Für meine Schwester
Rück mit dem Stuhl heran
Bis an den Rand des Abgrunds
Dann erzähl ich dir meine Geschichte
F. Scott Fitzgerald
Ich kenne den Tod schon lange, doch jetzt kennt der Tod auch mich.
Vorsichtig öffne ich die Augen, blinzle ein paarmal. Langsam weicht die Dunkelheit. Ein kahler Raum, erhellt nur vom grün- und rotleuchtenden Glimmen kleiner Apparate und dem Lichtstrahl, der durch die angelehnte Tür fällt. Die nächtliche Stille eines Krankenhauses.
Es kommt mir vor, als wäre ich aus einem tagelangen Traum erwacht. Ein dumpfer, warmer Schmerz in meinem rechten Bein, meinem Bauch, meiner Brust. In meinem Kopf ein leises Dröhnen, das stärker wird. Allmählich ahne ich, was geschehen sein muss.
Ich habe überlebt.
Bilder tauchen auf. Wie ich mit dem Motorrad aus der Stadt fahre, beschleunige, vor mir die Kurve. Wie die Räder auf der Landstraße nicht mehr greifen, ich den Baum auf mich zukommen sehe, vergeblich versuche auszuweichen, die Augen schließe …
Was hat mich gerettet?
Ich schiele an mir hinunter. Eine Halskrause, das rechte Bein fixiert, vermutlich Gips, das Schlüsselbein bandagiert. Vor dem Unfall bin ich gut in Form gewesen, für mein Alter sogar sehr gut. Vielleicht hat mir das geholfen.
Vor dem Unfall … War da nicht noch etwas ganz anderes? Doch ich will mich nicht daran erinnern, denke lieber an den Tag, als ich den Kindern beigebracht habe, einen Stein übers Wasser hüpfen zu lassen. An die gestikulierenden Hände meines Bruders, wenn er mit mir diskutierte. An den Italientrip mit meiner Frau und wie wir am frühen Morgen eine Bucht an der Amalfiküste entlangspazierten, während es um uns herum aufhellte und das Meer sanft gegen die Felsen schäumte …
Ich döse weg. Im Traum stehen wir auf dem Balkon. Sie sieht mir eindringlich in die Augen, als habe sie mich durchschaut. Mit dem Kinn deutet sie zum Innenhof, wo unsere Kinder gerade mit den Nachbarsjungen spielen. Während unsere Tochter mutig auf eine Mauer klettert, hält unser Sohn sich zurück und beobachtet die anderen nur.
»Das hat er von dir«, sagt sie.
Ich höre sie lachen und greife nach ihrer Hand …
Es piept mehrmals. Ein Pfleger befestigt einen neuen Infusionsbeutel. Es ist noch immer mitten in der Nacht. September 2014 steht auf einem Wandkalender. Ich versuche, mich aufzurichten.
»Welcher Tag ist heute?« Meine Stimme klingt fremd.
»Mittwoch«, sagt der Pfleger. »Sie waren zwei Tage im Koma.«
Es ist, als spräche er von einem anderen.
»Wie fühlen Sie sich?«
Ich lehne mich wieder zurück. »Mir ist etwas schwindlig.«
»Das ist völlig normal.«
»Wann kann ich meine Kinder sehen?«
»Ich werde Ihrer Familie sofort morgen früh Bescheid sagen.« Der Pfleger geht zur Tür, bleibt dort kurz stehen. »Wenn etwas ist, läuten Sie. Die Oberärztin sieht gleich noch mal nach Ihnen.«
Als ich nicht antworte, verlässt er den Raum.
Was sorgt dafür, dass ein Leben wird, wie es wird?
In der Stille höre ich jeden Gedanken, und auf einmal bin ich hellwach. Beginne einzelne Etappen meiner Vergangenheit abzugehen. Vergessen geglaubte Gesichter kommen mir entgegen, ich sehe mich als Jugendlichen auf dem Sportplatz des Internats und das rote Licht meiner Dunkelkammer in Hamburg. Erst sind die Erinnerungen nur unscharf, doch während der nächsten Stunden werden sie präziser. Meine Gedanken irren immer weiter in der Zeit zurück, ehe sie schließlich bei der Katastrophe landen, die meine Kindheit überschattet hat.
