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Gilbert R. Pawel

Der Preis der Freiheit

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Kapitel 1
 
Gefangen

Jonas fand sich in einem sauberen, gemütlichen Haus wieder. An einem reich gedeckten Tisch sah er seine Familie beim Essen und begrüßte seine Eltern, dann seinen großen Bruder Alexander und dessen Freundin Lisa. Der aromatische Duft lud ihn zum Bleiben ein und gemeinsam plauderten sie über den Tag.

Bald schon erhob Jonas sich aus dem liebevollen Kreis und verschwand in seinem geräumigen Zimmer. Auf dem Bett erblickte er jemanden, einen wunderschönen, nackten, jungen Mann. Jonas streichelte über die seidige Haut, bis die schlafende Gestalt sich stöhnend regte.

„Oh, Jonas! Da bist du ja endlich, Jonas! Ich habe dich so sehr vermisst, Jonas!“

Er legte sich neben die Schönheit und tauschte einen intensiven Kuss.

„Oh, Jonas! Du bist so wundervoll, Jonas! So perfekt, Jonas! Ich kann gar nicht genug von dir kriegen, Jonas! Ich ...“

„Jojo?“, hallte es plötzlich durch seine Gedanken.

Jonas verdrängte die vertraute Stimme und steigerte sich in den Anblick hinein.

„Oh, Jonas!“, stöhnte der Mann unter der Berührung. „Ich liebe dich so sehr, Jonas! Ich kann keinen Augenblick lang ohne dich sein, Jonas! Ich will ...“

„Hey, Jojo!“, erklang es erneut und jemand rüttelte ihn an der Schulter. „Hör auf zu träumen!“

Widerwillig öffnete er die Augen. Im zerbrochenen Spiegel eines Schrankes sah er sich selbst auf seinem schäbigen Bett sitzen, den Kopf müde an die Wand gelehnt. Sein Traum hatte sich aufgelöst. Zurückgeblieben war der schmächtige Siebzehnjährige in seiner abgetragenen Kleidung, mit den dunkelblonden Haaren und den viel zu weit abstehenden Ohren.

Alexander hielt sein Handy in die Höhe. „Lisa is da, ich geh runter.“

„Ja, ich ... Ich komm gleich nach ...“

„Holst du vorher noch 'n paar Bier?“

„Ja, geht klar. Ich muss aber später noch arbeiten.“

Sein Bruder grinste und deutete an ihm hinab. „Na, dann kümmer dich mal lieber schnell um deine Sache da. Du willst doch so nicht im Imbiss auftauchen.“

Jonas errötete und riss panisch ein Kissen auf seinen Schoß.

„Netten Traum gehabt?“, schmunzelte sein Bruder.

„Ähh ...“

„Viele heiße Frauen?“

„Ja ...“, antwortete er hastig. „Ja, haufenweise!“

Beschämt wandte Jonas sich ab. Er hasste sich dafür, den Menschen zu belügen, der ihm am nächsten stand. Doch die Furcht, die er sich bei all den kleinen Gelegenheit zur Offenbarung ausmalte, war zu groß.

Alexander runzelte die Stirn, dann nickte er lachend. „Wie auch immer. Wir sehn uns gleich unten.“

„Ja, äh ... Bis gleich.“

Eine peinliche Minute lang wartete Jonas. Dann zog er sich Schuhe an und wollte grade seine Jacke greifen, als ihn eine unfreundliche Stimme aufhielt.

„Hey hey hey, du da! Komm mal her!“

Beklemmt betrat er das Wohnzimmer. Die Fenster waren mit Zeitungspapier abgeklebt und Alkoholdunst waberte durch den Raum. Seine Mutter saß auf ihrem mit Chipskrümeln und Brandlöchern übersäten Sessel und folgte starr dem Geschehen einer Talkshow.

„Wo willst du hin?“

„Nach draußen“, sagte Jonas zögernd. „Zu Alex und Lisa.“

Sie nahm einen großen Schluck aus einer Flasche Korn. „Is diese Schlampe schon wieder hier?“

„Sie is keine Schlampe, Mom. Sie is Alex' Freundin.“

„Na, is mir auch egal. Aber wenn er die Schlampe schwängert, kümmer ich mich nich um das Balg. Hab schon zwei von denen großgezogen ...“

Jonas wich ihrem Blick aus. „Was willst du, Mom?“

„Hast du noch 'n paar Scheine?“, antwortete sie und streckte gierig die Hand aus.

