Dieses preisgekrönte Debüt erforscht, was es heißt, am Leben zu sein. Dass Dinge einfach passieren, kann Suzy nicht akzeptieren. Sie macht sich über vieles Gedanken: den Schlafrhythmus von Schnecken, die jährliche Zahl der Quallenstiche oder wie alt man ist, wenn das Herz 412 Millionen Mal geschlagen hat — gerade mal 12 Jahre. In dem Alter ist Suzys Freundin Franny im Sommer ertrunken, obwohl sie eine gute Schwimmerin war. Suzy muss herausfinden, wie das geschehen konnte. Es ist ein weiter, erkenntnisreicher Weg in einer Welt voller Wunder, bis sie begreift, dass der einzige Trost manchmal ist, Dinge anzunehmen, die man nicht ändern kann. Eine ergreifende Geschichte der Selbstfindung und ein großer Blick auf unsere Existenz.
Ali Benjamin wuchs vor den Toren von New York City auf, in einem schäbigen alten Haus, das in der Nachbarschaft als Spukhaus galt. Als Kind verbrachte sie unzählige Stunden damit, Käfer und Frösche zu fangen. Die Wahrheit über Dinge, die einfach passieren entstand aus ihrer Faszination für die Natur. Bevor der Jugendroman ein weltweiter Bestseller wurde, schrieb Benjamin als erfolgreiche Co-Autorin für Kollegen, außerdem als Redakteurin für Zeitschriften, Zeitungen und Online-Medien. Ihr Jugendbuch-Debüt wurde für den National Book Award nominiert und wird aktuell von Reese Witherspoons Produktionsfirma verfilmt. Benjamin lebt mit ihrem Mann, zwei Kindern und einer australischen Schäferhündin namens Mollie im ländlichen Massachusetts.
Petra Koob-Pawis, 1961 geboren, studierte Anglistik und Germanistik. Seit 1987 arbeitet sie freiberuflich als Lektorin und Übersetzerin. Sie lebt in der Nähe von München.
Violeta Topalova, 1975 geboren, studierte Amerikanistik und Komparatistik, und lebt in Tübingen. Sie ist freie Übersetzerin aus dem Englischen und Bulgarischen.
Ali Benjamin
Die Wahrheit über Dinge, die einfach passieren
Aus dem Englischen von Petra Koob-Pawis und Violeta Topalova
Carl Hanser Verlag
Für alle Neugierigen überall
Wenn man eine Qualle lange genug betrachtet, beginnt sie irgendwann wie ein schlagendes Herz auszusehen. Es spielt keine Rolle, um welche Qualle es sich dabei handelt: die blutrote Kronenqualle Atolla, die Qualle aus der Familie Olindiidae, die an eine perlenbestickte Blume erinnert, oder die fast durchsichtige Ohrenqualle, Aurelia aurita. Es ist die Art, wie sie pulsieren, wie sie sich blitzschnell zusammenziehen und wieder ausstrecken. Sie sind wie ein Geisterherz — ein Herz, durch das man hindurchsehen kann, in eine Welt, in der sich all das verbirgt, was man jemals verloren hat.
Natürlich haben Quallen gar kein Herz — kein Herz, kein Gehirn, keine Knochen, kein Blut. Aber wenn du sie eine Weile beobachtest, wirst du sie pulsieren sehen.
Mrs Turton sagt, dass das Herz eines Achtzigjährigen drei Milliarden Mal geschlagen hat. Ich habe darüber nachgedacht und mir vorzustellen versucht, was diese unglaublich große Zahl bedeutet. Drei Milliarden. Geht man drei Milliarden Stunden in der Erdgeschichte zurück, existiert der moderne Mensch noch gar nicht. Bloß haarige und grunzende Höhlenmenschen. Blickt man drei Milliarden Jahre zurück, gibt es kaum Leben auf der Erde. Und dennoch ist da dieses Herz, das achtzig Jahre lang unermüdlich seine Aufgabe erfüllt, Schlag für Schlag, drei Milliarden Mal.
Vorausgesetzt, man lebt so lange.
Dein Herz schlägt, wenn du schläfst, fernsiehst oder am Strand stehst und die Zehen in den Sand bohrst. Während du am Ufer stehst, blickst du vielleicht auf glitzernde weiße Lichtpunkte auf dem dunklen Ozean und überlegst, ob du es in Kauf nimmst, noch einmal nasse Haare zu bekommen. Vielleicht stellst du fest, dass die Träger deines Badeanzugs ein bisschen zu eng sind und in deine sonnenverbrannte Schulter schneiden, oder dass die grelle Sonne dich blendet.
