Für Dorothy Olding
Von der Passhöhe aus bietet sich das ganze Tal dem Auge dar. An einem klaren Morgen, wenn es sich in leuchtenden Farben unter dem weißen Himmelszelt erstreckt, während im Hintergrund zu beiden Seiten die Berge aufragen, könnte man es für das Gelobte Land halten.
Für ein paar wenige ist es das vielleicht auch. Aber auf jede klimatisierte Ranch mit Swimmingpool und privater Landebahn kommen Dutzende von Wellblechhütten und kaputten Wohnwagen, in denen die Wanderarbeiter hausen, die hier gestrandet sind. Und sobald man das bewässerte Gelände verlässt, trifft man auf graue Wüste, in der nichts und niemand lebt. Hier wachsen nur Bohrtürme, ein abstrakter Wald, der keinen Schatten wirft. Die Pumpenköpfe gehen auf und nieder wie die Köpfe von aufgezogenen Spielzeugtieren.
Meadow Farms lag am Rand dieser reichen und hässlichen Wüste. Aus der Ferne wirkte es wie jede andere gottverlassene Talsiedlung, vor die kahle Bergkette hingeworfen und mit Alkalistaub verziert. Als ich aber an dem Ortsschild vorbeifuhr, das begeistert die »am schnellsten wachsende Stadt im Tal« ankündigte, zeigten sich einige Unterschiede. Die Hauptstraße war sauber und frisch asphaltiert, die Häuser daran meist neu und solide oder noch im Bau. Die Menschen auf den Gehsteigen machten einen geschäftigen, wohlhabenden Eindruck.
Ich fuhr auf eine Tankstelle in der Innenstadt, um eine Auskunft einzuholen. Sowie der ledergesichtige Angestellte mein Auto betankt hatte, fragte ich ihn nach dem Weg zu Homer Wycherlys Haus. Er zeigte die Hauptstraße hinunter zum Stadtrand, wo Öltanks in der Sonne glänzten wie Silberbarren: »Immer weiter geradeaus, gar nicht zu verfehlen. Es ist das große Steinhaus am Hang. Wie ich höre, ist Mr. Wycherly erst gestern Abend zurückgekehrt.«
»Von wo zurückgekehrt?«
»Er hat so eine Luxuskreuzfahrt in die Südsee und nach Australien gemacht. War über zwei Monate unterwegs. Ich für mein Teil hab als Marinesoldat genug von der Südsee gesehen. Sind Sie ’n Freund von ihm?«
»Bin ihm noch nie begegnet.«
»Ich kenne ihn gut, kannte auch schon seinen alten Herrn.« Kurz musterte er mich und dann mein Auto. Es war nicht das neueste Modell, genauso wenig wie ich. »Wenn Sie Vertreter sind, verschwenden Sie Ihre Zeit nicht mit Mr. Wycherly. Dem kann man so leicht nichts verkaufen.«
»Vielleicht kaufe ich etwas von ihm.«
Der Mann grinste. »Das haben Sie schon. Diese Tankstelle vertreibt Benzin von Wycherly. Das macht dann vier vierzig.«
Ich zahlte und fuhr aus der Stadt hinaus, vorbei an den Silbertanks und einer Entschwefelungsanlage, aus deren Disneyland-Türmen ein leiser Geruch nach faulen Eiern strömte. Das Haus stand hoch über der Straße am Ende einer privaten Serpentinenzufahrt. Mit seiner gemauerten Fassade wirkte es abweisend wie eine Burg, die die umliegende Landschaft beherrschen soll. Von der altmodischen Veranda hatte man einen Ausblick hinunter in die Stadt und durch das Tal.
Ein stattlicher Mann mit gewelltem Haar und rundem Bauch öffnete mir die Tür. Die Haare waren für sein Alter zu gleichmäßig braun – wahrscheinlich gefärbt. Er besaß eine kräftige Nase, ein weiches Kinn und einen Mund, der von beidem etwas hatte. Die überm Bauch zugeknöpfte Tweedkleidung sah nach Importware aus. Der verdrießliche Gesichtsausdruck stammte aus einheimischer Produktion.
»Ich bin Homer Wycherly. Sie müssen Mr. Archer sein.«
Was ich bestätigen konnte. Seine Miene änderte sich nicht wesentlich, nur einige zusätzliche Falten entstanden um Augen und Mund. Es war das Lächeln eines Mannes, der Zuneigung sucht und nicht immer findet.
»Sie haben nicht lange gebraucht von Los Angeles. Ich hätte Sie nicht so früh erwartet.«
»Ich bin vor Tagesanbruch losgefahren. Sie sagten am Telefon, die Angelegenheit sei dringend.«
»Das ist sie allerdings. Aber kommen Sie doch herein.« Er führte mich durch einen düsteren Flur an alten Rotwildköpfen entlang ins Wohnzimmer, während sich ein Schwall von Entschuldigungen über mich ergoss: »Kann Ihnen leider so gut wie gar nichts anbieten. Habe das Haus eben erst wieder aufgemacht, es sind noch keine Bediensteten da. Eigentlich hatte ich gar nicht herkommen wollen. Ich wollte nur nachsehen, ob Phoebe vielleicht nach Hause zurückgekehrt ist.« Er schniefte. »Aber das ist sie nicht.«
Das Wohnzimmer verströmte die Muffigkeit eines viktorianischen Salons. Ein Teil der Möbel war abgedeckt, und die schweren Vorhänge ließen das Morgenlicht nicht herein. Wycherly schaltete ein Deckenlicht an, begutachtete das Ergebnis mit Missfallen und ging zu den Fenstern. Ich war erschrocken, wie heftig er an den Zugschnüren riss. Als wollte er eine Katze erhängen.
Sonnenlicht machte sich breit, bis zu einem kleinen Bild an der Wand über dem Marmorkamin. Ganz aus Klecksen und rohen Farbspritzern zusammengesetzt, war es eins dieser Gemälde, bei denen ich nie sicher bin, ob sie besonders modern sind oder besonders altmodisch. Wycherly starrte auf das Bild, als wäre es ein Rorschachtest, bei dem er versagt hatte.
»Eins der Werke meiner Frau.« Halblaut fügte er hinzu: »Ich werde es abhängen lassen.«
»Ist es Ihre Frau, die vermisst wird?«
»Um Himmels willen, nein. Es geht um Phoebe. Meine einzige Tochter. Setzen Sie sich doch, Mr. Archer, ich will versuchen, Ihnen die Lage zu erklären.« Er ließ sich auf einem Sessel nieder und wies mir einen anderen zu. »Gestern bei meiner Rückkehr – ich war außer Landes gewesen, auf einer Kreuzfahrt –, gestern habe ich erfahren, dass Phoebe schon im November ihr Studium abgebrochen hat. Niemand scheint sie seitdem gesehen zu haben. Natürlich bin ich krank vor Sorge.«
»Auf welchem College war sie?«
»Boulder Beach. Sie müssen sie mir wiederbringen, Mr. Archer. Ein Mädchen in diesem zarten Alter, behütet aufgewachsen –«
»Wie alt ist sie?«
»Einundzwanzig, aber noch völlig unschuldig.«
»Hat sie das vorher schon mal gemacht – weggehen, ohne Ihnen Bescheid zu sagen?«
»Nie. Phoebe hat sich immer einwandfrei benommen. Natürlich hatte sie auch ihre Probleme, aber zwischen ihr und mir hat es nie welche gegeben. Sie hat sich mir immer anvertraut. Wir verstehen uns großartig.«
»Mit wem hatte sie Probleme?«
»Ihrer Mutter.« Er schielte zu dem Rorschachgemälde über dem Kaminsims. Seine Mundwinkel zogen sich nach unten. »Aber mit diesem Thema wollen wir uns nicht befassen.«
»Ich würde mich gern mit Phoebes Mutter unterhalten, falls sie verfügbar ist.«
»Ist sie nicht«, sagte er kategorisch. »Ich weiß nicht, wo Catherine sich aufhält, und offen gestanden ist es mir auch egal. Sie und ich haben im letzten Frühjahr beschlossen, getrennte Wege zu gehen. Die schmutzigen Details brauchen uns hier nicht zu interessieren. Unsere Scheidung hat mit Phoebes Verschwinden nichts zu tun.«
»Es ist nicht denkbar, dass sie bei ihrer Mutter ist?«
»Nein. Nachdem Catherine sich derart unmöglich aufgeführt hat –« Den Rest des Satzes verschluckte er. Ich wartete, aber er sprach nicht weiter.