„Willst du nich mal ... Ich weiß nich ... Denkst du nich, es is an der Zeit, dass du dich mal nach 'nem Job umsiehst oder so was?“

Sie trank einen weiteren Schluck. „Das wird schon wieder, okay? Is grad schwer, was zu finden!“

„Naja gut, aber ...“ Er trat nervös auf der Stelle. „Überleg doch mal, wie lange du das jetzt schon sagst ... Das sind jetzt bald zehn Jahre. Zehn Jahre, Mom! Und ... und du machst nichts anderes, als ... hier zu sitzen und ...“

Jonas’ Stimme ging in ein Flüstern über und erstarb dann.

Seine Mutter fauchte. „Hey, schön vorsichtig! Sei lieber dankbar, dass ich euch noch bei mir wohnen lasse!“

„Das bin ich ja!“, beschwichtigte er sie eilig und verlor jedes Selbstwertgefühl. „Das bin ich und ... Alex und ich machen das alles ja auch gerne! Wir zahlen ja gerne für alles, für uns selbst und für dich, wirklich! Nur ... ich meine ...“

„Könnt ja auch mal was für eure Mutter tun! Hab euch undankbare Kröten schließlich auf die Welt gebracht. Wenn dir das nich passt, bedank dich bei deinem Vater. Der hat mich schließlich sitzenlassen ...“

„Sicher, das war scheiße von ihm, er hat uns ja alle verlassen, aber ...“ Ängstlich kniff er die Augen zusammen. „Zehn Jahre, Mom ... Und dann der Alkohol, ich meine ...“

„Was meinst du, häh?!“, brüllte sie und sprang auf.

Torkelnd kam sie ihrem Sohn entgegen, ihr Atem stank nach Schnaps. Jonas versuchte, den Anblick gegen Bilder aus seinen Träumen und Fantasien zu tauschen. Als es ihm nicht gelang, sackte er zusammen und holte zitternd ein paar Münzen hervor.

„Gar nichts ... Hier, mehr hab ich nich ...“, log er.

Sie riss ihm das Geld aus der Hand. „Dann sieh mal zu, dass du arbeiten gehst!“

„Ja, Mom ...“

Mit hängendem Kopf schlich er aus der Wohnung. Im Hausflur roch es verdächtig nach Urin und Erbrochenem. Jonas quälte sich vom obersten Stockwerk aus die Treppe hinab. Draußen begegneten ihm schmutzige Autos auf kaputtem Asphalt und Gebäude ragten wie Gitterstäbe vor ihm empor. In weiter Ferne zeichneten sich lockend die Hochhäuser des Stadtzentrums ab. Jonas trottete den zugemüllten Gehweg entlang. Eine stark übergewichtige Frau mit einem rattenähnlichen Hund drängte ihn verschwitzt aus dem Weg und auf der anderen Straßenseite sprühten Kinder mit blauer Farbe das Abbild eines männlichen Genitales an ein Schaufenster.

Er schleppte sich in einen Kiosk und stellte ein Sechserpack der billigsten Marke auf den Tresen. Aufmerksam beobachtete er die Verkäuferin und passte einen günstigen Moment ab. Er zögerte kurz, dann schoss seine Hand vor und schnappte sich eine Zigarettenschachtel aus dem Regal, die Jonas gekonnt in seinem Ärmel verschwinden ließ.

Die ältere Frau verabschiedete ihn freundlich und von einem schlechten Gewissen geplagt zog Jonas davon. Er verabscheute, wozu seine Welt ihn zwang. Und er verabscheute noch mehr, dass er es trotzdem nicht ließ. Betrübt schlenderte er durch die Straßen, als ihn plötzlich eine starke Hand in eine Seitengasse riss und ein Messer gegen seine Brust drückte!

Kapitel 2
 
Mike

Jonas stand bebend vor einem Hünen in ausgefranster Tarnfarbenjacke. Kleine Augen glühten aus einem schiefen Schädel heraus, die Mundwinkel reckten sich grunzend nach unten und ein Fausthieb hatte die Nase verkrümmt. Eingerahmt wurde das Bild von zwei verschieden großen Ohren, Bartstoppeln und einem Gewirr aus ascheschwarzen Haaren, die unzähmbar in alle Richtungen abstanden.

