Für Neil Barrett Little
Ich nehme dich beim Wort.
Nenn’ Liebster mich, so bin ich neu getauft,
Ich will hinfort nicht Romeo mehr sein.
William Shakespeare,
Romeo und Julia
Ich erinnere mich an ein kleines Mädchen in einem weißen Kaninchenmantel, Mütze und Muff. Eigentlich erinnere ich mich gar nicht an das kleine Mädchen. Ich erinnere mich nur an den Mantel, die Mütze und den Muff.
Joe Brainard,
Ich erinnere mich
Vor dem Motel-Fenster leuchtet Wyoming im Sonnenuntergang. Eine Winston-Werbung glüht am Horizont neben dem Highway, als würden sich die Zigaretten in der Schachtel selbst entzünden.
Unter dem Beifußgestrüpp am Straßenrand hat sich Regenwasser gesammelt, und die Wärme macht aus den Pfützen Parfum: grasig, medizinisch, überirdisch.
In Zimmer 186 des Wagon Wheel Inn kniet Elise auf einem mandarinenfarbenen Teppich. Ihr Haar glänzt ölig und ist zu schmalen Zöpfen geflochten, in ihrem Nacken steht ein Name in Schreibschrift tätowiert. Mit beiden Händen hält sie das Gewehr, den Lauf gegen Jameys Brust gedrückt.
Er sitzt auf einem Stuhl mitten im Zimmer, die Hände auf den Oberschenkeln.
»Liebst du mich denn nicht?«, fragt er leise, verzweifelt. »Elise. Komm schon. Liebst du mich nicht?«
Sie beißt sich auf die Lippe.
Er trägt kein Hemd, nur Jeans, die nackten Füße nach außen gedreht. In dieser Position verharrt das Paar seit zwei Stunden und vierzehn Minuten.
Jetzt fünfzehn.
Ihre Muskeln zittern. Dabei müssten seine zittern.
Falls der Eindruck entsteht, das Zimmer sei klein, das
ist es nicht. Es ist aufgebläht, riesig – es pocht wie eine Milliarde Herzen, so wie ein Raum pulsiert, wenn sich die Menschen darin ihrer Macht bewusst werden. Elise wird die Augen schließen, das Gesicht abwenden und das Gewehr entsichern.Alles fängt in Connecticut an.
Elise sitzt auf der Couch und lauscht dem Abendlied der Stadt, Kirchenglocken und Polizeisirenen. Sie neigt ein wenig den schönen schmalen Schädel.
Winter in New Haven: herb, spröde, grau wie Eis, das sich auf Milch bildet.
Robbies Wohnung – und ihre Wohnung, sagt Robbie – ist leer wie ein besetztes Haus, in den Schlafzimmern Matratzen mit dünnen Decken. Die Vorhänge sind rauchvergilbt. An der Kühlschranktür schichten sich Sticker von Radiosendern, Hardcore-Bands und Obst-Aufkleber. Ein einzelnes aufgequollenes Cornflake liegt in der Spüle.
Wo bei anderen Leuten ein Kruzifix an der Wand hängt, klebt in Elises Zimmer eine ausgerissene Seite aus dem Rolling Stone: Prince in einem dunstigen lavendelfarbenen Paradies.
Elise wohnt seit drei Monaten hier, seit Robbie sie im unverriegelten Pontiac seines Lovers schnarchend auf der Rückbank fand, sie zitterte unter einem struppigen weißen Pelz.
Zuerst dachten sie, sie wäre ein Hund.
»Oh! Euer Auto?«, fragte sie mit einem schiefen Lächeln, die Augen klar, keine Drogen.
Als sie ausstieg, war sie größer als die Jungs, einen
Rucksack in der Hand wie ein Pendel, und man sah ihr die Angst an. Eine auf elegante Art traurige Ausreißerin in weißen Turnschuhen und mit goldenen Bambusohrringen.Die Männer entspannten die Fäuste wieder.
Robbie nahm Elise auf, und seitdem sind die beiden wie zwei ungleiche Tiere in einer Fabel – die Giraffe, die der Biene hilft, der Hase, der dem Elefanten das Leben rettet, kleine Abenteuer auf jeder Buchseite.
Die neuen Hausgenossen wurden Freunde, als sie zusammen Makkaroni kochten, in Socken und Schlafanzug zu Michael Jackson tanzten, Limo tranken und nachts im Fernsehen offene Kanäle sahen. Keiner von beiden hatte einen verdammten Schimmer, was sie mit dem Leben machen sollten, außer leben.
Sie sieht aus dem Wohnzimmerfenster. Das Haus ist eine Bruchbude, verrottet bis zur Traufe, die Etagen in billige Wohneinheiten zerteilt. Doch es erträgt seinen Verfall gefasst, beinahe vergnügt, wie ein Grinsen mit Zahnlücke.
Nebenan steht ein weißes Townhouse, in dem zwei Yale-Studenten wohnen. Ein Kronleuchter fängt dort drüben das letzte Licht des Tages ein, wenn alles andere schon im Dunklen liegt. Hier haben reiche Leute gelebt, bevor die Gegend den Bach runterging, und das Haus wirkt fehl am Platz wie eine höhere Tochter, die im Supermarkt an der Kasse sitzt.
Zufällig stehen die Jungs auf der Veranda und rauchen.
Jetzt tut sie es, beschließt Elise, bevor sie es sich anders überlegt. Sie ist immer noch wütend.
Sie zieht den Reißverschluss ihres weißen Kaninchenfellmantels hoch, der knielang ist und einen Vinylgürtel hat, der Name Esther ist mit lila Garn in das fadenscheinige Taftfutter gestickt. (Den Mantel hat sie in einem Greyhound-Bus gegen eine Dose Pringles getauscht, an einem ungewöhnlich warmen Abend im Herbst, während draußen die Fabriken von Elizabeth, New Jersey, in der Dämmerung vorbeiglitten. Die junge Schwarze, der er gehört hat, war zugedröhnt und zufrieden mit dem Tausch, weil sie nicht fror und anscheinend dachte, sie würde nie mehr frieren. Ich hab aber schon ein paar Chips gegessen, witzelte Elise, als sie ihr die Dose gab und den Pelz bekam. Macht nichts, Kleines, hatte die Frau gemurmelt. Alles cool.)
Elise verlässt die Wohnung. Sekunden später kriecht ihr die Nachtluft unter den Saum.
Blicke kreuzen sich. Elise hebt die Hand.
»Hallo, Nachbarin«, sagt einer der Studenten zum ersten Mal, seit sie hier wohnt.
»Hallo«, antwortet sie.
»Wohin des Wegs?«, fragt er, offensichtlich angetrunken.
Sie zieht die Nase hoch und sieht weg. »Bier holen.«
Ihr Akzent ist deutlicher, als die Jungs erwartet haben.
»Wir haben Bier.«
»Welche Sorte?« Elise kneift die Augen zusammen.
»Die Sorte«, sagt er, »für die du nicht durch die Kälte laufen musst.«
Die drei schlendern ins Haus, als wäre es das Normalste der Welt, als wäre keiner von ihnen neugierig. Matt holt drei Flaschen Heineken aus dem Kühlschrank.
Elises Herz ist eine kaputte Maschine, es scheppert und stampft.
»Wie heißt du noch mal?«, fragt er, obwohl sie sich nicht vorgestellt hat.