(1980)
Als ich sieben war, machte meine Familie Urlaub in Südfrankreich. Mein Vater, Stéphane Moreau, stammte aus Berdillac, einem Dorf bei Montpellier. Tausendachthundert Einwohner, eine Boulangerie, eine Brasserie, zwei Weingüter, eine Schreinerei und eine Fußballmannschaft. Wir besuchten unsere Oma, die den Ort in den letzten Jahren nicht mehr verlassen hatte.
Wie auf allen längeren Autofahrten trug unser Vater eine alte, hellbraune Lederjacke, im Mundwinkel seine Pfeife. Unsere Mutter, die den Großteil der Fahrt über gedöst hatte, legte eine Kassette mit Beatles-Songs ein. Sie drehte sich zu mir um.
»Für dich, Jules.«
Paperback Writer, damals mein Lieblingslied. Ich saß hinter ihr und summte mit. Die Musik wurde von meinen Geschwistern übertönt. Meine Schwester hatte meinen Bruder ins Ohr gekniffen. Martin, von uns nur »Marty« genannt, schrie auf und beschwerte sich bei unseren Eltern.
»Du blöde Petze.« Liz zwickte ihn wieder ins Ohr.
Sie stritten heftiger, bis unsere Mutter sich umdrehte und beide ansah. Ihr Blick war ein Meisterwerk. Er zeigte sowohl Verständnis für Marty angesichts seiner gemeinen Schwester wie auch für Liz angesichts ihres nervigen Bruders, vor allem aber zeigte er, dass jeglicher Streit total sinnlos war, und darüber hinaus deutete er sogar noch an, dass es für brave Kinder an der nächsten Tankstelle ein Eis geben könnte. Meine Geschwister ließen sofort voneinander ab.
»Wieso müssen wir eigentlich jedes Jahr zu Oma fahren?«, fragte Marty. »Wieso können wir nicht mal nach Italien?«
»Weil es sich so gehört. Und weil eure mamie sich über euren Besuch freut«, sagte unser Vater auf Französisch, ohne den Blick von der Straße zu nehmen.
»Stimmt nicht. Sie mag uns gar nicht.«
»Außerdem riecht sie so komisch«, sagte Liz. »Nach alten Polstermöbeln.«
»Nein, sie riecht nach einem modrigen Keller«, sagte mein Bruder.
»Sagt nicht immer solche Sachen über eure mamie!« Unser Vater lotste den Wagen durch einen Kreisverkehr.
Ich sah aus dem Fenster. In der Ferne erstreckten sich Thymiansträucher, Garigue und Krüppeleichen. Die Luft roch würziger in Südfrankreich, die Farben waren intensiver als zu Hause. Ich griff in meine Tasche und spielte mit den silbernen Franc-Münzen, die vom vorigen Jahr übriggeblieben waren.
Gegen Abend erreichten wir Berdillac. Der Ort kam mir im Rückblick immer wie ein mürrischer, aber im Grunde liebenswerter Greis vor, der den ganzen Tag vor sich hin döst. Wie in vielen Gegenden im Languedoc waren die Häuser aus Sandstein gebaut, sie hatten schlichte Fensterläden und rötliche, verwitterte Ziegeldächer, von der tiefstehenden Sonne in weiches Licht getaucht.
Der Kies knirschte unter den Rädern, als der Kombi vor dem Haus am Ende der Rue Le Goff zum Halten kam. Etwas Unheimliches ging von dem Gebäude aus, die Außenfassade war von Efeu überwachsen, das Dach marode. Es roch nach Vergangenheit.
