Erinnerungen
an meine Zeit
im Himalaya
Speak as they please, what does the mountain care?
Ah, but a man’s reach should exceed his grasp
Or what’s a heaven for?
Robert Browning: Andrea del Sarto
Lass sie nur reden – nimmer rührt’s den Berg.
Doch schauen sollt ich weiter als ich greife.
Wozu ein Himmel sonst?
Übersetzung von Edmund Ruete, 1894
© 2018 Verlagsanstalt Tyrolia, Innsbruck
Der Titel und die Texte dieses Buches beruhen auf einem unveröffentlichten Manuskript aus dem Nachlass von Norman G. Dyhrenfurth.
Umschlaggestaltung, Layout und digitale Gestaltung:
Tyrolia-Verlag, Innsbruck
Bildnachweis: Das Titelbild (Ama Dablam vom Kloster Tengboche aus gesehen) sowie alle Abbildungen in diesem Buch sind im Zuge der von Norman G. Dyhrenfurth geführten Internationalen Himalaya-Expedition 1955 sowie der ersten Amerikanischen Mount-Everest-Expedition 1963 entstanden und stammen aus dem Archiv des Autors. Die Original-Dias sind unbezeichnet, deswegen wurde auf Bildlegenden verzichtet. Das Porträtbild Seite 141 stammt aus dem Archiv des DAV, München, Foto: Toni Hiebeler (1982).
Lithografie: Artilitho, Trento (I)
Druck und Bindung: FINIDR, Tschechien
ISBN 978-3-7022-3689-2 (gedrucktes Buch)
ISBN 978-3-7022-3690-8 (E-Buch)
www.tyrolia-verlag.at
buchverlag@tyrolia.at
Die bedeutendsten Unternehmungen eines Bergsteigers finden in der Regel während der kraftvollen jugendlichen „Sturmjahre“ statt. Norman Dyhrenfurth lebte ein so langes und aktives Leben – er wurde fast 100 Jahre alt –, dass er die Bergsteigerwelt über mehrere Generationen inspirierte und beeinflusste. Damit führte er auch die Spuren seiner Eltern, der Himalaya-Pioniere Günter Oskar und Hettie Dyhrenfurth, in deren Geist fort. Der Höhepunkt seiner Karriere war zweifellos die Organisation und Leitung der ersten amerikanischen Mount-Everest-Expedition 1963, bei der die ersten Amerikaner den Gipfel erreichten.
Persönlich traf ich Norman zum ersten Mal 1999 im Hauptquartier des American Alpine Club in Colorado. Ähnlich wie bei ihm hatte sich auch mein Leben als Bergsteiger um den Mount Everest gedreht. 1985 unternahm ich einen Versuch am direkten Everest-Westgrat. Ein Jahr später gelang mir im Alleingang eine neue Route zum Everest-Nordgipfel (Changtse). 1988 schließlich war ich Teil jenes internationalen Vier-Mann-Teams, dem die Eröffnung einer neuen und bedeutenden Route durch die schwierige und extrem gefährliche 3350 Meter hohe Kangshung-Wand auf der tibetischen Ostseite des Everests gelang. Wir kletterten im lupenreinen Alpinstil – ohne Flaschensauerstoff, ohne Hochträger, ja selbst ohne Funkgeräte. Mein britischer Seilpartner Stephen Venables erreichte den Gipfel, ich selbst den Südgipfel.
Aber was war es gewesen, das mich als kleiner Junge inspiriert hatte, ein Bergsteiger zu werden? – Es waren die Berichte der ersten amerikanischen Everest-Expedition von 1963! Präsident John F. Kennedy ehrte im Rosengarten des Weißen Hauses die Expeditionsmannschaft und überreichte jedem einzelnen Mann, auch den anwesenden Sherpas, die Hubbard-Medaille der National Geographic Society. Es war ein großer Moment und ein symbolischer Akt von bleibender Bedeutung. Norman Dyhrenfurths Everest-Team verkörperte fortan das Bergsteigen in den Vereinigten Staaten und machte es populär.