»Seit wann genau wurde Phoebe nicht mehr gesehen? Heute haben wir den 8. Januar. Sie sagten, sie habe das College im November verlassen. Wann im November?«
»Anfang November. Es ist mir nicht gelungen, das Datum näher zu bestimmen. Das ist Ihre Aufgabe. Immerhin konnte ich gestern Abend noch mit Phoebes Zimmergenossin – ihrer Ex-Zimmergenossin – telefonieren. Aber die ist furchtbar begriffsstutzig.«
»Zwei Monate sind eine lange Zeit«, sagte ich. »Ist dies Ihr erster Versuch, Ihre Tochter ausfindig zu machen?«
»Es ist nicht meine Schuld. Ich bin nicht dafür verantwortlich.« Er wollte aufspringen, schien sich gegen magnetische Kraftlinien aufzubäumen, die ihn in einem unsichtbaren Netz gefangen hielten. Wie ein Tier im Käfig, das sich an die freie Wildbahn erinnert, begann er, auf und ab zu laufen.
»Verstehen Sie doch, ich war außer Landes. Bis gestern hatte ich überhaupt keine Ahnung. Ich bin durch den Pazifik gekreuzt, während sich hinter meinem Rücken Gott weiß was abspielte.«
»Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?«
»An dem Tag, als ich in See stach. Sie kam nach San Francisco, um mir Bon Voyage zu wünschen. Wenn ich mich auf die Aussage ihrer Zimmergenossin verlassen kann, ist sie danach nicht mehr nach Boulder Beach zurückgekehrt.« Plötzlich blieb er stehen und betrachtete mich mit umwölkter Stirn. »Ich bin furchtbar in Sorge, dass ihr etwas zugestoßen ist. Und ich mache mir Vorwürfe«, fügte er hinzu. »Es ist im Grunde meine Schuld. Ich habe ausschließlich an mich gedacht, als ich diese Kreuzfahrt angetreten habe. Ich wollte einfach diese elenden Familienprobleme hinter mir lassen. In der Stunde ihrer Not habe ich Phoebe im Stich gelassen.«
Wann immer er ihren Namen aussprach, schien er im Sumpf seiner Gefühle zu versinken. Ich versuchte mich an einer Trockenlegung: »Ich glaube, Sie sehen die Sache etwas zu melodramatisch. Wenn ein Mädchen verschwindet, dann meist aus einem guten Grund. Jahr für Jahr verlassen Tausende junger Frauen ihre Familien, gehen vom College ab oder werfen ihren Job hin –«
»Ohne jemandem Bescheid zu sagen?«
»Genau. Außerdem waren Sie ohnehin nicht im Lande. Womöglich hat sie ja versucht, Sie zu kontaktieren.«
»In einem Notfall hätte sie mich immer erreichen können.«
»Aber vielleicht lag in den Augen Ihrer Tochter kein Notfall vor.«
»Wollen wir hoffen, dass es so ist.« Er sank in den Sessel zurück, als hätten seine Gefühlsaufwallungen ihn erschöpft. »Aber was für einen Grund soll sie gehabt haben, einfach wegzugehen? Ein Mädchen wie sie, dem alle Möglichkeiten offenstanden?«
»Chancen ergreift man, wo sie sich bieten.« Mein Blick schweifte durch das wie von allem Leben verlassene Zimmer und dann aus dem Fenster, hinter dem die kleine Stadt und das weite, leere Tal lagen. »War Phoebe zu Hause glücklich?«
Ausweichend sagte er: »Sie war in den letzten Jahren nicht oft hier. Im Sommer sind wir immer nach Tahoe gefahren, und den Rest des Jahres war sie natürlich auf dem College.«
»Wie ist sie dort zurechtgekommen?«
»Wohl ganz gut, soviel ich weiß. Im letzten Jahr hatte sie ein paar Probleme mit dem Studium, aber die konnten behoben werden.«
»Erzählen Sie.«
»Sie musste Stanford verlassen. Also, rausgeflogen in dem Sinne ist sie nicht, aber man gab uns zu verstehen, dass sie an einem weniger wettbewerbsorientierten College besser aufgehoben wäre. Deswegen ist sie im letzten Herbst nach Boulder Beach gewechselt. Ich war darüber nicht so glücklich, zumal Stanford meine Alma Mater ist.«
»Wie hat Ihre Tochter die Sache aufgenommen?«
»Phoebe schien sehr angetan von dem Wechsel. Offenbar hat sie in der neuen Umgebung gleich einen Freund gefunden.«
»Wie heißt der Freund?«
»Sie nannte ihn Bobby, glaube ich. Ich bin kein Spezialist, was die weibliche Psyche anbelangt, aber meinem Eindruck nach war sie ziemlich verknallt in den Jungen.«
»Ein Kommilitone?«
»Ja. Ich weiß sonst nichts über ihn, aber ich war nicht unfroh über die Nachricht. In der Vergangenheit hat sie sich nie viel aus Jungen gemacht.«
Das kann ein harter Aufprall sein, dachte ich, wenn Mädchen sich mit einundzwanzig zum ersten Mal in die Liebe stürzen. »Ist sie attraktiv?«
»Würde ich schon sagen. Natürlich bin ich als Vater voreingenommen. Aber sehen Sie doch selbst.«
Er zog eine Krokodillederbrieftasche hervor und klappte sie auf. Phoebe blickte mir durch eine durchsichtige Plastikhülle entgegen. Attraktiv war sie, aber nicht auf gewöhnliche Weise. Sie hatte eine wilde hellbraune Mähne, und ihre Augen leuchteten wie große blaue Lampen. Ihr breiter, gerader Mund drückte eine Leidenschaft aus, die wie nach innen gewandt schien. Sie wirkte wie eins dieser empfindsamen Mädchen, die sich zu einer reifen Schönheit entwickeln können oder zu einer alten Jungfer. Falls sie sich überhaupt entwickeln.
»Kann ich dieses Bild haben?«
»Nein«, sagte ihr Vater rundheraus. »Das ist das beste, das ich von ihr habe. Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen einige von den anderen überlassen.«
»Die werde ich wohl brauchen.«
»Am besten suche ich sie gleich heraus, bevor wir es vergessen.«
Ohne ein weiteres Wort verließ er das Zimmer. Ich hörte ihn mit großen Schritten die Treppe hinaufeilen, dann im ersten Stock rumoren. Irgendetwas krachte zu Boden, dass die Decke zitterte.
