Rowan Hooper
WUNDER DER EVOLUTION
WUNDER DER EVOLUTION
Von der Autistin, die alle Harry-Potter-Bände auswendig kann, bis zum Extremläufer, der in 24 Stunden 303 Kilometer lief
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1. Auflage 2018
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Die englische Originalausgabe erschien 2018 bei Little, Brown unter dem Titel Superhuman. Life at the Extremes of Mental and Physical Ability. © 2018 by Rowan Hooper. All rights reserved.
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Übersetzung: Silvia Kinkel
Redaktion: Asta Machat
Umschlaggestaltung: Marc-Torben Fischer, München
Umschlagabbildung: Getty Images/2016 Kyodo News
Satz: ZeroSoft, Timisoara
Druck: GGP Media GmbH, Pößneck
eBook: ePubMATIC.com
ISBN Print 978-3-7423-0338-7
ISBN E-Book (PDF) 978-3-7423-0749-1
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-7423-0750-7
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Einleitung
TEIL I DENKEN
1 Intelligenz
2 Erinnerung
3 Sprache
4 Fokus
TEIL II HANDELN
5 Tapferkeit
6 Singen
7 Laufen
TEIL III SEIN
8 Langlebigkeit
9 Resilienz
10 Schlafen
11 Glück
Fazit
Danksagung
Literatur
Anmerkungen
Vor ein paar Jahren nahm ich an einer Konferenz für Primatenforscher teil und unterhielt mich auf dem Empfang mit einem anderen Wissenschaftler. Ich nahm an, dass er meine Meinung teilte, und schwärmte davon, wie ähnlich uns Schimpansen doch seien und dass ich die Unterschiede zu uns Menschen als relativ erachten würde. Ich erging mich also in Lob auf die Schimpansen – möglicherweise versuchte ich, mich bei diesem Primatologen einzuschmeicheln. Meine Haltung deckte sich allerdings auch mit meinen Veröffentlichungen, in denen ich über die Fähigkeiten von Tieren geschrieben hatte, die man früher ausschließlich Menschen zuteilte. Zum Beispiel wurden wilde Schimpansen dabei beobachtet, dass sie Stöcke wie Puppen benutzten,1 mit Speeren Jagd auf andere Wirbeltiere machten,2 ihre eigene Zeichensprache hatten3 und Krieg führten.4 Man hatte sie sogar bei einem Verhalten beobachtet, das aussah, als würden sie eine Art Ur-Religion praktizieren.5 Für mich als Evolutionsbiologe zeigten diese Entdeckungen, dass wir Fähigkeiten und sogar Verhaltensweisen mit anderen Lebewesen gemeinsam haben: Wir sind alle miteinander verwandt; wir teilen viele Gene; Gene beeinflussen das Verhalten. So weit ist das keine große Überraschung. Alles – selbst das, was wir als »gut« und »böse« bezeichnen – hat in der Evolution einen Ausgangspunkt, es ist also zu erwarten, dass wir in den Tieren unser Echo finden.6 Als Journalist gefiel mir die Vorstellung, dass wir Menschen nicht einzigartig sind. Das hob unsere Gemeinsamkeiten mit anderen Lebewesen hervor und könnte die Empathie zwischen den Spezies steigern.
Mit einem Weinglas in der Hand behauptete ich fröhlich, dass es an uns Menschen nichts Einzigartiges gebe. »Und schauen Sie auf die Genetik«, sagte ich. »Wir sind praktisch identisch.« Der Primatologe, mit dem ich plauderte, lächelte verschlagen und sagte: »Dann konstruieren Schimpansen also ihre eigenen Herzschrittmacher?«
Diese eine Bemerkung brachte meine jahrelange Überzeugung zu Fall, dass Schimpansen uns so ähnlich seien. Erst kurz zuvor war es mithilfe des Großen Hadronen-Speicherrings im Forschungszentrum CERN in Genf gelungen, das Elementarteilchen Higgs-Boson nachzuweisen. Es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Ich hatte nicht nur überschätzt, wozu Tiere in der Lage sind. Ich hatte auch die Menschen unterschätzt. Jetzt kommt mir das lächerlich vor, geradezu absurd. Der Primatologe hätte genauso gut fragen können, wann ein Schimpanse zum letzten Mal auf dem Mond gewesen ist oder etwas wie Guernica gemalt hat. Sicher, Schimpansen sind wunderbare, intelligente Tiere, aber das Bemerkenswerte ist nicht, wie clever sie sind, sondern wie außergewöhnlich wir sind. Als Biologe habe ich das Verhalten der Tiere vor Ort studiert. Ich staunte darüber, was für Lösungen die natürliche Auslese für das Überleben und Finden eines Partners hervorbringt. Das tue ich immer noch. Aber manchmal vergesse ich dabei, die herausragenden Leistungen menschlichen Verhaltens und menschlicher Fähigkeiten wertzuschätzen.