Dann blinzelst du ein wenig. In diesem Moment bist du so lebendig wie jeder andere Mensch auf der Welt.
Währenddessen schwappen die Wellen im Sekundentakt über deine Zehen, eine nach der anderen (fast wie ein Herzschlag — vielleicht fällt es dir auf, vielleicht auch nicht), und die elastischen Träger des Badeanzugs schneiden in deine Haut. Möglicherweise fällt dir vor allem auf, wie kalt das Wasser ist oder wie die Wellen im nassen Sand unter deinen Füßen kleine Mulden hinterlassen. Deine Mom ist in der Nähe, sie macht ein Foto, und du weißt, dass du dich zu ihr umdrehen und lächeln solltest.
Aber du tust es nicht. Du drehst dich nicht um, du lächelst nicht, sondern blickst weiter hinaus aufs Meer. Keiner von euch beiden weiß, wie bedeutsam dieser Augenblick ist oder was geschehen wird (wie solltet ihr auch?).
Und die ganze Zeit über schlägt dein Herz. Es tut, was es tun muss, es vollbringt einen Schlag nach dem anderen, bis sein Auftrag erledigt ist und es innehält. Das mag bereits in ein paar Minuten der Fall sein, und du weißt es noch nicht einmal.
Denn manche Herzen schlagen nur ungefähr 412 Millionen Mal.
Das hört sich viel an. Aber tatsächlich reicht es nur gerade so aus, um zwölf Jahre alt zu werden.
Ob man einen Laborbericht für die Schule verfasst oder eine echte wissenschaftliche Untersuchung durchführt, spielt keine Rolle. Beginne mit einer Einleitung, in der du deine Zielsetzung darlegst. Was wollen wir mit dieser Untersuchung herausfinden? Inwiefern ist sie für uns Menschen von Interesse?
Mrs Turton, Biologielehrerin der 7. Klasse | Eugene Field Memorial Middle School | South Grove, Massachusetts
In den ersten drei Wochen der siebten Klasse habe ich vor allem eines gelernt: Ein Mensch kann unsichtbar werden, indem er einfach schweigt.
Ich hatte immer angenommen, dass jemand wahrgenommen wird, weil die Menschen ihn mit ihren Augen sehen. Aber als wir mit der Schule unseren Herbstausflug ins Aquarium machten, war ich, Suzy M. Swanson, völlig unsichtbar. Gesehen zu werden hat nämlich mehr mit den Ohren als mit den Augen zu tun.
Wir standen am Berührungsbecken und hörten einem bärtigen Mitarbeiter des Aquariums zu, der in ein Mikrofon sprach. »Streckt eure Hände flach aus.« Wenn wir die Hände ganz still im Wasser hielten, erklärte er uns, würden kleine Haie und Rochen sich an unseren Handflächen reiben wie freundliche Hauskatzen. »Sie werden zu euch kommen, aber ihr müsst eure Hand flach halten und dürft nicht herumzappeln.«
Ich hätte gerne einen Hai berührt. Aber es war zu voll am Beckenrand und viel zu laut, deshalb hielt ich mich im Hintergrund und schaute nur zu.
Zur Vorbereitung auf diesen Ausflug hatten wir im Kunstunterricht T-Shirts gebatikt. In grellem Orange und Blau. Jetzt trugen wir die Shirts wie psychedelische Uniformen. Ich nehme an, das Ganze diente in erster Linie dazu, dass man uns in der Menge gut erkennen konnte, falls jemand aus der Klasse verloren ginge. Einige der hübschen Mädchen — Aubrey LaValley, Molly Sampson und Jenna Van Hoose — hatten ihre T-Shirts mit einem Knoten über die Hüfte hochgebunden. Meines hing über der Jeans wie ein alter Künstlerkittel.
Es war genau ein Monat vergangen, seit das Allerschlimmste passiert war, und etwa genauso lange war es her, dass ich mit dem Nichtsprechen angefangen hatte.
Nichtsprechen ist nicht gleichbedeutend mit Nichtredenwollen, wie die meisten Leute meinen. Nichtsprechen ist der Entschluss, die Welt nicht mit Wörtern zu füllen, wenn es nicht unbedingt nötig ist. Nichtsprechen ist das Gegenteil von Dauersprechen, was ich zuvor immer gemacht hatte, und es ist eindeutig besser als Small Talk, was alle von mir erwarteten.