»Elise.«
Ist sie gefährlich? Ist sie hübsch? Die Jungs blinzeln, als würde Elise vor ihren Augen schillern und wabern, als wüssten sie nicht, was sie von ihr halten sollen.
Elise hat langgestreckte Glieder und runde feste Brüste. Jungshüften. Ein Windhund, aerodynamisch, geprügelt, schnell wie der Teufel, zum Rennen gemacht, zum Verlieren geboren. Ihr Gesicht ist markant, von dunklen Zöpfchen gerahmt, die Züge reduziert, um den Luftwiderstand zu verringern, wie um noch größerer Geschwindigkeit willen. Die Kopfhaut – bleich. Haut und Haar glänzen leicht, aber die grauen Augen in der schwarzen Kajal-Umrandung sind sanft. Eine Kerbe am Wangenknochen, vielleicht von den Windpocken.
»Ich bin Matt«, sagt der, der das Gespräch führt, sein Blick abschätzig, lieblos. In seinen Augen passiert nichts bis auf ein schales Bitzeln, wie abgestandenes Root Beer.
»Ich bin Jamey«, sagt der mit dem Grübchen am Kinn. Er sieht aus wie ein Stummfilmstar, den man unter Drogen gesetzt hat, wächsern, die Augen gleichzeitig lustverhangen und chorknabenkeusch.
Jamey.
Gleichzeitig Stricher und Kunde, eine Möbiusschleife von angeborenem Luxus und seiner eigenen Ausbeutung.
»Schicke Hütte«, sagt sie.
Ein Kamelhaarmantel auf einem Stuhl. Auf dem
Couchtisch Interview und das Wall Street Journal, Zigarettenpäckchen, gefaltete Zwanziger und Münzen, Perrier-Flaschen.In ihren Stiefeln und dem schmuddeligen Pelz wandert sie herum wie eine Inspektorin.
»Bist du in Yale?«, fragt Matt mit unbewegter Miene, obwohl sie genau wissen, dass Elise nicht studiert.
»Nee.«
Jamey fragt: »Bist du aus New Haven?«
»Aus Connecticut. Seid ihr von hier?«
»Wir sind aus New York.« Matt beantwortet die absurde Frage mit höflichem Ton und zündet sich eine Kippe an.
»Brüder?«, fragt Elise.
»Nein.« Matt schüttelt das Streichholz aus. »Nur wie Brüder.«
»Zusammen aufgewachsen«, erklärt Jamey.
Elise hat die beiden beobachtet, seit sie vor ein paar Monaten nebenan eingezogen ist, aber bisher konnte sie sie kaum auseinanderhalten. Jetzt ist klar, dass sie Gegensätze sind. Sie hatte sie durch beschlagene Scheiben beim Rasieren gesehen, weißes Handtuch um die Hüften. Wenn sie ihre langen Mäntel zuknöpften, in ihre Autos stiegen, mit klobigen Autotelefonen telefonierten.
Jamey steht auf, um sich noch ein Bier zu holen.
»Bringst du mir auch eins mit?«, sagt Matt.
»Mir auch«, ruft Elise hinterher.
Matt wirft Jamey einen Blick zu, doch der grinst nur, zuckt die Schultern und kommt mit drei Flaschen zurück.
Sie sitzen im Wohnzimmer und trinken. Elise müsste längst gehen, aber sie steht nicht auf.
Spät in der Nacht hat Elise gesehen, wie die Jungs Mädchen in Abendkleidern mit nach Hause brachten. Totes Laub mitschleifend, Smokingjacken um die Schultern. An goldenen Nachmittagen kommt manchmal ein Mädchen im Faltenrock vorbei, lehnt das Fahrrad ans Verandageländer und huscht ins Haus. Morgens gehen die beiden früh zur Uni, Haare nass und gekämmt, wenn die Welt noch müde und mürrisch ist. Sie grüßen den alten Vermieter, der auf dem Gehweg Schnee schippt.
»Na dann«, sagt Matt nachdrücklich. »Ich muss ins Bett.«
Aber sie hat auch gesehen, wie Matt Robbie auf dem Gehsteig nachgeäfft hat, zur Belustigung seiner Kumpel mit den Ray Bans und Shetlandpullovern, ohne dass Robbie es mitbekam (der sie im Vorbeigehen sogar zögernd gegrüßt hatte), wie Matt ihn mit abgewinkelter Hand und einer tuntigen Grimasse imitiert hat.
»Ich schätze, wir sehen uns«, sagt Matt noch einmal.
»Ja, kann sein.« Elise zündet sich eine Newport King an. Dann steht sie auf und bläst ihm den Rauch ins Gesicht. »Und falls ich noch einmal mitkriege, dass du meinen Freund Robbie verarschst, dann fackle ich euch eure beschissene Bude ab.«
Der blaue Rauch hängt wartend in der Luft, und sie starrt Matt mit halbgeschlossenen Augen an, die plötzlich rot und stumpf wirken. Ein winziges Grinsen huscht über ihre Lippen.
»Wie bitte?«, fragt Matt schrill.
»Du hast schon verstanden«, sagt sie, Mission erfüllt, aber jetzt muss sie das Zittern in ihrer Stimme verbergen.
»Du kommst in mein Haus und machst mir
Vorschriften?« Matt gibt Elise einen Stoß, um zu sehen, was passierte.Sie starrt ihre Schultern an, wo er sie berührt hat, dann hebt sie den Kopf und erwidert seinen Blick.
»Okay, Matt. Ich glaube, das reicht jetzt.« Jamey stellt sich zwischen die beiden.
»Sie soll verschwinden«, sagt Matt in den Raum.
»Da kannst du Gift drauf nehmen«, knurrt Elise.
Matt zeigt zur Tür. »Dann hau endlich ab.«
»Ich gehe, wann ich will.«
Sie dreht sich noch einmal um und findet Jameys Blick, der ihr – mit einem verblüfften kleinen Lächeln – hinterhersieht.
Elise liegt in ihrem dunklen Zimmer und ascht in eine Dr-Pepper-Dose, die neben der Matratze steht.
Sie gehört zu den wenigen Babys, die sich selbst beruhigen können, wenn sie allein in der Wiege liegen, und stundenlang an die Decke starren. Die meisten Menschen schlafen ein, wenn das Licht aus ist, wenn der Sex vorbei ist und Johnny Carson nach der Tonight Show gute Nacht gesagt hat; wenn sie doch wach bleiben, stimmt etwas mit ihnen nicht.
Aber Elise hat nie einen Unterschied zwischen Tag und Nacht gemacht, sie denkt kaum darüber nach, ob sie ein Junge oder ein Mädchen, tot oder lebendig ist. Solche Kategorien machen nur Mühe. Elise schwebt darüber, sie ist frei auf eine billige, magische Art.
Sie malt sich aus, was im Haus der beiden Jungs hätte
passieren können. In Elises Familie sind sie Kämpfer – ihre Mutter kann gleichzeitig Auto fahren, rauchen, schalten, Limo trinken, sich die Wimpern tuschen und an alle Familienmitglieder Backpfeifen verteilen, ohne auch nur den Blick von der Straße zu heben. Elise hätte dem Yale-Knilch mit einem Haken die Zähne ausschlagen können.Sie grinst in die Dunkelheit, stellt sich vor, wie sie mit hochgerissener Faust durch den Ring geführt wird.