Mir war nicht wohl mit Wycherly. Er war ein Gentleman alter Schule, sofern es so etwas in den sechziger Jahren noch geben konnte, aber es war ein Ungestüm in ihm, das immer wieder hervorbrach. Er polterte die Treppe herunter und warf die Tür auf, dass sie gegen die Wand schlug. Sein Gesicht war feuerrot gefleckt.
»Dieses verfluchte Weib, sie hat alle meine Fotos mitgenommen. Kein einziges Bild von Phoebe hat sie mir gelassen.«
»Wer?«
»Meine Frau. Exfrau.«
»Dann muss ihr das Mädchen ja wohl doch am Herzen liegen.«
»Glauben Sie das nicht. Catherine war nie das, was man eine aufopfernde Mutter nennt. Sie hat die Bilder an sich genommen, weil sie weiß, dass sie mir lieb und teuer sind.«
»Wann hat sie sie an sich genommen?«
»Als sie nach Reno gegangen ist, nehme ich an. Das war im letzten April. Seither habe ich sie nur ein einziges Mal gesehen. Sie hat sich den Staub von Meadow Farms von den Füßen geschüttelt –«
»Ist sie immer noch in Reno?«
»Nein. Dort war sie nur, um sich ihre kostbare Scheidung zu besorgen. Ich glaube, sie lebt irgendwo in der San Francisco Bay Area. Keine Ahnung, wo genau.«
»Irgendeine Vorstellung müssen Sie doch haben. Zahlen Sie ihr keinen Unterhalt?«
»Das wird von den Anwälten geregelt.«
»Gut, dann nennen Sie mir einen Anwalt, der ihre Adresse kennt.«
»Das werde ich nicht tun.« Er blies mir seinen Atem entgegen wie ein Stier oder zumindest ein wohlgenährter alter Ochse. »Versuchen Sie gar nicht erst, mit Mrs. Wycherly in Kontakt zu treten. Sie würde nur Verwirrung stiften, würde Ihnen einen völlig falschen Eindruck von Phoebe vermitteln. Und von mir sowieso. Catherine hat eine giftige Zunge.« Seine elastischen Lippen wölbten sich, als kaute er auf einigen Wörtern herum. Nach seinem Gesichtsausdruck zu urteilen, schmeckten sie bitter. »Sie hat ganz schreckliche Dinge gesagt.«
»Wann war das?«
»An dem Tag, als mein Schiff auslief. Sie kam an Bord, hat sich Zutritt zu meiner Kabine erzwungen und ist auf mich losgegangen. Ich musste sie fortschaffen lassen.«
»Auf Sie losgegangen?«
»Mit Worten. Höchst unfairen Worten. Sie beschuldigte mich, sie völlig mittellos dastehen zu lassen. In Wirklichkeit war ich ihr gegenüber äußerst großzügig – eine Abfindung von hundertttausend Dollar und reichlich Alimente.«
»Die Scheidung war im April, sagten Sie?«
»Rechtsgültig wurde sie Ende Mai.«
»Hatte Phoebe seit der Scheidung Kontakt mit ihrer Mutter?«
»Auf keinen Fall. Phoebe war der Ansicht, dass Catherine großes Unrecht an uns beiden begangen hätte.«
»Die Scheidung war also Catherines Idee?«
»Ganz und gar. Sie hasste mich. Sie hasste Meadow Farms. Nicht einmal die eigene Tochter hat ihr etwas bedeutet. Ich weiß ganz sicher, dass die beiden sich nicht mehr begegnet sind, nachdem Catherine von hier weggezogen ist, außer bei dem hässlichen Vorfall in meiner Kabine.«
»Phoebe war zur selben Zeit auf dem Schiff wie ihre Mutter?«
»Leider ja.«
»Warum ›leider‹?«
»Phoebe war verständlicherweise schockiert und entsetzt, wie meine Frau da vom Leder gezogen hat. Natürlich hat sie nach besten Kräften versucht, sie zu beruhigen. Sie war äußerst nett zu ihr, fand ich. Netter, als Catherine es verdient hatte«, fügte er kleinlich hinzu.
»Haben sie das Schiff gemeinsam verlassen?«
»Ganz bestimmt nicht. Ich habe sie nicht weggehen sehen – ich war, offen gestanden, etwas angeschlagen nach Catherines Überfall und habe mich nicht mehr aus der Kabine hinausgewagt. Aber es ist unvorstellbar, dass Phoebe mit ihrer Mutter gegangen sein könnte. Ganz unvorstellbar.«
»Hatte Phoebe eigene finanzielle Mittel? Könnte sie ein Flugzeug oder einen Zug bestiegen haben?«
»Ja, könnte sie. Tatsächlich habe ich ihr genau an dem Tag eine größere Summe übergeben.« In rechtfertigendem Ton fuhr er fort: »Ihre Ausgaben fürs Studium waren höher, als sie erwartet hatte. Sie musste sich ein Auto kaufen, was ein erhebliches Loch in ihre Kasse gerissen hat. Ich habe ihr noch einmal tausend Dollar Zuschuss gegeben, um ihr über die Runden zu helfen.«
»In bar oder per Scheck?«
»Bar. Zufällig hatte ich eine beträchtliche Menge Bargeld bei mir.«
»Was war ihr nächstes Ziel, als sie das Schiff verließ?«
»Das Hotel St. Francis. Ich hatte eine Suite dort bewohnt und eine Nacht im Voraus für sie bezahlt.«
»Fuhr sie mit ihrem eigenen Auto?«
»Nein. Ihr Auto stand im Parkhaus am Union Square. Eigentlich wollte sie mich selbst zum Hafen fahren, aber ich hatte Sorge, dass wir in einen Verkehrsstau geraten könnten. Ich bestand darauf, ein Taxi zu nehmen.«
»Ist sie mit demselben Taxi ins Hotel zurückgefahren?«
»Das nehme ich an. Sie bat den Fahrer, auf sie zu warten. Ob er das gemacht hat, kann ich nicht sagen.«
»Können Sie ihn beschreiben?«
»Ein eher dunkler Typ. Das ist alles, woran ich mich erinnere. Ein kleiner Dunkler.«
»Schwarz?«
»Nein, mehr der südländische Typ.«
»Was für ein Taxi war es?«
Wycherly stellte die mächtigen, tweedbedeckten Schenkel nebeneinander und schlug sie gleich darauf wieder übereinander. »Das weiß ich leider nicht mehr. Ich achte nicht auf solche Dinge.«
»Können Sie Phoebes Auto beschreiben oder mir das Kennzeichen nennen?«
»Ich habe das Auto tatsächlich nie zu Gesicht bekommen. Ich glaube, es ist irgendeine kleine Importmarke. Sie hat es in Boulder Beach gebraucht gekauft.«
»Ich finde heraus, wo. Und wie war Phoebe gekleidet?«
Sein Blick ging über meinen Kopf hinweg und heftete sich an den Stuckfries unterhalb der hohen Decke. »Rock und Pullover, beide braun. Ein hellbrauner Kamelhaarmantel. Braune Stöckelschuhe. Braune Ledertasche. Phoebe kleidet sich immer schlicht. Kein Hut.«
Ich zückte meinen Kugelschreiber und ein kleines schwarzes Ledernotizbuch, schlug die erste leere Seite auf, schrieb in die Kopfzeile ›Phoebe Wycherly‹ und unter den Namen ›Mutter – Catherine‹ sowie ›Freund – Bobby‹ mit Fragezeichen. Dann noch eine Aufstellung ihrer Kleidung.