Norman war ein kräftiger, energischer Mann mit 95 Jahren, als ich ihn 2013 im Rahmen des Bergfilmfestivals in Salzburg traf. Ich hatte damals eine Ausgabe des Klassikers „Zum Dritten Pol“ mit im Gepäck, jenes umfassenden Werks über den Himalaya, das sein Vater verfasst hatte. Norman schrieb mir auf die Titelseite des Buches folgende Worte: „Mein Vater war wahrhaft mein Ideal – nicht mein Idol – er war meine Inspiration!“ Und ich glaube, er würde exakt das Gleiche über seine unerschrockene Mutter sagen. Abgesehen von einigen Sherpafamilien gibt es in der Geschichte des Höhenbergsteigens wohl niemanden, der auf eine derart bedeutende, generationenübergreifende Tradition verweisen kann. Die Geschichte der Familie Dyhrenfurth ist absolut außergewöhnlich und einzigartig.
Als ich Norman damals zu meinem Vortrag „Storm Years on Everest“ begrüßte und ihm den Abend widmete, wurde er vom Publikum mit einem rauschenden Applaus bedacht. Es dankte ihm damit – wie ich – für die vielen Jahre der Inspiration, die er uns gegeben hat und noch vielen Bergsteigern der kommenden Generationen geben wird.
Norman, wir danken Dir für Deine Würde, Deinen Humor, Deine Freundschaft und für Dein bergsteigerisches Vermächtnis.
Sincerely, Ed Webster
SCHWEIZER EVEREST-EXPEDITION, FRÜHJAHR 1952
Göttin-Mutter des Landes
SCHWEIZER EVEREST-EXPEDITION, HERBST 1952
Mingma Dorje aus Namche Bazar
Im Kampf um den Südsattel
Der Weg zurück
Zwischenspiel
INTERNATIONALE HIMALAYA-EXPEDITION 1955
Im Bummelzug durch Indien
Solu Khumbu – Land der Sherpas
Monsun in Khumbu
Der Khumbu-Eisfall
Lhotse: Der erste Angriff
Winterstürme
AMERIKANISCHE EVEREST-EXPEDITION 1963
Mit den Amerikanern zum Everest
John Edgar Breitenbach
Der erste Angriff
Die höchste Traverse
NORMAN G. DYHRENFURTH
Ein Lebensbild von Dr. Michael Bilic
Die Sonne sinkt. Im Schatten der Berge liegt das Kloster Tengpoche, die „heilige Wiese“. Dumpf dröhnen die Bässe der Hörner, dann Paukenschlag und Trompeten. Eine monotone, fast unheimliche Musik, die von Talwand und Eisgrat widerhallt. Gestalten sitzen im Dämmerlicht, braune, wetterharte Männer in rotbraunen Kutten: buddhistische Lamas und Mönche. Die Instrumente verstummen. Kaum hörbar das Surren der Gebetsmühlen, der sanfte Klang silberner Glocken. Lippen bewegen sich in stiller Andacht. Himmelwärts richten sich die Augen, zum allerhöchsten Gipfel, der, von den Strahlen der Abendsonne umflutet, in den stahlblauen Äther ragt.
Es ist ein heiliger, überirdischer Berg, den sie verehren, von allen Geheimnissen des Unbekannten und Unzugänglichen umgeben. Symbol der Ewigkeit, Thron der Götter – aber auch Ort des Grauens und der Strafe, umringt von Mysterien und Angstvorstellungen alt wie die Nacht. Wehe dem Sterblichen, der es wagt, in diese menschenfeindliche Welt einzudringen! Wehe dem, der das von Dämonen bewachte Heiligtum der Berggöttin entweiht!
„Om mani padme hum“, murmeln die frommen Männer von Tengpoche, den ruhigen Blick zum höchsten Punkt auf Erden gerichtet: Chomolongma – Göttin-Mutter des Landes.
Immer höher steigen die Schatten. Einer nach dem anderen versinken die Giganten im grauen Licht der Dämmerung. Dann leuchtet nur noch der allerhöchste Gipfel in den letzten Strahlen der Sonne.
Dort, auf 8250 Meter über dem Meeresspiegel, steht das Sturmlager der Schweizer am 27. Mai 1952: ein winziges Zelt am Südostgrat, an der Grenze zwischen Nepal und Tibet. Raymond Lambert, Bergführer aus Genf, und Sherpa-Obmann Tensing Norgay aus Darjeeling sind die einzigen Insassen. Ihre Kameraden sind zum Südsattel abgestiegen, hier oben ist kein Platz für sie. Ohne Luftmatratzen, ohne Schlafsäcke, ja sogar ohne Kocher bedeutet Lager 7 nicht viel mehr als ein Notbiwak. Trotzdem hat Tensing vorgeschlagen, eine Seilschaft solle hier bleiben und am nächsten Tage zum Gipfel vorstoßen.