Hätte ich mich dazu überwinden können, Small Talk zu machen, wären meine Eltern gar nicht erst auf die Idee gekommen, mich zu einer Frau Doktor, mit der du über alles reden kannst, zu schicken. Aber genau dorthin würde ich heute Nachmittag nach unserem Ausflug gehen. Dabei war es total sinnlos. Mal ehrlich, wenn jemand nicht reden will und wenn es tatsächlich nur darum und um nichts anderes geht, dann ist die Frau Doktor, mit der du über alles reden kannst, so ziemlich die Letzte, die weiterhelfen kann.
Natürlich wusste ich genau, warum sie mich zu dieser Frau Doktor, mit der du über alles reden kannst, schleppten. Meine Eltern dachten, ich hätte Probleme mit meinem Kopf, und damit meine ich nicht Probleme, die man hat, wenn einem das Rechnen oder Lesen schwerfällt. Nein, sie dachten, ich hätte psychische Probleme, und zwar von der Art, die Franny mit plemplem umschrieben hätte. Wenn jemand plemplem ist, dann ist er »nicht recht bei Verstand«.
Ich war also nicht recht bei Verstand.
»Die Hände flach halten«, sagte der Aquariumsmitarbeiter zu niemand Bestimmtem. Das hätte er sich sparen können, es hörte ihm ohnehin keiner zu. »Diese Tiere können die Herzschläge aller in diesem Raum spüren. Ihr braucht also nicht mit den Fingern herumzufuchteln.«
Justin Maloney, der beim Lesen immer noch die Lippen bewegt, versuchte, die Schwanzflossen eines Rochens zu packen. Seine Hose war so weit, dass jedes Mal, wenn er sich über das Wasser beugte, mehrere Zentimeter seiner Unterhose zum Vorschein kamen. Außerdem hatte er sein T-Shirt verkehrt herum an. Wieder schwamm ein Rochen vorbei, aber Justin griff so ungeschickt nach ihm, dass er Sarah Johnston, die neben ihm stand, mit Wasser vollspritzte. Sarah wischte sich das Salzwasser von der Stirn und rückte ein paar Schritte von Justin ab.
Sarah ist neu in der Klasse. Sie ist sehr still, und das gefällt mir. Am ersten Schultag hat sie mich sogar angelächelt. Aber dann kam Molly und sprach sie an. Kurz darauf sah ich, wie Sarah bei den Spinden stand und in eine Unterhaltung mit Aubrey vertieft war, und jetzt war ihr T-Shirt genauso geknotet wie das der anderen Mädchen.
Ich strich eine Strähne aus meinen Augen und klemmte sie hinters Ohr — Miss Wuschel mit der wilden Mähne —, aber die Haare fielen mir sofort wieder ins Gesicht.
Dylan Parker schlich von hinten an Aubrey heran. Er packte sie an der Schulter und schüttelte sie. »Hai!«, schrie er.
Die anderen Jungs brüllten los. Aubrey kreischte, und ihre Freundinnen kreischten mit, aber dann kicherten sie, wie Mädchen manchmal kichern, wenn Jungs in der Nähe sind.
Natürlich musste ich sofort an Franny denken. Wenn sie hier gewesen wäre, hätte sie mitgekichert.
Wieder hatte ich dieses mulmige Gefühl. Wie immer, wenn ich an Franny dachte.
Ich kniff die Augen zusammen. Einen Moment lang war die Dunkelheit eine echte Erleichterung. Aber dann geisterte ein Bild durch meinen Kopf, und es war kein gutes. Ich stellte mir vor, wie das Wasserbassin platzte und die Rochen und Haie sich über den Boden ergossen. Und dann fragte ich mich, wie lange es wohl dauern würde, ehe die Tiere an der Luft erstickten.
Die Welt würde ihnen kalt, schrill und grell vorkommen, und irgendwann würden sie für immer aufhören zu atmen.
Ich schlug die Augen auf.
Manchmal wünscht man sich so sehr, dass sich die Dinge ändern. Ganz besonders, wenn die Dinge so sind, dass man es gar nicht im selben Raum mit ihnen aushält.
