In Erinnerung an meinen Vater Maurice Hawes und für die Zukunft meines dritten Sohnes, Karl Maurice Hawes v. Oppen, deren Leben sich am 25. Februar 2015 für wenige Stunden überschnitten.

Inhalt

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Die Vorgeschichte – ehe es anfing

Teil I Das erste halbe Jahrtausend 58 v. Chr.–526 n. Chr.

Caesar erfindet die Germanen

Beinahe wird Germanien römisch

Arminius und danach

Der Limes und seine Aktualität

Die edlen wilden Germanen

Der Anfang vom Ende

Finsternis oder Licht?

Die wandernden Germanenstämme

Die Goten – die Retter Roms?

Teil II Das zweite halbe Jahrtausend 526–983

Die Erben Roms

Die alles entscheidende Kontinuität

Rom wiederhergestellt, aber Deutschland verloren?

Die Geburt Deutschlands

Die sächsische Machtübernahme

Das silberne Zeitalter

Teil III Das dritte halbe Jahrtausend 983–1525

Der Dreikampf

Der Wendenkreuzzug

Das goldene Zeitalter

Aus Ordensrittern werden Preußen

Die Hanse: Legendäre Händler zwischen London und Nowgorod

Die Kurfürsten triumphieren

Das 15. Jahrhundert: Der Schatten des Ostens

Die Reformation

Die Reformation wird politisch

Teil IV Das vierte halbe Jahrtausend 1525 bis heute

Eine Pattsituation

Deutschland verliert seine Mittellage

Apokalypse

Die Flucht nach Osten

Das französische Jahrhundert

Der Junkerstaat

Frankreichs letzter Griff nach der Weltmacht

Preußen, von England aufgepumpt

Deutschland nach Waterloo: Ein Land im Winter

Englands natürlicher Verbündeter

Die gescheiterte Revolution von 1848/49

Der Westen, zügellos

Der Eiserne Kanzler betritt die Bühne

Preußen besiegt Deutschland

Das neue Paradigma

Der Gott des Fortschritts scheitert

Bismarck weiht Deutschland dem Untergang

Dunkelheit zieht herauf

Bismarck entfesselt anglophobe Stimmungen

Deutschland nach Bismarck: Trotz Boom gespalten

Der unmögliche Doppelstaat

Weltmacht oder Untergang

Nationendämmerung

Das Ende Preußen-Deutschlands

Die chancenlose Republik

Preußen am Boden

Preußen und Russland: Die geheime Bruderschaft

Der Tod des Geldes

Der Aufstieg der Nationalsozialisten

Die Goldenen Zwanziger

Der Durchbruch der Nationalsozialisten

Wer stimmte für Hitler?

Der zögerliche Führer

Preußen potenziert

Hitler ohne Gegenwehr

1936: Remilitarisierung des Rheinlands & Olympische Spiele

1938: Der Anschluss Österreichs

1938: Das Münchner Abkommen

Hitler zeigt sein wahres Gesicht

Der Holocaust

Warum die Nationalsozialisten den Krieg verloren

Neue alte Grenzen

Das Wirtschaftswunder, das keines war

Die wahre Vereinigung – Abschied von Berlin?

Die DDR, oder die allerkürzeste Geschichte Ostelbiens

Sorgenvolle Zeiten

Schlachtfeld Deutschland

Die Rückkehr Ostelbiens

Kein zweites Wunder

Das dritte Jahrtausend

Der untragbare Osten

Merkels seltsamer Herbst

Das Jahr 2017 und die wahre Geschichte Deutschlands


Nachwort

Danksagung

VORWORT
ZUR DEUTSCHEN AUSGABE

Als ich im Frühjahr 2015 anfing, Die kürzeste Geschichte Deutschlands zu schreiben, sah es so aus, als würde daraus ein harmloses kleines Buch, das vor allem dazu diente, meinen britischen Landsleuten die deutsche Geschichte näherzubringen.

Frühjahr 2015. Die Erinnerung fühlt sich an wie ein verlorener Traum. Deutschland, dieses soziale, reiche und sichere Land im Herzen Europas hatte die Finanzkrise mit Bravour gemeistert. Die deutsche Kanzlerin war beliebt wie nie zuvor. Angela Merkel bereitete gerade den G7-Gipfel vor, um die Großen des Erdballs vor der idyllischen Kulisse von Schloss Elmau zu empfangen. Es schien ein reines Vergnügen zu sein, die Geschichte einer Nation zu schreiben, die nicht nur wirtschaftlich stark und politisch stabil war, sondern sich wie keine andere tiefgehend mit der Schuld in der eigenen Geschichte befasst hat. Das Motto »Nie wieder Auschwitz!« prägte das Handeln einer ganzen Generation.

Freilich: Schaute man genau hin, so zeigten sich schon damals dunkle Flecken. Was dachten jene Ostdeutschen, welche die NPD 2005 und 2009 in den Sächsischen Landtag schickten? Was eigentlich war die AfD? Schon 2013 hatte diese neue Partei im Osten ziemlich stark abgeschnitten. Der damalige Bundespräsident Joachim Gauck sprach von »Dunkeldeutschland«, dessen fremdenfeindliche Umtriebe es zu bekämpfen gelte. Doch die Schatten vermochten die allgemeine Hochstimmung nicht zu trüben. Glücklich das Land, das Angela Merkel hatte, das Hunderttausende Flüchtlinge mit offenen Armen aufnahm und sich in seiner »Willkommenskultur« sonnte.

