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Ruth Kinet

Tempo, Tachles, Telefon
Leben in Israel

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Ruth Kinet

Tempo, Tachles, Telefon

Leben in Israel

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Der vorliegende Text ist dem Titel »Israel – Ein Länderporträt« entnommen. Das vollständige E-Book erhalten Sie in allen gängigen Shops und selbstverständlich ist auch das gedruckte Buch über den Buchhandel zu beziehen.

1. Auflage als E-Book, Mai 2018

eISBN 978-3-86284-424-1

Inhalt

Vorwort

Lebensrhythmus

Erster bis fünfter Tag: Tempo, Tachles und Telefon

Sechster Tag: Betriebsamkeit und Müßiggang

Schabbat: Ruhen und ruhen lassen

Anhang

Glossar

Literatur

Basisdaten

Übersichtskarte Israel

Danke!

Über die Autorin

Vorwort

»Hier brauchst du Ellbogen«, belehrte mich meine Hebräischlehrerin Rachel im Tel Aviver Ulpan Gordon, der populärsten Sprachschule der Stadt, kurz nachdem ich in Israel angekommen war. Im Laufe meiner Jahre in Tel Aviv wurde mir bewusst, dass ich die Ellbogen nicht erst entwickeln musste, sondern dass sie zu meiner Grundausstattung gehörten. Ich entdeckte überrascht einen Körperteil, der schon seit meiner Geburt Teil meiner selbst war, über dessen Einsatzmöglichkeiten mich allerdings zuvor niemand aufgeklärt hatte. Jetzt kann ich sagen, dass ich mich nach dieser Entdeckung in gewisser Weise vollständiger fühle.

Denn eines lernte ich in Tel Aviv schnell: Israelis verstoßen mit größter Natürlichkeit gegen das in Europa gängige comme il faut. An diesem Nonkonformismus kann man Israelis an vielen Orten auf der Welt schnell erkennen. Mir scheint es mitunter, als kosteten Israelis ihre Unangepasstheit in vollen Zügen aus. Aber das ist möglicherweise eine Projektion meiner eigenen verkappten Sehnsucht nach Nonkonformismus. Meiner Sehnsucht danach, einfach mal ganz unverstellt unverschämt zu sein. Vermutlich genießen Israelis ihn gar nicht, diesen Aspekt ihres Nonkonformismus. Sie atmen tief ein und Chuzpe aus. Ganz ohne Anstrengung. Vollkommen natürlich. Den Zwang, den mitteleuropäischen Umgangsformen entsprechen zu müssen, den kennen sie nicht.

Die Chuzpe hinterlässt nach ersten oberflächlichen Begegnungen mit Israelis einen unauslöschlichen Eindruck. Meist ist es eine Mischung aus Schock und Staunen, die bleibt. Das hebräische Wort chuzpa kann am treffendsten mit Dreistigkeit übersetzt werden.

Israelis fühlen sich auch ganz und gar frei, anspruchsvoll zu sein. Zum Beispiel im Café, wenn sie der Bedienung ihre persönlichen Vorlieben anvertrauen: »Ich möchte einen Milchkaffee im Glas, bloß nicht in der Tasse. Der Kaffee muss kurz und stark sein mit einem bisschen Milchschaum obendrauf. Daneben will ich noch ein extra Glas mit warmer Milch. Ungeschäumt. Und einen langen Löffel dazu.«

Kundzutun, was man will und was nicht, wird nicht als Egoismus moralisch gebrandmarkt und als kapriziös verurteilt. Die Bestellung einer Tasse Kaffee darf deshalb gerne eine Minute in Anspruch nehmen. Tel Aviver Kellner irritiert das nicht. Die Obsessionen ihrer Gäste sind ihr Geschäft.

So schmeckt sie, die Freiheit, Israeli zu sein. Israelis sind frei vom Zwang zu einer Höflichkeit und Rücksichtnahme, die im raffiniert zivilisierten Westeuropa in der erstbesten Miniaturkrise, in der Warteschlange vor einem Münchner Lufthansa-Schalter beim Fluglotsen-Streik zum Beispiel, zerbröseln kann und plötzlich den Blick auf das in Wahrheit geltende Jeder-gegen-Jeden freilegt.

In Israel ist es umgekehrt: Im alltäglichen Spiel der Kräfte gilt das Recht des Stärkeren. Autos schneiden Fahrradfahrern und Kinderwagen beim Rechtsabbiegen mit größter Selbstverständlichkeit den Weg ab. Aber wenn einer von einem solchen Auto fast niedergemäht wird, sind von allen Seiten Hände da, die den Geschockten auffangen, ihm frisches Wasser reichen, Menschen, die beruhigende und tröstende Worte zusprechen, die fragen, ob sie einen Krankenwagen rufen oder den Verstörten nach Hause begleiten sollen.

Im Oktober 2012 traf ich den 36-jährigen Schriftsteller Nir Baram in Tel Aviv zu einem Interview für dieses Buch und fragte ihn zum Schluss unseres Gesprächs, welches Missverständnis ihm bei seinen Reisen ins Ausland am häufigsten begegnet sei und den Blick auf Israel am nachhaltigsten verstelle. Nach längerem Nachdenken sagte Nir Baram: »Alle denken immer, dass wir uns hier nur mit einem Thema beschäftigen: dem Konflikt mit den Palästinensern. Solange die Menschen nicht selbst in Israel waren, verstehen sie nicht, wie normal das Leben hier an der Oberfläche ist. Mein neues Buch Gute Leute spielt im Deutschland des Nationalsozialismus und im stalinistischen Russland. Ich werde oft gefragt: Warum hast du dieses Buch geschrieben und nicht ein Buch über Israel? Die Leute denken, Palästinenser und Juden leben hier in einer Wüste und jagen sich in einem fort gegenseitig. Sie denken, wir leben in einem permanenten Bürgerkrieg, wachen morgens auf und denken als Erstes an die Besatzung. Das ist so falsch. Vermutlich unterschätzen die Menschen, die nicht in Israel leben, den Grad an Verdrängung, den es hier gibt.«