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© 2018 Rotpunktverlag, Zürich
www.rotpunktverlag.ch
Umschlag: Oliver Vischer, Vischer Vettiger Hartmann AG, Basel, unter Verwendung einer Fotografie von Claude Giger, Basel
Bildteil: Claude Giger, Basel;
Mitarbeit: Dominik Labhardt
eISBN 978-3-85869-787-5
1. Auflage 2018
Einleitung
1Annäherung
Fragen, Thesen und Zugänge
Forschungsstand: schon alles gesagt?
Lange Vorgeschichte
Expo 64 und nonkonforme Neutralität
«Wir passten unter keinen Helm»
Breite Bewegung
2Proteste in aller Welt
Globaler Kontext – Überblick
USA: Bürgerrechte, Vietnamkrieg und Kampf um den Mond
Aufbruch im Osten: Prager Frühling
Trikontinent: Bewegung der Blockfreien
Kein Frieden im Nahen Osten
Barrikaden im Pariser Quartier Latin
Bundesrepublik: Das Schweigen brechen
Wiener Happenings
«Unterwegs notiert»
Gleichzeitig ungleichzeitig
3Aufbruch in der Schweiz
Momente des Aufbruchs – Überblick
Von der Basler Arena zum Aargauer Ziegelrain
Zürcher Republik Bunker, Zuger Alternative
US-General in Bern und Bieler Avantgarde
Jura dekolonisiert, Solothurn weiter kultiviert
Waadt, Neuenburg und Genf spuren vor
Im Innern der Schweiz
Rote Herzen in St. Gallen und «Ab in die Zell»
Heimatliches Thurgau und Schaffhausen
Viva Graubünden und «Öko-Terrorismus»
Kritisches Oberwallis
Aufbruch im Tessin
Über urbane Zentren hinaus
4Biografische Notizen
Soziale Herkunft
Motivation
Haltung und Engagement
Brüche
Kontinuität und Wandel
Beruflich ambitioniert
Sozial ungleich
Gewöhnlich außergewöhnlich
Selbstreflexiv
Widersprüche zulassen
Arriviert, resigniert, zornig
5Projekte und Debatten
«68 war ein Fest der Kreativität»
Solidarität mit der «Dritten Welt»
Frauenbewegung, Frauenprojekte und Geschlechterverhältnisse
Friedens- und Anti-Atom-Bewegung
Selbstverwaltung und genossenschaftliche Ansätze
Trampen, Drogen und Widerstand
Antiautoritäre Erziehung
Popmusik und Politsongs
Film, Fotografie, Literatur
Medien berichten
Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit
Demokratische Psychiatrie
Denknetz
Institutionelle Politik
Etabliert
6Theoretische Bezüge
«Das Ende der Biederkeit»
Auf den Spuren der Kritischen Theorie
Aufrecht gehen
Situationistische Internationale
Politische Philosophie der Praxis
Normativ fundiert
7Was bleibt?
Kultureller und politischer Aufbruch
Doppeltes Erbe
Widerständige Energie
Konkrete Utopien
Aufbegehren
Eigenwillig angepasst
Und jetzt?
Dank
Anhang
Artikel, Bücher, Dokumente
Eigene Interviews
Abkürzungsverzeichnis
1968 zählte die Schweiz rund sechs Millionen Einwohnerinnen und Einwohner, drei Millionen Haushalte und eine Million Fernsehgeräte. Die «Tagesschau» berichtete über Kriege, Mondlandung und Pandabären. Weltweit nahmen politische Proteste zu, auch in der Schweiz. 1967 blieb die Sozialdemokratische Partei bei den Parlamentswahlen mit 23,5 Prozent der Stimmen die stärkste Partei, knapp vor den Freisinnigen und der Christlichen Volkspartei, die in ländlichen Regionen am meisten Zuspruch hatte. Die Schweizerische Volkspartei, die heute fast ein Drittel der Stimmenden auf sich vereint, gab es noch nicht. Ihre Vorläuferin, die Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei, erhielt 11 Prozent, die Partei der Arbeit 2,9 Prozent.
Am 13. Juni 1968 forderten Demonstrierende in Zürich ein autonomes Jugendzentrum. Es kam zu Ausschreitungen. Sie gelten als Anfang der Schweizer 68er-Bewegung, wenngleich es schon vorher und in verschiedenen Landesregionen Anzeichen für den Aufbruch gegeben hatte. «Wehret den Anfängen!», titelte die Neue Zürcher Zeitung am 17. Juni 1968 nach den Unruhen. Sie fragte: «Wie stünde es übrigens um Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit, wenn man irgendwelchen Gruppen, nur weil sie mit Krawall drohen und dafür in Blättern, die sich zu allem und jedem ‹neutral› verhalten, die nötige Publizität im Voraus bekommen?» In der «Bürgerschaft» steige, so die NZZ, der Unmut über das Treiben der «Provokationsgrüpplein», die Toleranz schwinde. Am 9. Mai 1968 demonstrierten in der Schweiz bereits 50 000 Bürgerinnen und Bürger gegen den Vietnamkrieg. (Levy 1984: 205) Und am 22. August 1968 protestierten Zehntausende gegen den sowjetischen Einmarsch in der Tschechoslowakei.
Der «kommunistische Osten» und der «freiheitliche Westen» führten einen Kalten Krieg. Der Schweizer Bundesrat wollte möglichst neutral sein, polarisierte aber mit. Er verteilte 1969 an alle Haushalte das Zivilverteidigungsbuch, das vor der roten Gefahr im Ausland und den «bunten Vögeln» daheim warnte. Das Fernsehen strahlte nun farbig aus. Schwarz-Weiß schien passé. Der Historiker Eric Hobsbawm (1917–2012) betrachtete die Transformation der visuellen Kommunikation im «Zeitalter der Extreme» (1995) als bedeutende Rahmenbedingung des 68er-Aufbruchs, zusammen mit der Prosperität der Nachkriegszeit, der Konsumgesellschaft und der Entdeckung der Jugend (und ihres ökonomischen Potenzials).
Die 68er-Bewegung in der Schweiz konzentriert sich, eng gefasst, auf die Jahre 1967 bis 1969; die Betrachtung lässt sich aber auch ausweiten. Das Bewusstsein einer 68er-Bewegung popularisierte sich jedenfalls erst in den Jahren danach. Dieses Buch geht der Frage nach, was den 68er-Aufbruch auslöste, was ihn kennzeichnete und was daraus geworden ist. Rund hundert 68er-Biografien führen auf die Spur. Sie erinnern an einzelne Ereignisse, Debatten und Projekte. Die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen erhellen, neben ausgewählten Dokumenten, was den Aufbruch prägte.