Unser Vater stieg zuerst aus und eilte mit federnden Schritten zur Tür. Es müssen damals »seine« Jahre gewesen sein, wie man so sagt. Mit Mitte dreißig hatte er noch sein dichtes, schwarzes Haar und begegnete jedem mit liebenswürdiger Höflichkeit. Oft sah ich, wie Nachbarn und Kollegen um ihn standen und gebannt zuhörten, wenn er sprach. Das Geheimnis war seine Stimme: sanft, nicht zu tief, nicht zu hoch, sein Akzent nur angedeutet, wie ein unsichtbares Lasso legte sie sich um seine Zuhörer und zog sie näher zu sich heran. In seinem Job als Wirtschaftsprüfer war er sehr geschätzt, doch für ihn zählte nur seine Familie. Jeden Sonntag kochte er für uns alle, er hatte immer Zeit für uns Kinder, und mit seinem jungenhaften Lächeln wirkte er optimistisch. Wenn ich später Bilder von ihm ansah, erkannte ich allerdings, dass schon damals etwas nicht stimmte. Seine Augen. Ein Funke Schmerz lag in ihnen, vielleicht auch Angst.
Unsere Großmutter erschien in der Tür. Sie hatte einen schiefen Mund, und ihren Sohn sah sie kaum an, als schäme sie sich für etwas. Beide umarmten einander.
Wir Kinder beobachteten die Szene vom Wagen aus. Es hieß, unsere Großmutter sei in ihrer Jugend eine hervorragende Schwimmerin gewesen und im ganzen Dorf beliebt. Das musste hundert Jahre her sein. Ihre Arme wirkten zerbrechlich, sie hatte einen runzligen Schildkrötenkopf, und den Lärm, den ihre Enkel machten, schien sie kaum noch zu ertragen. Wir Kinder fürchteten uns vor ihr und vor dem karg eingerichteten Haus mit den altmodischen Tapeten und Eisenbetten. Ein Rätsel, wieso unser Vater jeden Sommer hierherkommen wollte. »Es war, als müsse er Jahr für Jahr an den Ort seiner größten Demütigungen zurückkehren«, hatte Marty später einmal gesagt.
Doch es gab auch: Kaffeeduft am Morgen. Sonnenstrahlen auf dem gefliesten Boden des Salons. Zartes Scheppern aus der Küche, wenn meine Geschwister das Besteck für das Frühstück holten. Mein Vater in seine Zeitung vertieft, meine Mutter Pläne für den Tag schmiedend. Danach Höhlenwanderungen, Fahrradtouren oder eine Partie Pétanque im Park.
Ende August schließlich das alljährliche Weinfest von Berdillac. Abends spielte die Kapelle, die Häuser waren mit Lampions und Girlanden geschmückt, und der Geruch von gegrilltem Fleisch durchzog die Straßen. Meine Geschwister und ich saßen auf der großen Treppe vor dem Rathaus und sahen zu, wie die Erwachsenen auf dem Dorfplatz tanzten. In meiner Hand die Kamera, die mir mein Vater anvertraut hatte. Eine schwere und teure Mamiya; ich hatte den Auftrag bekommen, Fotos vom Fest zu schießen. Das empfand ich als Ehre, unser Vater überließ sonst keinem seine Kameras. Stolz machte ich ein paar Bilder, während er unsere Mutter elegant über die Tanzfläche führte.
»Papa ist ein guter Tänzer«, sagte Liz sachverständig.
Meine Schwester war elf, ein großes Mädchen mit blonden Locken. Schon damals hatte sie das, was mein Bruder und ich die »Theaterkrankheit« nannten; Liz benahm sich zu jeder Zeit, als stünde sie auf einer Bühne. Sie strahlte, als wären mehrere Scheinwerfer auf sie gerichtet, und sprach so laut und klar, dass selbst die Menschen in den hintersten Reihen sie problemlos hörten. Vor Fremden gab sie gern die Frühreife, doch in Wahrheit hatte sie ihre Prinzessinnenphase gerade erst überwunden. Meine Schwester zeichnete und sang, sie spielte gern draußen mit den Nachbarskindern, duschte sich oft tagelang nicht, wollte mal eine Erfinderin werden, träumte dann wieder davon, eine Elfe zu sein, und in ihrem Kopf schienen tausend Dinge gleichzeitig zu geschehen.