Frühjahr 2018. Welch eine Wendung. Weltweit ist etwas ins Rutschen geraten. Flüchtlingskrise. Brexit. Trump. Rechtspopulismus überall. Und auch der vormalige Musterschüler Deutschland ist nun »einer von uns«, wie der bulgarische Politologe Ivan Krastev konstatiert. Trotz der Unsummen, die seit der Wiedervereinigung in die neuen Bundesländer geflossen sind, zeigt sich dort ein brüllendes, autoritäres Gedankengut, das man längst überwunden glaubte. Plötzlich wird wieder ein »Schlussstrich« unter die deutsche Vergangenheit gefordert und unverhohlen gedroht: »Wir werden Merkel jagen. Wir werden uns unser Land und unser Volk zurückholen!« Zwar erreichte die AfD bei der Bundestagswahl 2017 auch in Baden-Württemberg 15,1 Prozent, doch in Sachsen-Anhalt holte sie 24,3 Prozent, und in Sachsen wurden die Rechtspopulisten stärkste Kraft. Ist der Osten wieder erwacht?

Unter den etablierten Parteien macht sich Unsicherheit breit. Die Frage nach dem Wesen der deutschen Identität ist mit Wucht zurück. Denn wenn es etwas gibt, was den Osten vom Westen unterscheidet, woran lässt sich das festmachen? Um zu verstehen, was Deutschland in seinem innersten Kern ausmacht, lohnt es, zu den Anfängen zurückzukehren und den Weg bis ins Heute zu gehen.

Sicher kann ein Buch dieses Umfangs nicht die ganze Geschichte erzählen. Doch so etwas wie die ganze Geschichte – wovon auch immer – gibt es schlicht und einfach nicht. Uns bleibt nur, zurückzutreten, hinzusehen und die Geschichte sich entfalten zu lassen. Dieses Buch versucht ein knappes, aber scharf umrissenes historisches Porträt dieses Landes, das wie kein anderes die Ressourcen erworben hat, über sich selbst nachzudenken und den Weg zum Besseren einzuschlagen.

Oxford, im Februar 2018
James Hawes

DIE VORGESCHICHTE – EHE ES ANFING

Um 500 v. Chr. begann unserer heutigen Schätzung nach in einer Ansammlung von Hütten irgendwo in Südskandinavien oder Norddeutschland ein Zweig der indogermanischen Bevölkerung Europas, bestimmte Konsonanten anders auszusprechen, als alle anderen es taten.

Wer das war, wo das geschah, wann und warum, weiß niemand genau, und daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern. Doch was geschah, können wir rekonstruieren. Man sehe sich zum Beispiel die Fragewörter an. Andere Sprachen beließen es beim c/k/qu-Laut (wie im Lateinischen quis, quid, quo, cur, quam), zum Teil bis heute (quoi, que, che, kakiya und so weiter). Doch die Vorfahren der Dänen, Engländer, Deutschen und einiger anderer hatten Neues im Sinn und begannen mit der Verwendung von hv/wh/h-Lauten, was heute gebräuchliche Wörter wie hvad/what/was hervorbrachte.

Die erste germanische Lautverschiebung wurde von Jacob Grimm, dem älteren der märchensammelnden Brüder Grimm, erstmals dargelegt. Einige ihrer Auswirkungen treten im Vergleich zwischen Latein und Deutsch klar hervor:

Aus p wurde f: pater – Vater

Aus f wurde b: frater – Bruder

Aus b wurde p: labia – Lippe

Aus k wurde h: centum – hundert

Aus h wurde g: hortus – Garten

Aus g wurde k: gelidus – kalt

Wo es wahrscheinlich anfing, um 500 v. Chr.

Die Stämme, die (so nehmen wir an) um 500 v. Chr. damit begannen, diese neuen Laute zu verwenden, bezeichnet man als Urgermanen. Wir wissen nicht, wie sie sich selbst nannten, da sie zu diesem Zeitpunkt keinerlei Beziehungen zu den Völkern des Mittelmeerraums pflegten, die damals bereits mit Dingen wie Aquädukten, Bibliotheken, Theatern, Wahlen und Geschichtsschreibung gesegnet waren.

Wir wissen, dass die Urgermanen etwa 150 v. Chr. begannen, mit der mediterranen Welt in Austausch zu treten. Aus dieser Zeit stammen viele der römischen Weingefäße, die in Deutschland gefunden wurden. Wir wissen auch, dass Einkaufen für die Urgermanen eine gänzlich neue Erfahrung gewesen sein muss, weil in allen germanischen Sprachen das Wort für »kaufen« (kaupa, kopen, shopping etc.) direkt aus dem lateinischen Wort caupo, also Händler oder Gastwirt abgeleitet wurde. Wir können uns gut vorstellen, wie es in einem Handelsposten an Rhein oder Donau zu einem Erstkontakt kam, als die urgermanische Elite Felle, Bernstein, ihre blonden Haare (bei römischen Perückenmachern hoch im Kurs) und vor allem Sklaven gegen Wein tauschte.

Dieser Handel scheint eine Weile recht friedlich vonstatten gegangen zu sein. Doch dann versetzten ein paar Stämme aus dem Norden, die man Kimbern und Teutonen nannte, die römische Republik zwischen 112 und 101 v. Chr. in Angst und Schrecken, bis der große Feldherr Marius sie schließlich auslöschte. Nachgeborene Patrioten sollten sie später als frühe Deutsche für sich beanspruchen, doch für die Römer waren sie bloß gewöhnliche Barbaren. Mit Sicherheit nannte sie damals niemand »Germanen«. Tatsächlich wurde, soweit wir wissen, vor 58 v. Chr. niemand je als Germane bezeichnet. Passenderweise beginnt diese große Geschichte mit einem der berühmtesten Männer aller Zeiten.

Teil I

DAS ERSTE HALBE JAHRTAUSEND:
58 v. Chr. – 526 n. Chr.