Jedes Kapitel enthält ein ausführlicheres Porträt und eine kurze Synthese. Die biografischen Notizen dokumentieren – teils in Auszügen, teils ausführlicher – das breite Spektrum. Sie veranschaulichen, was sich auf dem Feld der Politik, der Kultur, der Medien und der Wissenschaft ereignete. Die Auszüge aus Biografien sind vorwiegend thematisch verortet. Sie vermitteln einen Einblick in Selbstverständnisse, vielfältige Engagements und bewegte Zeiten. Globale und gesellschaftliche Kontexte rahmen die einzelnen Berichte und Ereignisse.
Der 68er-Aufbruch brachte kulturell viel, aber politisch wenig. So lautet eine gängige Antwort auf die Frage nach der Wirkung von 68. Zu Recht? Was ist zum Beispiel mit dem Frauenstimmrecht, das in der Schweiz 1971 eingeführt wurde – eine Folge von 68? Die einen lassen 1968 hochleben; andere verbinden das «verflixte Jahr» mit dem «Zerfall von Sitte, Familie und Disziplin». Ich frage also: Wie kam es zur 68er-Bewegung? Was kennzeichnete sie? Und was bewirkte sie? Einige Hinweise finden sich im Werdegang von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen. Dabei interessiert auch: Wo stehen sie heute, die ehemaligen «Revoluzzer»? Sind sie resginiert oder weiter engagiert? Und was geben sie heutigen Jugendlichen auf den Weg?
Ich gehe von vier einfachen Annahmen aus. Erstens: Der 68er-Aufbruch reagierte, von Utopien inspiriert, auf autoritäre Strukturen, bürokratische Zwänge und konsumistisches Verhalten. Zweitens: Der 68er-Aufbruch kontrastierte etablierte Gewohnheiten. Er trug dazu bei, eng geführte Traditionen aufzubrechen und gesellschaftliche Einrichtungen zu demokratisieren. Drittens: Die 68er-Bewegung schwächte sich über ideologische Verhärtungen selbst. Sie bleibt aber bis heute über Folgeprojekte und engagierte Personen wirksam. Viertens: Heutige Jugendliche orientieren sich, von pluralistischen Sozialstrukturen geprägt, an politischen Identitäten, die Widersprüche zulassen und neue soziale Verbindlichkeiten suchen. Soweit die (Vor-)Annahmen. Sie relativieren und differenzieren sich im Verlauf der Arbeit. Globale Entwicklungen rahmen den Fokus auf die Schweiz. Theoretische Bezüge inspirieren methodologische und analytische Reflexionen.
Was Erzählende berichten, konstruieren sie immer auch selbst. Frigga Haug (1990) hat sich mit der Erinnerungsarbeit auseinandergesetzt und bezieht sich in unserem Gespräch (siehe Quellen) in Berlin auf den Schriftsteller Peter Weiss. Dieser hielt dafür, sich bewusst zu sein, dass wir die Herrschaft, von der wir uns emanzipieren wollen, auch in uns tragen. Und die Schriftstellerin Friederike Kretzen (Richard 2017: 13) erinnert uns daran, wie trügerisch die Erinnerung ist und dass wir uns an nichts stärker erinnern als an die Sehnsucht. Die Sehnsucht übersteige aber, was wir sind. Träume sind demnach keine Schäume. «Sie bergen Tagesreste, die warten.»
In der vorliegenden Arbeit kommen viele Menschen zu Wort. Sie erzählen, was sie mit 68 verbindet. Biografische Angaben ergänzen die Erfahrungen, Erinnerungen und Wahrnehmungen. Sie weisen vor allem auf Aktivitäten und Haltungen hin und werden den Porträtierten nie gerecht. Ich habe bei den rund hundert mündlichen Interviews mehrheitlich politisch Engagierte berücksichtigt. «Sind für Sie nur die politisch Engagierten die wirklichen 68er?», hat mich Jürg Marquard, der Gründer des Pop-Magazins, gefragt. Auch der Musiker Hardy Hepp hat mich auf die Gefahr hingewiesen, «als politischer 68er die Bedeutung der Kultur zu unterschätzen». Ich habe versucht, diese Einwände zu berücksichtigen und auch auf ein ausgewogenes Verhältnis der Geschlechter zu achten. Ein Drittel der Interviewten habe ich nach regionaler Herkunft, politischer Orientierung, beruflicher Tätigkeit und kulturellem Engagement ausgewählt. Weitere Gespräche ergaben sich über ein Schneeballverfahren. Diejenigen Personen, die ausführlicher porträtiert werden, stehen für verschiedene inhaltliche Bereiche, Gruppierungen und Sichtweisen. Andere, die hier nur kürzer vorgestellt werden, wären dafür ebenso infrage gekommen. Wobei jede «Kategorie» – wie «politisch Autonome» oder «Etablierte» – auch in sich heterogen ist. Gesamthaft bringen sie Facetten und Bedeutungen des 68er-Aufbruchs zum Vorschein. Besonders interessiert, was Einzelne motiviert, sich zu engagieren, welche Bedeutung der 68er-Aufbruch für sie persönlich beziehungsweise gesellschaftlich hatte und was sie kommenden Generationen auf den Weg geben.
«Ich bin zwar ein ‹echter 68er›, da ich von 1964 bis 1969 in Berlin studiert und gearbeitet habe und einiges mitgekriegt und miterlebt habe», teilt mir der emeritierte ETH-Professor Ivars Udris mit. Er wisse allerdings nicht, was er zur 68er-Bewegung noch Relevantes sagen könne; alles sei doch längst bekannt. Ist tatsächlich schon alles gesagt?
Zu 1968 gibt es viel Basis- und Sekundärliteratur (Schäfer 2015). Der eindimensionale Mensch gilt als Schlüsselwerk. Herbert Marcuse (1964/1967) analysiert darin ein technokratisches Denken, das die Wissenschaft durchdringe, die wiederum viel Herrschaftswissen reproduziere. Vom Psychiater Frantz Fanon aus Martinique stammt Die Verdammten dieser Erde. Die Originalfassung erschien wenige Tage vor seinem Tod im Dezember 1961. Fanon kritisierte neue Übereinkünfte zwischen lokalen Bourgeoisien und ehemaligen Kolonialmächten. Der französische Philosoph Jean-Paul Sartre verfasste das Vorwort. Die Meinungen über das Werk sind geteilt; für Wolfgang Kraushaar (1998) heroisierte Fanon die Gewalt, für den politisch autonom orientierten Dieter Drüssel diskutierte er sie stimmig. Im Bestseller Summerhill postulierte Alexander Sutherland Neill (1969) eine freiheitliche Erziehung ohne Angst, Zwang und Schuldgefühle. Gunnar Hinck (2012) kritisierte indes, wie «die 68er» das Antiautoritäre überhöhten. Klaus Rainer Röhl (1994) warf ihnen vor, Lebenslügen zu vertuschen. Der Herausgeber der Zeitschrift Konkret ironisierte Hoffnungen auf einen utopischen Sozialismus, die er zusammen mit seiner früheren Partnerin Ulrike Meinhof selbst verbreitete. Sie gehörte 1968 zu den Autorinnen, wechselte 1970 zur Roten Armee Fraktion und kam 1976 im Gefängnis Stammheim um.