Damals machten sich die meisten Mädchen über Liz lustig. Oft sah ich, wie meine Mutter bei ihr im Zimmer saß und beruhigend auf sie einredete, wenn ihre Mitschülerinnen sie wieder geärgert oder ihren Schulranzen versteckt hatten. Danach durfte auch ich in Liz’ Zimmer. Dann schlang sie wild ihre Arme um mich, ich spürte ihren heißen Atem auf meiner Haut, und sie erzählte mir noch einmal alles, was sie unserer Mutter erzählt hatte, und vermutlich noch mehr. Ich liebte meine Schwester wie nur irgendwas, und das änderte sich auch nicht, als sie mich Jahre später im Stich ließ.
Nach Mitternacht lag noch immer eine feuchte Schwüle über dem Dorf. Die Männer und Frauen, die noch auf der Tanzfläche waren – unsere Eltern gehörten dazu –, wechselten nach jedem Lied den Partner. Ich machte wieder ein Foto, obwohl ich die Mamiya kaum mehr halten konnte.
»Gib mal die Kamera«, sagte mein Bruder.
»Nein, Papa hat sie mir gegeben. Ich soll darauf aufpassen.«
»Nur kurz, ich will bloß ein Bild machen. Du kannst das eh nicht.«
Marty entriss mir die Kamera.
»Sei nicht so fies zu ihm«, sagte Liz. »Er hat sich so gefreut, dass er sie haben darf.«
»Ja, aber seine Fotos sind Mist, er kann das mit der Belichtung nicht.«
»Du bist so ein Klugscheißer, kein Wunder, dass du keine Freunde hast.«
Marty schoss ein paar Fotos. Er war das mittlere Kind. Zehn Jahre alt, Brille, dunkle Haare, blasses, unauffälliges Gesicht. Während in Liz und mir deutlich unsere Eltern wiederzufinden waren, hatte er äußerlich nichts mit ihnen gemein. Marty schien aus irgendeinem Nirgendwo gekommen zu sein, ein Fremdling, der zwischen uns Platz genommen hatte. Ich mochte ihn kein bisschen. In den Filmen, die ich sah, waren ältere Brüder immer heldenhafte Jungen, die sich für ihre kleineren Geschwister einsetzten. Mein Bruder dagegen war ein Einzelgänger, der den ganzen Tag in seinem Zimmer hockte, um mit seiner Ameisenkolonie zu spielen oder Blutproben von sezierten Salamandern und Mäusen zu untersuchen – sein Vorrat an toten Kleintieren schien unerschöpflich. Liz hatte ihn vor kurzem einen »widerlichen Freak« genannt, und damit hatte sie ziemlich ins Schwarze getroffen.
Von jenem Urlaub in Frankreich sind mir neben dem dramatischen Vorfall am Ende nur ein paar Bruchstücke geblieben. Allerdings weiß ich noch gut, wie wir Geschwister auf dem Fest die französischen Kinder betrachteten, die auf dem Dorfplatz Fußball spielten, und wie uns dabei ein Gefühl des Fremdseins überkam. Wir waren alle drei in München geboren und fühlten uns als Deutsche. Bei uns gab es außer speziellen Speisen kaum etwas, das auf unsere französischen Wurzeln verwies, und nur selten sprachen wir Französisch. Dabei hatten sich unsere Eltern in Montpellier kennengelernt. Mein Vater war nach der Schule dorthin gezogen, weil er vor seiner Familie fliehen wollte. Meine Mutter war dorthin gezogen, weil sie Frankreich liebte. (Und weil sie vor ihrer Familie fliehen wollte.) Wenn unsere Eltern von damals erzählten, dann von Abenden, an denen sie im Kino gewesen waren und an denen unsere Mutter auf der Gitarre gespielt hatte, von der ersten Begegnung auf der Studentenfete eines gemeinsamen Freundes oder wie die beiden – da war sie bereits schwanger – zusammen nach München gegangen waren. Nach solchen Erzählungen hatten meine Geschwister und ich stets das Gefühl gehabt, unsere Eltern zu kennen. Und später, als sie weg waren, hatten wir feststellen müssen, dass wir nichts von ihnen wussten, gar nichts.
