erlitt ein leichtes Schleudertrauma und einen Bänderriss im Knie. Elizabeth Childs, die einst berühmte Autorin, starb bei dem Aufprall. Auch wenn ihre landesweite Prominenz längst abgeklungen war, so war sie doch immer noch eine glanzvolle regionale Berühmtheit. Sowohl der Berkshire Eagle als auch die Daily Hampshire Gazette druckten einen Nachruf auf dem unteren Teil ihrer Titelseiten, und ihr Begräbnis war gut besucht. Der anschließende Leichenschmaus allerdings weniger. Rachel verschenkte den Großteil des Essens an ein Obdachlosenheim. Sie sprach mit mehreren Freundinnen ihrer Mutter und einem Mann namens Giles Ellison, der am Amherst College Politikwissenschaften unterrichtete und, wie Rachel seit langem vermutet hatte, der Gelegenheitsliebhaber ihrer Mutter war. Sie sah sich in ihrer Annahme bestätigt, weil er kaum sprach und die Frauen ihn besonders aufmerksam behandelten. Giles, normalerweise ein geselliger Mensch, hob öfters zum Sprechen an, schloss den Mund dann aber wieder, als hätte er es sich anders überlegt. Er sah sich im Haus um, als ob er jede Kleinigkeit aufsaugen wollte, als

Auf ihre ganz eigene schikanöse und bissige Art war sie eine strahlende Persönlichkeit gewesen. Sie betrat nicht einfach einen Raum, sie rauschte hinein. Sie lud Freunde und Kollegen nicht einfach zu sich ein, sie scharte sie um sich. Sie schien fast keinen Schlaf zu brauchen, sie wirkte nur selten müde, und niemand konnte sich erinnern, dass sie jemals krank gewesen war. Wenn Elizabeth Childs einen Raum verließ, dann merkte man das sogar dann noch, wenn man erst nach ihrem Weggang eingetroffen war. Und als Elizabeth Childs die Welt verließ, war es das gleiche Gefühl.

Überrascht stellte Rachel fest, wie wenig sie auf den Verlust ihrer Mutter vorbereitet war. Elizabeth hatte vieles verkörpert, das meiste – zumindest nach Ansicht ihrer Tochter – auf keineswegs positive Weise, aber sie war immer anwesend gewesen. Ohne Wenn und Aber. Und nun war sie unwiderruflich – und jäh – abwesend.

Aber Rachels eine und einzige Frage hatte sie überdauert.

Wie gut Giles und ihre Freundinnen, ihre Agentin und ihr Verleger Elizabeth Childs auch immer gekannt hatten – und sie alle beschrieben eine bestimmte Facette von ihr, die sich leicht, aber deutlich von der Frau unterschied, mit der Rachel zusammengelebt hatte –, keiner von ihnen hatte sie länger gekannt als Rachel.

»Ich wünschte, ich wüsste etwas über James«, sagte Ann Marie McCarron, Elizabeths älteste Freundin in dieser Gegend, zu Rachel, nachdem sie ausreichend getrunken hatten, um das heikle Thema anzusprechen. »Aber ich habe deine Mutter erst mehrere Monate nach ihrer Trennung kennengelernt. Ich erinnere mich noch, dass er in Connecticut unterrichtet hat.«

»Connecticut?« Sie saßen auf der verglasten Veranda, nicht mehr als zweiundzwanzig Meilen von der Grenze zu Connecticut entfernt. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund war es Rachel nie in den Sinn gekommen, dass ihr Vater, statt an einem der »berühmten Fünf« oder einem der fünfzehn anderen Colleges diesseits der Berkshire Mountains zu unterrichten, genauso gut eine halbe Autostunde südlich in Connecticut gearbeitet haben könnte.

»Die Universität von Hartford?«, fragte sie.

Ann Marie brachte es fertig, gleichzeitig die Nase zu rümpfen und die Lippen zu spitzen. »Keine Ahnung. Könnte sein.« Sie schlang einen Arm um Rachel. »Ich

»Warum?«, fragte Rachel (schon wieder dieses ewige Warum, dachte sie). »War er so schlimm?«

»Das wäre mir neu«, sagte Ann Marie schon etwas lallend und setzte ein trauriges Gesicht auf. Sie sah durch die Fensterscheibe in den grauen Nebel, der über den grauen Bergen hing, und sprach mit Nachdruck und einer gewissen Endgültigkeit: »Schätzchen, ich weiß bloß, dass er sein altes Leben hinter sich gelassen hat.«

In ihrem Testament hatte ihre Mutter ihr alles vererbt. Es war weniger, als Rachel vermutet hatte, aber mehr, als sie mit einundzwanzig brauchte. Wenn sie bescheiden lebte und das Geld geschickt anlegte, würde es vielleicht zehn Jahre lang reichen.