Die Personen, die in diesem Buch zu Wort kommen, haben unterschiedliche Bezüge zur 68er-Bewegung. Im Vordergrund stehen Interviews mit direkt Beteiligten, Literatur und Dokumente. Georg Pfäfflin hat mir ein persönliches Bild von Gudrun Ensslin vermittelt, das ihre Biografin Ingeborg Gleichauf (2017) aus distanzierter Perspektive ergänzt hat. Pfäfflin war mit dem gleichen Schüleraustauschprogramm wie Gudrun Ensslin in den USA, studierte die ersten Semester wie sie in Tübingen. Dort begegneten sie sich in Vorlesungen von Professor Walter Jens. Dokumente, die immer wieder neu auftauchen, tragen ebenfalls dazu bei, Sichtweisen zu erweitern und zu schärfen. Alexander Gallus (2017: 6) hat beispielsweise Auszüge aus der Bewerbung Gudrun Ensslins bei der Studienstiftung des deutschen Volkes analysiert und auf diese Weise wenig bekannte Aspekte erhellt. Und so ist es auch mit der Geschichte der 68er-Bewegungen. Sie ist noch längst nicht zu Ende erzählt. (Busche 2003: 49)
Der Zürcher Rotpunktverlag veröffentlichte 1979 bereits einen Zwüschehalt. (Arnold et al.) Das Buch enthält «13 Erfahrungsberichte aus der Schweizer Neuen Linken». Verena Keller hat darin beschrieben, wie «aufgeräumt» sie vor ihrem Engagement in der Theaterwelt in einer netten Wohngemeinschaft in Kilchberg lebte. Ihre Darstellung kontrastiert «gängige Bilder» von Kommunen. Franz Rueb hat im Zwüschehalt erzählt, wie er aus der Zürcher Politszene an die Berliner Theaterbühne wechselte. Vier Jahrzehnte später fielen ihm dazu in unserem Gespräch neue Begebenheiten ein.
Zum 40-Jahre-Jubiläum von 1968 haben Erika Hebeisen, Elisabeth Joris und Angela Zimmermann bereits Kollektive Aufbrüche ins Ungewisse (2008) publiziert. Was daraus geworden ist, veranschaulicht unter anderem die immer noch bestehende Alternative Fußball-Liga. Bernhard C. Schär und Mitherausgeber/innen erinnerten an Bern 68 (2008). Sie beschrieben die 68er-Bewegung als vorwiegend kulturelle und unfreiwillige Avantgarde der kapitalistischen Konsumgesellschaft.
«Wir sind wenige, aber wir sind alle», hat der Ethnologe und Kulturschaffende Heinz Nigg seine Biografien aus der 68er Generation (2008) betitelt. Diese vermitteln, wie die 68er-Bewegung experimentierte; die Porträtierten wichen von traditionellen Lebensentwürfen und Berufslaufbahnen ab und repräsentieren vielfältige Gruppierungen. Die Alt-Bundesrätin Ruth Dreifuss repräsentiert eine erste Kategorie «Rot und grün». Sie beschreibt, wie die 68er-Bewegung das Alltagsleben und unsere Gesellschaft verändert hat. Zur zweiten Kategorie «Kunst und Freiheit» gehört der Filmemacher Fredi M. Murer: «Kunst musste plötzlich gesellschaftlich und politisch relevant sein.» Die dritte Gruppe vertritt der Historiker Jo Lang «im Andenken an Che». Das «Kollektive Gedächtnis» heißt eine vierte Gruppe mit der Archivarin Marianne Enkell. Für sie ist 1968 ein entscheidender Wendepunkt für die Renaissance anarchistischen Gemeinschaftsdenkens. Für den «Wandel von Mentalität und Sitten» steht die fünfte Gruppe mit dem Psychiater Berthold Rothschild. Er betont die Impulse für sexuelle Befreiungen, antiautoritäre Haltungen, Zivilcourage und Geschlechterfragen. Zur sechsten Gruppe «Autonomia operaia» zählt Aktivist Giorgio Bellini. Er hofft auf die autonome Politik der Werktätigen. Zur siebten Gruppe «Brachland» betont die Präsidentin von Pro Natura, Silva Semadeni, wie die 68er-Bewegung das Lokale und Globale verknüpft. Für die achte Gruppe, «Die Progressiven», dokumentiert die ehemalige POCH-Nationalrätin Ruth Mascarin den Wandel von der außerparlamentarischen Opposition zur institutionellen Politik. Für die neunte Kategorie kritisiert die Psychotherapeutin Aiha Zemp, wie die 68er-Bewegung Menschen mit einer Behinderung vernachlässigte. Für die zehnte Kategorie «Nichtregierungsorganisationen» verkörpert Peter Niggli die Solidarität der 68er-Bewegung mit unterdrückten Völkern. Die elfte Kategorie «Underground, Pop und Bolo’bolo» vertritt der (im Juli 2017 verstorbene) Musiker Polo Hofer. Die Gliederung von Heinz Nigg rekurriert auf Tätigkeiten und politische Verortungen. Sein Buch vermittelt einen wertvollen Einblick in unterschiedliche Biografien.
Damir Skenderovic und Christina Späti beschrieben ebenfalls Die 1968er-Jahre in der Schweiz (2013). Sie thematisierten die «Ruhe und Unruhe vor dem Sturm», Transnationales, verschiedene Deutungsmuster, die Zersplitterung und den Rückzug: In den 1950er- und 1960er-Jahren führte der Wirtschaftsboom zum Ausbau von Wohlstand und Massenkonsum. Protestbewegungen machten sich in den USA, in Deutschland und in Frankreich früh bemerkbar. Sie waren den Schweizer Autoritäten eine Warnung. In der französisch- und der italienischsprachigen Schweiz konzentrierten sich Aktivitäten auf die betriebliche Mitbestimmung und Verkürzung der Arbeitszeit. In den Deutschschweizer Städten Basel, Bern und Zürich fanden Aktionen nun öfter auf Straßen statt. Zentrale Anliegen waren öffentliche Verkehrsmittel, Jugendzentren und die Arbeitsmigration. Zu Beginn der 1970er-Jahre entstanden neue Gruppierungen, die miteinander rivalisierten. Mythen verklären (gegen-)kulturelle Projekte der 1968er-Bewegung, die laut Skenderovic und Späti (ebd.) noch zu wenig erforscht ist.