„Hey, du!“ Seine Jacke roch nach Alkohol und Qualm. „Her mit dem Bier!“

Jonas schaute von dem Angreifer auf die anderen Jungen, die sich wie geiernde Kreaturen um ihn scharten. „Ach komm schon, Mike! Das is schon das zweite Mal diesen Monat!“

„Laber nich rum und her mit dem Sixpack!“

Knurrend gehorchte er. Mike reichte es an einen schmalen Jungen mit auffälligen weißblonden Haaren und fülliger Jacke. Flaschen wurden geöffnet und verteilt. Breit grinsend trank der Anführer und fuchtelte mit seinem Messer.

„Jez deine Kohle, los!“

Jonas gehorchte abermals und zog ein paar kleine Scheine hervor. „Mehr hab ich nich!“

„Dann dein Handy, her damit!“

„Das is wertlos!“

„Hey!“, drohte Mike. „Her mit dem scheiß Telefon!“

Er ließ den Kopf sinken und griff in seine Hosentasche. „Hier ...“

„Und jez zieh Leine!“ Mike zeigte mit der Klinge zur Straße. „Los, verpiss dich, Schwuchtel!“

Jonas zuckte unter dem letzten Wort zusammen. Mike warf oft damit um sich. Wann immer er jemanden beleidigen wollte, wählte er diesen Ausdruck. Jonas hatte auch gesehen, wie Mike jene verprügelte, die sich öffentlich zu ihren Neigungen bekannten. Und wann immer er über sein eigenes Outing nachdachte, kamen ihm die erbarmungslosen Fäuste in den Sinn.

Zornig stampfte er davon und schäumte vor Wut unter dem Gelächter der Gruppe. Er umrundete einen Schuttberg und bog in den Hinterhof seines Hauses, wo er Alexander und Lisa neben einem alten Kleinbus sitzen sah.

„Hey, Jojo!“ Spielerisch untersuchte er seinen jüngeren Bruder. „Was is los? Wolltest du nich was mitbringen?“

Jonas trat wütend einen Stein beiseite. „Ja, wollte ich ...“

„Was is passiert?“

„Matschkopf-Mike is passiert“, knurrte er.

Alexander knallte den Schraubenschlüssel auf den rissigen Betonboden und Lisa seufzte. „Nich schon wieder! Was hat er dir diesmal abgenommen?“

„Mein Bier. Mein Geld. Und mein Handy.“

„Dein Handy? Und dabei haben wir schon nur noch die letzten Schrott-Teile ...“

„Anscheinend nich schrottig genug ...“ Jonas fluchte. „Mann, wie ich den Kerl hasse! Wenn ich die Fresse schon sehe, wird mir schlecht. Wie lange geht das jez schon mit dem?“

„Ging schon in der Schule los“, erinnerte Alexander sich. „Der is doch damals in meiner Klasse gelandet, nachdem er mal wieder sitzengeblieben is. Nich, dass er oft im Unterricht gewesen wär ...“

Jonas schmunzelte. „Naja, das warn wir auch nich grade ...“

„Jaja, schon klar. Trotzdem hab ich jedes Mal Mordfantasien, wenn ich dem Arschloch über'n Weg lauf!“

Lisa zog kopfschüttelnd an ihrer Zigarette. „Könn die Bullen den nich endlich mal einlochen? Und seine Bande am besten gleich mit!“

Alexander zuckte mit der Schulter. „Könn die überhaupt irgendwas? Die hatten den doch schon zwanzigmal. Lassen ihn aber immer wieder laufen ...“

„Vielleicht stecken die ja mit ihm unter einer Decke ...“, mutmaßte Jonas.

„Hier, in unserem Viertel, würde mich das nich mal wundern ...“

„Wenigstens hat er die hier nich gefunden!“ Der kleine Bruder warf dem großen die gestohlene Zigarettenschachtel zu. „Die hatte ich noch im Ärmel ...“

„Warum hattest du die im Ärmel?“

„Ähm ... naja ...“

Jonas drehte verlegen den Kopf zur Seite. Alexander las die Antwort in seinem Gesicht und lachte.