Die Römer erschaffen die Germanen, dann übernehmen die Germanen Rom

CAESAR ERFINDET
DIE GERMANEN

p21

Rom und Gallien vor Caesar

Im März des Jahres 60 v. Chr. war die Bedrohung durch barbarische Asylsuchende das wichtigste Gesprächsthema in Rom, wie der Philosoph, Anwalt und Politiker Cicero schrieb. Nachdem es weiter nördlich zu Unruhen und Kriegen gekommen war, überfluteten sie die bereits unterworfenen, romanisierten Gebiete Galliens – also im Wesentlichen das heutige Südfrankreich und Oberitalien. Es schien, als wäre im weiter nördlich gelegenen freien Gallien eine neue, Ärger verheißende Macht aufgetaucht. Gaius Julius Caesar, der als neuer Prokonsul der gallischen Provinzen mit einem Eroberungskrieg seinen Ruf steigern und seine Schulden tilgen wollte, gab ihr im Jahr 58 v. Chr. einen Namen: Germani.

Bereits mit der ersten Erwähnung auf Seite eins seines Bestsellers Der Gallische Krieg verbindet Caesar mit diesen Germani die Vorstellung, dass diese »das Gebiet jenseits des Rheins bewohnen«. Er füllt damit eine Landkarte, die für seine Leser genauso weiß gewesen sein muss wie Zentralafrika für das Publikum von Henry Morton Stanley und Carl Peters. Während sich Rom und Gallien geografisch und kulturell überschneiden, lebt jenseits des Rheins ein gänzlich verschiedenes Volk – diese Botschaft wird im Gallischen Krieg über viele Seiten unermüdlich wiedergekäut.

Caesar muss schon bald feststellen, dass er vor einer schwierigen Lage steht: Einige gallische Stämme haben fünfzehntausend kampferprobte Germanen bestochen, den Rhein zu überqueren und ihnen gegen die mächtigen Häduer beizustehen. Doch nach erfolgreicher Mission sendet der Germanenführer Ariovist weitere Männer über den Fluss und ist nun de facto Herrscher über das gesamte nichtrömische Gallien. Einhundertzwanzigtausend Germanen befinden sich bereits in Gallien; bald schon werden noch mehr kommen. Sie werden die Einheimischen vertreiben und zwingen, sich eine neue Heimat zu suchen.

Als echter Patriot erkennt Caesar die Gefahr sofort: Bald schon werden barbarische Migranten die gallischen Provinzen Roms vielleicht sogar Rom selbst – überfluten. Er spornt seine verzagten Legionäre mit einer glänzenden Rede an und dringt ins Feindesland vor, wobei er die gefürchteten engen Pfade und dichten Wälder geflissentlich meidet. Die Stämme, die er unter dem Wort Germani zusammenfasst, zwingt er im Jahr 58 v. Chr. in der Schlacht im Elsass zum Kampf gegen seine Truppen.

Die Germanen werden geschlagen. Ihre ohnehin schwere Niederlage geht, wie es in vormodernen Kriegen häufig vorkommt, in ein umfassendes Gemetzel über. Als die Überlebenden über den Fluss fliehen, will Caesar sie verfolgen. Die Ubier (Germanen zwar, aber Verbündete Roms) bieten ihm an, seine Truppen in Booten über den Rhein zu setzen. Doch Caesar ist der Ansicht, dass es römischer und zugleich sicherer sei, eine Brücke – wahrscheinlich in der Nähe des heutigen Bonn – über den Fluss zu bauen. Seine Legionen erledigen diese Aufgabe in zehn Tagen – eine erstaunliche Leistung.

Doch wie bewundernswert Roms Militärtechnik auch sein mag, am Ende entscheidet immer der Kampf im Gelände über Sieg und Niederlage. Und die Germanen kennen das Gelände. Sie fliehen in die Wälder, wo sie, wie Caesar herausfindet, ihre Kräfte bündeln und den römischen Angriff abwarten wollen. Daraufhin beschließt Caesar, der bereits tief ins Land vorgedrungen ist, »für Ruhm und Vorteil« (so sein eleganter Standpunkt) sei genug getan. Er kehrt nach Gallien zurück und zerstört die Brücke hinter sich.

Bis zum Ende des Gallischen Kriegs verbleiben die Germanen als potenzielle Verbündete all jener Gallier, die zur Rebellion bereit sind, in Lauerstellung. Es gibt nur eine Lösung: Sie sollen die ganze Macht Roms kennenlernen. Als sie nun im Jahr 55 v. Chr. versuchen, in Scharen über den Rhein nach Gallien einzuwandern, beschließt Caesar, »Krieg gegen die Germanen zu führen«.

Caesar prahlt damit, dass seine Truppen »nicht einen Mann« verloren hätten und sicher aus der Schlacht zurückgekehrt seien, nachdem sie vierhundertdreißigtausend Kämpfer des Feindes bis an den todbringenden Zusammenfluss von Rhein und Maas getrieben hätten, »wo sie alle elend umkamen«. Selbst nach römischen Standards war das fraglos ein Massaker und hatte mit Krieg nichts mehr zu tun. Der große Redner Cato fordert öffentlich, Caesar den Germanen zur Strafe auszuhändigen. Doch Caesar nutzt seinen Gallischen Krieg, um seine brutalen Methoden als effektive Abschreckung zu rechtfertigen: Als rebellische Gallier es erneut wagen, die Germanen mit Bestechung auf ihre Seite zu ziehen, antworten diese, das Risiko nach den jüngsten Vorfällen nicht noch einmal eingehen zu wollen.