Der Historische Verein des Kantons St. Gallen hat den regional vertiefenden Band Aufbruch – Neue soziale Bewegungen in der Ostschweiz (2016) veröffentlicht, Werner Caviezel das Buch 68er-Bewegung in Graubünden, Erinnerungen und Erlebnisse (2017). Er fragt, was in Graubünden geschah – wer war dabei, was war das Besondere? – und lässt ehemalige Mitstreitende erhellende Anekdoten erzählen. Samuel Geiser, Bernhard Giger, Rita Jost und Heidi Kronenberg haben das Buch Revolte, Rausch und Razzien – Neunzehn 68er blicken zurück (2018) publiziert. Die stimmig Porträtierten blicken auf bewegte 68er-Zeiten zurück. Sie erhellen kulturelle Bereiche, die das Berner Historische Museum von November 2017 bis Juni 2018 in einer eindrücklichen Ausstellung veranschaulicht hat. Die Berner 68er-Bewegung beschreibt auch Georg Weber in Rebellion unter Laubenbögen (2017). Von Beat Grossrieder ist ferner Das Jahr mit den Blumen im Haar. Der Summer of Love 1967 in Zürich (2018) erschienen.
Das Jahr der Träume (2017) hat auch Benedikt Weibel aufleben lassen. Der langjährige Generaldirektor der Schweizerischen Bundesbahnen verhehlt dabei keineswegs seine frühere Neigung zum Anarchismus. Benedikt Weibel erlebte die 68er-Zeit stark hedonistisch geprägt. Er trat 1972 der SP bei. Zögerliche Annäherungsversuche an die POCH schreckten ihn eher ab. Heute gibt es für ihn rationale Gründe, «für eine gerechte Ungleichheit» zu sorgen (2017: 179). Sein Buch ist, selbst erklärt, eine Bestandsaufnahme. Weibel beschreibt, was passiert ist. Der musikalische Aufbruch stand am Anfang. Und dauerte lange. Der politische Aufbruch kam nach seiner Einschätzung deutlich später.
Erika Hebeisen, Gisela Hürlimann und Regula Schmid haben ferner in Reformen jenseits der Revolte – Zürich in den langen Sechzigern (2018) die Vorgeschichte betont: Wichtig waren die italienische Migration, die Verkehrspolitik, die Bildungsreformen, Frauen, die Film- und Musikszenen, die Medien, die Ethnopsychoanalyse sowie die Antiatom- und Friedensbewegung. Das Spektrum ist breit und reicht weit über einzelne Ereignisse wie den Globuskrawall hinaus. Der Herausgeberin Erika Hebeisen sind «konkrete Veränderungen wichtig, die vielleicht nicht sehr spektakulär daherkommen, aber gesellschaftlich etwas Weiterführendes bewirken».
Die 68er-Bewegung hatte eine Vorgeschichte und sie war heterogen. An vielen Protesten beteiligten sich relativ wenig Jugendliche – wie bei der «Halbstarken-Generation» anno 58, die Heinz Bude (1995: 52) als «Kriegskindheit» darstellt. Damals kamen in England bereits friedliche Ostermärsche auf, die sich gegen das atomare Aufrüsten wandten. Ab 1963 protestierten in Deutschland und in der Schweiz ebenfalls soziale Bewegungen gegen nukleare Waffen. (Etzemüller 2005: 69) Aber auch der Widerstand in mehreren Schweizer Städten gegen höhere Preise für die Straßenbahn gehört zur Vorgeschichte von 1968.
1968 verdichteten sich weltweit die Proteste. Der wirtschaftliche Aufschwung beförderte nach dem Zweiten Weltkrieg die Gleichzeitigkeit vieler Ereignisse. (Ebbinghaus 2009: 10) Alternativ Orientierte und zivil Couragierte bildeten eine «plurale Einheit». Der gesellschaftliche und persönliche Aufbruch bedingte sich gegenseitig. Ein Beispiel ist das Konkubinat, das zu dem Zeitpunkt noch mehrere Kantone untersagten. Das «Familienoberhaupt» musste die berufliche Tätigkeit der Ehefrau genehmigen. «Von der Zustimmung des Gatten hing auch das eigene Bankkonto ab», berichtete Helmut Hubacher, der frühere Präsident der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz. Seine Frau übernahm 1983 das Restaurant Maxim in Basel. Für die Konzession und das Bankkonto brauchte sie die Unterschrift des Ehemanns. Und Otmar Hersche, einst Chefredaktor der Innerschweizer Zeitung Vaterland, erzählte von konfessionellen Querelen und davon, wie seine protestantische Frau wenigstens zum Katholizismus konvertieren musste, bevor sie ihn ehelichen konnte. Die Juristin Iris von Roten trat in Frauen im Laufgitter (1958) schon zehn Jahre vor 1968 dafür ein, endlich das Frauenstimmrecht einzuführen.
Der Historiker Georg Kreis (2008a: 340) zählt zu jenen, die die 68er-Bewegung inspirierten. In unserem Gespräch erinnert er sich ebenfalls an «Vorgeschichten zur Gegenwart», zu denen er schon viel publiziert hat, etwa zur Verlagerung vom Individuellen zum Gesellschaftlichen, die sich in der Literatur jener Zeit ankündigte. Inspiration für die 68er waren in seinen Augen auch «Wissenschaftler, die ruhig und bedacht agierten und nicht gleich auf die Barrikaden stiegen». Zum Beispiel der Astronomieprofessor Uli W. Steinlin (1927–2015), den die Universität Basel 1968 berief. Steinlin kritisierte in seiner Streitschrift Hochschule wohin? (1962) die «borniert hierarchisierte Ordinarienuniversität». Er plädierte für mehr Teamwork und dafür, soziale Gefälle abzubauen. Sein langjähriger Mitarbeiter und Nachfolger Roland Buser hält diese Sicht für «sehr aktuell». Auch heute gebe es noch viel Personenkult und Autoritätsgläubigkeit; sogenannte Bildung diene in einem «völlig überhitzten Wettbewerb um gesellschaftliche Anerkennung» vornehmlich dazu, «das eigene Prestige zu fördern». Selbst für die Uni-Leitung gelte de facto als oberstes Prinzip das «Horten und Vermarkten von Wissen als Ware».
Georg Kreis erwähnt auch Max Imboden, den ehemaligen Rektor der Universität Basel, als geistigen Vater der 68er-Bewegung. Der Professor für Staatsrecht legte 1964 in seiner Schrift Helvetisches Malaise dar, wie die Schweiz von einer revolutionären Nation im 19. Jahrhundert zu einer der konservativsten der Welt wurde. Dieter Imboden, der ehemalige Direktor des Schweizerischen Nationalfonds, betrachtet die Publikation seines Vaters als «Weckruf»; Max Imboden habe befürchtet, dass die vormals berechtigte Reduit-Idee nach dem Krieg eine Anpassung an die technologischen Erneuerungen verhindern könnte. Um die Schweiz weiterzuentwickeln, skizzierte Max Imboden mit Studierenden Die Bundesverfassung – wie sie sein könnte (1959). Er vereinigte zwei Überzeugungen, die er laut Dieter Imboden «auch in seinem eigenen Leben nicht immer ohne Widersprüche unter einen Hut brachte»: den Liberalismus und die Treue zum Staat. Liberalismus bedeutete für ihn ein kritisches Denken, das bis zum zivilen Ungehorsam reichen konnte. Als Student organisierte Max Imboden im Jahr 1938 für die Zürcher Studentenschaft den ersten großen Protestmarsch gegen Nazi-Deutschland. Als Rektor der Universität Basel unterstützte er 1964 auch eine Protestaktion von Studierenden für eine Mensa. Imboden baute auf die Fähigkeit des Staates, sich demokratisch weiterzuentwickeln. Autoritäre Mittel lehnte er ab. «Sein früher Tod im April 1969», bilanziert sein Sohn Dieter Imboden, «ersparte ihm einen Loyalitätskonflikt zwischen seinem unabhängigen, kritischen Denken und studentischen Angriffen gegen die Staatsmacht».