In einer verschlossenen Schublade im Arbeitszimmer fand sie die beiden Schuljahrbücher ihrer Mutter: North Adams High School und Smith College. Ihren Abschluss und ihren Doktor hatte sie an der Johns-Hopkins-Universität gemacht (mit neunundzwanzig, wie Rachel feststellte – ach herrje), aber der einzige Hinweis darauf waren die beiden gerahmten Urkunden, die neben dem Kamin an der Wand hingen. Sie ging die Jahrbücher in einem selbstauferlegten Schneckentempo dreimal gründlich durch. Alles in allem fand sie vier Fotos von ihrer Mutter, zwei offizielle und zwei, auf denen sie als Teil einer Gruppe zu sehen war. Im Jahrbuch des Smith College gab es keine Studenten mit dem Namen James, da es sich um eine reine Mädchenschule handelte. Dafür zwei Lehrer, doch von denen hatte keiner das richtige Alter oder schwarzes Haar. Im Jahrbuch

In dem Sommer, ehe sie das Haus verkaufte, stattete sie der Detektei Berkshire Security & Partner einen Besuch ab, wo sie Brian Delacroix kennenlernte. Der hochgewachsene Privatdetektiv war kaum älter als sie und bewegte sich mit der schlaksigen Gelassenheit eines Joggers. Sie trafen sich in seinem Büro im zweiten Stock eines Gebäudes im Gewerbegebiet von Chicopee. Das Büro war eine Schuhschachtel, es passten gerade mal Brian, ein Schreibtisch, zwei Computer und ein paar Aktenschränke hinein. Als sie fragte, wo die »Partner« aus dem Firmennamen seien, erklärte Brian, dass er dieser Partner sei. Die Zentrale befände sich in Worcester. Seine Zweigstelle in Chicopee funktioniere auf Franchisebasis und sei eine günstige Gelegenheit für ihn, erste Berufserfahrungen zu sammeln. Er bot an, sie an einen erfahreneren Kollegen weiterzuleiten, aber ihr war wirklich nicht danach zumute, wieder in ihr Auto zu steigen und den ganzen Weg nach Worcester zu fahren, also ging sie das Risiko ein und erzählte ihm, weshalb sie gekommen war. Brian stellte einige Fragen und notierte sich etwas auf einem gelben Notizblock. Er sah ihr oft genug in die Augen, um sie

»Sie haben zu wenig Informationen, um diesen Mann zu finden.«

»Deshalb will ich Sie ja mit der Suche beauftragen.«

Er rutschte auf seinem Stuhl hin und her. »Ich habe ein bisschen recherchiert. Nichts Großartiges, nichts, was ich Ihnen berechnen würde –«

»Ich zahle.«

»– aber genug. Wenn er Trevor hieße oder, was weiß ich, Zachary, dann hätten wir vielleicht eine Chance, einen Mann aufzuspüren, der vor zwanzig Jahren an einer von mehr als zwei Dutzend höherer Bildungseinrichtungen in Massachusetts oder Connecticut unterrichtet hat. Aber ich habe eine schnelle Computeranalyse durchführen lassen, Miss Childs, und in den letzten zwanzig Jahren haben an den siebenundzwanzig Schulen, die in Frage kommen, nicht weniger als dreiundsiebzig« – er nickte angesichts ihrer schockierten Reaktion – »wissenschaftliche Assistenten, Aushilfslehrer, Gastprofessoren, Honorarprofessoren und Vollzeitprofessoren mit dem Vornamen James gearbeitet – einige nur ein Semester lang, andere in Festanstellung.«

»Kann man Personalakten mit Fotos bekommen?«

Sie durchlief ein Wechselbad der Gefühle: Angst, Zorn, Hilflosigkeit – die weiteren Zorn hervorrief – und schließlich trotzige Wut über diesen Scheißkerl, der seine Arbeit nicht machen wollte. Gut, würde sie eben jemand anderen finden.

Er erkannte das alles in ihren Augen und an der Art, mit der sie nach ihrer Handtasche griff.