Aber wie ticken diese soeben entdeckten Barbaren nun wirklich? Caesar unterbricht seine spannungsgeladene Erzählung an einem dramaturgisch angemessenen Punkt – er steht im Jahr 53 v. Chr. an seinem zweiten Brückenkopf über den Rhein –, um seinen Lesern seine berühmte Beschreibung der Germanen, die erste in der Geschichte, zu geben.

Caesars Germanen

Die Germanen haben ganz andere Bräuche [als die Gallier]. Denn sie haben weder Druiden, die den kultischen Dingen vorstehen, noch legen sie großen Wert auf Opfer. Unter die Götter zählen sie nur die, die sie wahrnehmen und deren Wirken ihnen augenscheinlich zu Hilfe kommt, die Sonne, den Mond und Vulkan. Den Glauben an die übrigen kennen sie nicht einmal vom Hörensagen. Ihr ganzes Leben besteht aus Jagen und militärischen Übungen. … Beide Geschlechter baden zusammen in den Flüssen und tragen nur Pelze oder dürftige Pelzüberwürfe, wobei der größte Teil des Körpers nackt bleibt. Ackerbau betreiben sie wenig, ihre Ernährung besteht zum größten Teil aus Milch, Käse und Fleisch. Auch hat niemand bei ihnen ein bestimmtes Stück Land oder Grundbesitz. … Sie halten es für ein Kennzeichen von Tapferkeit, wenn die Anwohner ihrer Grenzen von ihrem Land vertrieben abziehen und niemand wagt, sich in ihrer Nachbarschaft niederzulassen. … Raubzüge, die außerhalb der Stammesgrenzen unternommen werden, betrachten sie nicht als Schande … Sie halten es für Frevel, einen Gast zu verletzen. Wer aus welchem Grund auch immer zu ihnen kommt, den schützen sie vor Unrecht und halten ihn für unverletzlich. Alle Häuser stehen ihm offen, und die Bewohner teilen ihre Nahrung mit ihm … Die Ausdehnung des hercynischen Waldes, auf den wir oben hinwiesen, entspricht einem zügigen Fußmarsch ohne Gepäck von neun Tagen; anders kann sie nicht bestimmt werden, da die Einheimischen kein Wegemaß kennen … Gewiss ist, dass es dort viele Arten von wilden Tieren gibt, die man sonst nicht sieht.

Der Gallische Krieg, VI, 21-25

Keine richtigen Götter oder Priester, kein Eigentum, keine gesellschaftliche Ordnung, kaum Getreidefelder für Brot, keinerlei Mittel, um Entfernungen zu messen, riesige Wälder, von wilden Tieren nur so wimmelnd, unentwegte Kriege zwischen den Stämmen – in der Tat also ein Land von Barbaren, das Rom niemals gewinnbringend zu verwalten hoffen darf.

Doch geht es hier nicht um Ethnologie, sondern um Politik. Es geht vor allem darum, den Kontrast zwischen der linken Rheinseite (wo Caesar Triumphe feierte) und der rechten Seite (die er zweimal erfolglos besetzte) zu schärfen. Auf dieser Seite wohnen die Gallier: Sie bearbeiten ihre fruchtbaren Felder; sie verehren richtige Götter, die sich ohne Weiteres auf das griechisch-römische Pantheon übertragen lassen; sie haben einfache Gesetze, führen primitive Wahlen durch, kennen eine gewisse gesellschaftliche Ordnung, und ihre Druiden beherrschen das griechische Alphabet – ein sicherer Beweis für eine mögliche Zivilisierung. Hier hat Caesar für sein Volk ein ganzes Land erobert, das sich perfekt romanisieren lässt und nur darauf wartet, besteuert zu werden. Auf der anderen Seite des Rheins dagegen lauern die Germanen.

Gleichzeitig besteht kein Zweifel daran, dass der Fluss keine echte Grenze zwischen zwei völlig verschiedenen Kulturen darstellt. Caesar berichtet, dass zumindest ein Stamm jenseits des Rheins siedle, der bis vor Kurzem noch in Gallien unter Galliern lebte. Umgekehrt gebe es die Belger, die nun diesseits des Rheins leben, von denen aber »die meisten von den Germanen abstammten«. Die Ubier, die am germanischen Ufer des Rheins wohnen, sind standhafte Verbündete Roms, während am gallischen Ufer feindliche Stämme hausen, offensichtlich auch sie Germanen. Im Verlauf des Gallischen Kriegs wechseln andauernd Leute die Rheinseite, um jemanden anzugreifen, sich zu verbünden, zu fliehen oder auszuwandern. Caesar selbst setzt eine germanische Kavallerieeinheit als seine Leibgarde ein.

Gallien und Germanien in den Augen Caesars

Die Lage entlang des Rheins war in den Jahren 58 bis 53 v. Chr. offensichtlich fließend, irritierend und absolut chaotisch. Doch kann man diese Erkenntnis als glanzvolle Neuigkeit verkaufen? Sicher nicht, und deshalb verkündet Caesar, er habe eine natürliche Grenze der römischen Herrschaft entdeckt. Die Völker jenseits des Rheins werden zu unverbesserlichen Barbaren und ihr Land zu einer albtraumhaften Wildnis erklärt. Schlimmer noch, sie sind gerade Rom gegenüber besonders feindlich gestimmt und »verweigern niemandem ihre Dienste, der sich den Römern widersetzt«. Roms Auftrag ist also eindeutig: die Wacht am Rhein übernehmen und den Barbaren die Hölle heißmachen, sobald sie es wagen sollten, den Fluss zu überqueren.

Julius Caesar hatte die Germanen erfunden.