Der mit dem Grübchen dagegen, Jamey – bis heute Abend hat sie nicht gewusst, dass so jemand existieren kann; es ist, als hätte sie ein Düsenflugzeug am Himmel beobachtet und dann festgestellt, dass es ein Vogel ist. Sie muss sich erst mal neu orientieren.
Letzten Sommer ist sie ohne Plan von zu Hause weggegangen. Sie war zwanzig, ohne Highschool-Abschluss, halb weiß, halb Puerto-Ricanerin, kinderlos. Sie hatte einen Job, aber war nichts Halbes, nichts Ganzes, nicht kriminell, nicht schön, nicht hässlich, nicht durchschnittlich. Elise passt in keine Schublade; sie hat die Züge der Boricua, doch ihre Haut ist alabasterweiß.
Am Morgen nach einem Sonntagsbarbecue im Juni verließ sie ihre Familie und alles, was sie kannte. Die Sippe hatte den Grill und die Picknicktische im Bridgeport-Park besetzt, die Sally-S.-Turnbull-Siedlung erhob sich im Hintergrund, aber weit genug entfernt, um sie für ein paar Stunden zu vergessen.
Da hockten sie, verscheuchten Mücken, lachten Tränen. Ghettoblaster, Hotdogs, Jeans-Shorts und bauchfreie Tops, Kartoffelchips, Cherry-Soda und Sonnenschein, der Hirn und Herzen grillte. Ein rauschendes letztes Abendmahl.
Im Morgengrauen, als alle anderen ihren Kater ausschliefen, verließ Elise die Sozialwohnung. Sie ging wie die Mädchen aus den Lagerfeuergeschichten – folgte einem Klopfen an der Tür, das niemand sonst hörte, und verschwand.Bis heute hatte sie nicht gewusst, warum. Aber Gott sei ihr gnädig, jetzt weiß sie es.
New Haven ist New Yorks magere, farblose Cousine; ein Ort, der so tut, als wolle er nichts, als brauche er nichts. Dieser Morgen ist wie die meisten anderen, wenn die Stadt versucht aufzuwachen und sich vorzeigbar zu machen, die Penner aus den Gassen schüttelt, Straftäter losschickt, um den Müll in Säcke zu spießen, die Waschbären in die Gullys saugt.
Jamey schwebt durch die kalte Stadtlandschaft, und in ihm formen sich Ideen, gären, ihre Wärme strömt aus seinem Mund.
Er geht hinter einer alten Dame her, die sich zur Wintersonne lehnt. Ihr pflaumenblauer Wollmantel steht offen. Im Vorbeigehen sieht er den Leberfleck auf ihrer Wange, handtellergroß, wie ein York Peppermint Pattie.
»Guten Morgen, Ma’am«, grüßt er sie und sucht nach Bewusstsein in ihren Augen.
Sie reagiert nicht.
Er fragt sich, ob er den Gruß verbindlich meinte, ob ihn wirklich interessiert, ob ihr Morgen gut oder schlecht ist. Oder ob es bloß eine der vielen hohlen Floskeln ist, die er laut sagt und wie Bonbonpapierchen auf die Straße wirft.
Im Park spielen harte Männer Schnellschach.
Der Tag ist warm genug, um die Eiszapfen in den Bäumen zu schmelzen, woraus eine Art Regen entsteht, der fällt, wenn er Lust hat, mehr tierisch als mineralisch, ein Regen mit eigenem Willen, Empfindungen.
Jamey sieht Pforten – das Bullauge eines Transporters, unbeleuchtete Schaufenster, der Gully, wo der Rinnstein endet –, Muster, die sein Unterbewusstsein entdeckt, da es keine Bedeutung findet.
Irgendwann sitzt er mit einem Kaffeebecher auf den Stufen einer Synagoge. Überrascht springt er auf, als wäre er jetzt erst aufgewacht, wie immer verblüfft, wohin ihn sein zielloses Wandern geführt hat.
Jamey weiß, was sein Professor sagen wird, als er den vereisten Hof überquert. Er klackt in wildledernen Schnürschuhen die Marmortreppe hinauf, eine Ivy-League-Anziehpuppe, die zwei rosigen weißen Mädchen mit Büchern unter dem Arm die Tür aufhält.
Professor Ford ist mit seiner Geduld am Ende. Sie hatten das Jahr freundschaftlich begonnen, aber Ford fühlt sich verschaukelt, nicht ernst genommen. Er ist enttäuscht.
»Jamey«, sagt Ford, als Jamey sein Büro betritt.
»Guten Tag, Sir.« Jamey lächelt schuldbewusst.
Fords weißes Haar ist zur Seite gescheitelt. »Haben Sie gesehen, was Sie von Professor Hilden für Ihre Hausarbeit bekommen haben?«
»Ja.«
»Der Kurs schreibt über Othello, und Sie reichen einen
Aufsatz über den missverstandenen Altruismus der Honigbienen ein.«»Ich wollte –«
»Verschonen Sie mich.«
Jamey schließt den Mund.
Ford öffnet theatralisch die Hände. »Wollen Sie denn nicht nächstes Jahr Examen machen?«
»Doch.«
»Die Diskrepanz zwischen Ihrem Potential und Ihren Leistungen wächst sich zu einer Beleidigung aus.«
Jamey senkt den Blick, wie es von ihm erwartet wird, während die Sonne vor den leinengebundenen Büchern im Regal eine staubige Hitze erzeugt.
»Es interessiert mich nicht, wer Ihr Vater ist, und auch nicht, wer Ihre Mutter ist«, lügt Ford.
Ford reagiert auf Jamey wie alle anderen, seit jeher: Er hatte eine Schwäche für ihn, wollte von Jamey gemocht werden, hat sonst was von ihm erwartet, und jetzt hasst er ihn, weil Jamey nicht mitmacht.
»Ich tue, was Sie für das Beste halten, Professor Ford«, murmelt Jamey.
Schon als kleiner Junge hat er es gespürt. In einer Gruppe von Kindern war es immer Jamey, den die Erwachsenen ansprachen. Er starrte dann zu Boden, aber wenn er aufsah, redeten der Betreuer, die Mutter oder der Babysitter immer noch auf ihn ein.
Es passierte sogar bei Leuten, die keine Ahnung hatten, wer er war, die sein Elternhaus nicht aus Town & Country kannten, die Scheidung seiner Eltern nicht im National Enquirer verfolgt hatten, sich nicht auf die
Wirtschaftsprognosen seines Großvaters im Barron’s verließen, die nicht wussten, dass sie in ihm einen Prototyp vor sich hatten, eine börsengehandelte Aktie, den Idealtypus eines Kindes – so etwas wie Huckleberry Finn oder der Kleine Prinz.Wenn an der Drogeriekasse jemand zu lange im Geldbeutel kramte, wurde die Verkäuferin rot und bat Jamey nach vorn: Kommen Sie nur, bis die Dame so weit ist. Dabei war Jamey nicht einmal ungeduldig; er bekam gar nicht mit, dass die Schlange stockte.
Einmal, als Jamey bei den Morrisons zum Spielen war, hatte er das neue Kaninchen auf dem Arm gehalten, und Thomas hatte gejammert und an ihm herumgezerrt – schließlich war es sein Kaninchen! Doch Mrs. Morrison hatte Thomas angeschrien, einmal, zweimal, und dann hatte sie seine kleine Hand von Jamey weggerissen.
»Lass Jamey das Kaninchen, Thomas, verdammt noch mal.« Später blickte sie Jamey verstohlen an, die leuchtend roten Lippen leicht geöffnet, und Jamey sah etwas in ihrem Blick, das er für den Rest seines Lebens wiedererkennen würde.