Max Imboden habe wohl die kreativen und progressiven Kräfte, die der Widerspruch zwischen Hochkonjunktur und Malaise freigesetzt hätte, unterschätzt, bemerkte der Journalist und Philosoph Karl Kraenzle. «Zum ersten Mal gab es», so Kraenzle, «eine lebendige Diskussion über Minderheiten, über die Separatisten im Jura, Dienstverweigerer und Gastarbeiter.» Der 68er-Aktivist Wolfgang Klingler, der bei Max Imboden studiert hat, würdigt ihn in unserem Gespräch als «offenen Geist». Wolfgang Klingler präsidierte 1968 die studentische Kulturkommission. Damals kritisierte Klingler (1968: 6) im Kolibri, dem offiziellen Organ der Studentenschaft, die Universität als eine «Fabrik von Funktionsträgern», in der die geistige Auseinandersetzung zu kurz komme.
Wie der Historiker Jakob Tanner (2015: 381) beschrieben hat, verdichtete sich in der 68er-Bewegung das diffuse Unbehagen am Kleinstaat Schweiz. Bereits Ende der 1950er-Jahre formierte sich eine Protestkultur gegen die atomare Aufrüstung. Immer mehr Jugendliche verweigerten den Militärdienst. Die «moralisch-sittliche» Frauenzeitschrift Annabelle schlug neue Töne an und berichtete recht offen über Sexualität. Aber der Kanton Zürich war 1967 noch nicht bereit, das Konkubinat zuzulassen. «Die Schweiz war in den 1960er-Jahren das einzige europäische Land, in dem die staatsbürgerliche und rechtliche Gleichstellung der Frau abgelehnt wurde.» (ebd. 392) Ebenso wollte die Schweiz auch die internationalen Menschenrechtskonventionen nicht anerkennen. Und der Staatsschutz registrierte kritische Personen in der «Extremisten-Kartei». Nicht beachtet blieb hingegen die 1961 in Winterthur gegründete Nationale Aktion gegen Überfremdung von Volk und Heimat (NA), die 1967 mit James Schwarzenbach im Kanton Zürich ihren ersten Sitz im Nationalrat erhielt. Wolfgang Klingler wollte dazu bei Arnold Künzli in politischer Philosophie promovieren und hat sein umfassendes Material für dieses Buch zur Verfügung gestellt. Was die Beschäftigungsstruktur angeht, präsentierte sich die Schweiz vor 1968 als eine moderne Industriegesellschaft. Die sozialen Klassen waren nach wie vor stark ausgeprägt, schienen sich jedoch angesichts des anwachsenden Warenkonsums und des Baubooms zu nivellieren. Gewerkschaften betrachteten den steigenden materiellen Lebensstandard als eigenes Verdienst. Die soziale Lage drückte sich auch im Stimmverhalten aus. Nachdem die unteren Löhne leicht anstiegen, legten 1963 über 60 Prozent der Werktätigen bei den Nationalratswahlen die Liste der Sozialdemokratie ein.
Im September 1969 bekamen alle Schweizer Haushalte ein Exemplar des neuen Zivilverteidigungsbuchs. Die geistige Landesverteidigung sollte die militärische ergänzen und die Zivilbevölkerung darin unterstützen, sich gegen böse Mächte oder eine innere Bedrohung zu wehren und den freiheitlichen Schweizer Geist zu erhalten. Der Historiker Thomas Buomberger (2017: 239) hat den antikommunistischen Geist des Zivilverteidigungsbuchs als «Anleitung zur Diffamierung» beschrieben. Ursprünglich auf die Expo 1964 geplant, erwies sich die verspätete Herausgabe für den Bundesrat als Glücksfall: Der Einmarsch sowjetischer Truppen in der Tschechoslowakei schien kaltkriegerische Szenarien zu bestätigen. Nonkonforme Kräfte verwahrten sich indes dagegen, Fremdes als Gefahr darzustellen.
1961 wandte sich der gut vernetzte Oberst Albert Bachmann an Bundesrat Friedrich Traugott Wahlen, der im Weltkrieg die «Anbauschlacht» anführte. Bachmann galt einst als strammer Stalinist. Er gehörte der kommunistischen Freien Jugend an, konvertierte jedoch später. Wahlen imponierte die Idee, das Volk mit einem «Zivilverteidigungsbuch» auch geistig zu nähren. Er setzte sie nach längeren Debatten 1967 auch im Bundesrat gegen Kritiken der Ratskollegen Tschudi und Schaffner durch. Sie lehnten das Zuspitzen einer bipolaren Weltordnung ab, weil es eine liberale Gesellschaft auf gefährliche Weise unterlaufe. Bachmann und Wahlen holten indes den konservativen Nationalrat Walther Hofer ins Boot, der seit 1960 als Historiker an der Universität Bern lehrte und mit seinem rechtsnationalen «Hofer-Club» linksliberale Medienschaffende anprangerte. Das Zivilverteidigungsbuch erschien in einer Auflage von 2,6 Mio. Exemplaren. Es wurde 1969 an alle Haushalte verteilt. Die Kosten betrugen 4,1 Mio. Franken. 870 000 Franken bekam der Miles-Verlag. Als Mitinhaber des Verlags erstand Bachmann mit dem Erlös des Buchs jene Ländereien in Irland, auf die er sich später zurückzog.
Ende 1969 fand im Basler Bernoullianum ein Podium statt, an dem Befürworter und Gegner des Zivilverteidigungsbuchs aufeinandertrafen. Oberst Albert Bachmann war dabei. Als Kritiker wirkten Thomas Heilmann und der Theologiestudent Beat Dietschy mit, der die Feindbilder und Ästhetik des ZVB mit der Nazi-Propaganda der 1930er-Jahre verglich, was die anwesenden Militärs in Rage brachte.
Wenn der emeritierte Geschichtsprofessor Georg Kreis die Vor-68er/innen beschreibt, könnte er sich selbst ebenfalls aufführen. Er wirkte als aufgeweckter Student im Vorfeld aufklärerisch mit, organisierte viele Debatten und engagierte sich auch dann noch für die Demokratisierung gesellschaftlicher Gefüge, als dies weniger gefragt war. Seine dezidiert politisch liberale Haltung öffnete vor allem der Nach-68er-Bewegung viele Türen.