In der Ecke zeigte ein Pfeil, auf dem QUALLEN stand, den Weg nach unten zu einem weiteren Ausstellungsraum. Ich ging zur Treppe und blickte zurück, um zu sehen, ob mich irgendjemand bemerkte. Dylan schnipste Wasser auf Aubrey, die schon wieder kreischte. Schimpfend machte sich eine unserer Begleitpersonen auf den Weg zu ihnen.
Trotz meines Batikshirts und meiner wilden Wuschelmähne achtete niemand auf mich.
Ich ging die Stufen hinunter zu den Quallen.
Niemand bemerkte es. Absolut niemand.
Du warst bereits zwei Tage tot, ehe ich es erfuhr.
Es war an einem Nachmittag im späten August, am Ende eines langen, einsamen Sommers nach der sechsten Klasse. Meine Mom rief mich ins Haus. Ich musste sie nur ansehen und wusste sofort, dass etwas nicht in Ordnung war — auf eine ganz schlimme Weise nicht in Ordnung war. Da bekam ich es mit der Angst zu tun. Ich fürchtete, Dad könnte etwas zugestoßen sein. Seit der Scheidung war ich mir nicht mehr sicher, ob es Mom etwas ausmachen würde, wenn ihm etwas passierte. Dann dachte ich an meinen Bruder. Was, wenn es um ihn ging?
»Su …«, fing Mom an.
Ich hörte das Summen des Kühlschranks und das Tropf, tropf der Dusche und das Ticken der alten Kaminuhr, die immer die falsche Zeit anzeigte, es sei denn, ich zog sie auf.
Lange Sonnenstrahlen drangen durchs Fenster herein wie Geister, die durch Wände gehen. Sie legten sich auf den Teppich und hielten still.
Moms Stimme klang monoton. Ihre Worte kamen in normaler Geschwindigkeit aus ihrem Mund, trotzdem schien sich alles zu verlangsamen. Als wäre die Zeit viel zu schwer, um zu verrinnen. Vielleicht gab es auch gar keine Zeit mehr.
»Franny Jackson ist ertrunken.«
Vier Wörter. Es dauerte nur Sekunden, sie auszusprechen, aber sie hallten eine halbe Stunde lang nach.
Mein erster Gedanke war: Merkwürdig. Warum nennt sie Franny beim Nachnamen? Ich konnte mich nicht erinnern, dass Mom je zuvor deinen Nachnamen benutzt hätte. Du warst für sie immer nur Franny.
Dann sickerte der Rest des Satzes in mein Gehirn.
Ertrunken.
Sie sagte, du seist ertrunken.
»Es ist im Urlaub passiert«, fuhr Mom fort. Sie saß vollkommen regungslos da. Ihre Schultern waren ganz steif. »Am Strand.« Und dann fügte sie noch hinzu, als würde dieser Zusatz dem, was sie mir zu sagen hatte, einen Sinn verleihen: »In Maryland.«
Aber ihre Worte ergaben natürlich nicht den geringsten Sinn.
Dafür gab es eine Million Gründe. Ihre Worte ergaben keinen Sinn, weil ich dich erst kurz zuvor gesehen hatte und du quietschlebendig gewesen warst. Sie ergaben keinen Sinn, weil du schon immer eine ausgezeichnete Schwimmerin gewesen warst, viel besser, als ich es jemals hätte sein können.
Sie ergaben keinen Sinn, weil die Sache zwischen uns ein falsches Ende genommen hatte. So darf nichts enden, niemals.
Und doch stand meine Mom vor mir und sagte diese Worte. Wenn sie tatsächlich die Wahrheit sprach, wenn es stimmte, was sie sagte, dann war der Augenblick, als ich dich zuletzt gesehen hatte — als du weinend den Schulkorridor entlanggegangen bist, die Tasche mit den nassen Kleidern in der Hand —, zugleich auch meine allerletzte Erinnerung an dich. Für immer.
Ich starrte meine Mutter an. »Nein, das ist sie nicht.«
Das bist du nicht. Das ist völlig unmöglich. Ich weiß es genau.
Mom öffnete den Mund, um etwas zu sagen, dann schloss sie ihn wieder. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
»Das ist sie nicht«, wiederholte ich, diesmal etwas lauter.
»Es ist am Dienstag passiert«, sagte Mom. Sie sprach jetzt leiser als zuvor, so als hätte meine lauter werdende Stimme ihrer Stimme die Kraft entzogen. »Am Dienstag. Es tut mir so leid. Ich habe es selbst gerade erst erfahren.«
Dienstag. Heute war Donnerstag.