Die Sonne verschwindet hinter dem Everest; es wird bitterkalt, die Außentemperatur sinkt auf minus 30 Grad Celsius. Von Westen her ziehen dunkle Wolken auf, bald wird der gefürchtete Monsun seinen Einzug halten. Schlotternd vor Kälte sitzen die Gefährten auf dem bloßen Zeltboden. Es gibt fast nichts zu essen, ein bisschen Käse, ein Würstchen, das ist alles. Über einer Kerze wird etwas Schnee geschmolzen. Bei quälendem Durst verstreichen die Stunden nur langsam. An Schlaf ist nicht zu denken. Endlich beginnt es zu dämmern, die beiden einsamen Kämpfer machen sich fertig. Es ist der 28. Mai.
Der Aufstieg über den Südostgrat ist hier, in seinem mittleren Abschnitt, technisch leicht, aber für jeden Schritt braucht es drei Atemzüge. Beim Spuren lösen sich Lambert und Tensing häufig ab und bleiben immer wieder stehen, um sich auszuruhen. Das Wetter verschlechtert sich zusehends, sie kommen nur schrecklich langsam vorwärts. Die ungenügend erprobten Sauerstoffgeräte liefern viel zu wenig von dem lebensspendenden Gas. Die Beine werden schwer wie Blei. Wollen und Denken sind wie gelähmt. Nebelschwaden ziehen um die Grate, es beginnt zu schneien. Nun sind sie bei 8500 Metern, rund 260 Meter unter dem Südgipfel, 350 Meter unter dem höchsten Punkt der Erde. In der letzten Stunde haben sie nur noch 40 Höhenmeter gewonnen. Das hieße also noch neun Stunden bis zum Hauptgipfel, und es ist bereits 11:30 Uhr. Der Wind wird immer stärker, Schnee peitscht das Gesicht. Es ist den Männern klar, dass sie niemals mit dem Leben davonkommen werden, wenn ein wirklicher Sturm losbricht. Sie haben das Menschenmögliche geleistet, aber nun ist es höchste Zeit umzukehren. Das einsame Zelt auf 8250 Meter wird zurückgelassen, die beiden steigen zum Südsattel ab. Sie sind gänzlich „fertig“. Über eine kleine Gegensteigung in der Passmulde kommen sie nicht mehr hinweg. Ihre Kameraden Aubert und Flory müssen sie in die Zelte vom Südsattel-Lager hereinholen. Die beiden waren wirklich an der äußersten Grenze des Möglichen gewesen. Wären Lambert und Tensing noch ein kleines Stück weitergegangen – sie wären nicht mehr lebend heruntergekommen …
Der Kampf um den Everest lief auf Hochtouren. Es war Ende Oktober 1952, und fünf Lager waren bereits errichtet: Lager 1 (Standlager) am Fuße des Khumbu-Eisfalls. Lager 2 auf halber Höhe, Lager 3 auf etwa 6100 Meter am Eingang zum Westbecken, Lager 4 (vorgeschobenes Standlager) auf 6550 Meter fast am Fuße der Everest-Südwestwand und Lager 5 auf etwa 6800 Meter unterhalb der Eiswand, die den direkten Aufstieg zum Südsattel ermöglicht. Unsere Erfolgsaussichten wurden durch außergewöhnliche Kälte, heftige Stürme und immer kürzer werdende Tage beeinträchtigt. Darunter litt nicht nur die körperliche und seelische Verfassung der Mannschaft, auch unsere Umgebung war von diesen Umständen gezeichnet: In großen Höhen waren sämtliche Steilhänge beinahe schneefrei, überall schillerte blankgefegtes Eis blaugrün und abweisend. Das bedeutete eine Unmenge von Stufen, Eishaken und Fixseilen, um den Lastentransport zum Südsattel sicherzustellen. Lager 6 sollte dort auf fast 8000 Meter errichtet werden, und dann noch ein letztes Sturmlager, so hoch wie möglich.