Dieses Buch ist deshalb auch der Versuch, meine Ansichten zu korrigieren. Ich habe mich aufgemacht, um Menschen zu treffen, die in den unterschiedlichsten Bereichen den Gipfel menschlicher Exzellenz verkörpern. Menschen, die zu den besten der Welt zählen, was ihre Fähigkeiten anbelangt, sei es Intelligenz, Musikalität, Tapferkeit oder Ausdauer. Wir werden auch Menschen begegnen, die ein besonders glückliches und langes Leben führen. Es ist eine Würdigung unseres Potenzials. Wir werden die Vielfalt und herausragenden Fähigkeiten der menschlichen Spezies bestaunen, zu verstehen versuchen, wie es diesen Menschen gelungen ist, Großes zu erreichen – und wir werden sie dekonstruieren. Solche Menschen mögen übermenschlich sein, aber sie sind nicht übernatürlich. Ich möchte diese Supermenschen verstehen, um sie näher an uns heranzurücken. Ein bisschen von dem Sternenstaub könnte auf uns abfärben und wir erhaschen vielleicht einen Blick auf den Menschen der Zukunft. Zu verstehen, was außergewöhnlichen Fähigkeiten zugrunde liegt, zerstört nicht den Zauber; es steigert sogar unsere Wertschätzung und lehrt uns etwas über unser ganz alltägliches Leben. Und auch wenn wir möglicherweise nicht alle herausragend sind, so verfügen wir doch über mehr Fähigkeiten, als uns bewusst ist. Wir schöpfen unsere Potenziale nicht aus. Dabei handelt es sich um jene Fähigkeiten, nach deren Vervollkommnung wir streben.
Bei den meisten Fähigkeiten, die wir uns ansehen werden, ist es ziemlich einfach zu entscheiden, wer weltweit am besten ist, auch wenn ich nicht gerade wissenschaftlich vorgehe. Ich definiere die besten Sänger auf der Welt danach, wer von seinem Beruf leben kann; die Menschen mit der größten Ausdauer als jene, die am weitesten laufen können; die ältesten Menschen weltweit – nun, das definiert sich von selbst. Bei Eigenschaften wie Tapferkeit und Intelligenz ist die Auswahl subjektiver, aber ich hoffe, Sie überzeugen zu können, dass ich würdige Kandidaten gefunden habe.
Dieses Buch besteht aus drei Teilen. Teil I »Denken« betrachtet die von der Kognition abhängigen Fähigkeiten. Wir stützen uns dabei auf Fallstudien zu Intelligenz, Erinnerungsvermögen, Sprachbeherrschung und Fokussierung – die Fähigkeit, sich auf etwas zu konzentrieren. In Teil II, »Handeln«, habe ich Tapferkeit, Gesangsfähigkeit und Ausdauer als Fähigkeiten ausgesucht, die von Menschen enorm weit vorangebracht wurden. Abschließend habe ich in Teil III »Sein« Langlebigkeit, Resilienz (psychische Widerstandsfähigkeit), Schlaffähigkeit und Glück als Fähigkeiten ausgewählt, die auf den ersten Blick schlichtweg Teile unseres Lebens sind, bei denen manche Menschen jedoch sehr viel effizienter zu sein scheinen als andere. Wir werden bei jeder Fähigkeit die wissenschaftlichen Erklärungen für die Höchstleistung von Menschen berücksichtigen sowie die relative Bedeutung von Veranlagung und Umwelt. Es gibt so viele Hinweise, wodurch diese »Supermenschen« herausragend geworden sind, und so viel für uns andere zu lernen. Die hier besprochenen elf Fähigkeiten decken ganz sicher nicht alles ab, was uns zu Menschen macht, aber ich denke, der Bogen wird doch recht weit gespannt. Mir haben diese Erkenntnisse vor Augen geführt, wie vielfältig die menschliche Spezies ist, und sie haben meine Begeisterung für unser außergewöhnliches Potenzial befeuert.
Angenommen, das Wissen könnte auf eine Quintessenz reduziert und in einem Bild, einem Zeichen, an einem Ort, der kein Ort ist, aufbewahrt werden. Angenommen, der menschliche Schädel würde sich erweitern, Räume würden sich in ihm auftun, summende Kammern wie Bienenstöcke.