Er nannte solche Momente die Lass-Jamey-das-Kaninchen-Momente.
Die Menschen behandelten ihn wie eins dieser tibetanischen Kinder, die als Reinkarnation des Dalai Lama gefunden werden. Sie denken, er kennt das Geheimnis des Lebens. Und dann sind sie beleidigt, wenn er es ihnen nicht verrät. Was passiert eigentlich, wenn das Dorf das falsche Kind zum Propheten kürt?
Jeden Morgen wartet Matt auf der Veranda, wo die Eiszapfen von der Traufe hängen, bis Elise vorbeikommt, damit er ihr böse Blicke zuwerfen kann. Manchmal ascht er mit seiner Zigarette in ihre Richtung, bibbernd in seinem weißen Oxfordhemd.
»Du bist ein Arschloch«, sagt Jamey, als Matt wieder hereinkommt. »Warum regst du dich so über sie auf?«
»Ich rege mich nicht auf.«
»Doch«, gibt Jamey zurück. »Sie hat nichts mit deinem Leben zu tun, warum lässt du sie nicht einfach in Ruhe?«
»Weil sie zu uns ins Haus gekommen ist.«
»Wir haben sie reingebeten«, sagt Jamey und rührt in seinem Porridge.
»Weil sie es darauf angelegt hat. Das heißt noch lange nicht, dass sie mich anpöbeln kann.«
»Ich fand es ziemlich witzig«, sagt Jamey.
»Ja, zum Totlachen, besonders, wenn sie uns das Haus anzündet«, erwidert Matt.
Jamey lacht, dann seufzt er und sagt nichts mehr. Das tut er in letzter Zeit häufiger.
Matt sieht ihn an: Was zum Teufel ist los mit dir?
Es ist fast unheimlich, wie sehr die beiden jungen Männer sich ähneln. Eigentlich müsste Matt – mit der hellen Haut, dem dunklen Haar, den dunklen Augen, dem markanten, dreieckigen Kinn, den teuren Kleidern, den lässigen Gesten – genauso attraktiv sein wie Jamey. Aber das ist er nicht. Es wirkt fast wie ein moralisches Versagen, als wäre Matt selber schuld, dass er nicht attraktiv ist, und das macht ihn noch unattraktiver.
Robbie ist weiß und klein, und er studiert am South Central Community College Flugzeugtechnik. Nebenbei kellnert er im Red Lobster. Er hat einen Topfschnitt und erinnert mit seinen kornblumenblauen Augen an einen Hobbit.
Heute Abend begleitet ihn ein korpulenter schwarzer Hüne, der sich unter der Deckenlampe bücken muss.
»Wie läuft’s, Leesey?«, sagt Robbie genervt, weil er schon wieder nicht allein nach Hause kommt.
Elise sitzt im Schneidersitz auf der Couch und zieht sich die Kapuze vom Kopf. »Hey«, sagt sie und mustert den Neuen.
»Hallo«, antwortet der mit gutmütiger Darth-Vader-Stimme.
Verlegen verschwindet das Paar im Schlafzimmer, wie zwei Jungs, die mit G.I. Joes oder Matchboxautos spielen wollen, und Robbie schließt sachte die Tür.
Sie legen Depeche Mode auf. Immer wenn die Seite zu Ende ist, raschelt es, weil einer übers Bett greifen muss, um die Kassette umzudrehen.
Elise kocht Kaffee, blättert die Zeitung durch, beißt sich auf die Lippe.
Als Kind hat sie durch die Wand gehört, wie ihre Mutter Sex hatte – knurrend und schmutzige Sachen murmelnd –, einmal hatte ihre Cousine einem Typen einen geblasen, während Elise im Bett daneben schlief. Andere Leute beim Sex zu hören, ist erregend und unangenehm zugleich, so wie Gekitzeltwerden eine Mischung aus Lachen und Brechreiz ist.
Sie schiebt sich die Hand in die Jeans.
Später am Abend rauchen Robbie und Elise auf dem Dach und betrachten New Havens plumpe, gedrungene Skyline.
Im Nachbarhaus geht in einem der Schlafzimmer das Licht an.
»Scheiße, das ist er«, flüstert Elise ehrfurchtsvoll.
»Der mit dem Grübchen?«
»Ich krieg ihn nicht aus dem Kopf«, sagt sie. »Er heißt Jamey.«
Robbie lächelt unbehaglich. »Das sind reiche Jungs. Das weißt du, oder?«
»Ja, weiß ich.«
Robbie ascht in den Abgrund zwischen den beiden Häusern, und der trudelnde Fall lässt die Glut sekundenlang aufleuchten. »Und du stehst trotzdem auf ihn?«
Elise ist verlegen. »Er ist irgendwie anders.«
Sie werfen die Kippen über die Kante, ziehen die Jacken enger um sich und gehen wieder rein.
»Ich schätze, man kann nie wissen, Süße«, sagt Robbie über die Schulter. »Oder?«
»Oder?«, antwortet sie.
Elise vertraut Robbie aus dem Bauch heraus. Sie kann sich vorstellen, bi zu sein, sie denkt, dass sich jeder von jedem angezogen fühlen kann, aber schwule Jungs haben es schwer, sie müssen auf die schnelle, harte Art lernen. Da war ein Typ, wo sie herkam. Er hat in einer Wechselstube gearbeitet, und alle wussten, dass er schwul ist. Er war fleißig, sparte Geld, fest entschlossen, wegzukommen aus dem Nest, hatte immer Krawatte und Strickjacke an, höflich in
seiner Plexiglaskabine, doch er versteckte seine gezierten Gesten, seinen Kussmund nicht. Einmal, als sie reinkam, um ihren Burger-King-Scheck einzulösen, war sein Gesicht geschwollen, Pflaster über dem Auge, ein dickes Ohr. Die Polyesterkrawatte saß tadellos, grün mit schrägen braunen Streifen. Der Typ beeindruckte sie – fast zerstört wegen der Liebe, immer wieder, und trotzdem verleugnete er sich nicht.In der Schule hat Elise jahrelang Kämpfe überlebt, echte und eingebildete Konflikte, es ging um Status oder Sex. Sie kannte das Gefühl, wenn man gezwungen ist, auf dem Parkplatz in der Hocke gegen ein anderes Mädchen anzutreten, Haare in Gesicht und Mund, und der Stamm sieht zu, ab und zu mischt sich noch jemand ein, tritt nach oder boxt, die unheimliche Stille nur von Keuchen und Stöhnen unterbrochen. Egal, wie viel sie abbekam, Elise hat es nie bereut, dass sie sich gewehrt hat. Sie war froh, als diese Phase vorbei war. Doch sie ist immer auf der Hut.
Taubenkacke dampft, dann friert sie auf der Straße fest. Eisiges Licht fällt durch die Fenster.
In der Küche packt Matt die Sushi-Schachteln aus.
»Mal sehen, was wir hier haben.«
»Mmh, ich bin am Verhungern«, sagt Abigail affektiert.
Abigails Sonnenbräune von Weihnachten auf den Bermudas hebt sich von ihrem weißen Rollkragenpullover ab. Sie ist auf erregende Art befangen, wie die meisten Mädchen in Jameys Gegenwart. Er ist nicht charmant – es ist
etwas Seltsameres, Mächtigeres, Gefährlicheres. Jamey ist so überzeugend unberührt von seiner Schönheit, dass die Leute wegsehen, um nicht diejenigen zu sein, deren Blick ihm alles verrät.Gerade brütet er über der Aeneis auf Latein, dem einzigen Fach, dem er sich noch widmet.