Wir machten einen Spaziergang, doch beim Aufbruch verriet unser Vater nicht, wohin wir gingen, und auch unterwegs sprach er kaum ein Wort. Zu fünft wanderten wir eine Anhöhe hinauf und kamen zu einem Waldstück. Vor einer gewaltigen Eiche auf dem Hügel blieb mein Vater stehen.
»Seht ihr, was da eingeritzt ist?«, fragte er, doch er wirkte abwesend.
»L’arbre d’Eric«, las Liz. »Erics Baum.«
Wir betrachteten die Eiche. »Da hat jemand einen Ast abgehackt.« Marty deutete auf die runde, wulstige Stelle am Baum.
»Ja, tatsächlich«, murmelte unser Vater.
Meine Geschwister und ich hatten unseren Onkel Eric nie kennengelernt, es hieß, er sei schon vor vielen Jahren umgekommen.
»Wieso heißt denn der Baum so?«, fragte Liz.
Die Miene unseres Vaters hellte sich auf. »Weil mein Bruder an diesem Baum seine Mädchen verführt hat. Er hat sie hierhergeführt, sie haben sich auf die Bank gesetzt, runter ins Tal gesehen, er hat ihnen Gedichte vorgetragen, und dann hat er sie geküsst.«
»Gedichte?«, fragte Marty. »Und das hat geklappt?«
»Jedes Mal. Und deshalb hat dann irgendein Scherzbold mit einem Messer die Worte in die Rinde geritzt.«
Er blickte in das morgenkühle Blau des Himmels, unsere Mutter lehnte sich an ihn. Ich sah zum Baum und wiederholte im Stillen: L’arbre d’Eric.
Und dann kam das Ende der Ferien, noch ein letzter Ausflug. In der Nacht hatte es wieder geregnet, dicke Tautropfen hingen an den Blättern, die Morgenluft legte sich frisch auf meine Haut. Wie immer, wenn ich früh aufstand, hatte ich das herrliche Gefühl, der Tag gehöre mir. Ich hatte vor ein paar Tagen ein Mädchen aus dem Ort kennengelernt, Ludivine, und erzählte meiner Mutter von ihr. Mein Vater war wie jedes Mal am Ende des Frankreichurlaubs erleichtert, das Ganze für ein Jahr hinter sich gebracht zu haben. Er blieb manchmal stehen, um zu fotografieren, dabei pfiff er unablässig vor sich hin. Liz wanderte voraus, Marty trottete als Letzter hinterher, fast immer mussten wir auf ihn warten.
Im Wald stießen wir auf einen Fluss voller Geröll, über den ein Baumstamm führte. Da wir ohnehin auf die andere Seite mussten, fragten meine Geschwister und ich, ob wir darüberbalancieren dürften.
Unser Vater stieg auf das Holz und prüfte es. »Könnte gefährlich sein«, sagte er. »Also ich gehe da bestimmt nicht rüber.«
Auch wir sprangen auf den Baumstamm. Erst jetzt begriffen wir, wie tief es hinunterging, wie glitschig die Rinde war und wie steinig und breit der Fluss. Knapp zehn Meter lang war der Weg, und wer da ausrutschte und runterfiel, würde sich mit Sicherheit verletzen.