Zwei ganze Tage waren seither vergangen.
Immer wenn ich an diese beiden Tage denke — an den Zeitraum zwischen deinem Ende und dem Moment, an dem ich davon erfuhr —, denke ich über die Sterne nach. Wusstest du, dass das Licht des Sterns mit der kürzesten Entfernung zur Erde uns mit vier Jahren Verzögerung erreicht? Wenn wir ihn oder irgendeinen anderen Stern anschauen, sehen wir sie also so, wie sie in der Vergangenheit ausgesehen haben. Die vielen funkelnden Lichter, alle Sterne des Himmels, sind vielleicht längst erloschen. Der ganze Nachthimmel könnte vollkommen leer sein, und wir wissen es nur noch nicht.
»Sie konnte schwimmen«, sagte ich. »Sie war eine gute Schwimmerin, das weißt du doch.«
Als keine Antwort kam, versuchte ich es erneut. »Das weißt du doch, oder? Mom?«
Meine Mutter schloss die Augen und stützte die Stirn in ihre Hände.
»Das ist unmöglich«, wiederholte ich. Wieso begriff sie nicht, wie vollkommen unmöglich das war?
Mom blickte hoch und sprach betont langsam, als wollte sie sichergehen, dass ich jedes Wort verstand. »Auch gute Schwimmer können ertrinken, Su.«
»Aber das ergibt keinen Sinn. Wie konnte sie —?«
»Nicht alles ergibt einen Sinn, Su. Manchmal passieren Dinge einfach.« Sie schüttelte den Kopf und atmete tief durch. »Du kannst es nicht fassen. Ich fasse es ja selbst nicht.« Dann schloss sie die Augen für ein paar endlose Sekunden.
Als Mom sie wieder öffnete, verzerrte sich ihr Gesicht. Tränen rannen über ihre Wangen. »Es tut mir so leid«, sagte sie. »Es tut mir so schrecklich leid.«
Sie sah grotesk aus, ihr Gesicht war richtig zerknittert. Ich hasste es, sie so zu sehen, und drehte mich weg. Die sinnlosen Worte schwirrten immer noch in meinem Kopf herum.
Du bist ertrunken.
Beim Schwimmen in Maryland.
Vor zwei Tagen.
Nein, es ergab keinen Sinn. Nicht damals. Nicht später am Abend, als die Erde sich den Sternen entgegenstreckte, und auch nicht am nächsten Morgen, als sie sich wieder zum Sonnenlicht drehte.
Es ergab keinen Sinn, dass es der Welt überhaupt noch möglich war, sich jemals wieder dem Sonnenlicht zuzuwenden.
Bisher hatte ich immer gedacht, unsere Geschichte sei unsere Geschichte und nichts anderes. Und nun stellte sich heraus, dass du eine eigene Geschichte hast und ich ebenso. Unsere beiden Geschichten haben sich eine Weile überlappt, lange genug, dass man sie für ein und dieselbe Geschichte halten konnte. Aber das stimmte nicht.
Da begriff ich: Jeder hat seine eigene Geschichte, immerzu, und keine zwei Geschichten sind gleich. Man ist nie wirklich beieinander.
Es hat eine Zeit gegeben, als Mom schon wusste, was dir zugestoßen war. Eine Zeit, in der diese Nachricht sie bereits mit voller Wucht getroffen hatte, während ich noch durchs Gras rannte wie an einem x-beliebigen Tag. Und es hat eine Zeit gegeben, in der jemand es bereits wusste, meine Mutter aber noch nicht. Und eine Zeit, in der deine Mutter es wusste, aber sonst so gut wie niemand.
Das heißt, es hat eine Zeit gegeben, in der du schon nicht mehr bei uns warst und niemand auf der Welt wusste davon. Nur du ganz allein. Du bist im Wasser verschwunden, und keiner hat es bemerkt.
Was für ein unglaublich einsamer Moment muss das gewesen sein.
Manchmal passieren Dinge einfach, hatte Mom gesagt. Es war eine schreckliche Antwort, die schlimmste überhaupt.
Mrs Turton sagt: Wenn etwas geschieht, das niemand erklären kann, dann sei man an die Grenzen menschlicher Erkenntnis angelangt. Das sei der Moment, in dem man die Wissenschaft brauche. Wissenschaft sei die Suche nach Erklärungen, die einem niemand sonst geben könne.