HILARY MANTEL, WÖLFE
Sie werden es erkennen, wenn Sie es sehen. Mir ging es so bei einem jungen Orang-Utan-Männchen auf Borneo, das durch Abholzung zum Waisen geworden war. Als wir ihm begegneten, wanderte er mit einem Primatologen in einem geschützten Regenwaldgebiet umher.
Weil er in einem Rehazentrum aufgezogen wurde, vertraute er den Menschen, und wie sich herausstellte, mochte er Männer besonders. Er kam sofort auf uns zugesprungen. Ich wurde nervös, als dieser junge, aber kräftige Affe an meiner Kleidung zog und versuchte, an mir hochzuklettern, als wäre ich ein Baum. Ich schob ihn ein paar Mal weg. Schließlich hockte er sich hin, schaute zu mir hoch und reichte mir die Hand. Ich erinnere mich, wie ich sie ergriff und spürte, dass er seine warme Hand behutsam und sanft um meine schloss. Ich schaute ihm in die Augen und konnte die unterschiedlichsten Gefühle darin sehen – eine Mischung aus Verzweiflung, Schmeichelei und Hoffnung. Er war es leid, dass ich ihn wegschob, und hoffte, dass ich endlich verstehen würde, dass er nur spielen wollte.
Sie erkennen Intelligenz, wenn sie Ihnen begnet. Und ich sah sie in diesem Orang-Utan. Nach dem Händedruck und dem Blick, den wir wechselten, spielten wir eine gute Stunde lang, was hauptsächlich daraus bestand, dass er an mir hochkletterte und ich ihn herumschwang. Er war im Wesentlichen ein kräftiges, haariges Orang-Utan-Kind. Damals war er sechs Jahre alt und ich frage mich, was wohl aus ihm geworden ist und ob er in diesem geschützten Teil des Regenwaldes gefahrlos leben kann.
Für mich ist das eine besondere Erinnerung, gleichzeitig zeigt diese Anekdote verschiedene problematische Aspekte bei der Beobachtung von Intelligenz. Vielleicht habe ich die genannten Gefühle nur auf das Tier projiziert. Viele Menschen würden sagen, sie hätten diesen Ausdruck auch schon bei Hunden gesehen. Es ist gut möglich, dass Hunde und Orang-Utans in gewissem Sinne intelligent sein könnten – aber in welchem Sinne? Und wie können wir das messen?
Um Intelligenz zu studieren, müssen wir sie definieren und messen und beides ist überraschend knifflig. Es ist nicht so wie bei der Körpergröße, obwohl Intelligenz insofern tatsächlich wie Körpergröße ist, als dass sie genauso unterschiedlich ausfällt. Intelligenz ist komplex, vielschichtig, veränderlich und schwer greifbar, und es ist die Fähigkeit, die wir möglicherweise mehr als alle anderen anstreben. Erstaunlich, wie schwer es uns fällt, uns auf eine Definition zu einigen. Die American Psychological Association Task Force on Intelligence hat sich für folgende entschieden: »Individuen unterscheiden sich in ihrer Fähigkeit voneinander, komplexe Ideen zu begreifen, sich effizient an ihre Umgebung anzupassen, aus Erfahrungen zu lernen, zu schlussfolgern und durch Nachdenken Hindernisse zu überwinden.« Das ist ja schön und gut, aber ich möchte wissen, wie Künstler und Wissenschaftler neue Ideen hervorbringen und entwickeln können, die uns an Orte bringen, an denen wir nie zuvor gewesen sind.
Intelligenz ist etwas, das wir bei anderen leicht erkennen, und mit IQ (Intelligenzquotient)-Tests können wir zumindest einige Aspekte davon messen. Der Intelligenz einen Messwert zuzuordnen verrät uns jedoch nicht, wie es ist, intelligenter zu sein. Und was ist mit den Menschen, die nie einen Intelligenztest gemacht haben? Wir werden später in diesem Kapitel den IQ noch genauer betrachten, aber ich will damit beginnen – wie ich es im gesamten Buch tun werde –, Menschen vorzustellen, die beispielhaft sind für die jeweilige Fähigkeit. Jemand mag ja einen IQ von über 150 haben, aber wie fühlt sich das für den Betreffenden an? Wo kommt die Intelligenz her? Welche Vorteile, wenn überhaupt, bietet sie? Wie sehen Menschen, die übermäßig intelligent sind, die Welt? Können wir die Voraussetzungen schaffen, dass unsere Kinder intelligenter sind?