»Da hinten kommt eh eine Brücke«, sagte Liz. Obwohl sie sonst alles ausprobierte – diesmal kniff sie und ging weiter, mein Bruder folgte ihr. Nur ich blieb stehen. Angst war mir damals fremd, erst vor wenigen Monaten hatte ich mich als Einziger aus meiner Klasse getraut, einen steilen Abhang mit dem Fahrrad hinunterzufahren. Nach einigen Metern hatte ich die Kontrolle verloren, mich überschlagen und mir den Arm gebrochen. Doch kaum war ich den Gips los und der Bruch verheilt, suchte ich schon nach dem nächsten gefährlichen Abenteuer.
Ich starrte noch immer auf den Baumstamm vor mir, und ohne groß darüber nachzudenken, setzte ich einen Schritt vor den anderen.
»Du bist verrückt«, rief Marty, doch ich hörte nicht hin. Einmal rutschte ich fast aus, beim Blick auf den steinigen Fluss unter mir wurde mir schwindlig, doch da hatte ich bereits die Hälfte erreicht. Mein Herz schlug schneller, ich rannte die letzten zwei Meter und kam glücklich auf der anderen Seite an. Vor Erleichterung riss ich die Arme hoch. Bis zur Brücke ging meine Familie links den Fluss entlang, ich allein rechts, ab und zu sah ich zu ihnen und grinste. So stolz war ich noch nie zuvor gewesen.
Der Fluss führte aus dem Wald hinaus. Er wurde breiter, die Strömung schneller, der Regen der vergangenen Tage hatte den Pegel ansteigen lassen. Das Ufer war schlammig und aufgeweicht, ein Schild warnte Spaziergänger davor, zu nahe zu treten.
»Wer da reinfällt, ertrinkt.« Marty blickte auf das tosende Wasser.
»Hoffentlich plumpst du rein, dann sind wir dich endlich los«, sagte Liz.
Er trat nach ihr, doch sie wich geschickt aus und hakte sich bei unserer Mutter auf eine so selbstverständliche und lässige Weise unter, wie nur sie es konnte.
»Bist du wieder frech gewesen?«, fragte unsere Mutter. »Wie es aussieht, werden wir dich wohl hier bei Oma zurücklassen müssen.«
»Nein«, sagte Liz in halb gespieltem, halb echtem Entsetzen. »Bitte nicht.«
»Du lässt mir leider keine Wahl. Oma wird gut auf dich aufpassen.« Sie machte den tadelnden Blick unserer Großmutter nach, und Liz lachte.
Unsere Mutter war eindeutig der Star der Familie, jedenfalls für uns Kinder. Sie war attraktiv und grazil, hatte in ganz München Freunde und gab Dinnerpartys, zu denen auch Künstler, Musiker oder Theaterschauspieler kamen, die sie Gott weiß wo kennengelernt hatte. Übrigens untertreibe ich gewaltig, wenn ich sie als »attraktiv« oder »grazil« beschreibe. Das sind klägliche Worte, die nicht ansatzweise unser Gefühl wiedergeben können, dass wir zufällig eine Mischung aus Grace Kelly und Ingrid Bergman als Mutter hatten. Es schien mir als Kind unbegreiflich, dass sie kein Leben als berühmte Schauspielerin führte, sondern einfach nur eine Lehrerin war. Sie selbst nahm ihre Pflichten zu Hause oft mit einem belustigten und zugleich liebevollen Lächeln hin, und erst später wurde mir bewusst, wie eingeengt sie sich gefühlt haben musste.
Auf einer Wiese am Flussufer rasteten wir. Unser Vater stopfte seine Pfeife, wir aßen die mitgebrachten Schinkenbaguettes. Später spielte unsere Mutter auf der Gitarre ein paar Chansons von Gilbert Bécaud.
Als unsere Eltern dazu sangen, verdrehte Marty die Augen. »Bitte hört auf. Das ist so peinlich.«
»Aber es ist doch niemand hier«, sagte unsere Mutter.
»Doch, die da!«
Mein Bruder deutete auf das gegenüberliegende Flussufer, wo sich gerade eine andere Familie niedergelassen hatte. Die Kinder waren in unserem Alter, sie hatten einen jungen Mischlingshund dabei, der zwischen ihnen herumtobte.