Georg Kreis kam 1943 zur Welt. Nach seiner Ausbildung zum Primarlehrer studierte er Geschichte. 1968 war er 25 Jahre alt. Liberal gesinnt, organisierte er als Präsident der Kultur- und Filmkommission zahlreiche kontroverse Veranstaltungen an der Universität Basel. Er arbeitete auch mit der «Arena» und der Neuen Linken zusammen. 1977 warf er im Schweizer Fernsehen einmal Niklaus Meienberg vor, unseriös zu recherchieren. Danach verorteten ihn einige 68er in der bürgerlichen Schublade, zumal Georg Kreis seit seinem 30. Geburtstag auch der FDP angehörte. Die SP wäre für ihn zwar auch infrage gekommen. Aber Kreis engagierte sich «lieber als linker Freisinniger denn als rechter Sozialdemokrat». An seinem 70. Geburtstag trat er aus der FDP aus, weil ihm deren Listengeschäker mit der SVP zu weit ging. Georg Kreis engagierte sich zeitlebens im humanistisch aufklärerischen Sinn. Er arbeitete in der Bergier-Kommission mit, leitete das Europainstitut, präsidierte von 1995 bis 2011 couragiert die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus und setzt sich seit Jahren mit dem Club Helvétique für eine fundamentale Demokratisierung der Schweiz ein.
Im Januar 2009 würdigte die Universität Basel den abtretenden Professor Georg Kreis. Das feierliche wissenschaftliche Kolloquium handelte «Vom Nutzen der Geschichte» und von Georg Kreis als 68er. Das ist die Zeit, die ihn «bis heute besonders prägte» und ihn dazu anregte, sich unsere Welt auch als eine andere Welt vorzustellen. Das Antizipieren von möglichen Alternativen ist Teil der Gegenwart. Wie das Vergegenwärtigen von Vergangenem. Zu 68 gehörte auch der Gedanke, dass das Private politisch sei. Das drückte Georg Kreis schon in seinen persönlichen Tessiner Notizen (2008b) und immer wieder in seinen Kolumnen aus, die er wöchentlich in der alternativen Basler Tages-Woche publiziert. Sein Beispiel führt vor Augen, wie wichtig es ist, den 68er-Fokus zeitlich und inhaltlich offen zu fassen.
In den 1960er-Jahren bewegte die Lausanner Expo 64 die Gemüter. Der Bundesrat wollte an der Landesausstellung 1964 zunächst viel Raum zur Verfügung stellen, um eine Umfrage mit dem Titel «Un jour en Suisse» zu präsentieren, die ein Stimmungsbild der Schweiz vermitteln sollte. Als dann aber die Ergebnisse nicht so recht zum Selbstbild passen wollten, wurde die Präsentation redimensioniert. Der Soziologe Luc Boltanski wertete die Umfrage in Le bonheur suisse (1966) weiter aus. Er bestätigte die Differenzen, die sich mehr durch soziale denn durch regionale Unterschiede ergaben. Arbeiterinnen, Angestellte oder Landwirte verhielten sich recht unterschiedlich zu dem gemeinhin gehegten Ideal von der Schweiz. Das passte dem Bundesrat nicht.
Die Debatten über die Ausstellung offenbarten laut dem Journalisten Karl Kraenzle «Brüche und Risse zwischen der offiziellen Selbstwahrnehmung der Schweiz und der sich formierenden inoffiziellen Wahrnehmung». Lucius Burckhardt wollte mit Max Frisch und Markus Kutter anstelle der Landesausstellung eine alternative Stadt bauen. (Mäder et al. 2014) Der politische Philosoph Arnold Künzli kritisierte das selbstgerechte Beschönigen der Schweiz. Weitere Nonkonformisten bezeichneten das Selbstbild als «Trugbild der Schweiz». Sie formierten sich um die Zeitschrift Neutralität, die Paul Ignaz Vogel 1963 gründete und bis 1974 verantwortete. Autoren waren unter anderem Arnold Künzli, Konrad Farner und Max Frisch, Walter Muschg finanzierte die Publikation mit.
Die nonkonformistischen Kräfte konstituierten sich in der Schweiz zwischen 1964 und 1968 als lose Vereinigung. Die Wirtschaft lief auf Hochtouren. Die Konjunktur sollte «gedämpft» und «abgekühlt» werden. Anzeichen des Unbehagens häuften sich. Die Zeitschrift Neutralität zählte im Januar 1968 insgesamt 54 Mitarbeitende: 54 Männer und keine Frau. In der zweiten Jahresnummer (1968: 3) zeichnete Waltraud Brodmann als erste Frau einen Artikel. Ein weiterer Beitrag, «Kein Ende in Biafra», folgte in der zehnten Ausgabe von der Historikerin und Journalistin Regula Renschler (1968: 18).
Die «Nonkonformisten» nutzten die Neutralität als Plattform und Sprachrohr. Heinrich Böll (1967: 5) setzte sich darin beispielsweise mit der Gruppe 47 auseinander. Er würdigte die «Instanz engagierter Schriftsteller» als «eine Art kritischer Realismus». Alfred Rasser (1967: 7) kündigte in der Zeitschrift sein Programm «Zuvielcourage» an. August E. Hohler (1967: 4) berichtete von seiner Reise in die USA, vom Aufstand der jungen Generation in Berkeley und davon, wie die meisten Studierenden wieder brav und ordentlich in die breite Straße des Konformismus einschwenkten. Als Beispiel diente ihm «der mittelklassige Schauspieler und TV-Präsentator Ronald Reagan», der später als Gouverneur von Kalifornien und US-Präsident eine «kräftige Rechtskurve» nahm. Karl Kraenzle, der von 1970 an als Korrespondent des Tages-Anzeigers über die USA berichtete und noch heute dort lebt, schrieb ebenfalls für die Neutralität. Wir haben uns in Los Angeles unterhalten. Für Kraenzle war der 68er-Aufbruch in den USA global entscheidend. Den Nonkonformismus betrachtet er «als ein kurzes Kapitel schweizerischer Zeitgeschichte».
Paul Ignaz Vogel kam 1939 in Riehen BS zur Welt, gut zwei Monate, bevor am 1. September mit dem Überfall auf Polen der Zweite Weltkrieg ausbrach. Siebzehn Jahre nach Kriegsende studierte Vogel in West-Berlin, bis er in die Schweiz zurückkehrte und die Zeitschrift Neutralität gründete. «Kritische Schweizer Zeitschrift für Politik und Kultur» lautete der Untertitel. Sie existierte von 1963 bis 1974; in den Jahren 1970/71 enthielt sie die literarische Beilage Drehpunkt. Das Bieler Pressebüro Cortesi lud den losen Verbund Unkonventioneller mehrmals zu einem Austausch ein. Mario Cortesi und der mitverantwortliche Frank A. Meyer unterstützten von 1967 bis 1968 die Zeitschrift und gewährten Paul Ignaz Vogel eine Teilzeitanstellung. Im Herbst 1968 wechselte Vogel nach Bern. 1969 reichte ihm der Dramatiker Friedrich Dürrenmatt ein Drittel des Großen Literaturpreises des Kantons Bern weiter. Die anderen Teile gingen an den Mythenforscher Sergius Golowin und an den Militärdienstverweigerer Arthur Villard.