Lisa stimmte mit ein. „Manchmal frag ich mich, ob wir überhaupt'n Grund haben, uns über den aufzuregen ...“

„Oh, glaub mir!“, entgegnete ihr Freund. „Wir sind besser! Anders als er laufen wir wenigstens nich Gefahr, in den Knast zu gehn.“

„Und deswegen sind wir anders?“, warf Jonas ein. „Weil wir klüger sind?“

„Weil wir anständiger sind. Weil wir jederzeit zu dem stehen können, was wir tun.“ Der große Bruder sah auf die gestohlene Schachtel. „Naja, meistens jedenfalls ...“

Lisa grinste. „Also Anstand findest du hier in der Gegend nirgendwo.“

„Tja, Anständigkeit is aber nun mal der Preis der Freiheit. Wer nich in den Knast will, der muss sich eben benehmen.“

Jonas gesellte sich zu ihnen auf einen alten Gartenstuhl. „Wenn wir so anständig sind, warum hängen wir dann immer noch an diesem Drecksort fest?“

„Ach, Jojo! Hab doch mal ein bisschen Vertrauen!“

Alexander deutete zur Seite und Jonas' Blick schwenkte auf den alten Wagen. Es war ein typischer Hippie-Bus, mit Resten knallbunter Farbe und bequemen Polstern im hinteren Teil.

„Du schraubst echt immer noch daran rum?“, fragte der kleine Bruder skeptisch.

„Klar. Seit fünf Jahren immer das gleiche Spiel. Du erinnerst dich doch an Dad's Geschichten. Wie er mit paar Freunden in dem Ding quer durchs Land gefahren is.“

„Es is jez zehn Jahre her, dass Dad abgehauen is.“ Jonas runzelte die Stirn. „Mal davon abgesehn, dass es in den Geschichten eh nur ums Saufen und Kiffen ging ...“

Alexander zeigte sich enthusiastisch. „Ich kann das einfach spürn, verstehst du? Dieses Gefühl von Freiheit, immer wenn ich an die Geschichten und dieses Teil hier denke. Ich bring die Karre zum Laufen und wir drei verschwinden aus dieser scheiß Stadt. Nenn mich bescheuert, aber das is mein Traum!“

Lisa schmunzelte ungläubig. „Du bist bescheuert! Das Ding besteht mehr aus Rost als aus Metall.“

„Ich hab nich so viel Zeit und Geld hier rein gesteckt, um jez kurz vor dem Ziel aufzugeben. Und sobald er fährt sind wir endlich weg!“

„'n Führerschein müsste man haben.“

„Hab ich doch. Schon seit ich fünfzehn bin. Wie sollte ich sonst an Alkohol kommen?“

„Mach 's wie Mike!“, lachte sie.

Alexander verzog angewidert die Lippen. „Da müsste ich erst mal mein Gesicht von 'nem Laster überfahren lassen.“

„Und dabei hast du so ein hübsches Gesicht!“

Sie kitzelte über seine Wange und die zwei tauschten einen langen Kuss. Jonas betrachtete das Bild mit tiefer Sehnsucht, dann wandte er sich voll Ekel ab.

„Sucht euch 'n Zimmer, ich will das nich sehn!“

„Ach komm Jojo, du hast schon ganz andere Sachen gesehen.“

„Erinner mich bloß nich daran!“

Sie lachte und küsste ihren Freund. „Wie lange sind wir jez zusammen?“

„Seit ich mich überhaupt an irgendwas erinnern kann“, brummte Jonas. „Ihr habt 's doch schon im Sandkasten getrieben ...“

Sein Bruder zwinkerte. „Neidisch?“

„Ja, klar ...“, schnaubte er und die unerfüllten Wünsche in seiner Seele deprimierten ihn.

Alexander klopfte gegen den Kleinbus und sah Lisa auffordernd an. „Was meinst du, sehn wir mal nach, ob hinten drin schon alles in Ordnung is?“

Sie grinste schelmisch. „So wie ich dich kenne, gibt's da bestimmt noch jede Menge zu tun!“

Die beiden sanken ineinander und gaben sich Zärtlichkeiten hin.

Jonas betrachtete sie einen Moment, dann schüttelte er sich. „Okay, ich bin dann mal weg! Ich muss eh zur Arbeit ...“

„Viel Spass!“, riefen die beiden ihm hinterher. „Und pass auf, dass dir Matschkopf-Mike nich wieder über den Weg läuft!“