Die erste Person, die ich treffen werde, ist ein Schachgroßmeister. Ich habe mich für Schach entschieden, weil es ein rein intellektuelles Spiel zu sein scheint oder zumindest eines, das intellektuell höchst anspruchsvoll ist. Zudem wurde es ausgiebig von Wissenschaftlern untersucht. Es heißt, dass Schach für die Kognitionswissenschaft das ist, was die Fruchtfliege Drosophila, der vermutlich am ausführlichsten untersuchte Organismus auf Erden, für die Genetik ist.
John Nunn ist einer der besten Schachspieler aller Zeiten. Auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn gehörte er zu den zehn Weltbesten. Mit 15 Jahren ging er nach Oxford, um Mathematik zu studieren, war der jüngste Student seit Kardinal Wolsey im Jahr 1490 (was mir praktischerweise eine thematische Verbindung zu jemand anderem liefert, den wir auch noch in diesem Kapitel kennenlernen werden) und machte seinen Doktor in algebraischer Topologie, einem Thema, zu dem ich so gar nichts Bedeutsames beitragen kann.
Mit 26 wurde Nunn Schachprofi. Er war eindeutig etwas Besonderes, aber obwohl er große Höhen erklomm, konnte er nie den höchsten Titel für sich beanspruchen. Magnus Carlsen, Schachspieler mit der höchsten Wertungszahl (Elo-Zahl) in der Geschichte des Schachspiels, erklärte, dass Nunn nie Schachweltmeister wurde, weil er zu clever sei. »Er hat so unglaublich viel in seinem Kopf. Einfach zu viel. Sein enormes Begriffsvermögen und sein ständiger Wissenshunger lenkten ihn vom Schach ab.«
Ich gebe zu, dass es mich ein bisschen einschüchterte, John Nunn zu treffen. Da ich mir meines mangelnden Verständnisses der algebraischen Topologie vollauf bewusst bin, hatte ich auf Wikipedia nachgeschaut und erfahren, dass das Ziel dieses Gebietes darin besteht, »algebraische Invarianten zu finden, die topologische Räume bis zur Homotopieäquivalenz klassifizieren«. Das hat mir nicht wirklich geholfen, eher im Gegenteil. Mich mit ihm zu unterhalten, während wir eine Partie Schach spielten, wäre bestimmt toll gewesen, aber das wollte ich gar nicht erst vorschlagen. Das ist keine falsche Bescheidenheit: Es wäre einfach nur peinlich für ihn, sich auf mein Niveau herunterbegeben zu müssen. Das wäre so, als würde ich Usain Bolt vorschlagen, dass wir zusammen eine Runde um den Park laufen. Nunn ist der Mann, der 1985 Alexander Beliavsky aus der Ukraine in einer Partie geschlagen hat, von der es heißt, dass »Nunn seinen Namen damit unsterblich machte«. Der Chess Informant, die Bibel des Schachs für Spieler und Lehrer – eine Art Wisden des Schachs – nennt die Beliavsky-Partie als die sechstbeste je gespielte Partie seit 1966 (seit Beginn der Aufzeichnung von Partien) bis zum heutigen Tag.
Wir haben uns in einem Coffeeshop in Richmond, im Südwesten von London, verabredet. Ich treffe zehn Minuten früher dort ein und sichere uns einen Tisch. Bisher erfolgte unsere Kommunikation ausschließlich per E-Mail, von daher ist unsere Beziehung eher förmlich. Ich habe keine Ahnung, wie er in natura ist, aber da kommt er, in Jeans und Converse mit einer schwarzen Motorradjacke über einem Hoodie. Ich hatte nicht wirklich darüber nachgedacht, wie er wohl aussehen würde, aber als ich ihn jetzt sehe, wird mir klar, dass ich nicht mit einem derartig coolen Großmeister gerechnet habe.
Mit dem Schachspielen hat er im Alter von vier Jahren angefangen. Soweit er sich erinnert, sagt er, könnte es gut sein, dass er schon Schach spielen konnte, als er auf die Welt kam. »Ich kann mich nicht wirklich daran erinnern, es gelernt zu haben.« Es wurde jedoch schon bald deutlich, dass er ein angeborenes Talent besaß. Wie sich das zeigte? »Nun ja«, antwortet er verhalten, »wenn du ständig Turniere gewinnst, ist es ziemlich offensichtlich.«
Sofort fühlt es sich an, als seien wir etwas Interessantem auf der Spur. Wenn Nunn von einem angeborenen Schachtalent spricht, dann sagt er damit, dass die Genetik eine wichtige Rolle spielt. Natürlich musste er das Spiel erlernen, aber er glaubt, über eine natürliche Fähigkeit zu verfügen, die ihm half, gut darin zu werden. Das bringt auf den Punkt, was Talent ist und in welchem Maße sich Können aufgrund genetischer Voraussetzungen und Übung entwickelt. Wir werden dem noch oft in diesem Buch begegnen.