Am 29. Oktober waren Jean Buzio und fünf Sherpas von früh bis spät damit beschäftigt, in harter Arbeit Haken zu schlagen und Seile zu spannen. Mit Feldstecher und Fernrohr verfolgten wir vom Lager 4 aus ihren Fortschritt. Sechs winzige Punkte, wie Ameisen in dieser lebensfeindlichen, fast erdrückenden Bergwelt. Am nächsten Nachmittag kehrten Jean und ein Sherpa zurück, die anderen blieben im Lager 5, wo der ständige Wind die Nächte noch unerfreulicher gestaltete als hier im vorgeschobenen Standlager. Jean sah alt und erschöpft aus. Die psychische und physische Belastung der letzten Tage und Wochen machte sich bemerkbar. Er war selig, die Sicherheit und den Komfort unseres Lagers erreicht zu haben, während wir, die wir ihn mit heißem Tee, Rum und Keksen begrüßten, ihm unsere Anerkennung für die geleistete Tagesarbeit aussprachen.
Tatsächlich war dies das erste Mal seit der Anreise, dass die ganze Mannschaft – mit Ausnahme von Gustave Gross im Lager 5 – beisammen war. Einige waren bisher in den unteren Lagern geblieben, andere waren am Vorstoß zum Südsattel beteiligt, und ich hatte in Neu-Delhi drei Wochen auf die nepalische Bewilligung warten müssen, bis ich endlich der Expedition auf kürzestem Wege von Süden her nacheilen konnte. Der heutige Abend war also für eine kleine Feier wie geschaffen!
Drei Flaschen Cognac hatten wir für die Gesamtdauer der Expedition mit dabei, aber jetzt waren wir darauf erpicht, wenigstens einer den Garaus zu machen. In dieser Höhe machte sich der Alkohol sehr bald bemerkbar. Wir fühlten uns herrlich entspannt und zugleich beschwingt. Altvertraute Lieder in Französisch, Englisch und Schweizerdeutsch füllten das „Tal des Schweigens“. Wir genossen unser Gala-Essen, bestehend aus Pemmikan, Knäckebrot mit Thunfisch, Käse und Nescafé. Leider war die alkoholische Wärme nur von kurzer Dauer, und die grimmige Kälte drang sehr bald durch Zeltwand und Daunenanzug. Also zurück in unsere kleinen Zelte, in die doppelten Schlafsäcke und die allgemein beliebte „Horizontale“. Im bleichen Mondlicht wirkten die umliegenden Bergriesen unsagbar fern und geheimnisvoll, wie aus einem Roman von Jules Verne. In mein Zelt zurückgekehrt, wollte ich zunächst Eintragungen ins Tagebuch machen, aber überwältigende Müdigkeit, Sauerstoffmangel und eiskalte Hände setzten meinem Vorhaben sehr bald ein Ende.
Der nächste Tag war in erster Linie der Privatkorrespondenz gewidmet. Am Nachmittag sollten uns die Postläufer verlassen. Alle zwölf Tage wurden zwei besonders schnelle Läufer nach Jaynagar an der indischen Grenze entsandt. Dort wurden sie durch Assistenten von Pater Niesen, einem amerikanischen Jesuiten und Leiter der St. Xavier’s School in Patna – einer der hervorragendsten Männer, die ich je kennengelernt habe –, empfangen. Pater Niesen nahm sich der äußerst komplexen Probleme unserer ein- und ausgehenden Post mit Herz und Seele an. Dabei bewies er viel List und Fingerspitzengefühl, denn wir hatten mit der „London Times“ einen Exklusivvertrag und deren liebe Konkurrenz trachtete mit allen Mitteln danach, unsere Postläufer abzufangen und zu bestechen! Da der Mount Everest damals noch unbestiegen war, wuchs das Interesse der gesamten Weltpresse von Woche zu Woche. Jedenfalls dauerte der Gewaltmarsch zwischen Standlager, Jaynagar und zurück vier Wochen.
Expeditionsleiter Gabriel Chevalley und Arthur Spöhel verließen uns nach Abgang der Post, um die Nacht im Lager 5 zu verbringen. Am folgenden Tag waren sie an der Reihe, die Arbeit in der Südsattelflanke fortzusetzen.