»Was schreiben Sie da?« Wycherly beugte sich misstrauisch vor. »Warum haben Sie Catherines Namen notiert?«
»Ich mache Schreibübungen.«
Die Worte rutschten mir heraus. Er ging mir zusehends auf die Nerven.
»Was soll das heißen?«
»Nichts weiter.«
»Was fällt Ihnen ein, so mit mir zu reden?«
»Tut mir leid, aber Sie sind mir ziemlich auf die Pelle gerückt, Mr. Wycherly. Ich kann schlecht einen Fall übernehmen, wenn ich mich dabei nach den Launen meines Auftraggebers richten muss und in bestimmte Richtungen gar nicht erst ermitteln darf. Ich muss die Freiheit haben, allen Hinweisen zu folgen, die sich ergeben.«
»Aber Sie arbeiten für mich.«
»Noch habe ich kein Geld von Ihnen genommen.«
»Hier.« Mit grimmigem Grinsen, als verspürte er ein Stechen in der Brust, griff er in die Innentasche seines Jacketts. Mit der flachen Hand schlug er auf die Krokodillederbrieftasche. »Wie viel?«
»Kommt drauf an, welchen Aufwand Sie treiben wollen. In der Regel arbeite ich allein, aber ich kann weitere Kräfte hinzuziehen – Einzelpersonen oder Organisationen überall im Land.«
»Nein. Wir warten erst einmal ab, ob das angezeigt ist.«
»Es ist Ihr Geld. Und Ihre Tochter. Haben Sie erwogen, sich an die Polizei zu wenden?«
»Ich habe mich gestern Abend mit unserem Sheriff hier beraten. Hooper ist ein alter Freund, hat früher schon für meinen Vater gearbeitet. Seiner Meinung nach würden wir nicht viel bewegen, wenn wir einfach eine Vermisstenanzeige aufgeben. Man muss schon ein Verbrechen vorweisen, scheint es, um den Leuten auf die Sprünge zu helfen.« Seine Stimme war freudlos und nahm auch keinen merklich anderen Ton an, als er hinzufügte: »Er hat mir Sie empfohlen.«
»Das war nett von ihm.«
»Er sagte, Sie seien für Diskretion bekannt. Ich hoffe, der Ruf ist gerechtfertigt. Ich möchte nicht, dass irgendetwas an die Öffentlichkeit dringt, und ich habe schon schlechte Erfahrungen mit sogenannten Privatdetektiven gemacht.«
»Was ist da passiert?«
»Ach, das tut hier nichts zur Sache.« Er hielt sich die Brieftasche vor den Bauch wie einen wärmenden Umschlag. »Was verlangen Sie für den Anfang?«
»Fünfhundert«, sagte ich. Das Doppelte des Üblichen.
Klaglos zählte er mir zehn Fünfziger in die Hand.
»Ich bin damit nicht gekauft, verstehen Sie? Ich fühle mich frei, allen Hinweisen zu folgen.«
Er brachte ein schiefes Lächeln zustande. »Soweit es die Diskretion gestattet, sicherlich. Ich möchte nur nicht, dass Catherine schändliche Lügen verbreitet über – nun, über mich und Phoebe.«
»Was für Lügen erzählt sie denn?«
»Bitte.« Er hob die Hand. »Catherine hat uns jetzt genug beschäftigt. Schließlich ist es Phoebe, um die es geht.«
»Na schön, sie kam also mit aufs Schiff, um Sie zu verabschieden, und von da an wissen Sie nichts über ihren weiteren Verbleib. An welchem Tag genau war das?«
»Die President Jackson ist am 2. November ausgelaufen. Gestern hat sie mich nach San Francisco zurückgebracht. Sobald wir angelegt hatten, habe ich versucht, Phoebe anzurufen. Ich war unruhig, weil ich keine Post von ihr bekommen hatte, aber da sie immer schon schreibfaul gewesen ist, war ich nicht so besorgt, wie ich hätte sein sollen. Sie können sich vorstellen, was für ein Schock es war, als mir ihre Zimmergenossin dann am Telefon mitteilte, dass Phoebe seit zwei Monaten nicht mehr da gewesen sei.«
»Hat die Zimmergenossin sich darüber keine Gedanken gemacht?«
»Doch, ich glaube schon. Aber sie hat sich mit dem Gedanken beruhigt oder beruhigen lassen, dass Phoebe bei mir sei. Sie dachte, behauptete sie, Phoebe hätte im letzten Moment beschlossen, die Kreuzfahrt mitzumachen.«
»Stand das jemals zur Debatte?«
»Ja, ich hatte Phoebe darauf angesprochen. Ich wollte sie gern mitnehmen. Aber das letzte Studienjahr am neuen College hatte gerade begonnen, und sie wollte sich voll darauf konzentrieren. Phoebe ist eine sehr ernsthafte junge Frau.«
»Und dann war da noch der Freund.«
»Ja, das spielte sicherlich auch eine Rolle.«
»Was hatte Phoebe über ihn zu berichten?«
»Nicht besonders viel. Anscheinend kannte sie ihn noch nicht einmal zwei Monate. Sie war erst im September nach Boulder Beach gekommen.«
»Ich kann sicherlich von der Zimmergenossin erfahren, wer er ist. Können Sie mir ihren Namen sagen?«
»Sie heißt Dolly Lang. Ich habe am Telefon mit ihr und auch mit der Vermieterin gesprochen. Zwei hohlköpfige Frauenzimmer, wie sie im Buche stehen, unfähig, den Ernst der Lage zu –«
»Name der Vermieterin?«
»Den habe ich nicht mitbekommen. Sie werden sie zweifellos vor Ort antreffen. Die Adresse in Boulder Beach lautet 221 Oceano Avenue. Das soll ganz in der Nähe des Campus sein. Und wenn Sie schon einmal da sind, wollen Sie wahrscheinlich auch mit einigen Leuten vom College sprechen, die Phoebe kannten – ihre Dozenten und Studienberater. Ich nehme an, Sie fahren heute noch nach Boulder Beach, da führt eine gute Straße durch die Berge …«
Sein leicht hektischer Redefluss riss nicht ab. Ich wartete darauf, dass er sich erschöpfte. Wycherly war eine dieser Führungskräfte, die lieber anderen Leuten sagen, was zu tun ist, als dass sie selbst tätig werden.
Als er zum Ende gekommen war, sagte ich: »Sprechen Sie doch selbst mit den Leuten vom College. Wahrscheinlich erfahren Sie von denen mehr, als ich es könnte.«
»Aber ich hatte nicht vor, dort heute hinzufahren.«
»Warum nicht?«
»Ich fahre nicht Auto. Mir ist nicht wohl am Steuer. Ich bin einfach skeptisch, ob ich immer alles richtig mache.«
»Ich bin eher immer bei allen anderen skeptisch.«
Schweigen machte sich zwischen uns breit, zusammen mit einer Art muffiger Vertraulichkeit. Mir schwante, dass wir einander gerade so einiges über unsere Einstellung zum Leben verraten hatten.
»Sie können mit mir mitfahren, wenn Sie mögen«, sagte ich.