BEINAHE WIRD
GERMANIEN RÖMISCH

Die römische Republik hatte in den Folgejahren genug damit zu tun, sich selbst zu bekämpfen und nach dem Mord an Caesar ein Kaiserreich zu werden, doch an ihrer Meinung zum Rhein änderte sich nichts: hier die zivilisierbaren Gallier, dort die unzivilisierbaren Germanen. Und dennoch fand man auch für dieses unkultivierte Volk Verwendung. Der erste römische Kaiser Augustus machte es Caesar nach und bemannte seine Leibwache mit nordrheinischen Germanen – genauso wie Herodes, Roms Klientelkönig in Judäa. Im Jahr 17 v. Chr. überquerte allerdings ein größerer Kriegshaufen den Rhein, erbeutete das heilige Symbol der fünften Legion, den Legionsadler, und entführte ihn unter Triumphgeheul auf seine Flussseite. Das brandneue römische Kaiserreich konnte es selbstverständlich nicht zulassen, dass seine Macht auf diese Art verspottet wurde, und bereitete seine erste Großoffensive vor: die vollständige Eroberung Germaniens.

Kaiser Augustus’ jüngerer Stiefsohn Drusus wurde zum Oberbefehlshaber ernannt. Am Rhein wurden mehrere Stützpunkte errichtet, die Keimzellen der heutigen Städte Bonn, Mainz, Koblenz und Xanthen. Von diesen Lagern aus führte Drusus seine Legionen und Kriegsschiffe zwischen 12 und 9 v. Chr. tief hinein nach Nordwestdeutschland und in eine ununterbrochene Folge siegreicher Schlachten.

Im Jahr 9 v. Chr. erreichte Drusus die Elbe oder die Saale, die für die Römer bloß der Unterlauf der Elbe war. Dort erschien ihm nach Berichten der Historiker Cassius Dio und Sueton eine riesenhafte Frau, die ihm riet, umzukehren und seinen unersättlichen Hunger nach Eroberungen zu zügeln, da seine Tage gezählt seien.

Das römische Vordringen nach Germanien, 12 v. Chr. bis 5 n. Chr.

Dies ist ein wegweisender Moment in der Geschichte Deutschlands und Europas. An der Elbe umzukehren war keine alltägliche militärisch-politische Entscheidung, sie wurde vielmehr von höheren Mächten diktiert. Den Rhein oder sogar die Weser zu überqueren wäre noch in Ordnung; doch die Elbe markiert das Ende aller vernünftigen Bestrebungen. Drusus übrigens stürzte auf dem Rückweg nach Westen vom Pferd und starb.

Die endgültige Eroberung Germaniens zwischen Donau, Rhein und Elbe war für das Jahr 6 n. Chr. vorgesehen. Im vielleicht größten Feldzug, der je von Rom geplant wurde, sollten zwölf Legionen – etwa 40 Prozent der gesamten Streitkräfte des Imperiums – das widerspenstige Königreich des Marbod in einer gewaltigen Zangenbewegung vom Rhein im Westen und der Donau im Süden her umzingeln.

Drusus erreicht die Elbe, Holzstich nach Eduard Bendemann 1860

(© akg images)

Nur wenige Tage bevor die Großoffensive starten sollte, meuterten Hilfstruppen im heutigen Bosnien und lösten den Pannonischen Aufstand aus. Die bereits aufmarschierten Rhein- und Donau-Armeen wurden daraufhin in größter Eile Richtung Südosteuropa abgezogen.

In Germanien schritt die Romanisierung trotz des abgebrochenen Feldzugs schnell voran. Cassius Dio schrieb, »dass Städte gegründet wurden. Die Barbaren gewöhnten sich daran, Märkte abzuhalten, und kamen sich in friedlichen Gemeinden näher.« Das hört sich stark nach Dick Cheneys idyllischem Traum eines Irak nach der Operation Iraqi Freedom an und wurde üblicherweise als grobe Übertreibung abgelehnt. Doch erst kürzlich fanden Archäologen eindeutige Beweise, dass die Römer tatsächlich an Germania bauten. Bei Waldgirmes, 100 Kilometer östlich des Rheins in Mittelhessen gelegen, wurde eine komplette Militär- und Zivilstadt mit Straßen und einem Forum ausgegraben. Die dort gefundenen Münzen belegen eine römische Besatzung von 5 v. Chr. bis 9 n. Chr. Diese zweite Jahreszahl wurde über viele Jahrzehnte jedem deutschen Schulkind als das erinnerungswürdigste Datum der gesamten deutschen Geschichte eingebläut.

Der große Plan des Römischen Reichs für das Jahr 6 n. Chr.

ARMINIUS UND DANACH

Ähnlich wie die Briten in Indien fanden die Römer in Germanien eine Vielzahl verfeindeter Kleinstaaten vor und stülpten diesen bequemerweise die Vorstellung einer einzigen großen Nation über. Wie die Briten schufen sie für dieses erfundene Land eine Klasse halbwegs akkulturierter Führer, von der sie Loyalität erwarteten.