Nachdem Ludwig von Moos, der Vorsteher des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartments, im September 1969 an alle Schweizer Haushalte das kaltkriegerische Zivilverteidigungsbuch verschickt hatte, warf ihm Paul Ignaz Vogel im Januar 1970 in der Neutralität vor, er habe dem Antisemitismus der Nazis nahegestanden. Vogel präsentierte das Heft an einer Pressekonferenz, die viel Staub aufwirbelte. Vor den Medien forderte er den Rücktritt von Bundesrat von Moos. Damit exponierte er sich sehr stark.
Vogels Staatsschutzakten decken auf, wie der schweizerische Staatsschutz ihn von 1962 bis 1974 observierte. Am 17. April 1963 fertigte der Spezialdienst des Basler Polizeidepartements ein Protokoll über die kritische Zeitschrift an, die als Sprachrohr nonkonformer Kräfte galt. Am 26. Mai 1964 folgte ein zweites Protokoll, das minutiöse Angaben zu den ersten vier Auflagen und den Druckkosten enthielt. Die Polizei holte diese Informationen direkt bei der Druckerei ein, die ihr auch mitteilte, dass die Rechnung in Raten bezahlt werde. Das Protokoll hob nebst Paul Ignaz Vogel, dem Herausgeber, auch Arnold Künzli hervor. Dieser hatte als ehemaliger Redaktor der National-Zeitung in den ersten vier Ausgaben der Neutralität drei Artikel verfasst: über Kennedy, De Gaulle und die Rettung der Freiheit vor dem Antikommunismus. Vom Verwaltungsrat der Druckerei erfuhr die Polizei, dass schon Reklamationen wegen der Zeitschrift Neutralität vorlagen; die Geschäftsleitung wolle nun die Manuskripte genauer durchsehen und je nachdem weitere Abstriche einfordern. Schließlich verantworte die Firma auch das Basler Volksblatt, für das Paul Ignaz Vogel ab und zu ebenfalls schrieb. Das Protokoll vermerkte ferner, wie rechtschaffen Vogels Herkunft sei, wo er studiert und was Professor Bonjour über ihn gesagt habe – zum Beispiel, dass es für Vogel das Natürlichste der Welt sei, ein Stipendium zu beziehen. Von Stipendiaten könne man eigentlich eine gute Führung erwarten, aber das lasse sich bei Vogel nicht ohne weiteres bejahen. Vogel, der sonst redlich sei, habe sich nämlich zum Linksintellektuellen entwickelt, besuche seine (Bonjours) Vorlesungen nicht mehr und laufe nun Professor Popitz «mit seiner deutschen Soziologie» nach. Weitere Informanten beschrieben Vogel als einen, der die friedliche Koexistenz befürworte und Bölls Haltung teile, die Kirchen für alle zu öffnen. Vogel sei indes ein klar denkender Typ, dem man in Bezug auf Lebensführung nicht das Geringste nachsagen könne. Er wisse wohl, dass er keinen zu scharfen Tobak bringen dürfe, damit die Firma seine Zeitschrift weiter drucke. Jedenfalls werde man ihm weiterhin die nötige Aufmerksamkeit schenken.
1970 trat Paul Ignaz Vogel in die SP ein. Er distanzierte sich nun als selbsterklärter Reformist etwas von der neuen Linken. Die erhoffte Unterstützung seiner Zeitschrift durch die SP und Gewerkschaften blieb allerdings weitgehend aus. 1989 trat Vogel wieder aus der SP aus.
Von 1996 bis 2016 zeichnete Paul Ignaz Vogel als verantwortlicher Redaktor des Mediendienstes Hälfte. Er berichtete über Arbeitslosigkeit, sozialen Abstieg, Working poor, Armut und Ausgrenzung, die er auch aus eigener Erfahrung kennt. In seiner literarischen Autobiografie Napf (2005) nimmt er interessierte Lesende auf eine Gratwanderung zum Gipfel des Molasseberges zwischen Bern und Luzern mit. Die Geschichten handeln auch vom 68er-Aufbruch, über den wir uns unterhalten haben. Paul Ignaz Vogel ist heute noch nonkonformistisch unterwegs. Wichtig ist ihm, wie er diese Textpassage kommentiert, «eine pazifistische Verantwortungsethik und nicht ein unbedingtes Anderssein als die bürgerliche Gewohnheit».
Angeblich kommen die meisten 68er/innen aus begüterten Familien. Bei Barbara Gurtner verhält sich das anders. Sie setzte sich in der 68er-Bewegung als Frau anfänglich auch ohne Hochschulbildung und eingehende Kenntnisse des Marxismus-Leninismus durch.
Am Anfang ihres Aufbruchs stand die Abenteuerlust. Barbara Schwarzenbach, wie sie damals hieß, verbrachte 1966 ein Jahr in einem Kibbuz in Israel und leistete 1969 einen Arbeitseinsatz im griechischen Lefkas, was ihr politisches Denken inspirierte. «Ich lernte, alleine zu reisen, emanzipierte mich als Frau und pflegte mein unkonventionelles Sein», erzählt sie im Garten des Berner Generationenhauses.
Barbara kam 1943 während des Kriegs zur Welt. Sie stammt, wie sie sagt, «us emene guete Stall». Ihr Vater arbeitete als Kunstmaler. Der Erlös aus seinen Bildern reichte knapp für die sechsköpfige Familie aus, in der viel gelacht wurde. «Wir waren arm. Aber alle um uns herum waren arm.» Zum Glück verdiente seine Gattin als Schneiderin und Pflegefachfrau dazu. Das Wohnhaus lag am Rande von Spiezwiler neben einem Bauernhof. Die nachbarschaftlichen Bande funktionierten gut. Alle Dorfkinder verbrachten ihre ersten vier Schuljahre in einer Gesamtklasse im Holzschulhaus. Mit dem Ehrgeiz der Mutter schaffte Barbara den Sprung in die Sekundarschule in Spiez. An der Akademie für Erwachsenenbildung reflektierte sie später, was soziale Herkunft bedeutet. «In Spiezwiler war ich mit einfachen Kindern zusammen, in Spiez mit Töchtern von Ärzten.» Barbara hatte Mühe, ihre soziale Schicht zu bestimmen. Als Künstler war ihr Vater, dessen Eltern ein Kolonialwarengeschäft führten, trotz geringem Verdienst anerkannt. Barbara war stolz auf ihn. Seine unkonventionelle Art half ihr, sich mit ganz unterschiedlichen Menschen einfach zu verständigen, auch später im Nationalrat. Ihre Mutter stammte aus bäurischem Umfeld. Sie wollte Ärztin werden, machte zuerst eine Lehre als Kauffrau, dann als Krankenschwester und später noch als Schneiderin. Sie managte die Familie, kümmerte sich um den Garten, schneiderte und versorgte abends im Dorf kranke Leute. «Sie nervte sich, weil ich nicht so gut war und nur eine Berufslehre machen konnte.» Barbara hielt es mehr mit der Largeheit ihres Vaters. «Ich bin eine Vaterstochter.» Sie half ihm bei Ausstellungen und freute sich über jeden Erfolg. Im Altersasyl Gottes-Gnad schloss Barbara Schwarzenbach 1964 ihre «kaufmännische Lehre» ab. Anschließend reiste sie nach England, Israel, Spanien und Griechenland. In Lefkas baute sie mit dem Christlichen Friedensdienst (CFD) Straßen. Am CFD schätzte sie das Politische. «Der CFD unterstützte den Gastvortrag eines Palästinensers, die SP nicht.»