Das Boulder Beach College lag am Rand des Touristenorts, dem es seinen Namen verdankte, in einem Grüngürtel zwischen Neubauten und dem unbebaubaren Meer. Es gehörte zu den vielen Bildungseinrichtungen, die in ganz Kalifornien innerhalb kurzer Zeit aus dem Boden geschossen waren, um mit den Folgen der im Krieg explosionsartig gestiegenen Beischlafrate fertig zu werden. Die Gebäude waren aus Stein und Glas, so kastenförmig und funkelnagelneu, dass sie sich noch nicht annähernd in die Landschaft einfügten. Die Palmen und sonstigen Grünpflanzen ringsum muteten künstlich an, sie flatterten wie Damenfächer in der frischen Meeresbrise.
Nicht einmal die jungen Leute, die auf dem Rasen saßen oder mit ihren Büchern von einem Gebäude zum nächsten schlenderten, machten auf mich den Eindruck, als gehörten sie hierher. Eher wirkten sie wie Komparsen eines Filmdrehs für ein College-Musical mit ländlichem Setting.
Ein sehr junger Mann, der Ähnlichkeit mit Robinson Crusoe hatte, wies uns den Weg zum Verwaltungsgebäude. Dort verabschiedete ich mich von Homer Wycherly, der auf den Eingangsstufen stehen blieb und recht ratlos in die Gegend glotzte.
Ich hätte wetten mögen, dass er auf nahezu jede neue Umgebung ratlos reagierte. Auf der Fahrt hierher hatte er mir von sich und seiner Familie erzählt. Er und seine Schwester Helen bildeten die dritte Generation der Familie, die einst ins Tal gekommen war und Meadow Farms gegründet hatte – der Grund und Boden, auf dem der Ort stand, hatte ursprünglich seinem Großvater gehört.
Vom Pioniergeist des Alten war bei seinen Nachkommen offenbar nicht viel übriggeblieben, auch wenn Wycherly das nicht direkt so ausdrückte. Sein Großvater hatte dem Wüstenboden eine Farm abgerungen; sein Vater war auf Öl gestoßen und hatte eine Firma gegründet; Homer war nominell der Kopf dieser Firma, doch das Geschäftliche wurde überwiegend durch das Büro in San Francisco besorgt, dessen Leiter Helens Ehemann Carl Trevor war. Bevor ich vor Phoebes Wohnung aus dem Auto stieg, notierte ich mir für alle Fälle Trevors Namen und Adresse. Er lebte in Woodside.
Oceano Avenue war der Traum eines Grundstückmaklers beziehungsweise der Alptraum eines Stadtplaners. Apartmenthäuser waren entlang der abschüssigen Straße aufgereiht wie hochkant gestellte Schachteln, auf den noch übrigen Freiflächen wuchsen bereits die nächsten Neubauten in die Höhe. Es roch stark nach Profit und zukünftigen Slums.
Vor der Hausnummer 221 stand ein dezentes Schild: Oceano Palms. Es war ein verputztes dreistöckiges Gebäude mit Außengalerien, auf die die einzelnen Zimmer in den Obergeschossen hinausgingen. Ich klopfte an die Tür von Nummer eins.
Sie öffnete sich einen Spaltbreit. Eine Frau mit eisengrauen Haaren linste hindurch, als hielte sie mich für einen Geldeintreiber.
»Sind Sie hier die Vermieterin, Ma’am?«
»Ich bin die Hausvorsteherin«, belehrte sie mich eines Besseren. »Fürs Sommersemester sind wir voll belegt.«
»Ich bin nicht auf der Suche nach Wohnraum. Mr. Wycherly schickt mich.«
Die Antwort kam zögernd: »Der Vater der jungen Dame?«
»Ja, unsere Hoffnung ist, dass Sie uns noch etwas mehr über sie erzählen können. Darf ich reinkommen?«
Sie musterte mich, als hätte sie Männer meines Schlages zur Genüge kennengelernt und wenig Freude an ihnen gehabt.
»Ich habe ganz selten Ärger mit meinen Mädchen. So gut wie nie, könnte man sagen. Sind Sie von der Polizei?«
»Ich bin Privatdetektiv. Mein Name ist Archer. Sie haben sicherlich nichts dagegen, mir zu sagen, was Sie über Phoebe Wycherly wissen.«
»Ich kannte sie kaum. Mein Gewissen ist rein.« Ihre massige Gestalt aber gab den Weg nicht frei. »Sie sollten sich besser an die College-Verwaltung wenden. Wenn ein junges Mädchen einfach ihr Studium abbricht, dann ist das deren Problem, nicht meins. Verschwindet wer weiß wohin und weiß der Himmel mit wem. Sie hat hier nur knapp zwei Monate gewohnt.«
»War sie eine gute Mieterin?«
»Ganz normal, würde ich sagen. Ich weiß nicht recht, ob ich mit Ihnen reden soll. Gehen Sie doch lieber zum College, und reden Sie mit den Leuten dort.«
»Das hat Mr. Wycherly schon übernommen. Es wäre schön, wenn er erwähnen könnte, dass Sie uns bei unseren Ermittlungen behilflich waren.«
Sie dachte darüber nach und kaute auf ihrer Oberlippe, bis ihr einfiel, dass sich das nicht schickt. Ein paar schwarze Härchen auf ihrem schweren Kinn wedelten mir entgegen wie falsch platzierte Fühler.
»Dann kommen Sie herein.«
Ihr Wohnzimmer roch leicht nach Weihrauch und Witwenschaft. Ein Mann mit Quadratschädel und einem rechteckigen Schnurrbart lächelte aus einem schwarzen Bilderrahmen, der auf dem geschlossenen Deckel eines Klaviers stand. Überall an den Wänden hingen Sinnsprüche, zum Beispiel: »Vom Herd der Hütte steigt der Rauch ebenso leicht auf wie vom stolzesten Palast.« Leise Radiogeräusche drangen durch die Zimmerdecke wie unheilvolle Vorboten der Modernität.
»Ich bin Mrs. Doncaster«, sagte meine Gastgeberin. »Setzen Sie sich, falls Sie einen Platz finden.«
Alle Stühle waren frei, es gab nichts in dem kleinen, muffigen Zimmer, das dort nicht hingehörte. Außer mir. Ich wählte einen fest stehenden Schaukelstuhl, der bei jeder Bewegung knarrte, also saß ich still und rührte mich nicht. Mrs. Doncaster nahm in etwa drei Meter Entfernung Platz.