Im Jahr 9 n. Chr. hatte Publius Quinctilius Varus, der Statthalter Germaniens, den Sommer tief im Landesinneren verbracht, nicht um Krieg zu führen, aber doch um Steuern einzutreiben (mit zu harter Hand, wie es später hieß). Auf dem Weg zurück in sein Winterlager am Rhein beging er den Fehler, seinem romanisierten Tischgenossen Arminius, im römischen Heer dienender Sohn eines Cheruskerführers aus dem Nordwesten, zu vertrauen. Arminius berichtete ihm von einem kleinen Aufstand in der Nähe und bat ihn, dort ein letztes Mal in diesem Jahr für Rom Flagge zu zeigen. Obwohl ihn selbst Arminius’ Schwiegervater gewarnt hatte, stimmte Varus zu. Er glaubte sich auf vollständig befriedetem Gebiet und brach unbesorgt auf, ohne seine drei Legionen in eine vernünftige, kriegsmäßige Marschordnung zu bringen. Und so machten sich die römischen Legionen samt Tross auf den Weg über die engen Pfade und durch die dichten Wälder, die Caesar fast siebzig Jahre zuvor sorgsam gemieden hatte. Dort wurden sie in einem Hinterhalt, der als Schlacht im Teutoburger Wald in die Geschichte einging, ausgelöscht, in gut dokumentierten Szenen äußerster Grausamkeit, die selbst das heutige Kinopublikum erblassen ließen. Schon im 19. Jahrhundert hatten erste Münzfunde auf diesen möglichen Ort der Schlacht hingewiesen, doch seit den bahnbrechenden Entdeckungen des britischen Majors und Hobbyarchäologen Tony Clunn im Jahr 1987 und den anschließenden Ausgrabungen sind sich die meisten Experten heute sicher, dass sich das Schlachtfeld am Kalkriese in Niedersachsen befunden haben muss.

In der Folge wurde fast jede römische Stellung östlich des Rheins zerstört. Diese empfindliche Niederlage war aber dennoch nicht (wie weithin angenommen) das Ende aller römischen Ambitionen in Germanien. Von 14 bis 16 n. Chr. verwüstete Drusus’ Sohn Germanicus das Land in einem Rachefeldzug, bis er Arminius und seine Verbündeten schließlich an der Weser in die Enge trieb. Um den Vorabend der Schlacht ranken sich viele Legenden. Arminius und sein Bruder, der Rom treu geblieben war, warfen sich über den Fluss hinweg lateinische Beschimpfungen an den Kopf. Germanicus diente Shakespeare als Vorbild für seinen Heinrich V., als er sich in der Nacht vor der Schlacht inkognito unter seine Soldaten mischte, um sich persönlich ein Bild von der Moral zu machen. Am folgenden Morgen wurden die Germanen vernichtend geschlagen, über »zehn Meilen war der Boden mit erschlagenen Feinden und zurückgelassenen Waffen bedeckt« (Tacitus). Nur kurze Zeit später wurde Arminius/Hermann, der erste Held des deutschen Nationalismus, unter mysteriösen Umständen von seinen Landsleuten ermordet.

Römische Kavalleriemaske, entdeckt in der Fundregion Kalkriese

(© akg images)

Das Rheinland1 war wieder sicher. Da die römische Armee wie jede andere auch die harten Jungs aus den Wäldern der verwöhnten Stadtjugend vorzog, rekrutierte sie von nun an mit Vorliebe Germanen. Während der römischen Eroberungsfeldzüge in Britannien durchschwammen germanische Truppen in voller Montur die Themse und entschieden so die wichtige Schlacht am Medway. Die nicht umsonst cohors Germanorum genannte Leibgarde sorgte für die persönliche Sicherheit des Kaisers, der Senat zitterte vor ihr. In manchen Teilen des Rheinlands beruhte die örtliche Wirtschaft hauptsächlich auf der Beschaffung von Soldaten für Rom.

Rom erlebte nun seine Glanzzeit – ein knappes Jahrhundert inneren Friedens unter den »fünf guten Kaisern« Nerva, Trajan, Hadrian, Antoninus Pius und Mark Aurel – und dehnte unterdessen seine Grenzen unaufhaltsam aus, auch in Germanien. Erst vor Kurzem fand man heraus, wie weit sich jenes tatsächlich erstreckte. Noch um 20 n. Chr. steckte der griechische Geograf Strabo Germanien wie folgt ab:

»Die Römer«, schrieb er, »sind bisher nicht über die Elbe hinausgekommen.« Doch um 150 n. Chr. zeichnete der große Gelehrte aus Alexandria, Ptolemäus, ein Germania magna, das diese Grenzen weit hinter sich ließ:

Bis vor Kurzem glaubte man, dass Ptolemäus’ Karte ein reines Fantasieprodukt sei. Doch 2010 kam ein Team der Technischen Universität Berlin mithilfe einer neu entdeckten Version der Karte und modernster Computertechnik zu dem Urteil, dass sie bei Weitem genauer ist als bisher angenommen. Tatsächlich sei sie so genau, dass sie unmöglich ein Mensch gezeichnet haben könne, der in einer Bibliothek an der nordafrikanischen Küste saß – es sei denn, er hätte Zugang zu den Ergebnissen militärischer Vermessungsarbeiten gehabt. Das Team schloss daraus, dass die römische Armee zu Beginn des 2. Jahrhunderts die Landstriche bis zur Weichsel im heutigen Polen genau gekannt haben muss.

DER LIMES UND
SEINE AKTUALITÄT

Obwohl die Römer also das gesamte Land, das man später einmal als Deutschland bezeichnen sollte, wahrscheinlich vermessen haben, gelang es ihnen niemals auch nur annähernd, es in seiner Gesamtheit zu erobern. Tatsächlich wurde die Zukunft Deutschlands in beträchtlichem Maße davon diktiert, wo die Grenzlinien römischer Herrschaft letztlich verliefen. Darüber bestehen aber keine Zweifel, schließlich ist diese Grenze bis heute unmissverständlich in den Boden eingeschrieben.

Die Daten sind zwar vage, doch spätestens um 100 n. Chr. kontrollierten die Römer große Teile des heutigen Südwestdeutschlands. Etwa gegen 160 n. Chr. hatten sie ihre Machtstellung durch den Bau einer befestigten Grenze zementiert, die als limes Germanicus bekannt wurde. Sie verlief im Norden entlang des Rheins, bog bei Mainz Richtung Osten zum Main ab (bis heute die sprichwörtliche Grenze zwischen Nord- und Süddeutschland), um sich dann mit Kurs auf das heutige Regensburg südwärts und schließlich weiter entlang der Donau zu ziehen.