Ich wette, du hast nicht einmal mehr Mrs Turton kennengelernt.
Manchmal passieren Dinge einfach. Dieser Satz liefert keine Erklärung, und er ist kein bisschen wissenschaftlich. Aber über Wochen hinweg hatte ich nichts anderes.
Bis ich in diesem Untergeschoss stand und die Quallen hinter der Glasscheibe sah.
Der Ausstellungsraum im Keller unter dem Berührungsbecken, wo meine Klassenkameraden sich immer noch gegenseitig mit Wasser bespritzten, war fast menschenleer. Die Stille tat gut.
An den Wänden waren Aquarien aufgestellt, in denen Quallen schwammen. Einige hatten hauchzarte Tentakel, dünner noch als Haare. Bestimmt wurde das Wasser speziell ausgeleuchtet, denn die Tiere wechselten immer wieder die Farbe. Ich entdeckte Quallen mit langen Tentakeln, die herumwirbelten wie die Haarsträhnen eines Mädchens unter Wasser. In einem Bassin schwammen Quallen, deren Tentakel dick und gerade waren und wie die Gitterstäbe eines selbst geschaffenen Gefängnisses aussahen. Es gab sogar ein Becken mit kleinen Quallen-Babys. Wie zarte weiße Blumen sahen sie aus.
Wie seltsam diese Geschöpfe waren. Sie erinnerten mich an Aliens, zumindest ein bisschen. Anmutige Aliens. Stumme Aliens. Alien-Ballerinas, die keine Musik brauchten, um zu tanzen.
Auf einer Schautafel an der Wand stand: EIN UNSICHTBARES MYSTERIUM. Ich wusste, was ein Mysterium war: Meine Mutter behauptete immer, ich sei ein Mysterium für sie, besonders wenn ich meine Spiegeleier in Traubengelee tunkte oder absichtlich zwei nicht zueinanderpassende Strümpfe anzog. Mysterium bedeutet so viel wie Geheimnis. Ich mochte Geheimnisse, und deshalb ging ich zu dem Schild. Darauf war ein Foto abgebildet, auf dem zwei Finger zu sehen waren, die ein Röhrchen hielten. In dem kleinen Gefäß schwamm eine fast durchsichtige Qualle, kaum größer als ein Fingernagel.
Der Begleittext informierte darüber, dass es sich um die sogenannte Irukandji-Qualle handelte, deren Gift zu den gefährlichsten der Welt gehört. Angeblich ist es tausendmal stärker als das der Tarantel.
Der Stich einer Irukandji führt zu heftigen Kopf- und Gliederschmerzen, Brechreiz, Schweißausbrüchen, Angstgefühlen, bedrohlich erhöhtem Herzschlag, Hirn- und Lungenblutungen. Einige Patienten sprachen nach dem Stich von schrecklicher Todesangst, einige waren so überzeugt davon, sterben zu müssen, dass sie ihre Ärzte baten, sie von ihren Qualen zu erlösen, damit sie es »endlich hinter sich hätten«.
Das hörte sich ja wirklich furchtbar an. Ich las weiter.
In der Tat ist im Zusammenhang mit dem sogenannten Irukandji-Syndrom eine Zahl von Todesfällen dokumentiert, wobei unklar ist, ob darüber hinaus nicht noch weitere Opfer zu beklagen sind, deren Tod fälschlicherweise auf andere Ursachen zurückgeführt wurde. Wissenschaftler forschen derzeit an dem Gift und gehen dabei auch der Frage nach, ob der Stich einer Irukandji womöglich noch weit schwerwiegendere Konsequenzen hat als bisher angenommen.
Das größte Vorkommen verzeichnet man an der australischen Küste, aber das Irukandji-Syndrom ist auch weiter nördlich dokumentiert, unter anderem auf den britischen Inseln sowie in Hawaii, Florida und Japan. Aufgrund der Erwärmung der Ozeane gehen viele Wissenschaftler davon aus, dass die Irukandji — wie auch andere Quallenarten — ihre Wanderbewegung über große Entfernungen hinweg fortsetzen wird.
Nachdem ich den Text durchgelesen hatte, las ich ihn ein zweites Mal.
Und ein drittes Mal.
Dann sah ich mir das durchscheinende kleine Tierchen auf dem Foto genauer an. Im Wasser würde diese Qualle kein Mensch entdecken. Sie war praktisch unsichtbar.