»Das war ein Schlag für mich, eins der Mädchen so zu verlieren. Ich habe praktisch nie Ärger mit meinen Mädchen. Wenn sie mal Probleme haben – ich meine nicht ernsthafte Probleme, so was gibt es bei uns nicht –, dann kommen sie zu mir. Ich gebe ihnen Ratschläge, so gut ich kann. Mr. Doncaster war Pastor der Church of Christ.«
Sie beugte sich zum Bild auf dem Klavier vor, was endlich ihre Gefühle in Bewegung brachte: »Arme Phoebe, was ist ihr bloß passiert?«
»Was glauben Sie denn, was passiert ist?«
»Es gefiel ihr hier nicht, das ist meine Meinung. Sie war an einen ganz anderen Lebensstil gewöhnt. Also ist sie auf und davon. Sie hatte das Geld und die Freiheit, so etwas zu tun. Ihre Eltern haben ihr zu viele Freiheiten gelassen, falls Sie meine Meinung hören wollen. Und ich weiß nicht, was Mr. Wycherly sich dabei gedacht hat, einfach mal so um den Globus zu schippern, und seine junge Tochter hier muss sehen, wo sie bleibt. Das ist doch unnatürlich.«
»Hat Phoebe ihre Sachen mitgenommen, als sie hier wegging?«
»Nein, aber sie hatte jede Menge Sachen, und sie konnte sich jederzeit neue kaufen. Sie ist mit ihrem Auto weg.«
»Können Sie mir Marke und Modell nennen?«
»Es war ein kleines grünes Auto, eine von diesen deutschen Importmarken. Volkswagen? Jedenfalls hat sie es hier in der Stadt gekauft, also können Sie sich leicht danach erkundigen. Die meisten meiner Mädchen haben kein eigenes Auto, und das ist auch besser so.«
»Sie scheinen nicht viel zu halten von Phoebe Wycherly.«
»Das habe ich nicht gesagt.« Sie warf mir einen abwehrenden Blick zu, als hätte ich sie beschuldigt, dem Mädchen nur das Schlechteste zu wünschen. »Ich hatte eigentlich gar keine Gelegenheit, sie kennenzulernen. Sie ging hier immer nur ein und aus, war ständig in ihrem kleinen grünen Auto unterwegs. Die hatte Besseres zu tun, als sich mit mir zu unterhalten.«
»Wie lief es mit ihrem Studium?«
»Das weiß ich nicht. Das müssten die im College Ihnen sagen können. Ich hab sie nie ein Buch lesen sehen, aber vielleicht war sie so helle, dass sie das nicht nötig hatte.«
»War sie – ist sie sehr intelligent?«
»Die anderen Mädchen fanden das anscheinend. Darüber und über alles Weitere können Sie mit ihrer Zimmergenossin Dolly Lang sprechen. Dolly ist ein braves Mädchen, Sie können sicher sein, dass sie Ihnen die Wahrheit sagt, soweit sie sie versteht.«
»Ist Dolly im Haus?«
»Ich glaube schon. Soll ich ihr Bescheid sagen?« Sie machte Anstalten, sich zu erheben.
»Einen Moment noch, danke. Was ist denn das Weitere, was Dolly zu sagen hätte?«
Mrs. Doncaster zögerte. »Ich glaube, ich lass Dolly lieber für sich selbst sprechen. Wir sind nicht völlig einer Meinung.«
»Worüber sind Sie sich nicht einig?«
»Dolly glaubt, dass Phoebe zurückkommen wollte. Ich nicht. Wenn sie es tatsächlich wollte, warum hat sie’s dann nicht getan? Unser Haus war dem Fräulein Wycherly nicht gut genug, das ist meine Meinung. Hat sich ständig über die Ausstattung beklagt, hat gegen vollkommen vernünftige Vorschriften protestiert. Sie wollte es schicker und freizügiger haben.«
»Hat sie das gesagt?«
»Vielleicht nicht mit diesen Worten. Aber ich kenn doch diese Sorte. Als sie eingezogen ist, war’s das Erste, dass sie alle meine guten Vorhänge rausgerissen und ihre eigenen angebracht hat. Ohne auch nur um Erlaubnis zu fragen.«
»Das klingt für mich, als hätte sie länger bleiben und zurückkommen wollen.«
»Für mich zeigt das ganz was anderes. Nämlich dass sie rücksichtslos war – ein verwöhntes reiches Gör, das sich um andere Leute nicht kümmert.«
Die hässlichen Worte hingen im Raum. Sanftes Erschrecken machte sich in ihrem Gesicht breit, löste ihre Mundwinkel und verwandelte ihren Blick, in dem fast so etwas wie Scham oder sogar Furcht lag, während sie das Porträtfoto auf dem Klavier betrachtete. Nicht zu mir, sondern zu dem lächelnden Schnurrbart sagte sie: »Tut mir leid. Ich bin so durcheinander, kann weder zu Mensch noch Tier sprechen.« Sie stand auf und ging zur Tür. »Ich rufe jetzt Dolly herunter.«
»Ich kann auch nach oben gehen. Ich möchte mir sowieso das Zimmer ansehen. Welche Nummer ist es?«
»Sieben, im ersten Stock.«
Ich stand ihr im schmalen Flur gegenüber. »Gibt es noch irgendetwas Wichtiges, das Sie mir nicht erzählt haben? Über Phoebes Verhältnis zu Männern zum Beispiel?«
»Ich kannte das Mädchen kaum. Sie hat sich mir nicht anvertraut.«
Ihr Mund schloss sich wie eine Mausefalle. Sie wollte der Welt nicht den geringsten Vorwand liefern, ihr die Bude einzurennen.
Ich stieg über die Außentreppe in den ersten Stock. Hinter der Tür von Nummer sieben stotterte eine Schreibmaschine. Ich klopfte, und eine Frauenstimme antwortete müde: »Herein.«
Sie saß an einem Schreibtisch vor dem Fenster, die schweren Vorhänge zugezogen, die Leselampe eingeschaltet. Hockte dort wie ein Kaninchen, ein kleines Mädchen in einem weiten weißen Orlon-Pullover und einer blauen Hose. Sah versunken vor sich hin, die Beine um die Beine des Stuhls geschlungen. Sie machte sich meinetwegen nicht die Mühe, sie zu lösen.
»Miss Lang? Ich würde mich gern mit Ihnen unterhalten. Sind Sie beschäftigt?«
»Ich bin ganz furchtbar beschäftigt.« Sie mimte helle Verzweiflung, indem sie sich die kurzen dunklen Ponyfransen raufte und eine Fratze zog. »Ich sitz an einem Soziologie-Referat, das bis heute Nachmittag drei Uhr fertig sein muss, meine ganze Semesternote hängt davon ab, und ich kann meine – in Anführungszeichen – Gedanken nicht zusammenhalten. Wissen Sie irgendwas über die Ursachen von Jugendkriminalität?«
»Genug, um ein Buch zu füllen, glaube ich.«
Ihre Augen leuchteten auf. »Ehrlich? Sind Sie Soziologe?«
»Ein Soziologe für Arme vielleicht. Ich bin Detektiv.«
»Na, trifft sich das nicht bestens? Vielleicht können Sie mir weiterhelfen. Wer ist verantwortlich für die Jugendkriminalität, die Kinder oder die Eltern? Mir fehlt irgendwie der zündende – in Anführungszeichen – Gedanke.«
»Ich wünschte, Sie würden das mit den Anführungszeichen mal lassen.«
»Finden Sie das langweilig? Ich entschuldige mich. Geben Sie den Eltern oder den Kindern die Schuld?«
»Ich gebe niemandem die Schuld, wenn Sie an einer ehrlichen Antwort interessiert sind. Ich glaube, Schuldzuweisungen sind etwas, wovon wir uns freimachen müssen. Wenn Kinder den Eltern die Schuld dafür geben, was mit ihnen geschehen ist, und die Eltern den Kindern die Schuld für das, was sie getan haben, dann ist das ein Teil des Problems und macht es nur noch schlimmer. Die Menschen sollten lieber mal gründlich in den Spiegel gucken. Anderen die Schuld zu geben ist das Gegenteil davon.«
»Das ist gut«, sagte sie begeistert. »Wenn ich das nur noch in die richtige sprachliche Form bringen kann.« Sie schürzte ausgiebig die Lippen. »›Sanktionshaltungen innerhalb der familialen Gemeinschaft‹ – wie klingt das?«
»Fürchterlich. Ich hasse diesen Soziologenjargon. Aber ich bin nicht gekommen, um solche Fragen zu diskutieren, Miss Lang. Mr. Wycherly bat mich, Sie aufzusuchen.«
Ihr Mund formte ein großes rundes O und sprach es dann aus. Ihr Gesicht nahm eine aschgraue Farbe an. Gleich wirkte sie um Jahre älter.