Er hat immer die abseitigen Kurse belegt: japanische Schwertkunst, Thermodynamik, die Kultur des Glaubens von den Heiligen zu den Atheisten, ein Seminar über Gefängnis-Ethik, eins über Botanisches Zeichnen und eins über Jainismus. Die Dornen und Disteln dieser Fächer setzten sich bei ihm fest. Er hat doppelt so viele Kurse wie er müsste, seine Zensuren sind tadellos – bis jetzt.
Die Fächer … sie haben Meuterei begangen. Über Nacht haben sich die einfachsten und unschuldigsten Begriffe in Feinde verwandelt und sind in der Lage, einen totalen Systemausfall bei ihm auszulösen. Licht ist nicht Licht, sondern Energie. Ein Mensch sieht nie sein eigenes Gesicht, immer nur seine Spiegelung oder ein Abbild. Gehirnwellen sind beim Träumen aktiver als im Wachzustand. Rosen riechen nicht gut; sie riechen wie reife Früchte, was zu erkennen von Vorteil für unser Überleben ist, deswegen werden sie von unserem ästhetischen System als schön definiert. Die bekannten Rätsel, die Liga der Vexierfragen, die einen Dreizehnjährigen nach dem ersten Joint faszinieren.
Jamey fragt sich vage beschämt, warum ihm diese Fragen jetzt so zusetzen.
Er hat in B.F. Skinners Augen Kugelschreiber-Kreuzchen geritzt. Er musste seinen Kierkegaard rauswerfen.
Und nun löst sich auch seine letzte Zuflucht auf – amo,
amas, amat: Die Absätze geben nach, die Wörter zerfallen. Buchstaben verkümmern zu Strichlein und Bögen, und Jamey klappt das Buch zu.Frustriert steht er auf, um sich ein Glas Wasser zu holen, und Abigail folgt ihm mit Habichtaugen.
Matt schnippt mit den Fingern. »Ich bin hier«, sagt er ironisch und zeigt auf seine Brust. »Hier spielt die Musik.«
»Ach, halt die Klappe«, wiegelt Abigail ab.
»Jamey kriegt genug Aufmerksamkeit«, sagt Matt.
»Ach ja?«, fragt Jamey trocken.
»Die von drüben hat dich im Visier«, erklärt Matt mit einem Blick zum Nachbarhaus.
»Was?« Überrascht merkt Jamey, dass er wütend ist.
Matt zuckt die Schultern und freut sich, dass er eine Reaktion auslöst. »Sie starrt durchs Fenster rüber.«
»Nicht meinetwegen«, sagt Jamey und öffnet den Kühlschrank, um irgendwas zu tun.
»Und du verteidigst sie ständig. Faszinierend«, sagt Matt und tippt sich nachdenklich ans Kinn.
»Ach, vergiss es«, sagt Jamey.
Zuletzt parkt Jamey an der Chapel Square Mall und läuft über den Parkplatz, die Hände in den Kamelhaartaschen. Er schlendert durch die Kuppelhalle, folgt blasslila Teppichrauten, passiert Topfpflanzen, die keine Sonne brauchen. Er mag das Einkaufszentrum, auch wenn er keinen der Läden betritt, weil es ein Ort ist, an dem man gleichzeitig sein kann und nirgendwo ist.
Er setzt sich auf eine Bank und beobachtet die Menschen. Schon immer hat er sich mit ungewöhnlichen Dingen getröstet, las Berichte über wahre Verbrechen in der heißen Badewanne zum Beispiel. Als Kind war seine Schmusedecke das Lexikon. Er hat bis elf am Daumen gelutscht, bis die Nanny anfing, seine Finger in Nagellackentferner zu tauchen.
Jetzt ist das Beobachten fremder Menschen seine Erlösung.
Nur funktioniert es heute nicht, und er fühlt sich noch ausgeschlossener von der Welt. Er sieht weg von den Mädchen in den engen Jeans, den Frauen in Acryl-Pullovern. Er beobachtet zwei Loser im Gastrobereich, die ihr schmieriges Hallo auswerfen wie einen Angelhaken, bis ein Mädchen anbeißt, dann lassen sie ihr Anmachprogramm laufen, und sie taut auf, schließlich gesellt sich ihre Freundin dazu, und die Jungs zeigen den Mädchen mit linkischer Verstohlenheit die Tüte, die sie gebaut haben. Dann ziehen alle vier ab, die Jungs legen den Arm um die Schultern der Mädchen, frischgebackene Paare, ein Blowjob an der Laderampe und zur Belohnung eine Limo in der Spielothek oder eine Spritztour und ein schneller Fick bei einem der Mädels zu Hause, das zweite Paar im Zimmer des kleinen Bruders, wo der türkisfarbene Globus auf dem Boden landet und das Sperma auf der Spiderman-Decke.
Als sie die Mall verlassen, sieht Jamey ihnen nach, in seinen Augen schimmert goldene Verzweiflung.
Elise fährt mit ihrem rostigen BMX-Rad (ohne Lenkergriffe) zur Arbeit, und ihr Körper sprüht vor Energie. Nach dem Harkness Tower und der Unibibliothek aus durchscheinendem Marmor durchquert sie eine miese Gegend, wo Jungs mit schwarzen Mützen und Lammfelljacken an den Ecken stehen.
Die Tierhandlung ist nach dem Kino in der Innenstadt, neben einem Hamburgerladen. Sie schließt das eingefrorene Schloss auf und betritt den feuchten Raum mit den Aquarien.
Später kommt Marianne, die Inhaberin, und bringt eine Wolke von Bittersalz, Maalox und Katzenklo mit. Manchmal schafft sie es auch gar nicht in den Laden.
Sie füttert die Fische und sieht Seifenopern auf einem winzigen Fernseher.
»Du bist ja ein Ausbund an guter Laune«, sagt Marianne.
»Stimmt!«
Elise wünschte, sie könnte Marianne von Jamey erzählen, aber es hat keinen Sinn. Fettleibig, mit krausem weißen Haar, gehen ihr das Leben, die Menschen am Arsch vorbei, ohne dass sie verbittert wäre oder es irgendjemandem vorwirft. Ich komme mit Viechern einfach besser klar, sagt sie.
Elise singt ein Lied von Lionel Richie mit, das im Lager im Radio läuft; die Stunden vergehen.
Später isst sie ein Stück Pizza in der Pizzeria und liest das Faltblatt der Zeugen Jehovas, das ihr jemand in die Hand gedrückt hat. Sie schlürft Diet Coke aus einem gewachsten Becher und starrt durchs Fenster auf die Sonne, die das Eis auf dem Gehweg aufweicht.
Bei der Heilsarmee auf der Linden Street findet sie für fünfundzwanzig Cent eine verspiegelte Sonnenbrille.
Loopy Lex winkt von der Kirchentreppe. Obdachlos,
das lange Haar verfilzt, die Lippen aufgesprungen, ist er trotzdem noch ein stattlicher, schöner Amerikaner.»Wie läuft’s, Lex?«
»Es läuft es läuft es läuft.«
Zurück in der Tierhandlung, macht sie aus Büroklammern eine Kette.