Ich wandte mich wieder dem Text zu. Lange starrte ich auf die Worte.
Eine Zahl von Todesfällen dokumentiert …
Wanderbewegung über große Entfernungen hinweg …
Mein Kopf brummte, und mir war etwas schwindlig. Ich hatte das Gefühl, dass auf der Welt nichts mehr existierte — außer mir, diesen Worten und den stummen, pulsierenden Tieren.
Fälschlicherweise auf andere Ursachen zurückgeführt …
Ich starrte und starrte, bis die Worte mir immer unverständlicher erschienen, als wären sie in einer fremden Sprache verfasst.
Erst als ich tief durchatmete, merkte ich, dass ich die Luft angehalten hatte.
Das Geschnatter meiner Klassenkameraden drang zu mir, und ich ging rasch wieder die Treppe hinauf zum Berührungsbecken.
Oben hatte sich jedoch alles verändert. Statt des bärtigen Aquariumsmitarbeiters sprach jetzt eine Frau mit einem blonden Pferdeschwanz in das Mikrofon. Sie sagte das Gleiche wie er: »Hände flach halten, nicht herumzappeln.« Die bunten Batikshirts meiner Klassenkameraden waren nirgendwo zu sehen. Die Schüler, die sich nun um das Becken versammelt hatten, trugen Shorts und karierte Hemden. Es war eine ganz andere Gruppe.
War meine Klasse etwa ohne mich in die Schule zurückgekehrt?
Ich ging in den Hauptraum des Aquariums und sah mich dort um. Ein kurzer Blick, und schon hatte ich die bunten T-Shirts erspäht. Wie eine Gruppe marmorierter, neonfarbiger Fische drängelten sie sich um einen riesigen Salzwassertank.
Sie hatten keine Lust gehabt, die Quallen anzuschauen. Sie wussten nichts über die Irukandji, und sie würden auch keine Fragen darüber stellen.
Da wurde mir klar: Niemand würde Fragen stellen. Niemand außer mir.
Bei unserer allerersten Begegnung trägst du einen blauen Badeanzug. Er ist blau wie ein Sommerhimmel mit glitzernden Pünktchen, die aussehen wie Sterne. Es ist ein Himmel, an dem Tag und Nacht zusammenfallen.
Ich bin fünf Jahre alt und komme bald in den Kindergarten.
Wir sind bei dem großen Becken in der Schwimmhalle. Es ist laut hier, von überallher werden Echos zurückgeworfen. Die Mütter sitzen hinter uns auf den Bänken. Sie haben uns hergebracht, zu der Schwimmgruppe mit dem Namen Guppies, damit wir lernen, das Gesicht unter Wasser zu halten und zu strampeln.
Die Schwimmlehrerin bläst in eine Trillerpfeife und ruft nacheinander unsere Namen auf. Wir sollen uns an einem Schaumstoffbrett festhalten und Wasser treten, während sie uns im seichten Teil des Beckens hin und her zieht. Als sie dich aufruft, machst du keine Anstalten, ins Wasser zu hüpfen, und als ich an der Reihe bin, rühre ich mich ebenfalls nicht vom Fleck.
Im Sonnenlicht hat dein Haar die Farbe von Stroh. Ich mag deine Sommersprossen, sie sehen aus wie Sternenkonstellationen.
Irgendwann sitzen nur noch wir beide am Beckenrand. Die Schwimmlehrerin kommt zu uns. Sie sagt: »Tut mir leid, Mädchen, aber jetzt wird es langsam Zeit. Hüpft bitte zu den anderen rein.«
Ich will schon den Kopf schütteln, da drehst du dich zu mir um und siehst mich an. Deine rosa Lippen öffnen sich. Ein Lächeln. Dann holst du tief Luft und lässt dich ins Wasser gleiten. Die Schwimmlehrerin will dir ein Schwimmbrett geben, aber du nimmst es nicht.
Stattdessen tauchst du unter. Deine Augen, Haare, alles ist unter Wasser. Dann schwimmst du los. Die ganze Strecke bis zu den anderen Kindern, die sich an ihre Bretter klammern. Ohne auch nur einmal aufzutauchen.
Ich folge dir. Ich gleite ins Wasser — nicht weil die Schwimmlehrerin es gesagt hat, sondern weil ich so schwimmen können will wie du. Und weil ich deine Sommersprossen mag, dein strohblondes Haar und dein Lächeln. Und weil Freundschaftschließen in diesem Moment das Einfachste auf der Welt zu sein scheint.