Nachmittagstee, und bald darauf Abendessen. Bei der herrschenden Kälte war es keine reine Freude, sich allzu lange im Messezelt aufzuhalten. Raymond Lambert, unser bergsteigerischer Leiter, und Sirdar Tensing Norgay zogen sich bald zurück, während Jean Buzio, Gustave Gross, Ernst Reiss und ich im flackernden Licht der winzigen Kerze fröstelnd herumhockten und bis acht Uhr über Berge, Philosophie, Religion und Frauen (allerdings nicht unbedingt in dieser Reihenfolge) diskutierten. Auf 6550 Metern Höhe und derartig spät im Jahr kam es uns wie zwei Uhr morgens vor!
Die Strapazen der vergangenen Wochen hatten uns arg zugesetzt. Auch unsere Nerven waren längst nicht mehr die besten. Als wir ins Freie traten, blickten die Berge auf uns herab in kalter, mörderischer Stille. Jenseits von Eisbruch und Standlager schien uns die dunkle Pyramide des Pumori von der Außenwelt abzuriegeln. Wir kamen uns vor wie Gefangene der höchsten Berge der Erde, ohne jegliche Möglichkeit des Entkommens. Ich dachte an die alten Legenden und die Warnungen der Lamas von Tengpoche … Wir hatten es gewagt, den Frieden und die Stille der Göttin-Mutter Chomolongma zu stören.
Der nächste Tag war kalt, klar und traumhaft schön. Nach dem Frühstück konnten wir bereits mehrere „Ameisen“ erspähen, die sich dem Bergschrund näherten. Während die Kameraden mit Feldstechern Ausschau hielten, filmte ich mit langen Brennweiten und schwerem Stativ. Ausnahmsweise gab es fast keinen Wind, und dank der wärmenden Sonne war das Leben im Lager 4 recht angenehm. Einige unterzogen sich dem ungewöhnlichen Luxus persönlicher Reinigung – ein bemerkenswertes Unterfangen, das in diesen Höhen meistens in Vergessenheit gerät oder sogar streng verpönt ist. Vielleicht würden die kommenden Wochen gar nicht so schlimm werden?
Unser Gemütszustand und die Hoffnung auf einen baldigen Gipfelerfolg erreichten ein neues Hoch: Ein gutes Lager auf dem Südsattel, mit genügend Lebensmitteln, Brennstoff, Sauerstoff und Reserveausrüstung, dann noch ein letztes Sturmlager auf 8500 Meter am Südostgrat – ein einziges Zelt, knapp über einer ungeheuren Eiswand, die sich 4000 Meter tiefer mit dem Kangchung-Gletscher in Tibet vereint – und wir wären in der Lage, den ersten Gipfelangriff zu wagen. Diesmal hatten wir bessere Atmungsgeräte als während der Frühjahrsoffensive. Damals erreichten Lambert und Tensing eine Höhe von nahezu 8600 Meter, knappe 250 Meter unter dem Gipfel! Vielleicht sollten wir versuchen, ein noch höheres Lager auf etwa 8700 Meter zu errichten, dicht unterhalb der Südschulter. Selbst wenn wir nur 30 bis 50 Höhenmeter pro Stunde schaffen könnten, so hätten wir dann genügend Zeit, den Gipfel zu erreichen und mit Sicherheit vor Einbruch der Dunkelheit das höchste Sturmlager zu beziehen. Eine total erschöpfte Gipfelmannschaft, durch Sauerstoffmangel – da die Flaschen sicherlich leer wären – dem Erstickungstod nahe, könnte ein Notbiwak nicht überleben.
Soweit unsere Erwägungen und Gedankengänge an jenem sonnigen Morgen im Lager 4. Wir waren wie ausgewechselt. Ich erinnere mich noch gut an die allgemein gehobene Stimmung und den beinahe euphorischen Optimismus. Die Sherpas waren guter Dinge, beteten und sangen ihre monotonen Lieder; das vertraute Summen der Petroleumkocher, die gemütliche Atmosphäre der zum Trocknen ausgebreiteten Luftmatratzen und Schlafsäcke, die in der ausnahmsweise regungslosen Bergluft dampfenden Zelte, all das gab uns ein beruhigendes Gefühl der Sicherheit und des Friedens.