Alles hat mit Jamey zu tun. Die Sonnenbrille wird sie seinetwegen tragen. Sie möchte ihm Lex vorstellen, ihm von der Tochter in Vietnam erzählen, die er nie kennengelernt hat, davon, wie Lex in den Laden kommt, um sich die Fische anzusehen. Sie will Jamey die Python zeigen, die Marianne im großen Terrarium hält und deren Zeichnung aussieht wie ein Puzzle.
Sie redet laut mit Jamie. Als sie im Dunkeln nach Hause radelt, verliert sie sich in einem komplexen Gespräch mit ihm. An einer roten Ampel stellt sie sich in die Pedale und weiß plötzlich nicht mehr, ob sie die Ladentür abgeschlossen hat; sie muss noch mal umdrehen.
Sie hat abgeschlossen.
Abends wird sie am Fenster sitzen und ihn beobachten, wenn er auf die Veranda geht, um sich den Mond anzusehen und die pfefferminzfrische Luft zu atmen.
Gestern hatte sie freie Sicht auf ihn. Er saß lesend auf dem Küchenstuhl, und Elise konnte seine schokoladenbraune Cordhose und seine nackten Füße sehen.
Ihr Blick war zärtlich wie der einer Mutter, die ihren Sohn auf Kratzer und blaue Flecken untersucht, wenn er abends nach dem Kriegspielen aus dem Wald nach Hause kommt.
Als Jamey durch zwielichtige Straßen nach Hause fährt, ruft sein Vater aus Hongkong an.
Er kann ihn durch das Telefon lächeln hören – Hyde, Moore & Kent hat die Übernahme von Ho Lang abgeschlossen. »Ich musste es jemandem erzählen, Jamester. Was täte ich ohne dich?«
Jamey stellt sich vor, wie Alex am Hotelfenster steht, nach ein paar Bahnen im Pool an einem Glas Eistee nippt und vor der blinkenden, bunten, irrlichternden Stadtlandschaft sein Spiegelbild betrachtet.
»Du musst unbedingt Randolph Sanders Sohn kennenlernen – er ist auch in Yale. Erstsemester, glaube ich. Bin ihm nie begegnet, aber Randolph ist ein guter Senator, und sie haben ein Haus in Kennebunkport, in der Nähe von Tante Jeanette. Nur so ein Gedanke, Jameyrooter.«
Jamey murmelt seine Zustimmung, unterdrückt ein Gähnen. Er zupft eine Fluse von seinem tannengrünen Pullover.
Alex erwähnt irgendeinen Autounfall. »Du hast es bestimmt schon von Sarah gehört? … Nein? Also, Timmy war anscheinend high … Ja, schrecklich für beide Familien … Nein, Catherine ist eine Rye Millford.«
»Wie geht es Xavier und Sam?«, fragt Jamey irgendwann, wie immer.
»Cecily ist mit den Kindern in Vail, ja … Skischule … der Kleine … Cecily und die Kinder … Cecily … hat Bats ja immer über die Headleys gesagt … Cecily … Diesen Winter … Italien, um seinen Bruder zu sehen … Binkie hat im Gartenclub die Winterorchidee gewonnen … Kathleen gefeuert … Polterabend im Union Club …«
Jamey parkt vor dem Haus, lässt den Motor laufen.
Plötzlich klopft Elise an die Scheibe, und er erschrickt, starrt sie mit großen Augen an. Sie winkt mit einem Päckchen Newport Kings.
Sie wartet.
Er zeigt aufs Telefon und zuckt übertrieben die Schultern, flüstert tonlos »Vater«.
Endlich versteht sie und geht weiter, in die Nacht.
Ihm ist flau im Magen.
»Hast du mir überhaupt zugehört, Jamey?«, fragt sein Vater, anscheinend nach einer langen Pause.
Im Waschsalon legt sich ein Mann in Carhartts die Hand auf den Schwanz und schickt ihr mit den Augen eine Einladung in seinen Truck. Elise muss für ihr klares Nein nicht mal den Kopf schütteln. Beide vertiefen sich wieder in ihre Zeitschrift.
Sex-Aficionados finden sie in der Menge. Andere stolpern zufällig über sie und begreifen auf halber Strecke, welches Glück sie hatten. Manche raffen gar nichts und werfen sie aus dem Bett, wenn sie fertig waren, ohne zu merken, dass sie noch nicht mal angefangen haben. Wenn solche Idioten sich rauchend und pfeifend die Hose hochzogen, hatte Elise mehr Mitleid mit ihnen als mit sich selbst.
Redboy gehörte zu den Kennern. Er war selbst nicht von dieser Welt – hungrig, ein Streuner, voller Zorn. Er wird für immer ein Teil von ihr sein. Die Geschichte mit ihm ist etwas, das sie nicht bereuen kann, und sie hat es versucht.
Elise wusste schon mit sieben, was Sex ist, sie hat es instinktiv gespürt, hat Dinge verstanden. Sie war nicht etwa frühreif, weil sie missbraucht wurde, auch wenn sie solche Mädchen kannte. Ihre Mutter war paranoid, mit gutem Grund, und beschützte sie – in Wohnheimen ging Denise zusammen mit ihren Kindern duschen, und wenn sie arbeitete, versuchte sie bei der Wahl der Babysitter streng und anspruchsvoll zu sein.
Ihren ersten Orgasmus hatte Elise mit elf, im Bridgeport-Bus auf dem Heimweg nach der Schule, vom Vibrieren der Sitze. Ihre Wangen wurden heiß, und sie spürte einen Druck, diese Flauheit, fast Verzweiflung, das Gefühl, etwas musste passieren oder sie würde sterben – und dann platzte alles in ihr auf, heißer Sirup verteilte sich in ihrem Blut, sie reckte den langen Hals wie ein Vogel, verpasste ihre Haltestelle und versuchte zu begreifen, was zum Teufel passiert war.
Sein Kurs sieht sich den Start der Challenger auf dem CNN-Unisender an. Jamey fläzt im Stuhl, während sein Banknachbar Witze über die Schwerkraft macht. Normalerweise würde Jamey höflich mitflachsen, aber in letzter Zeit fehlt ihm die Energie, und er nickt nur und antwortet nicht.
Sprecher: Das ist die 51-L-Mission, bereit für den Start.
Die Rakete am Boden stößt Rauch aus und bewegt sich langsam aus dem Gerüst wie ein sedierter Stier, der aus dem Stall kommt. Überrascht stellt Jamey fest, dass er ein Kribbeln im Bauch hat. Ist er Patriot? Das schockiert ihn – Jamey ist es immer peinlich, wenn er sich bei Sentimentalitäten erwischt.
T minus fünfzehn Sekunden, Haupttriebwerk wird gezündet, und vier, drei, zwei, eins – Start! Sie ist gestartet!
In der Stimme des Sprechers ist so viel Jubel, dass Jamey unwillkürlich einen kleinen Jungen in einem schmutzigen Hinterhof während der Wirtschaftskrise vor Augen hat, der blinzelnd vom Sonnensystem träumt.
Challenger, volle Schubkraft voraus!
Die Raumfähre gleitet ins Blaugrün des Himmels über Florida.
Aber dann: eine Störung.
Die Flight Controller beobachten die Situation sehr sorgfältig.
Eine Rauchwolke, aus der zwei Hasenohren wachsen. Wie ein Kronleuchter sinken die Schwaden langsam über das Blau hinab. Das Geweih, die Quallententakel stürzen ab: Anscheinend eine schwerwiegende Fehlfunktion.