Als ich am Nachmittag nach unserem Schulausflug nach Hause kam, wartete eine Überraschung auf mich. Neben dem Auto meiner Mutter stand der Jeep meines Bruders Aaron. Und neben Aarons Jeep saß Rocco im Schneidersitz in der Auffahrt. Rocco ist Aarons Freund.
Ich hatte fast die gesamte Rückfahrt damit verbracht, über Quallen nachzudenken. Auf einem der Informationsschilder hatte ich gelesen, dass es im Jahr zu etwa 150 Millionen Quallenstichen kommt. Während die anderen auf dem Heimweg nach South Grove herumschrien, Musik hörten, sich über die Sitze hinweg Zettelchen zuwarfen und Lastwagenfahrern zuwinkten, damit sie hupten, stellte ich auf der Rückseite meines Naturkundehefts Berechnungen an.
150 Millionen Stiche pro Jahr, das waren zirka 411.000 Stiche pro Tag beziehungsweise 17.000 Stiche pro Stunde.
Also vier bis fünf Stiche pro Sekunde.
Ich schloss die Augen und zählte bis fünf. Während ich zählte, wurden etwa 23 Menschen von einer Qualle gestochen.
Dann zählte ich noch einmal. Eins, zwei, drei, vier, fünf. Weitere 23 Menschen.
Ich zählte und zählte. Ich zählte so viel, dass das Zählen und Stechen eins wurden. Irgendwie schien ich durch das Zählen die Stiche erst zu verursachen. Natürlich wusste ich, dass das nicht stimmte, trotzdem war ein Teil von mir davon überzeugt. Vielleicht würde niemand mehr gestochen werden, wenn ich nur endlich mit dem Zählen aufhörte.
Aber ich schaffte es nicht. Ein Bereich in meinem Gehirn kämpfte gegen einen anderen an und behielt die Oberhand.
Rocco sah zu mir hoch und zwinkerte. »Hallo du, Suzy Q. Toller Tag, was?«
Ich gab keine Antwort. Rocco rechnete auch gar nicht damit.
Er wedelte mit der Hand und deutete zum Himmel. »Wenn ich ein Vogel wäre, würde ich um die Erde fliegen und die aufeinanderfolgenden Herbste suchen …«
Er sprach mich fast nie direkt an, und das gefiel mir. Es war, als würde ich seine Gedanken hören. Als wären wir beide gleichzeitig hier und irgendwie doch nicht.
»George Eliot«, fügte er hinzu, und ich nickte, als wüsste ich, von wem er sprach. Rocco studiert Englische Literatur an der Universität, an der Aaron die Frauenfußballmannschaft trainiert. Ständig zitierte er irgendjemanden.
Wäre ich noch eine Sprechende gewesen, hätte ich ihm vielleicht gesagt: Zähl bis fünf. Und wenn er dann bis fünf gezählt hätte, hätte ich ihm von den 23 Stichen erzählt.
Danach hätte ich ihn noch einmal zählen lassen. Und ich hätte gesagt: sechsundvierzig Stiche.
Und noch einmal. Neunundsechzig.
Rocco riss mich aus meinen Gedanken. »Aaron und ich sind vorbeigekommen, um dich und deine Mom zu fragen, ob ihr mit uns ins Kino gehen wollt. Aber deine Mom meinte, du hättest einen Arzttermin oder so.«
Die Frau Doktor, mit der ich über alles reden kann. Uff.
Rocco grinste. »Deine Mom hat die Gelegenheit genutzt, um ein paar von ihren ›Schätzen‹ loszuwerden. Sie lädt gerade alles bei Aaron ab.«
Ich musste lächeln, weil er das Wort so betonte: Schätze. Mom liebte es, auf Flohmärkten zu stöbern, sie nannte es »auf Schatzsuche gehen«, obwohl ich bisher nicht herausgefunden habe, wieso ein aussortiertes Fondue-Set oder ein Übertopf, an dem die Farbe abblättert, ein Schatz sein soll. Wenn Mom ein Schnäppchen wittert, kann sie einfach nicht widerstehen. Unser Haus quillt über von Kisten voller Merkwürdigkeiten: Dosen mit verschiedenen Knöpfen (Mom näht nicht), Muffin-Backformen (sie backt nicht) und Stricknadeln, die sie mit Klebeband umwickelt hat (sie strickt auch nicht).