»Wenn Sie zu einer anderen Detektei gehen und die merken, dass Sie kürzlich eine Erbschaft gemacht haben, dann werden sie Ihnen das Geld aus der Tasche ziehen und trotzdem nichts herausfinden. Und dieser Diebstahl – denn etwas anderes ist es meiner Meinung nach nicht – wird völlig rechtmäßig sein. Dann sind Sie arm und immer noch vaterlos.« Er beugte sich vor und sprach mit sanfter Stimme: »Wo wurden Sie geboren?«

Sie neigte den Kopf in Richtung des südlichen Fensters. »Springf‌ield.«

»Existiert eine Patientenakte?«

Sie nickte. »Mein Vater wird darin als ›unbekannt‹ vermerkt.«

Sie nickte wieder. »Einmal, als meine Mutter etwas getrunken hatte, erzählte sie mir, dass sie sich an dem Abend, als die Wehen einsetzten, gestritten hatten. Er verließ daraufhin die Stadt. Aus Wut hat sie sich nach der Geburt geweigert, dem Krankenhaus seinen Namen zu nennen.«

Sie saßen schweigend da. Dann fragte sie: »Sie wollen meinen Fall also nicht übernehmen?«

Brian Delacroix schüttelte den Kopf. »Lassen Sie es auf sich beruhen.«

Sie stand mit zitternden Händen auf und dankte ihm für seine Mühe.

 

Überall im Haus waren Fotos: im Nachttisch ihrer Mutter, in einer Kiste auf dem Dachboden, einer Schublade im Arbeitszimmer. Auf den meisten Fotos waren sie beide zu sehen. Rachel erkannte betroffen, wie deutlich die Liebe ihrer Mutter sich in ihren blassen Augen zeigte, auch wenn sie sogar auf den Fotos kompliziert wirkte: als ob sie gerade dabei sei, das Thema Mutterliebe noch einmal zu überdenken. Die restlichen Bilder zeigten Freunde, Kollegen aus der akademischen Welt und aus dem Verlagswesen. Die meisten waren auf Cocktailpartys und sommerlichen Grillfesten aufgenommen worden, und zwei in einer Kneipe mit Menschen, die Rachel zwar nicht kannte, die aber unverkennbar dem akademischen Milieu entstammten.

Zwei zeigten einen Mann mit dunklem, welligem Haar und einem unsicheren Lächeln.

Beim Verkauf des Hauses fand sie die Tagebücher ihrer Mutter. Zu diesem Zeitpunkt hatte Rachel ihr Studium an der

Die Tagebücher waren nicht auf dem Dachboden. Sie befanden sich in einer Kiste im Keller, einfache linierte Aufsatzhefte, versteckt unter nachlässig verpackten ausländischen Ausgaben von Die Treppe. Die Einträge waren so planlos, wie ihre Mutter es zeit ihres Lebens gewesen war. Die Hälfte war undatiert, und es klafften monatelange, manchmal sogar jahrelange Lücken zwischen ihnen. Am häufigsten schrieb sie über Angst. Vor der Treppe waren es finanzielle Ängste: Sie würde als Psychologiedozentin niemals genug verdienen, um ihr Studentendarlehen abstottern zu können, geschweige denn, um ihre Tochter an eine anständige Privatschule und auf ein anständiges College schicken zu können. Als ihr Buch die Bestsellerlisten stürmte, wurde sie von der Angst heimgesucht, niemals eine angemessene Fortsetzung schreiben zu können. Sie hatte auch Angst, dass man ihr Buch zur Hochstapelei erklären würde, dass man sagen würde, es sei ein Beschiss, und dass dieser Beschiss auffliegen würde, sobald sie etwas Neues veröffentlichte. Diese Angst, wie sich herausstellen sollte, war nur allzu gerechtfertigt.

Fünfzehn Seiten später hieß es: »Ich muss mich dieser Einsicht stellen: Ich war keine gute Mutter. Ich hatte noch nie Geduld für das unterentwickelte Stirnhirn. Ich bin zu bissig, will auf den Punkt kommen, obwohl ich eigentlich Geduld vorleben sollte. Ich fürchte, dass sie mit einer schroffen Reduktionistin aufwachsen musste. Und ohne Vater. Das hat sie innerlich ausgehöhlt.«

Einige Seiten später kam ihre Mutter erneut auf das Thema zu sprechen. »Ich fürchte, sie wird ihr Leben mit der Suche nach etwas verschwenden, womit sie ihre innere Leere füllen kann: kurzlebige Moden, Seelenklimbim, New-Age-Therapien, Kräutermedizin. Sie hält sich für rebellisch und widerspenstig, aber sie ist nur eines von beidem. Sie ist so schrecklich bedürftig

