Im Mai schreibt Hanna an ihre Schwägerin eine Mail nach Dublin: Komm, dein Bruder wird verrückt! Zwei Tage später landet Jetti in Wien. Robert Lenobel ist verschwunden. Gegen Jettis Rat gibt Hanna eine Vermisstenanzeige auf. Jetzt aber bekommt Jetti eine Nachricht: „Ich bitte dich noch einmal, dass Du mit niemandem darüber sprichst!!! Ich will es so. Ich bin in Israel, dem Land der Väter. Aber an die Väter denke ich nicht.“ Klarer jedoch wird dadurch nichts, und anstatt sich weiter mit Hanna zu streiten fährt Jetti zunächst einmal zurück nach Dublin – zu ihren zwei Männern.
Michael Köhlmeiers packender, zugleich tragischer und komischer Roman ist das Epos einer Familie und das Porträt einer Epoche. In den skurrilen, verschlungenen Lebensläufen der Geschwister Jetti und Robert, seiner Frau ihrer Kinder und Freunde, erzählt Köhlmeier, wie nur er es versteht, von dem, was jeder sein Leben lang mit sich trägt.
Hanser E-Book
MICHAEL KÖHLMEIER
BRUDER UND SCHWESTER LENOBEL
Roman
Carl Hanser Verlag
für die Familie
ERSTES KAPITEL
Es war einmal ein König, der fing einen Floh und sperrte ihn in eine Flasche und fütterte ihn mit Krumen und Tropfen. Der Floh wuchs und wurde groß wie ein Frosch, und der König steckte ihn in ein Fass. Nun nährte er ihn mit rohem Fleisch, das er von der Tafel abzweigte, und mit Bier. So vergingen die Jahre. Der Floh wuchs weiter, und der König ließ einen Käfig bauen so groß wie ein Haus, dort hielt er ihn, um ihn zu betrachten, und niemand im Reich wusste davon, nicht die Königin und nicht die Königstochter und keiner der Minister, und es war dem König eine Freude, den Floh ganz allein zu besitzen. Schließlich aber schlachtete er den Floh und zog ihm das Fell ab und stopfte es mit Reisig aus und hängte es neben das Tor zur Stadt.
Dann verkündete er: »Wer mir sagen kann, was dieses Fell für eines ist, der kriegt die Prinzessin zur Frau und das halbe Reich dazu, denn ich bin müde.«
Kam einer und drehte das Fell und prüfte es: »Wenn es ein wenig anders röche, würde ich sagen, es ist das Fell eines Büffels, aber ein Büffelfell riecht nicht so, also kann es nicht das Fell eines Büffels sein.«
»Ich will von meinen Untertanen nicht wissen, was für ein Fell es nicht sein kann. Ich will wissen, was für ein Fell es ist!«, sagte der König, und er ließ ihm den Kopf abschlagen. Nun wussten alle anderen, was ihnen blühte.
Und doch kam ein zweiter, und auch er drehte das Fell und wendete es, und auch er roch daran und schnüffelte und wog es in seinen Händen, und er sagte: »Wenn es nur ein bisschen größer und ein bisschen schwerer wäre, dann würde ich wohl sagen, ja, es ist ein Kalbsfell. Und wenn es nur ein bisschen kleiner und ein bisschen leichter wäre, würde ich wohl sagen, ja, es ist ein Hundsfell.«
»Ich will von meinen Untertanen nicht wissen, was einer sagen würde, sondern was er sagt«, sagte der König und ließ auch diesem den Kopf abschlagen.
Dann kam gar ein dritter, der drehte das Fell und schaute es genau an und roch daran und rieb es zwischen seinen Fingern und wog es in seinen Händen und wendete es und kratzte daran und wischte darüber, und schließlich sagte er: »Ich sag nichts, ich schau nur, ich sag nichts, ich riech nur, ich sag nichts, ich greif nur, ich will nur wissen, wie es sich anfühlt, aber sagen tu ich nichts.«
Ihm erst recht ließ der König den Kopf abschlagen, denn er wollte, dass seine Untertanen sagten, was es für ein Fell ist, und nicht, dass sie sagten, dass sie nichts sagen.
Zuletzt stieg ein Teufelsding aus dem Meer heraus, so dass Schaum und Wogen weit umherwirbelten, das verkleidete sich als ein Mensch, und er drehte das Fell nicht und roch nicht daran und prüfte es nicht zwischen Zeigefinger und Daumen, er kratzte nicht daran und wischte nicht drüber. Er stellte sich hin und holte aus und zeigte auf das Fell und sagte:
»Es ist das Fell eines Flohs.«
Nun war es aber so, dass die Menschenhaut, die sich das Teufelsding übergezogen hatte, an manchen Stellen spannte und an anderen Stellen nicht gut deckte, so dass darunter Stücke vom Teufel und seinem Fleisch zu sehen waren, und das sah aus, als hätte es der Hässlichkeit den Namen gegeben. Und als das Teufelsding ausgeholt hatte, um auf das Fell des Flohs zu zeigen, war die Menschenhaut auf der Seite aufgerissen, und darunter war nun alles Elend zu sehen, das ein Mensch unter der Haut mit sich herumträgt.
Den König packte die Angst, und er befahl seiner Tochter: »Schnell, wasch dir die Hände, dann kann er dir nichts anhaben!«, und sie tat es, und dem Teufel sagte er:
»Die Prinzessin bekommst du nicht, nein, die bekommst du nicht, die bekommst du nicht!«
Da schwoll die Teufelsfratze unter der Menschenhaut, und das Menschengesicht platzte auf, und der Teufel, wie er war, rot und lodernd, rief:
»Ich fluche euch! Ihr werdet hinfort eurer eigenen Haut nicht mehr trauen!«
Er schüttelte den Menschen ganz von sich ab und zertrat das Stöhnen und das Jammern mit seinem Huf. Er zog sich die Haut des Flohs über, denn der Teufel hat keine eigene Haut, und wenn er aus der Hölle ist, muss er sich eine andere nehmen, und lief schreiend davon und tauchte unter ins Meer, woher er gekommen war.