Es wurde Mittag, die Sonne stand hoch am Himmel. In der Hitze zogen Marty und ich unsere T-Shirts aus und legten uns auf eine Decke. Liz kritzelte in einen Block; kleine Zeichnungen und immer wieder ihren Namen. Damals probierte sie oft aus, in welcher Schrift er am schönsten aussah, und schrieb ihn überall hin, auf Papier, auf den Tisch, in Ordner oder auf Servietten. Liz, Liz, Liz.
Unsere Eltern machten einen Spaziergang und verschwanden aneinandergeschmiegt in der Ferne, wir Geschwister blieben auf der Wiese zurück. Die Landschaft war von der Sonne gesättigt. Marty und Liz spielten Karten, ich zupfte auf der Gitarre herum und beobachtete die Familie auf der anderen Flussseite. Immer wieder hörte ich ihr Gelächter, durchdrungen von Hundegebell. Ein Junge warf ab und zu einen Stock, den der Mischling sofort holte, bis es dem Jungen offenbar zu langweilig wurde und er den Stock unter einer Decke versteckte. Der Hund jedoch wollte weiterspielen, er rannte immer wieder zu den einzelnen Familienmitgliedern und schließlich etwas weiter flussabwärts. Ein größerer Ast hatte sich in einem Gestrüpp am Ufer verfangen. Der Hund versuchte, ihn mit dem Maul wegzuzerren, doch es gelang ihm nicht. Die Strömung des Flusses war an dieser Stelle reißend und stark. Ich beobachtete die Szene als Einziger und spürte, wie sich mir die Nackenhaare aufstellten.
Der junge Hund zerrte am Ast und kam in seinem Übermut dem rauschenden Wasser immer näher. Ich wollte gerade die Familie von gegenüber darauf aufmerksam machen, da hörte ich ein Jaulen. Ein Stück des Ufers war einfach weggebrochen und der Hund ins Wasser gefallen. Nur mit seinen Vorderpfoten und den Zähnen krallte er sich weiter am Ast fest. Er winselte und versuchte, sich wieder ans bröckelnde Ufer zurückzukämpfen, doch die Strömung war zu stark. Sein Winseln wurde lauter.
»O mein Gott«, sagte Liz.
»Er schafft es nicht«, sagte Marty. Er klang so bestimmt, als wäre er der Richter über diese Szene.
Die Familie auf der anderen Seite rannte zum Hund. Sie hatte ihn gerade erreicht, da löste sich der Ast vom Gestrüpp und wurde mitsamt dem Mischling fortgespült.
Eine Weile hielt er sich noch über Wasser, dann verschwand er im Fluss. Während die Kinder von gegenüber schrien und weinten, wandte ich mich ab und sah in die Gesichter meiner Geschwister. Ihre Blicke habe ich nie mehr vergessen.
Abends im Bett hörte ich noch immer das Jaulen des Hundes. Liz war den ganzen Tag bedrückt gewesen, Marty sagte kaum etwas. Am seltsamsten war jedoch, dass unsere Eltern nicht da gewesen waren, als es geschah. Natürlich hatten sie nach ihrer Rückkehr versucht, uns zu trösten, aber es änderte nichts daran, dass meine Geschwister und ich etwas erlebt hatten, was nur uns allein erschütterte.
Damals wälzte ich mich die halbe Nacht im Bett. Wie das unbeschwerte Glück der Familie von der anderen Uferseite binnen Sekunden zerstört worden war, ließ mich nicht los. Mir fiel wieder mein Onkel Eric ein und wie man uns einmal gesagt hatte, er sei »umgekommen«. Bis jetzt war mein Leben behütet verlaufen, aber offenbar gab es unsichtbare Kräfte und Strömungen, die alles schlagartig verändern konnten. Denn es schien Familien zu geben, die vom Schicksal verschont blieben, und andere, die das Unglück auf sich zogen, und in dieser Nacht fragte ich mich, ob meine Familie auch so eine war.