In einem undatierten Eintrag einige Seiten später schrieb Elizabeth Childs: »Jetzt ist sie krank, liegt in diesem fremden Bett und ist sogar noch bedürftiger als sonst. Immer wieder stellt sie die gleiche Frage: Wer ist er, Mutter? Sie sieht so zerbrechlich aus – sentimental und zerbrechlich. Sie hat so viele wunderbare Anlagen, meine liebste Rachel, aber

Rachel, die auf der vorletzten Stufe der Kellertreppe saß, hielt den Atem an. Sie krampfte die Hände um das Tagebuch, und die Welt verschwamm vor ihren Augen.

Erst heute habe ich ihn gesehen.

»Er hat mich nicht bemerkt. Ich habe oben an der Straße geparkt. Er stand auf dem Rasen seines Hauses – das, in dem er wohnt, seit er uns verlassen hat. Und sie waren bei ihm: die Ersatzfrau, die Ersatzkinder. Seine Haare haben sich gelichtet, und um die Hüften und am Kinn ist er ganz schön wabbelig geworden. Ein schwacher Trost. Er ist glücklich. So wahr mir Gott helfe! Er ist glücklich. Und ist das nicht das Schlimmste, was hätte passieren können? Ich glaube nicht einmal, dass das Glück existiert – nicht als Ideal, nicht als echter Seinszustand. Glück ist etwas für kindische Gemüter; und dennoch ist er glücklich. Und dieses Glück würde er von der Tochter bedroht sehen, die er nie wollte – nach ihrer Geburt weniger denn je. Weil sie ihn an mich erinnerte. Daran, wie sehr er mich zu verabscheuen lernte. Er würde sie verletzen. Ich war der einzige Mensch in seinem Leben, der sich weigerte, ihn anzuhimmeln, und das würde er Rachel niemals verzeihen. Er würde glauben, dass ich ihr nicht viel Schmeichelhaftes über ihn erzählt hätte, und James war noch nie ein Mensch, der Kritik an seinem kostbaren, ernsthaften Selbst ertragen konnte.«

Und irgendwann in diesem Zeitraum hatte ihre Mutter James gesehen. Während sie Gastprofessorin am Wesleyan war. Sie wohnten in einem Haus in Connecticut zur Miete, in Middletown, und dort hatte das »fremde Bett« gestanden, an das Rachel gefesselt gewesen war. Ihre Mutter war – wie sie sich jetzt mit halb widerwilligem Stolz in Erinnerung rief – während ihrer gesamten Krankheit nur ein einziges Mal von ihrer Seite gewichen: um Lebensmittel und Wein zu kaufen. Rachel hatte eine Videokassette mit Pretty Woman angesehen, und als ihre Mutter zurückkehrte, war der Film noch nicht vorbei gewesen. Elizabeth hatte bei ihr Fieber gemessen und die Ansicht geäußert, dass Julia Roberts’ breites Grinsen »wahnsinnig nervtötend« sei, ehe sie mit den Einkaufstaschen in der Küche verschwunden war.

Als sie in Rachels Zimmer zurückkam, hielt sie ein Glas Wein in der einen Hand und einen warmen, feuchten Waschlappen in der anderen. Sie warf Rachel einen flehentlichen, hoffenden Blick zu und sagte: »Das haben wir doch ganz gut hingekriegt, oder?«

Rachel sah zu ihr hoch, während sie ihr den Waschlappen auf die Stirn legte. »Natürlich haben wir das«, sagte sie, denn in jenem Augenblick fühlte es sich wirklich so an.

Ihre Mutter sagte: »Also wirklich, jetzt reicht’s aber mit dem Gegrinse.«

Somit ließ sich der Tagebucheintrag auf Dezember 1992 datieren. Oder auf den frühen Januar 1993. Acht Jahre später wurde Rachel, auf einer Kellertreppe sitzend, klar, dass ihr Vater irgendwo in einem Umkreis von dreißig Meilen um Middletown gelebt hatte. Mehr konnten es nicht sein. Ihre Mutter war zu seinem Haus gefahren, hatte ihn und seine Familie beobachtet, und dann hatte sie ihre Einkäufe gemacht und im Spirituosenladen Wein gekauft – alles in weniger als zwei Stunden. Das hieß, dass James ganz in der Nähe unterrichtet haben musste, wahrscheinlich an der Universität Hartford.