»Kein Wunder, dass ich mich nicht richtig konzentrieren kann«, sagte sie. »Wenn man daran denkt, wie dieses verrückte Mädchen einfach abgehauen ist. Im Grunde denke ich seit zwei Monaten an nichts anderes. Mitten in der Nacht wache ich schweißgebadet auf und stelle mir vor, was passiert ist.«
»Was genau stellen Sie sich denn vor?«
»Schreckliche Sachen. Woran man halt mitten in der Nacht so denkt. Wie in diesem Stück von Eliot über Sweeney Agonistes.« Sie verzog das Gesicht. »Ich musste das im Englisch-Seminar lesen: Einmal im Leben könnte jeder Mann ein Mädchen kaltmachen.«
Sie sah zu mir hoch, als wäre ich Sweeney persönlich und wollte sie kaltmachen. Sie löste die Beine von ihrem Stuhl und hüpfte durchs Zimmer, ein kleiner Klecks in Weiß und Blau. Sie kauerte sich auf eine Schlafcouch, reglos zusammengerollt mit dem Rücken zur Wand, das Kinn gegen die Knie gedrückt, über die hinweg sie mich beobachtete. Ihre Augen glänzten im Lampenlicht wie frischgeprägte Münzen.
Ich drehte den Stuhl um und setzte mich mit dem Rücken zur Lampe. »Haben Sie irgendeinen Grund zu glauben, dass sie kaltgemacht worden ist?«
»Nein«, sagte sie mit kieksiger Stimme. »Das ist nur meine Befürchtung. Mrs. Doncaster und alle anderen glauben, dass Phoebe einfach von hier wegwollte. Eine Zeitlang habe ich das auch gedacht. Inzwischen glaube ich, dass sie vorhatte, zurückzukommen. Ich bin mir praktisch sicher.«
»Was macht Sie so sicher?«
»Einiges. Sie hat nur ihre kleine Reisetasche mitgenommen, mit Kleidung fürs Wochenende.«
»Wollte sie das Wochenende in San Francisco verbringen?«
»Ich glaube wohl. Jedenfalls sagte sie, wir würden uns Montag sehen. Sie hatte Montagmorgen um neun Uhr ein Seminar, und da wollte sie hin. Sie hat davon gesprochen.«
»Hat sie sich Ihnen anvertraut, Miss Lang?«
Sie nickte, soweit die ans Kinn gezogenen Knie es zuließen. Im Widerschein der Lampe changierte die Farbe ihrer Augen von Silber zu Schwarz und wieder zu Silber.
»Ich kannte Phoebe noch nicht lange«, sagte sie, »erst seit sie hier im September eingezogen war. Aber wir sind uns schnell nähergekommen. Sie war – sie ist ein kluger Kopf, manchmal hat sie mir bei meinen Seminararbeiten geholfen. Sie war im vierten Studienjahr« – die Vergangenheitsform schlich sich immer wieder ein –, »und ich bin ja erst im zweiten. Außerdem hatten wir ähnliche Erfahrungen gemacht.«
»Was für Erfahrungen?«
»Probleme mit den Eltern. Auf meine will ich gar nicht weiter eingehen – das geht nur sie und mich was an –, aber Phoebe kommt aus grässlichen Familienverhältnissen, echt grauenhaft. Ihre Mutter und ihr Vater kamen überhaupt nicht miteinander aus und haben sich schließlich scheiden lassen, im letzten Sommer, glaube ich. Für Phoebe war das eine ganz bittere Sache. Sie hatte das Gefühl, kein Zuhause mehr zu haben, verstehen Sie?«
»Auf wessen Seite stand sie, als es zur Scheidung kam?«
»Auf der ihres Vaters. Anscheinend hat ihre Mutter ihm einen Haufen Geld abgeknöpft. Aber eigentlich hat sie beiden die Schuld gegeben, weil sie sich so kindisch aufgeführt haben.« Sie stutzte. »Da ist wieder die Sache mit der Schuld – vielleicht liegen Sie richtig, Mister –? Ich glaube, Sie haben mir gar nicht Ihren Namen gesagt.«
Ich verriet ihn ihr. »Hat sie viel über ihre Mutter gesprochen?«
»Nein, sie hat sie kaum mal erwähnt.«
»Hat sie je von ihrer Mutter gehört?«
»Nicht, dass ich wüsste. Wohl eher nicht.«
»Wusste sie, wo ihre Mutter derzeit wohnt?«
»Zu mir hat sie nichts davon gesagt.«
»Es spricht also nichts dafür, dass sie bei ihrer Mutter sein könnte?«
»Halte ich für unwahrscheinlich. Sie war echt sauer auf ihre Mutter. Aus gutem Grund.«
»Hat sie Ihnen den Grund mal verraten?«
»Nicht direkt.« Dolly verzog wieder den Mund, als müsste sie nach den richtigen Worten suchen. »Sie hat mehr so Andeutungen gemacht. Einmal, weiß ich noch, lagen wir schon im Bett und haben uns im Dunkeln unterhalten, da erzählte sie von Briefen, die man ihnen ins Haus geschickt hatte. Irgendein Spinner. Das war letztes Jahr, vor der Scheidung, Phoebe war in den Osterferien von Stanford nach Hause gekommen. Den ersten Brief hat sie selber geöffnet. Da standen schreckliche Sachen über ihre Mutter drin.«
»Was für Sachen?«
Das Mädchen sagte feierlich: »Dass sie Ehebruch begangen habe. So wie Phee darüber redete, schien sie zu glauben, was in dem Brief behauptet wurde. Dann sagte sie noch etwas, das ich nicht verstanden habe. Sie meinte, sie sei schuld an den Briefen, und die Briefe hätten die Ehe ihrer Eltern kaputtgemacht.«
»Sie meinte damit aber nicht, dass sie selbst sie geschrieben hätte?«
»Das kann nicht sein. Ich weiß nicht, wie sie das meinte. Ich hab versucht, mehr aus ihr herauszuholen, aber das hat sie nur aufgeregt. Am nächsten Morgen wollte ich das Thema noch mal zur Sprache bringen, und da tat sie so, als wüsste sie nicht, wovon ich rede.« Ein Ausdruck des Zweifels huschte über ihr Gesicht. »Ich weiß gar nicht, ob ich Ihnen das alles erzählen sollte.«
»Wenn nicht Sie, Dolly, wer soll es dann tun? Wann fand diese Unterhaltung statt?«
»In der Woche, bevor sie abgehauen ist. Ich erinnere mich, dass sie in derselben Nacht über die Reise ihres Vaters gesprochen hat.«
»Was hielt sie von dieser Reise?«
»Gar nichts. Sie wäre selbst gern weg, aber nicht mit ihm.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Ganz einfach. Sie wollte sich eine längere Auszeit nehmen, einfach fortgehen, ganz allein. Aber das hat sie nicht gemacht.«
»Woher wissen Sie das?«
»Weil sie vorhatte, zurückzukommen und ihr Studium zu beenden. Das war ihr sehr wichtig, den Abschluss machen, eine Arbeit finden, auf eigenen Füßen stehen und kein Geld mehr von irgendwem annehmen müssen.«
»Zum Beispiel ihrem Vater, meinen Sie?«