Es gibt zwei Lehrmeinungen zum Thema »Können«, die auf jeweils einer Seite längs der Grenze zwischen Veranlagung und Umwelt angesiedelt sind. Auf der Seite der Umwelt steht Anders Ericsson, ein schwedischer Professor für Psychologie an der Florida State University. Er formulierte die bekannte Regel (die mittlerweile weithin kritisiert wird), dass man mit 10 000 Stunden Übung in allem zum Experten werden kann (wir werden in Kapitel 6 darauf zurückkommen.) Durch bewusstes Üben, so Ericsson, kann ein jeder außergewöhnliche Leistungen vollbringen.
Ich erwähnte, dass sich die beiden Lager hinsichtlich ihrer Meinung zu Veranlagung und Umwelt unterscheiden, aber das eigentliche Problem bei dieser Auseinandersetzung ist, dass es diese Abgrenzung eigentlich nicht geben sollte. Nichts von beidem funktioniert allein. Gene brauchen eine Umwelt, in der sie agieren, und ohne genetische Werkzeuge wird Ihnen auch noch so viel Übung nicht helfen. Die Auseinandersetzung dreht sich in Wahrheit um den verhältnismäßigen Beitrag von Veranlagung und Übung.
Zach Hambrick, der das Expertise Lab an der Michigan State University leitet, könnte man als Vertreter des anderen Lagers bezeichnen. »Übung ist sicher ein wichtiger Faktor«, sagt mir Hambrick, »jedoch nicht verantwortlich für alle Unterschiede beim Können, also müssen auch andere Faktoren beteiligt sein.« Und die Faktoren, für die wir uns interessieren, sind die genetischen.
Betrachten wir Magnus Carlsen, der die mit Abstand höchste Punktzahl in der Geschichte des Schachspieles erreichte. Eine Analyse, wie viel er und die zehn nächsthöheren Großmeister an Arbeit investiert haben, zeigt, dass er deutlich weniger Jahre trainiert hat als die anderen Spieler.7 Hat er Talent? Anders ausgedrückt, ist seine Fähigkeit genetisch begründet? »Die Antwort auf diese Frage ist in der Schachwelt so offensichtlich, dass sie nicht einmal gestellt wird – Carlsen gilt als der ›Mozart des Schachs‹«, sagen die Autoren der Analyse, Fernand Gobet von der University of Liverpool und Morgan Ereku von der Brunel University. Im Kapitel über das Singen werden wir noch intensiver auf die Rolle des Übens eingehen, lassen Sie uns für den Moment zurückkehren zu Nunn und tiefer graben.
»Magnus Carlsen sagte über Sie«, wende ich mich an Nunn, »dass Sie intelligenter sind, als gut für Sie ist, und deshalb nie die Weltmeisterschaft gewonnen haben.«
»Das war aber nett von ihm«, sagt Nunn.
»Ist es wahr?«
Nunn zuckt mit den Schultern. »Vielleicht hat er recht. Um wirklich erfolgreich zu sein, musst du ein Monomane sein. Du musst dein Leben dieser einen Sache verschreiben. Manche Menschen können das einfach nicht. Sie haben andere Interessen, sie sind nicht glücklich, wenn sie ihr ganzes Leben damit verbringen, sich auf eine Sache zu fokussieren.«
Aber auch Carlsen hat ein Leben außerhalb des Schachs. Er sagt, zu seinen anderen Interessen gehöre das Chatten mit Freunden, Online-Poker, Skifahren und Fußball.8 Aber diese Aktivitäten sind kognitiv nicht so anspruchsvoll wie Nunns Interessen – Astronomie, Physik und extrem anspruchsvolle Mathematik.