»Falls er überhaupt noch unterrichtet hat«, sagte Brian Delacroix, als sie ihn anrief.

»Stimmt.«

Aber Brian pflichtete ihr bei, dass sie nun genug Informationen zum Weitermachen hätten, so dass er ihren Fall und ihr Geld annehmen und morgens trotzdem noch in den Spiegel sehen könne. Und so begannen Brian Delacroix und Berkshire Security & Partner im Spätsommer des Jahres 2001 mit den Ermittlungen zur Identität ihres Vaters.

Sie förderten nichts zutage.

Es gab keinen James, der in jenem Jahr an einer

Wieder einmal hieß es, Rachel solle die Sache auf sich beruhen lassen.

»Ich gehe bald«, sagte Brian.

»Weg von hier?«

»Ja, aber ich will auch raus aus diesem Beruf. Ich will kein Privatdetektiv mehr sein. Es ist einfach zu trostlos. Den ganzen Tag lang muss ich Menschen enttäuschen, selbst dann, wenn ich ihnen liefere, wofür sie mich bezahlt haben. Es tut mir leid, dass ich Ihnen nicht helfen konnte, Rachel.«

Sie spürte eine Leere in sich. Noch ein Abschied. Ein weiterer Mensch in ihrem Leben, wie unwichtig er auch sein mochte, der sie verließ, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte. Sie hatte keinen Einfluss darauf.

»Was wollen Sie tun?«, fragte sie.

»Ich gehe wahrscheinlich zurück nach Kanada.« Seine Stimme klang fest, als ob er eine Entscheidung getroffen hätte, die er schon sein ganzes Leben hatte treffen wollen.

»Sind Sie Kanadier?«

Er lachte leise. »Aber sicher doch.«

»Was erwartet Sie dort?«

»Die Holzfirma meiner Eltern. Wie steht’s mit Ihnen?«

»Das College ist prima. New York gerade nicht so.«

Es war der späte September des Jahres 2001, weniger als drei Wochen nach dem Anschlag auf das World Trade Center.

»Natürlich«, sagte er ernst. »Natürlich. Ich hoffe, dass

Sie war überrascht, wie intim ihr Name aus seinem Mund klang. Sie sah seine Augen vor sich, die Sanftheit in ihnen, und sie ärgerte sich ein bisschen, dass sie sich nicht schon früher eingestanden hatte, wie sehr sie sich zu ihm hingezogen fühlte. Sie hätten sich vielleicht zum Essen verabreden können.

»Kanada also?«

Wieder dieses leise Lachen. »Kanada.«

Sie verabschiedeten sich voneinander.

Ihre Kellerwohnung an der Waverly Place in Greenwich Village, nur wenige Gehminuten von der New York University entfernt, lag inmitten von Ruß und Asche, die noch Wochen nach 9/11 alles in Lower Manhattan bedeckten. Am Tag nach dem Anschlag hatte sich eine dicke staubige Schicht auf ihre Fensterbretter gelegt: eine Decke aus Haaren und Knochenstücken und Körperzellen, die immer mehr anwuchs, wie Schnee. Die Luft roch verbrannt. Nachmittags streifte sie ziellos herum. Einmal kam sie an der Notaufnahme des Krankenhauses St. Vincent vorbei, vor der Rollbahren aufgereiht standen für Patienten, die niemals eintrafen. In den folgenden Tagen tauchten an den Mauern und Zäunen des Krankenhauses immer mehr Fotos auf, die meisten mit einer einfachen Botschaft beschriftet: »Haben Sie diese Person gesehen?«

Nein, hatte sie nicht. All diese Personen waren fort.

Sie war von Verlusten umgeben, die um ein Vielfaches größer waren als alles, was sie in ihrem eigenen Leben erfahren hatte. Wo immer sie sich hinwandte, umgaben sie

Wir sind verloren, erkannte Rachel und beschloss, ihre eigenen Wunden so gut sie konnte zu verbinden und nicht mehr an ihnen zu kratzen.

In jenem Herbst stieß sie auf zwei Sätze in einem Tagebuch ihrer Mutter, die sie wochenlang wie ein Mantra vor dem Schlafengehen aufsagte:

James, hatte ihre Mutter geschrieben, war nie für uns bestimmt.

Und wir nie für ihn.