»Ja. Außerdem geht keine Frau auf eine lange Reise und lässt ihre besten Anziehsachen zurück – die Abendkleider, ihre italienischen Pullover und haufenweise Schuhe, Taschen und Mäntel. Sogar ihren hellen, geschorenen Biberpelzmantel hat sie hiergelassen, und der ist ein Vermögen wert.«
»Wo ist er?«
»Bei ihren anderen Sachen im Keller. Ich wollte nicht, dass sie dorthin kommen, aber Mrs. Doncaster meinte, das sei in Ordnung.« Dolly rutschte verlegen herum, kämpfte mit ihren Knien. »Es kam mir so herzlos vor, ihre Sachen hier rauszuschaffen. Aber was hätte ich machen sollen? Phoebes Miete wurde fällig, und ich konnte es mir nicht leisten, für uns beide zu zahlen. Ich musste mir eine andere Zimmergenossin suchen. Und Mrs. Doncaster redete mir ein, dass Phoebe einfach ihre Zelte abgebrochen hätte und mit ihrem Vater gefahren wäre. Dass es nicht so war, weiß ich erst seit gestern.«
»Wie kam Mrs. Doncaster zu dieser Vorstellung?«
Das Mädchen zögerte. »Einfach so, schätze ich.«
»Irgendeinen Grund muss sie doch gehabt haben.«
Nach weiterem Zögern sagte sie: »Ich vermute, es war Wunschdenken. Sie wollte gar nicht, dass Phoebe – nein«, fiel sich Dolly selbst ins Wort. »So wie das klingt, war es nicht gemeint.«
»Es war nicht gemeint, dass Mrs. Doncaster Phoebe hier nicht wieder sehen wollte?«
»Nein. Ich meine, sie wollte nicht, dass ihr etwas passiert. Aber dass sie nicht zurückkam, war ihr gerade recht. Sie wollte glauben, dass Phoebe ausgezogen war. Ich meine, sie hat immer wieder zu mir gesagt, dass wir irgendwann demnächst von Phoebe hören würden. Sie würde sich ihre Sachen nachschicken lassen, nach Neuseeland oder Hongkong oder wer weiß, wohin, und damit wäre der Fall erledigt. Aber das ist er nicht, oder?«
»Ich verstehe Mrs. Doncasters Motiv nicht. Mag sie Ihre Zimmergenossin nicht?«
»Sie kann sie nicht ausstehen. Das ist nichts Persönliches. Ich will nicht darauf hinaus, dass sie irgendwas damit zu tun hätte.«
»Damit?«
»Was auch immer mit Phoebe passiert ist. Sie ist doch nicht tot, oder?«
»Ich weiß es nicht. Ich werde immer noch nicht aus Mrs. Doncaster schlau.«
»Die Sache ist ganz einfach.« Für Dolly war alles sehr einfach oder sehr kompliziert. »Ich wollte ihn da eigentlich nicht mit hineinziehen – er ist ein netter Junge –, aber Bobby Doncaster war in Phoebe verknallt. Sehr verknallt. Ihm tropfte praktisch der Sabber vom Kinn, wenn sie in seiner Nähe war. Mrs. Doncaster fand das alles überhaupt nicht lustig.«
»Beruhte die Verliebtheit auf Gegenseitigkeit?«
»Glaube schon. Phee hat nicht so ein Aufhebens davon gemacht wie Bobby. Aber Tatsache ist, dass –« Sie stockte und blinzelte heftig.
»Was wollten Sie sagen?«
»Nichts.«
»Na, irgendwas muss es gewesen sein.«
»Aber ich kann Getratsche nicht ausstehen. Und ich bin eigentlich auch kein Schnüffler.«
»Ich schon. Dies ist eine ernste Angelegenheit, Dolly, und das wissen Sie auch. Je mehr Sie mir über Phoebe und ihr Leben mitteilen können, desto größer die Chance, dass ich sie finde. Also, was wollten Sie sagen?«
Sie faltete umständlich die Beine auseinander, verschränkte sie dann wieder und landete schließlich in einer Art Lotussitz. »Ich glaube, dass Phoebe wegen Bobby hierher, auf dieses College, gekommen ist. Offiziell zugegeben hat sie es nie. Aber einmal, als wir uns über ihn unterhielten, ist ihr so etwas herausgerutscht. Sie hat ihn letzten Sommer an einem Strand weiter nördlich kennengelernt, und er hat sie überredet, sich hier einzuschreiben.«
»Und eine Wohnung bei seiner Mutter zu mieten?«
»Mrs. Doncaster weiß davon nichts. Und ich bin mir auch nicht ganz sicher.« Dolly sah mich besorgt an. »Sie dürfen nicht glauben, dass da irgendwas Ungehöriges gelaufen ist. So eine ist Phoebe nicht. Und Bobby ist auch nicht so einer. Er wollte sie heiraten.«
»Ich würde mich gern mit ihm unterhalten.«
»Das dürfte nicht weiter schwer sein. Ich hab ihn im Keller rumoren gehört, als ich von der Uni kam. Er arbeitet an einem Surfbrett.«
»Wie alt ist Bobby?«
»Einundzwanzig. Genau wie Phoebe. Aber er kann Ihnen nicht viel über sie sagen. Er kannte sie nicht. Ich war die Einzige, die sie überhaupt kannte, und das auch nicht wirklich. Phoebe war – Phoebe ist tiefgründig.«
»Was genau heißt das?«
»Na ja, irgendwie undurchsichtig. Sie hat nie zu erkennen gegeben, was sie wirklich dachte. Sie konnte völlig normal wirken, hat geplaudert und geschwatzt wie wir anderen auch, aber mit den Gedanken war sie woanders. Fragen Sie mich nicht, wo. Ich weiß es nicht. Ihre Eltern vielleicht. Oder sonst irgendwer.«
»Hatte sie andere Freundinnen außer Ihnen?«
»Keine wirklich enge Freundin. Sie war ja nur gut sieben Wochen hier. Ich bin ihr im Wohnungsamt über den Weg gelaufen. Wir suchten beide nach einer Zimmergenossin, und meine musste ein höherer Jahrgang sein, damit ich außerhalb des Campus wohnen durfte. Außerdem gefiel mir Phoebe einfach. Sie hatte ein bisschen was Spinnertes, genau wie ich. Wir haben uns auf Anhieb gut verstanden.«
»Inwiefern hatte sie etwas Spinnertes?«
»Kann ich schwer sagen. Mit Psychologie kenn ich mich nicht so aus. Ich meine, Phee hatte zwei oder drei Persönlichkeiten gleichzeitig, und die eine hatte mit den anderen nicht viel zu tun. Sie war manchmal ziemlich übel drauf, und ich bin ehrlich gesagt auch nicht gerade der ausgeglichenste Typ. Insofern passten wir gut zusammen.«
»Hatte sie Depressionen?«
»Manchmal. Dann war sie so niedergeschlagen, dass sie kaum aus dem Bett rauskam. Aber am nächsten Tag konnte sie auch wieder die große Stimmungskanone sein.«
»Wovon bekam sie Depressionen?«
»Vom Leben«, sagte Dolly Lang ernst.
»War Selbstmord je ein Thema?«
»Klar, wir haben auch über Selbstmord gesprochen. Die verschiedenen Arten und so weiter. Einmal, weiß ich noch, ging es um Selbstmord als Ausdruck der Persönlichkeit. Ich bin der Golden-Gate-Bridge-Typ, hochdramatisch runter in die Tiefe.«
»Und Phoebe?«
»Sie sagte, sie würde sich in den Kopf schießen. Das ginge am schnellsten.«