»Wenn du dich zu 100 Prozent engagierst und es dann nicht gut läuft, tut das ganz schön weh«, sagt Nunn. »Du hast dann nämlich nichts anderes, auf das du zurückgreifen kannst.«
In den meisten Betätigungsfeldern werden aber unvermeidlich Dinge »nicht gut laufen«, da Leistung und Fähigkeiten mit steigendem Alter abnehmen. Nunn reagierte darauf, indem er aufhörte. Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass die sogenannte fluide Intelligenz, die Fähigkeit, abstrakte Probleme zu lösen, und die Geschwindigkeit der geistigen Verarbeitung im Alter von etwa 30 Jahren anfangen, an Leistungsfähigkeit abzunehmen. Dagegen hält eine weitere Intelligenzform, bekannt als die kristalline Intelligenz, die erlerntes Wissen nutzt, ihren Spitzenpegel über viele Jahre, bevor sie langsam abnimmt. Nunn scheint nur zögerlich akzeptieren zu wollen, dass sich irgendetwas an seiner Gehirnfunktion verändert hat, und sagt tatsächlich, dass er in etwa noch genauso gut spielt wie zu seiner Zeit als Profi.
»Manches verändert sich auch. Du hast jetzt Familie und andere Prioritäten«, sagt er. »Du willst dich nicht ausschließlich auf das Schachspielen konzentrieren. Aber mit steigendem Alter ermüdest du schneller. Ich habe immer noch das Gefühl, genauso stark spielen zu können wie früher, aber so ein langes Turnier ist ganz schön anstrengend.«
Ich unterhielt mich mit Neil Charness, Professor für Psychologie und Leiter des Institute of Successful Longevity an der Florida State University. Charness und sein Kollege in Florida, Roy Roring, führten eine Studie über die Veränderung der Schachspielfähigkeit im Laufe des Lebens durch.9 Unter Verwendung eines Datenbestands von 5011 Schachspielern stellten sie fest, dass das durchschnittliche Alter, in dem Spieler ihr Spitzenranking erreichen, bei 43,8 Jahren liegt. Sie fanden zudem heraus, dass das Alter »zu den Fähigeren netter ist«, was bedeutet, dass hoch qualifizierte Spieler nach ihrem Leistungsgipfel im Schnitt moderatere Rückgänge bei ihrem Rating aufweisen. »Die Probleme für ältere Spieler«, so Charness, »sind vermutlich ähnlich denen jedes alternden Erwachsenen: die Lerngeschwindigkeit nimmt ab.« Das Lerntempo halbiert sich zwischen 20 und 60 und als Folge davon gibt es jede Menge aufstrebende junge Spieler, die dich überholen und schlagen. Da wir einmal bei dem sentimentalen Thema des Schwunds kognitiver Fähigkeiten sind, fügt Charness hinzu, dass es vermutlich altersbedingte Veränderungen bei der Motivation gibt. Zudem nimmt die Gehirnleistung auf vielfältige Weise ab, einschließlich dem Gedächtnis, der Aufmerksamkeit und Verarbeitungsgeschwindigkeit. »Obwohl Schach für die Menschen hauptsächlich ein Spiel ist, das sich auf Wissen und das Erkennen von Mustern stützt, und trotz der Tatsache, dass Sie ein Leben lang lernen können, haben Sie vielleicht Probleme, die relevante Information rechtzeitig zu erfassen.«
All das scheint mit Nunns Erfahrungen übereinzustimmen. Aber ich interessiere mich dafür, wie Menschen zum Gipfel ihres menschlichen Potenzials gelangt sind. Und ich möchte herausfinden, wie es war, als er jünger gewesen ist. Nunn bestätigt, dass er sich natürlich anders gefühlt habe als andere Kinder. War es für ihn offensichtlich, dass er über diese Stärke verfügte? »Wenn du ständig Turniere gewinnst, ist es ziemlich offensichtlich«, sagt er. »Ich habe das Schachturnier der U12 [unter Zwölfjährigen] in London im Alter von neun Jahren gewonnen.« Wurde er durch seinen Erfolg arrogant? Er sagt, er sei ein ausgeglichenes Kind gewesen, wenn auch eher ein Einzelgänger, was gleichaltrige Freunde anbetraf.