Blitze

Ihre erste Panikattacke erlitt Rachel im Herbst des Jahres 2001, kurz nach Thanksgiving. Sie ging die Christopher Street entlang und kam an einer jungen Frau vorbei, die auf einer schwarzen gusseisernen Treppe unter dem Vordach eines Apartmentgebäudes saß. Die Frau hatte die Hände vor das Gesicht geschlagen und schluchzte – damals kein ungewohnter Anblick in New York City. Die Menschen weinten in den Parks, auf öffentlichen Toiletten und in der U-Bahn, manche still, andere gepresst oder geräuschvoll. Tränen überall. Aber man musste immer noch nachfragen, sich immer noch vergewissern.

»Geht es Ihnen gut?« Rachel streckte den Arm aus, um die Frau zu berühren.

Die Frau zuckte zurück. »Was tun Sie da?«

»Ich will nur wissen, ob es Ihnen gutgeht.«

»Alles in Ordnung.« Das Gesicht der Frau war trocken. Sie rauchte eine Zigarette, was Rachel zuvor gar nicht aufgefallen war. »Geht es Ihnen gut?«

»Sicher«, sagte Rachel. »Ich wollte bloß –«

Die Frau reichte ihr einige Papiertaschentücher. Ihre Augen waren nicht gerötet. Sie hatte nicht die Hände vor das Gesicht geschlagen. Sie hatte eine Zigarette geraucht.

Rachel nahm die Taschentücher. Sie tupfte sich das

»Geht es Ihnen gut?«, wiederholte die Frau.

Sie sah Rachel an, als ob sie überhaupt nicht so wirke. Sie sah Rachel an, und dann sah sie an Rachel vorbei, als hoffte sie, jemand würde sie aus dieser Situation befreien.

Rachel murmelte ein paarmal »danke schön« und stolperte weiter. Sie schaffte es bis zu der Kreuzung an der Weehawken Street. Ein roter Transporter stand an der Ampel. Der Fahrer starrte Rachel aus blassen Augen an. Lächelte ihr mit nikotingelben Zähnen zu. Jetzt strömten nicht nur Tränen über ihr Gesicht, sondern auch Schweiß. Angst schnürte ihr den Hals zu. Sie spürte den Drang, etwas hervorzuwürgen, obwohl sie an diesem Morgen noch gar nichts gegessen hatte. Sie bekam keine Luft. Scheiße, sie konnte nicht atmen. Ihre Kehle ließ keine Luft durch. Sie konnte nicht mal mehr ihren Mund öffnen. Sie musste ihren Mund öffnen.

Der Fahrer stieg aus dem Transporter. Er kam mit seinen blassen Augen und dem bleichen Falkengesicht und den kurzgeschorenen roten Haaren auf sie zu, und als er sie erreichte …

War er schwarz. Und ein bisschen rundlich. Seine Zähne waren nicht gelb. Sie waren weiß wie Kopierpapier. Er kniete sich neben sie (wann hatte sie sich auf den Bürgersteig gesetzt?), und seine großen braunen Augen sahen sie besorgt an. »Alles in Ordnung? Soll ich jemanden anrufen, Miss? Können Sie aufstehen? Hier, nehmen Sie meine Hand.«

Sie nahm seine Hand, und er zog sie hoch, an der Kreuzung von der Weehawken und Christopher Street. Es war

Der rundliche nette Mann nahm sie in den Arm, und sie weinte an seiner Schulter. Sie weinte, und er musste ihr versprechen, bei ihr zu bleiben und sie niemals zu verlassen.

»Nennen Sie mir Ihren Namen«, sagte sie. »Nennen Sie mir Ihren Namen.«

 

Sein Name war Kenneth Waterman, und natürlich sah sie ihn nie wieder. Er fuhr sie in seinem roten Transporter zu ihrer Wohnung zurück, und es war kein großer Kastenwagen, der nach Schmieröl und schmutziger Unterwäsche roch, wie sie sich das vorgestellt hatte, sondern ein Kleinbus mit Kindersitzen in der mittleren Reihe und Chipskrümeln auf den Bodenmatten. Kenneth Waterman hatte eine Frau und drei Kinder und lebte in Fresh Meadows in Queens. Er war Tischler. Er hielt vor ihrer Haustür und bot an, jemanden für sie anzurufen, aber sie versicherte ihm, dass es ihr jetzt wieder bessergehe. Alles in Ordnung. Die Stadt mache einen manchmal einfach fertig, nicht wahr?