Studenten flüstern, bleich und entsetzt. Die Dozentin steht mit verschränkten Armen am Fernseher, dem Kurs den Rücken zugewandt.
Christa McAuliffe. Die Grundschullehrerin von nebenan. Ihr Gesicht ist so vertraut und amerikanisch wie Rhabarberkuchen oder ein Tankstellenlogo. Sie war wie die Nachbarin, die man jeden Tag grüßt, ohne sie näher zu kennen. Eine Frau mit so tadellosen bionischen Ambitionen, dass das Land sie für den Flug in den Weltraum ausgewählt hat. Und dann wurde sie wie eine Fackel in die große Nacht geschickt.
Als Jamey den Raum verlässt, versucht er ein Lächeln zu verbergen.
Er überquert den Campus, passiert die steinernen Torbögen.
Plötzlich taucht eine unangenehme Erinnerung an das Wochenendhaus seines Onkels auf Long Island in ihm auf. Die Erwachsenen redeten und betranken sich, und die Kinder waren den ganzen Tag unbeaufsichtigt, streiften durch Schatten und Sonne, Wald und Wiesen, rannten, sprangen und tollten herum, sahen blinzelnd Flugzeugen hinterher oder hingen wie Leoparden in den Bäumen und knüpften diese Verbindung zwischen Cousins, die fast lustvoll ist. Kinder, die am liebsten ihre Plätze, ihre Leben getauscht hätten.
An diesem unbewachten Nachmittag aßen sie an einem Picknicktisch, und die Hunde drückten sich an ihre Beine und warteten auf die Krusten der Schinkensandwiches. Topper, ein durch und durch sympathisches Kind, ging in den Gartenschuppen. Plötzlich schrie er heiser und echt. Die Tür war zugefallen und hatte ihn mit einer Kornnatter eingeschlossen.
Als er seinen Cousin schreien hörte, ging Jamey ein glasklarer Gedanke durch den Kopf: Hoffentlich stirbt er.
Er hatte mit großen Augen dagesessen und sich geschämt und danach wochenlang versucht, die Erinnerung an den Gedankenblitz zu löschen oder sich selbst zu verzeihen. Später hat er versucht, sich damit abzufinden, dass er ein böses Kind war.
Jetzt steigt Jamey unter dem schmuddeligen, von Wasserspeiern und Turmspitzen perforierten Himmel in den Wagen. Er lässt den Motor nicht an.
Ich schaffe es nicht, denkt er.
Tauben picken an gefrorenem Müll. Heute bestraft Schneeregen die Stadt, und alle sind deprimiert – auch wenn Postämter immer deprimierend sind.
Elise stampft sich den Matsch von den Stiefeln, als sie den Raum betritt. Das Regencape klebt an ihrem Kaninchenmantel wie eine Plastiktüte.
Sie stellt sich an, und ihr Herzschlag verdreifacht sich, als Jamey auftaucht. Sie winkt ihm so gelassen wie möglich zu.
Er macht ein Zeichen, dass die Schlange Wahnsinn ist, worauf sie zu ihm nach hinten geht, mit glänzenden Augen.
»Dann warte ich mit dir.«
»Okay«, sagt er verunsichert.
Sie entrollt ungefähr fünf Meter Klopapier, um ihm ein Keramikeinhorn mit angeschlagenem goldenem Horn zu zeigen. »Das schicke ich meiner Mutter. Die sammelt sie.«
»Verstehe.«
»Und?«, fragt sie nach einem Moment.
Er lächelt peinlich berührt. »Und?«
»Willst du als Entschuldigung mal mit mir ausgehen?«
»Ob ich mit dir ausgehen will?«, fragt er verblüfft.
»Pizza essen oder so. Egal. Oder ins Kino.«
Er grinst und fragt sich, wer in der Schlange ihnen zuhört. »Hm. Okay?«
»Morgen?«
»Alles klar.« Er zieht die Worte in die Länge, damit die Lauscher verstehen, dass es lächerlich ist.
Sie warten.
Die Schlange bewegt sich nicht.
Sie sieht sich seine cremefarbenen Briefumschläge an, das ochsenblutrote geprägte Monogramm – JBH. »Soll ich die für dich aufgeben?«, fragt sie. »Wir brauchen ja nicht beide in der bekackten Schlange zu stehen.«
»Okay«, sagt er amüsiert und entsetzt. »Es sind noch keine Briefmarken drauf.«
Sie zwinkert ihm zu. »Da wär ich nie draufgekommen.«
Als er in die schmutzigweiß verschmierte Stadt hinausgeht, ist es, als hätte er eine Ohrfeige bekommen, und er fühlt sich auf einmal hellwach. Sie hat ihn im Musterknabenmodus erwischt, der wohlerzogen und pflichtbewusst an Großeltern und Stiefgeschwister Briefe schickt, in perfekter Handschrift, doch ohne jeden Inhalt. Gleichzeitig war er so allein und unvorbereitet, dass er das Gefühl hat, sie hat auch die andere Seite gesehen, den Wolf, der sich durch die Trümmer schleppt, eingestürzte Wände, kaputte venezianische Spiegel, Staub, Blut, ein umgekipptes Schaukelpferd – das Kind, das nicht weiß, wie es heißt.
Der Abend bricht stockdunkel herein. Robbie raucht, und Elise probiert Kleider an.
Sie bindet die Zöpfe zum Pferdeschwanz, dann öffnet sie sie wieder.
SCHEISSE!«, heult sie frustriert.
»Verdammte»Leesey, setz dich.« Robbie klopft auf die Couch. »Mach mal halblang, Süße.«
Sie plumpst aufs Sofa, Arme verschränkt, starrt wütend vor sich hin. Am linken Fuß ein zerschrammter weißer Stiefel, als hätte ein Kind mit schwarzem Filzstift darauf gemalt, am rechten Fuß ein weißer Turnschuh. Graue Moonwashed-Jeans, Rollkragenpullover.
Er reibt ihre Schultern. »Du musst nicht hingehen, wenn du nicht willst.«
»Ich will ja! Du verstehst das nicht«, sagt sie mit Tränen in den Augen.
Robbie nimmt ihre Finger in die Hand. »Tief durchatmen.«
Als sie sich beruhigt hat, steht er mit ihr vor dem Spiegel und wischt ihr den verschmierten Eyeliner weg.
Er sagt zu ihrem Spiegelbild: »Ich will nur nicht, dass er dir weh tut, Süße. Okay?«
Sie nickt. »Ich weiß. Das weiß ich ja.«
Jamey lümmelt wie ein Lord auf dem Fahrersitz und wartet.
Sie kommt aus dem Haus wie eine Antwort, mit der man nicht gerechnet hat, nachdem man zu lange über etwas nachgedacht hat.
Hände in den Taschen des weißen Pelzmantels, Daumen über der Kante. Türkis umrandete Augen.
»Hallo«, begrüßt er sie freundlich distanziert und fährt in Richtung Innenstadt los.
»Hallo«, antwortet sie mürrisch.
Mürrisch!, denkt er. Wo ist ihre Courage geblieben?
»Und, was hast du heute so gemacht?«, fragt er höflich.
Sie zuckt die Schultern. »Gearbeitet.«
»Wo arbeitest du?«, fragt er.