Gab es noch andere Anzeichen, dass er sich von anderen unterschied? »Als ich klein war und noch nicht lesen konnte, bemerkten meine Eltern einmal, dass ich sämtliche Bücher aus dem Buchregal durchging. Auf ihre Frage: ›Was tust du da? Du kannst doch gar nicht lesen?‹, antwortete ich, dass ich nachsehen würde, wie viele Seiten jedes Buch habe. Ich hatte herausgefunden, wie das mit der Nummerierung unten auf den Seiten funktionierte. Also fragten sie mich nach der Seitenzahl einiger Bücher und ich wusste die Antwort. Von daher würde ich sagen, dass sich meine mathematische Begabung schon früh zeigte.«
Mit 14 machte Nunn Abitur und erreichte die volle Punktzahl in abstrakter und angewandter Mathematik. Aber warum ging er so jung schon zur Universität? »Ich wollte das. Ich war 14. Andernfalls hätte ich ein paar Jahre einfach nur herumgehangen. Keine wirklich gute Idee bei einem Teenager. Deshalb wollte ich studieren und meine Eltern waren einverstanden. Es ist dann ziemlich gut gelaufen.«
Ich frage mich, ob wohl ein ähnliches Gespräch im Haushalt der Wolseys stattgefunden hat, als der junge Thomas (spätere Kardinal) Wolsey im Alter von 14 Jahren nach Oxford ging, um Theologie zu studieren. Mehr als 500 Jahre lang sollte es keinen so jungen Studienanfänger mehr geben – bis zu Nunn. (Nebenbei bemerkt, hat es seither einen noch jüngeren Studienanfänger gegeben. 1983 ging die damals zwölfjährige Ruth Lawrence nach Oxford. Ihr Studienfach? Algebraische Topologie.)
Wie war es, sich in dem Alter um sich selbst zu kümmern? Die meisten Studenten können nicht einmal eine Waschmaschine bedienen. »Das war ganz schön knifflig«, sagt er auf eine Weise, die mir zu verstehen gibt, dass es das ganz und gar nicht war. »Aber ich habe es hinbekommen.«
Die größere Herausforderung war das Sozialleben. An der University war Nunn zu jung, um Alkohol zu trinken. »Der Unterschied zwischen 15 und 18 ist riesig. Viele Aktivitäten sind nicht sonderlich reizvoll. Andererseits hatte ich Mathematikerfreunde und Freunde im Schachclub. Als ich dann 17 war, fühlte sich alles ganz normal an.«
Nunns Einschätzung seiner Fähigkeit und seines Erfolgs spiegelt die Thematik, die Hambrick in seiner Forschung betrachtet: dass Können auf einer angeborenen Fähigkeit aufbaut. »Ich glaube, meine Begabung für Mathematik und Schach war angeboren«, sagt Nunn. »Aber wie bei jeder Aktivität, in der man an die Spitze will, muss man Talent haben und Arbeit investieren.«
Ich begann mit der Annahme, dass Schach ein rein intellektuelles Spiel sei. Waren Schachexperten deshalb auch intelligenter als der Durchschnitt? Das scheint Sinn zu ergeben, ist jedoch strittig. Schachexperten haben in der Regel jahrelang geübt und es ist schwer, das von einem angeborenen Talent oder der Intelligenz zu trennen.
Hambrick, stets darauf aus, die relativen Rollen von Übung und angeborener Fähigkeit so weit wie möglich zu bestimmen, ging dieser Frage zusammen mit seinem Kollegen Alexander Burgoyne nach, ebenfalls an der Michigan State University. Burgoyne durchkämmte Tausende Studien über Schachfertigkeiten und wählte 19 Studien mit gut 1800 Teilnehmern aus, die Messungen zu objektiven Schachspielfertigkeiten und kognitiven Fähigkeiten einschlossen, was gleichbedeutend mit dem IQ-Wert ist. Im Großen und Ganzen entdeckte das Team eine Verbindung zwischen Intelligenz und Schachfertigkeiten. »Allgemeine Intelligenz und allgemeine kognitive Fähigkeiten korrelieren moderat mit Schach«, sagt Hambrick.
Die Verbindung war nur moderat, vielleicht weil die Spitzenschachspieler alle über dem Intelligenz-Durchschnittswert liegen. Bei jüngeren Spielern und denen auf einem niedrigeren Level zeigte sich eine stärkere Verbindung zwischen Schachfertigkeiten und Intelligenz. Hambrick sagt, das könne daran liegen, dass hochintelligente Menschen sehr schnell gut im Schachspielen werden. Durchschnittlich intelligente Menschen können auch gut werden, brauchen aber sehr viel mehr Übung. Eine Folgestudie von 201710 zielte darauf ab, Ericssons Behauptung zu überprüfen, dass Experten nicht nur zu Experten werden, weil sie cleverer sind, sondern weil sie besseren Zugang zu Trainingsmöglichkeiten haben.11 Ericsson hat folgende Theorie: Wenn Wissenschaftler oder Musiker höhere IQs als Nichtexperten haben, dann liegt das daran, dass Menschen mit einem höheren IQ für fachliche Förderung an den Universitäten ausgesucht werden. Laut der traditionellen Sichtweise sagt der IQ voraus, wer zu einem Experten werden wird. Die Argumente unterscheiden sich im Hinblick auf die Rolle des Trainings, wobei Ericsson dem Training mehr Gewicht zuteilt. Hambricks Team überprüfte das, indem es Schachspieler mit Menschen verglich, die nicht Schach spielen. Die Grundüberlegung ist, dass es beim Schach keinen Selektionsprozess gibt wie bei Wissenschaftlern und Musikern, die versuchen, einen Platz an einer Akademie zu bekommen. Wenn Ericsson recht hat, dann sollte es im Hinblick auf den IQ keinen Unterschied geben zwischen Schachspielern und Menschen, die nicht Schach spielen. Aber es gab einen Unterschied: Die Schachspieler übertrafen Nicht-Schachspieler bei kognitiven Aufgaben, was bedeutet, dass das Training allein die Leistung nicht erklären kann.