Er sah sie lange und besorgt an, aber hinter ihnen staute sich der Verkehr, und die Abenddämmerung brach herein. Jemand hupte. Dann noch einer. Er gab ihr seine Visitenkarte – Kennys Kommoden – und sagte, sie könne ihn jederzeit anrufen. Sie bedankte sich und stieg aus. Als er wegfuhr, bemerkte sie, dass der Kleinbus nicht einmal rot war. Er war bronzefarben.

 

Sie ließ ihr nächstes Semester an der NYU sausen. Verließ kaum die Wohnung, außer, um zu ihrem Seelenklempner in

»Mein Leben ist nicht tragisch«, sagte Rachel. »Klar war es manchmal traurig. Wessen Leben ist das nicht? Aber meine Mutter hat sich immer um mich gekümmert, wir hatten genug zu essen, und ich bin in einem hübschen Haus aufgewachsen. Alles andere sind doch Luxusprobleme, oder?«

Sie saßen in Connies kleinem Praxisraum, und er warf ihr einen Blick zu. »Ihre Mutter hat Ihnen eines Ihrer grundlegenden Rechte – das Wissen um die Vaterschaft – vorenthalten. Sie hat Sie emotionaler Tyrannei unterworfen, um Sie an sich zu binden.«

»Sie hat mich beschützt.«

»Wovor?«

»Na gut«, korrigierte sich Rachel, »sie hat geglaubt, dass sie mich vor mir selbst beschützt, vor dem, was ich mit dem Wissen anfangen könnte.«

»Ist das wirklich der Grund?«

»Welchen Grund sollte es sonst geben?« Rachel wäre am liebsten aus dem Fenster gesprungen.

»Wenn jemand etwas hat, das Sie nicht einfach nur wollen, sondern wirklich brauchen, was würden Sie diesem Menschen dann niemals antun?«

»Sagen Sie nicht, ›ihn hassen‹, denn gehasst habe ich sie.«

»Ihn verlassen«, sagte er. »Sie würden diesen Menschen niemals verlassen.«

»Sie konnte diesen Schein aufrechterhalten, weil Sie sich an sie geklammert haben. Aber was ist passiert, als Sie gegangen sind? Sobald sie gespürt hat, dass es Sie woanders hinzieht?«

Sie wusste, worauf er hinauswollte. Immerhin war sie die Tochter einer Psychologin. »Verdammt, Connie, lassen Sie diese Geschichte aus dem Spiel.«

»Welche Geschichte?«

»Es war ein Unfall.«

»Eine Frau, die Sie als überwach, überaufmerksam, überkompetent beschreiben? Die am Tag ihres Todes weder Drogen noch Alkohol im Blut hatte. Diese Frau übersieht am helllichten Tag ein Stoppschild?«

»Jetzt habe ich also meine Mutter umgebracht.«

»Ich wollte Ihnen das Gegenteil sagen.«

Rachel nahm ihren Mantel und ihre Tasche. »Meine Mutter hat nie als Psychologin praktiziert, weil sie nicht mit dilettantischen Quacksalbern wie Ihnen in einen Topf geworfen werden wollte.« Sie warf einen Blick auf die Diplome, die an der Wand hingen. »Abschluss an der Rutgers«, schnaubte sie verächtlich und stolzierte hinaus.

Tess Porter, ihre nächste Therapeutin, ging etwas sanfter vor, und die Fahrt zu ihrer Praxis war wesentlich kürzer. Sie sagte, dass sie in Rachels eigenem Tempo die Wahrheit über die Beziehung zu ihrer Mutter herausfinden würden. Bei Tess fühlte Rachel sich sicher. Connie hatte ihr immer das Gefühl gegeben, dass er gleich zum Schlag ausholen würde. Und so hatte sie stets versucht, ihn abzuwehren.

»Ich weiß es nicht.«

»Haben Sie Angst?«

»Ja. Ja.«

»Vor ihm?«

»Was? Nein.« Sie dachte nach. »Nein. Nicht vor ihm. Nur vor der Situation. Wie soll das ablaufen? ›He, Dad! Wo zum Teufel hast du mein ganzes Leben lang gesteckt?‹«

Tess lachte leise, sagte dann aber: »Sie haben kurz gezögert. Als ich fragte, ob Sie Angst vor ihm hätten.«

»Wirklich?« Rachel starrte eine Zeitlang an die Decke. »Na ja, manchmal hat sie ziemlich widersprüchliche Sachen über ihn gesagt.«