»In dem Fischgeschäft auf der Main Street. Also, in der Tierhandlung, nicht im Fischladen.«
»Stehst du auf Fische?«
»Äh, eher nicht«, sagt sie.
»Also arbeitest du dort, weil …?«
»Mal überlegen. Weil ich gern meine Miete pünktlich zahle? Hattest du noch nie einen Job?«
An der Kreuzung sieht er sich bedächtig in alle Richtungen um. »Doch, ich hatte ein paar Jobs über die Jahre.«
»Und zwar?«
»Tankwart im Shelter Island Yacht Club. Einen Sommer war ich Tennislehrer.«
Sie grinst spöttisch aus dem Fenster.
Im La Forginni spiegeln sich weiße Rosen im schwarzen Marmortresen. Jamey hat das teure und geschmacklose Restaurant ausgesucht, weil er hier niemanden kennt.
Er gibt den Kamelhaarmantel an der Garderobe ab. Elise rückt ihren Pelz nicht raus und sieht die Garderobiere böse an.
Sie setzen sich an ihren Tisch und falten die Servietten auseinander.
»Mal sehen. Magst du Barolo?«, fragt er.
»Ja.« Sie hat keine Ahnung, wovon er redet.
»Soll ich bestellen?«
»Für mich?«, fragt sie.
»Eine Flasche, meinte ich.«
»Wovon?«
Er stutzt. »Barolo.«
»Ja.«
Sie wirkt verstockt, ohne jeden Charme. Nichts an ihr hat Stil. Sie beherrscht keine elegante Geste, keine Tricks – nur dieses dumpfe, schlichte Starren, wenn sie ihm zuhört. Ihre Sprache ist nackt, wenn sie antwortet, ausgebeult und rauh von ihrem Akzent. Sie redet, wie sie redet. Ihre Stimme ist nicht besonders tief, aber irgendwie maskulin. Ihr Make-up erinnert an Kleopatra.
»Also. Es tut mir leid wegen neulich Abend«, sagt er irgendwann.
Sie schmiert Butter auf ihr Brot. »Geschenkt. Reden wir über was anderes.«
»Ich dachte, wir wären hier, um darüber zu reden.«
Sie grinst. »Wegen mir nicht.«
Er ist froh, als der Kellner kommt. Während er bestellt, gleitet ihr Blick über sein herzförmiges Gesicht, die schläfrigen Augen – müde, aber elektrisiert, als hätte er die ganze Nacht über etwas nachgedacht.
Man sieht ihm die Übersättigung des Einzelkinds an: die Sahne, die sich oben sammelt, dick und süß, zu viel des Guten. Er kennt keine Erschütterungen. Doch in den Schlüssellöchern seiner Pupillen zeigt sich die Einsamkeit.
»Erzähl was von dir«, sagt sie.
»Was willst du wissen?«
»Irgendwas.« Sie wartet. »Mann, bist du schlecht in so was.«
»Vielen Dank auch!«
»Tut mir leid«, murmelt sie. »So bin ich manchmal, wenn ich nervös bin. Soll ich dir Fragen stellen?«, sagt sie. »Wo bist du zur Welt gekommen?«
Er trinkt einen Schluck Wein. »In New York City. Wo bist du zur Welt gekommen?«
»In Hartford«, sagt sie und buttert sich noch ein Brot, hungrig wie ein Bauarbeiter. »Wo bist du aufgewachsen?«
»In New York City.«
»Hast du Geschwister?«, fragt sie.
Er erzählt ihr die jugendfreie Version seiner Familiengeschichte, die Scheidung, die Stieffamilie. Er geht davon aus, dass sie seinen Namen kennt, weil er niemanden kennt, der ihn nicht kennt – die Hydes stehen in der Zeitung seit lange bevor er lesen konnte. Als würde er fragen, ob sie den Eiffelturm oder Micky Maus kennt, doch sie schüttelt nur verwirrt den Kopf.
»HMK. Hyde, Moore & Kent«, sagt er.
»Was soll das sein?«
»Meine Familie. Eine private Anlagebank.«
»Und wo ist die? Diese Bank?«
»Na ja, die HMK hat Filialen auf der ganzen Welt.« Er wird rot, kommt sich blöd vor, weil er wie ein Angeber klingt, aber so ist es nun mal.
Sie starrt seinen Mund an, wenn er spricht, betrachtet dann ungeniert sein Gesicht. Er sieht es. Sie wendet den Blick ab, beißt sich auf die Unterlippe, die Augen trüb und feucht.
Ihre sparsamen Gesten kommen ihm effizient vor, als wollte sie keine Energie auf Affekte verschwenden. Kein Haarezwirbeln, kein Schmollmund.
»Also … gehst du … willst du mal aufs College? Oder wolltest du …«, stottert er.
»Ich hab nicht mal den Highschool-Abschluss.« Ich habe klingt bei ihr wie ch’ab. Ihre Wangen glänzen.
»Aber … wäre das was, was du, also, was du gerne machen würdest?«, fragt er vorsichtig.
»Klar – sonst kriegt man ja nur Scheißjobs.«
»Stimmt«, sagt er, und dann hat er Angst, dass er unfreundlich klingt.
»Wenigstens hab ich nicht noch mehr Zeit in der Schule verschwendet. Es war beschissen da.«
»Wirklich? Mir hat Schule Spaß gemacht.«
Sie lächelt ihn an: Im Ernst? Erzähl keinen Scheiß.
Der Kellner fragt, ob sie Nachtisch möchten.
»Auf jeden Fall!«, sagt Elise, die sich endlich entspannt.
Jamey seufzt innerlich. Eigentlich will er gehen.
Sie teilen sich die Schokoladentarte, und Elise bekommt den Löwenanteil und redet, den Mund voll mit schwarzem Kuchen.
Nach dem Essen im Auto stößt er leise auf und hält sich die Hand vor den Mund, bevor er den Schlüssel im Zündschloss dreht.
Am Straßenrand liegt ein toter Waschbär. Sie sieht zu spät weg, was heißt, eigentlich wollte sie hinsehen.
Nicht weit von ihrer Straße ist eine Sackgasse, und plötzlich greift sie nach seinem Arm –
»Fahr mal kurz da rein«, sagt sie.
Es muss ein Notfall sein; sie klingt verzweifelt. Er hält am Straßenrand.
»Mach den Motor aus«, sagt sie.
Die Luft ist frisch und kalt, gesättigt von Smog und Meer und Tannennadeln, wie ungeschmolzenes Wachs.
Sie steigt aus, kommt um den Wagen und öffnet seine Tür, als wäre sie ein Mann bei einem Date. Dann spuckt sie den Kaugummi ins Gebüsch, beugt sich vor und küsst ihn auf den Mund.
Er ist perplex; sie kniet sich hin. Er stellt die Füße auf den Bordstein. Sie öffnet seinen Knopf und den Reißverschluss und zieht ihm die Hose bis zu den Oberschenkeln herunter.
Seit wann habe ich einen Ständer?, denkt er.
Was sie tut, lässt ihn das Gesicht verziehen. Sie sieht zu ihm auf und macht weiter. Die Luft ist eiskalt, doch ihr Mund scheint zu glühen.
Scheinwerfer gleiten in der Ferne vorbei, und er wird weich, als würde er aus einem Traum erwachen. Aber sie macht weiter, und die Angst, dabei gesehen zu werden, lässt sein Blut im nächsten Moment wieder nach unten strömen.
»Oh Gott«, sagt er danach, atemlos.