Der Limes in Mitteleuropa

Diese Bruchlinie der deutschen Geschichte ist Europas große Mauer: 560 Kilometer lang, bestand sie aus etwa tausend Kastellen und Wachtürmen, von denen viele heute noch nachweisbar sind. Sie wurde unerklärlicherweise über lange Zeit von den Historikern ignoriert, doch seit etwa einem Jahrzehnt erhält sie zunehmend die Aufmerksamkeit, die sie verdient. Bis zum Ende dieses Buches sollten wir uns genau daran erinnern, welche Gebiete Deutschlands von den Römern beherrscht wurden.

Legt man den Limes über eine Karte des heutigen Deutschlands, so liegen Köln, Bonn, Mainz, Frankfurt, Stuttgart, München und Wien diesseits seines Verlaufs. Orte wie Duisburg, die gerade eben jenseits des Limes liegen, waren ursprünglich römische Vorposten. Mit anderen Worten lagen außer Hamburg alle größeren Städte des heutigen Österreichs und Westdeutschlands innerhalb des Römischen Reichs oder zumindest in seinem täglich spürbaren Schatten.

DIE EDLEN WILDEN GERMANEN

Der berühmteste Bericht über die ersten Deutschen ist die Germania des Historikers Tacitus (ca. 103 n. Chr.). Wie Caesar zeichnete Tacitus die Germanen als Gegenmodell zu den Römern. Doch für ihn bedeutete dies nichts Schlechtes, zumal er der Meinung war, dass die Römer durch Laster und Luxus zu einem verweichlichten Volk degeneriert seien, das nur noch vor seinen Kaisern katzbuckelte. Die Germanen hingegen seien zweifellos Barbaren, aber doch edle Barbaren, »durch keine Lockungen der Spektakel, durch keine Reizungen der Gastmähler verdorben«.

Spätere Patrioten missverstanden Tacitus’ Schrift als Beweis dafür, dass die Germanen nicht einmal oberflächlich romanisiert worden seien. Doch tatsächlich vermittelt sie die gegenteilige Botschaft. Denn die Römer, wie viele Imperialisten nach ihnen, liebten nichts mehr, als über wilde und edle Stammeskrieger in den Grenzgebieten ihrer Reiche zu lesen – sobald sie erst einmal unterworfen waren. Je härter die Kämpfe geführt worden waren, desto edler erschienen die Gegner im Nachhinein. Im Jahr 1745 etwa zitterte ganz England, als die schottischen Highlander einfielen. Damals dachte noch niemand, wie edel und romantisch sie doch seien. Aber nachdem sie dann bei Culloden als Drohung für alle Zeiten vernichtend besiegt worden waren, begann die britische Armee fast augenblicklich, die Schotten als Fronttruppen einzusetzen, und die englische Gesellschaft verliebte sich in die Legenden, die von ihrem unverbrauchten, natürlichen Mut erzählten. Genauso verhielt es sich auch mit den Römern und Germanen um 100 n. Chr. Die letzte ernst zu nehmende Rebellion in Germanien hatte 69/70 n. Chr. stattgefunden, und das auch nur, weil sich Roms germanische Elitesoldaten über die Auflösung der von ihnen gebildeten kaiserlichen Leibwache, der cohors Germanorum, empörten. Römische Leser konnten also in Tacitus’ Tagen ohne jeden Grund zur Beunruhigung dessen Beschreibungen über ihre wilden Germani genießen.

Tacitus’ bekannteste und berüchtigtste Aussage über die Germanen war, dass sie »unverfälscht und durch keine anderweitige Verbindung mit anderen Völkern verunreinigt« seien und alle dasselbe Aussehen hätten: blaue Augen, rotblondes Haar, riesige Gestalt. Weniger häufig wird seine Einsicht in eine von Beginn an zentrale Tatsache über Germanien zitiert: Es wird im Norden vom Meer begrenzt, im Westen vom Rhein und im Süden von der Donau – doch von der Grenze zwischen den Germanen und den kaum bekannten Völkern weiter östlich weiß man nur, dass diese sich »voreinander fürchten«. Tacitus hat damit einen Nerv in der deutschen Geschichte getroffen: die Ungewissheit, wie weit nach Osten das Land eigentlich reicht.

Wir werden später auf Tacitus zurückkommen, wenn er im 15. Jahrhundert wiederentdeckt wird. Einstweilen gilt es festzuhalten, dass um 100 n. Chr. trotz des Rückschlags in der Region Kalkriese viele der reichsten und fruchtbarsten Regionen Germaniens fest in römischer Hand waren.

Limes und Stämme in Germania magna, um 160 n. Chr.

DER ANFANG VOM ENDE

Römische Truppen brachten eine fürchterliche Krankheit aus dem Nahen Osten zurück nach Rom: Die Antoninische Pest, möglicherweise eine Pockenpandemie, wütete zwischen 165 und 180 n. Chr. in Westeuropa. Zur selben Zeit wurden die Germanen entlang der Donau von einem noch grimmigeren Germanenstamm unter Druck gesetzt: Die Goten breiteten sich in südlicher Richtung aus und rannten gegen die unterbesetzten römischen Forts an, die ihren Expansionsdrang hemmten. Da er nur von der Krankheit dezimierte Legionen zur Verfügung hatte, setzte sich Mark Aurel, der letzte der »fünf guten Kaiser«, »an den gefrorenen Donauufern acht Winterfeldzügen aus, deren Härte seiner schwachen Konstitution schließlich zum Verhängnis wurde« (Gibbon, Verfall und Untergang des römischen Imperiums). Er hatte es nicht mit einem einzelnen Gegner oder einer Nation zu tun, sondern mit einem irren Politpuzzle, in dem Germani noch immer nicht mehr war als ein Sammelbegriff für diverse Stämme:

Cassius Dio, Römische Geschichte, LXXII

Unter der Führung des Battarios, eines zwölfjährigen Knaben, stellten die einen von ihnen [Gesandtschaften der Barbaren] Bündnisse in Aussicht, empfingen Geldgeschenke. Andere wieder, zum Beispiel die Quaden, baten um Frieden und erhielten ihn auch. Das Recht, Märkte zu besuchen, erhielten sie freilich nicht bewilligt, damit die Markomannen und Jazygen sich nicht unter sie mischten und so die Verhältnisse bei den Römern auskundschafteten und Lebensmittel kauften. Sowohl die Astingen wie die Lakringen kamen Marcus [Aurelius] zu Hilfe, geleitet von der Hoffnung, für ihre Bundeshilfe Geld und Land zu erhalten. Die Lakringen griffen die Astingen unvermutet an und errangen einen großen Sieg mit der Folge, dass die Unterlegenen weiterhin keinen feindlichen Akt mehr gegen die Römer wagten …

Mark Aurel versuchte mit einer Mischung aus roher Gewalt und attraktiven Angeboten, die Situation in den Griff zu bekommen. Nach ihrer Niederlage sollten ausgewählte Germanen zu foederati, also zu Verbündeten Roms, ernannt werden. Sie sollten Militärhilfen und finanzielle Unterstützung erhalten und im Gegenzug andere Germanen bekämpfen. Dieses System hing jedoch im Wesentlichen von der Erhaltung der Fähigkeit Roms ab, in regelmäßigen Abständen für eine gründliche militärische Abreibung zu sorgen.

Vorerst ging diese Strategie für Mark Aurel noch auf, wenngleich sie ihn umbrachte. Doch im frühen 3. Jahrhundert wurde Rom vom persischen Sassanidenreich herausgefordert, das es auf den großen Reichtum im Nahen Osten abgesehen hatte. Durch die nun erforderliche Teilung der militärischen Mittel wurde es immer schwieriger, die germanischen Grenzen zu kontrollieren.

Im Jahr 235 meuterten die römischen Rheinarmeen und riefen einen neuen Herrscher aus, wie es ihn noch nicht gegeben hatte: den riesigen und furchteinflößenden Maximinus Thrax, Sohn eines Goten. Der erste Kaiser, der allein von der Armee installiert wurde, war Halbgermane und gelangte in Germanien an die Macht. Maximinus war der Anfang vom Ende Roms. In seiner Regierungszeit begann die Reichskrise des 3. Jahrhunderts, mit rund zwanzig Kaisern in neunundvierzig Jahren. Bis zum Jahr 284 waren die Länder jenseits des Rheins und der Donau verloren, und unter hohen Kosten musste entlang dieser Flüsse ein neuer Limes errichtet werden. Dieser Wall hielt ein weiteres Jahrhundert, doch die Germanen hatten »den Schleier weggerissen, der Italiens schwache Majestät verhüllte« (Gibbon). Von nun an befand sich Rom vollständig in der Defensive. Reine Verteidigungskriege aber kennen nur einen Ausgang.

FINSTERNIS ODER LICHT?

Wir neigen dazu, uns ein zivilisiertes Rom vorzustellen, das in die Hände barbarischer Germanen fiel und damit leider schnurstracks in ein dunkles Zeitalter versetzt wurde. Doch in Europa gingen die Lichter schon viel früher aus, lange bevor die Germanen an den Lichtschalter gelangten.

Nach 235 war es völlig offen, wie viel Zeit einem Kaiser bleiben würde, bis er ermordet oder der nächste Bürgerkrieg ganze Provinzen verwüsten würde. Wie anders Rom bereits geworden war, lässt sich an der berühmten Tetrarchengruppe (ca. 300 n. Chr.) in Venedig ablesen. Sie erinnert uns eher an eine Gruppe altnordischer Schachfiguren als an eine klassische Skulptur.

Konstantin der Große (Regierungszeit 306–337), der Rom hinter Konstantinopel auf den zweiten Rang der Städte im Reich verbannte, stellte zwar eine gewisse Ordnung wieder her, doch allein dank germanischer Muskelkraft. Konstantin wurde in Britannien von germanischen Truppen zum Kaiser erhoben, und seine erste Amtshandlung nach der Eroberung Roms im Jahr 312 war es, die legendäre Leibwache der Prätorianer durch die scholae palatinae, seine eigene germanische Reitergarde, abzulösen. Die beiden letzten großen heidnischen Denker griechisch-römischer Provenienz, Libanius und Zosimus, beschuldigten Konstantin, die römische Zivilisation mit einer Armee germanischer Barbaren bezwungen zu haben. Konstantin war Roms erster christlicher Kaiser, sodass die militärisch-politische Verbindung zwischen germanischen Warlords und römischem Christentum schon in dieser Zeit hergestellt wurde.

Die Tetrarchengruppe

Doch noch massivere Veränderungen zeichneten sich ab, die sich, wie die meisten wirklich großen Ereignisse der Weltgeschichte, aufgrund einer epochalen Bevölkerungsverschiebung Bahn brachen.

DIE WANDERNDEN GERMANENSTÄMME

Es scheint, als hätte mit Beginn des 4. Jahrhunderts eine unwiderstehliche Macht germanische Kriegerverbände dazu veranlasst, ihre Siedlungen zu verlassen und sich auf Völkerwanderung zu begeben.