Im Berner Ateliertheater nahm Barbara Gurtner ihre erste Stelle an, hier besuchte sie viele Aufführungen. An ihrer zweiten Arbeitsstelle, dem Betriebswirtschaftlichen Institut der Universität Bern, lernte sie 1970 Bruno Gurtner kennen. Sie heirateten 1971. Brunos Vater arbeitete im Militärdepartement, die Mutter besorgte den Haushalt. Das Nachtessen stand immer pünktlich um 18.15 Uhr parat. 1972 trampten Barbara und Bruno einige Monate durch Lateinamerika, vom nördlichen Venezuela bis zum südlichen Chile. Sie waren in ungeheizten Bussen oft alleine mit Indigenen unterwegs. Zwischen Peru und Bolivien kontrollierten bewaffnete Soldaten die Passagiere. Sie suchten Tupamaros. Barbara stand Todesängste aus. Von Bruno erfuhr sie die politischen Hintergründe. «Er war mein bester Lehrmeister.» Nach der Reise engagierten sich beide politisch, Bruno in der Arbeitsgruppe Dritte Welt, Barbara bei den sich formierenden Progressiven Organisationen. Das Unkonventionelle faszinierte sie dabei mehr als der Marxismus-Leninismus. Wichtig waren ihr die Frauen. Barbara fühlte sich unterstützt. Am Abend ging sie oft an Veranstaltungen. «Die POCH nahm ich als Bewegung wahr, nicht als Partei.»
1974 gebar Barbara Gurtner ihre erste Tochter Lena, 1976 folgte Monica. Sie löste sich nun von ehelichen Zwängen. Bruno zog auf ihren Wunsch hin aus. Barbara wollte die Kinder alleine erziehen, zusammen mit andern Frauen. Bruno reagierte verletzt. Die Trennung schmerzte auch Barbara. «Aber ich wollte meinen eigenen Weg gehen.» Das spürte sie. Die Kinder hatten in der WG vier Mütter, die Unterschiedliches abdeckten. «Eine Kleinfamilie hätte mir das nie geben können.»
Von 1983 bis 1987 vertrat Barbara Gurntner im Nationalrat die POCH. Sie war im Parlament fast die Einzige ohne Hochschulbildung – dafür mit kleinen Kindern – und setzte sich dafür ein, die Armee abzuschaffen. Im nationalen POCH-Vorstand stand sie mit dieser Haltung nahezu alleine auf weiter Flur. Genossen und Genossinnen fürchteten sich vor einem Plebiszit für die Armee. Als der Nationalrat Ende 1984 darüber debattierte, 380 deutsche Leopard-2-Panzer zu beschaffen, erschien Barbara Gurtner in einer selbstgenähten Leopard-Uniform. Die deutsche Wochenzeitung Der Spiegel lichtete sie so ab. Ein Kollege witzelte: «Jetzt willst du dann noch die Ehe abschaffen.»
1968 war Barbara Gurtner überzeugt, dass eine bessere Welt bald möglich sei. Heute ist sie «immer noch zuversichtlich, aber weltpolitisch nicht mehr so sicher». Seit zwei Jahrzehnten lebt sie nun alleine in ihrer Eigentumswohnung beim Botanischen Garten am Hang der Aare. Inzwischen pensioniert, präsidiert sie den Berner Rat der Seniorinnen und Senioren, der dem Gemeinderat unterstellt ist und alle politischen Fraktionen repräsentiert. Sie hat vier Enkelkinder. Seit ihrem 60. Lebensjahr ist sie eine ausgebildete Fachfrau für Kompetenzbilanz und stärkt als «Ressourcensammlerin» lebenskundigen Migrantinnen den Rücken. Der 68er-Bewegung verdankt sie «viel Energie und Orientierung». Die Aufbruchsstimmung prägt sie noch heute. Barbara Gurtner erinnert sich, wie sie «anno dazumal» ein Sieb verkehrtherum über den Kopf stülpte und mit andern dagegen protestierte, Frauen in die Gesamtverteidigung einzubeziehen. «Wir passen unter keinen Helm», skandierte sie. 1973 demonstrierte Barbara auch gegen den Putsch in Chile. Sie nahm einem Genossen das Megafon aus der Hand und rief «El pueblo, unido …». Ihre Mutter entdeckte das Bild in einer Zeitung und schickte es ihrer Tochter, handschriftlich kommentiert: «Ach du dumme Babe. Du würdest lieber dem Bruno einen Zwetschgenkuchen backen.»
Heute ist Barbara Gurtner stolz darauf, eigenwillig politisiert zu haben. Der 68er-Geist habe «viele Schichten durchdrungen und Vorstellungen von Familie und Sexualität geöffnet». Dass die SVP heute noch den 68ern so viel Schuld zuweise, veranschauliche deren Bedeutung. Geblieben sei eine grüne Bewegung, die sich «für starke Frauen, Kinderrechte und eine gesunde Umwelt ohne AKW» einsetzt. Wichtig ist ihr eine bewusste Lebensgestaltung, auch im Alter. «68 gehört nicht ins Museum.»
Wichtig ist ein inhaltlich und zeitlich offenes Verständnis der 68er-Bewegung. Bereits 1963 formierten sich die «Nonkonformisten» und die Zeitschrift Neutralität, die beide veranschaulichen, wie sehr Männer die Anfänge der Bewegung dominierten. Ein bornierter Staatsschutz wirkte ebenfalls von Anfang an mit. Sein Schnüffeln wirft ein trübes Licht auf die «freiheitliche Schweiz» – ein Selbstbild, das sich auch in der Expo 1964 nicht so recht einstellen wollte. Extrem verrannte sich der Bundesrat, als er mit dem Zivilverteidigungsbuch den Kalten Krieg zwischen West und Ost weiter anheizte.