»Zum Beispiel?«

»Meistens hat sie ihn als unmännlich beschrieben. ›Der arme süße James‹, hat sie gesagt, oder ›der liebe, sensible James‹. Und dabei hat sie die Augen verdreht. Nach außen hin war sie aber zu fortschrittlich, um zuzugeben, dass er ihr nicht männlich genug war. Ich erinnere mich, dass sie ein paarmal sagte: ›Du bist genauso boshaft wie dein Vater, Rachel.‹ Und ich dachte mir: ›Ich bin genauso boshaft wie meine Mutter, du Hexe!‹« Sie starrte wieder an die Decke. »›Sieh ihm in die Augen, und betrachte dich selbst.‹«

»Was sagten Sie?« Tess lehnte sich auf ihrem Sessel vor.

»Das hat sie mir ein paarmal gesagt. ›Sieh ihm in die Augen, und betrachte dich selbst. Dann sag mir, was du da entdeckst.‹«

»In welchem Zusammenhang war das?«

»Alkohol.«

»Sie war stinksauer auf mich, beide Male. So viel weiß ich noch. Ich dachte immer, es würde heißen, dass er … Wenn er mich je sehen würde, wäre er …« Sie schüttelte den Kopf.

»Was?« Tess’ Stimme war sanft. »Wenn er Sie je sehen würde, wäre er was?«

Es dauerte eine Weile, bis sie ihre Fassung wiedergewonnen hatte. »Er wäre enttäuscht.«

»Enttäuscht?«

Rachel hielt ihrem Blick eine Weile stand. »Angewidert.«

Die Straße draußen verdunkelte sich, als ob etwas Gewaltiges, Jenseitiges die Sonne auslöschen und seine Schatten über die gesamte Stadt werfen würde. Ganz plötzlich begann Regen zu fallen. Der Donner klang wie die Reifen schwerer Laster, die eine alte Brücke überqueren. Der Blitz war ein fernes Bersten.

»Warum lächeln Sie?«, fragte Tess.

»Habe ich gelächelt?«

Sie nickte.

»Wegen etwas anderem, das meine Mutter gesagt hat, vor allem an Tagen wie diesem.« Rachel zog die Beine unter sich auf den Sitz. »Sie sagte, sie würde seinen Geruch vermissen. Als ich sie das erste Mal fragte, was sie meinen würde, wie er denn gerochen hätte, hat sie die Augen zugemacht, die Luft eingesogen und gesagt: ›Wie Blitze.‹«

Tess’ Augen weiteten sich ein wenig. »Entspricht das Ihrer Erinnerung an seinen Geruch?«

Rachel schüttelte den Kopf. »Er roch nach Kaffee.« Sie

 

Sie erholte sich von jener ersten Panikattacke und ihrer leichten Platzangst im Frühsommer des Jahres 2002. Zufällig begegnete sie einem Kommilitonen, der wie sie im vergangenen Semester den Kurs »Fortgeschrittene Recherchetechniken« besucht hatte. Er hieß Patrick Mannion, und er war ausgesprochen rücksichtsvoll. Er war außerdem ein bisschen übergewichtig und besaß die unglückliche Angewohnheit zu schielen, wenn er etwas nicht richtig verstand – und das geschah oft, weil er fünfzig Prozent des Hörvermögens in seinem rechten Ohr bei einem Schlittenunfall in der Kindheit eingebüßt hatte.

Pat Mannion konnte kaum glauben, dass Rachel immer noch mit ihm sprach, obwohl sie sich bereits erschöpfend über den gemeinsam besuchten Kurs ausgetauscht hatten. Er traute seinen Ohren nicht, als sie vorschlug, etwas trinken zu gehen. Und sein Gesichtsausdruck, als sie ein paar Stunden später in seiner Wohnung standen und sie nach seiner Gürtelschnalle griff, war der eines Mannes, der mal eben nachschauen will, wie bewölkt der Himmel ist, und dann Engel über sich vorbeiziehen sieht. Dieser Ausdruck wich mehr oder weniger während der gesamten zwei Jahre, die ihre Beziehung andauerte, nicht aus seinem Gesicht.

Als sie schließlich Schluss mit ihm machte – so sanft, dass er fast glaubte, es wäre eine gemeinsam getroffene Entscheidung –, starrte er sie mit einer seltsamen, wilden Würde an und sagte: »Ich habe früher nie verstanden, warum du mit

»Du bist –«

weil ich dich nie verlassen würde