Welche angeborenen Fähigkeiten könnten das sein? Nunn sagt, dass man für Schach Vorstellungskraft brauche, um zu erkennen, welche Optionen man nach den nächsten vier oder fünf Zügen hat. Man braucht ein gutes Gedächtnis. Gute Rechenfähigkeiten. Man muss Muster erkennen können. Jung anzufangen ist im Schach wichtig. Studien haben festgestellt, dass selbst nach Berücksichtung des Übungsumfangs gilt: Je früher man anfängt, desto höher wahrscheinlich die Platzierung.
Laut Charness spielt das Erkennen von Mustern eine entscheidende Rolle beim Optimieren des Suchprozesses, mit dem Schachspieler herausfinden wollen, welches der beste Zug ist. »Sollte es diese angeborenen oder genetischen Unterschiede tatsächlich geben, dann würde ich nach jemandem suchen, der schneller Muster erkennen kann. Was nicht heißen soll, dass es so etwas wie ein Schachspiel-Gen gibt. Aus Sicht der Evolution gibt es keine Notwendigkeit, meisterlich Schach zu spielen – abgesehen von diesen Autoaufklebern: ›Chess Players mate better‹ (hier wird mit der Doppelbedeutung von mate ›jemanden matt setzen‹ und ›begatten‹ gespielt)«.
Ich habe nun eine Vorstellung davon, über welche Bestandteile von Intelligenz Schachspieler in hohem Maß zu verfügen scheinen, und ich verstehe besser, wie sich Schachfertigkeiten in jungem Alter entwickeln und mit der Zeit abnehmen. Aber all das verrät mir nicht, wie es sich anfühlt zu spielen und warum Nunn es bis unter die zehn Besten der Welt geschafft hat. Nach unserer Unterhaltung schaute ich mir deshalb eine Rekonstruktion des legendären Spiels gegen den sowjetischen Großmeister Beliavsky auf YouTube an, mit dem »Nunn unsterblich wurde«. Dieses Spiel ist deshalb so sagenhaft, weil Nunn eine besondere Antwort auf Beliavskys Eröffnung mit Weiß (Sämisch-Variante der Königsindischen Verteidigung, falls Ihnen das etwas sagt) fand, die einen starken Angriff von Weiß nahelegte. Als Schwarz offenkundig ins Stolpern gerät, greift Weiß an. Schwarz opfert einen seiner Springer. Nach diesem Verlust scheint das Spiel vorbei zu sein, aber Schwarz gelingt es, ein Netz zu spannen, aus dem Weiß nicht entkommen kann. Während ich mir die Rekonstruktion des Spiels anschaue, glaube ich zu begreifen, was die Menschen daran so beeindruckend finden. Nunn entdeckte eine Möglichkeit in dem weitläufigen Spieluniversum potenzieller Ausgänge, die für jeden anderen verborgen war, selbst für Großmeister, die anschließend das Spiel analysierten. Auf diese Weise kann Schach jene Qualität erlangen, die wir normalerweise mit Kunst assoziieren. Die Partie Beliavsky-Nunn repräsentiert eine Idee, die zuvor noch nie gedacht wurde.
»Mir war während des Spiels bewusst, dass es etwas Besonderes sein könnte, eine Gelegenheit, wie es sie nur einmal im Leben gibt, und ich war hochmotiviert, sie nicht durch ungenaues Spiel zu verderben«, sagt Nunn. »In dem Fall lief alles gut und ich war hinterher begeistert von dem Spiel.«
Ich fragte Nunn, ob er je einen IQ-Test gemacht habe. Hatte er, als er noch sehr jung war. Das Ergebnis wollte er mir jedoch nicht verraten. »Es war ziemlich hoch, mir kam es unrealistisch vor.« Es gelingt mir, ihm den Punktwert aus den Rippen zu leiern, indem ich verspreche, ihn nicht zu veröffentlichen. Ich kann Ihnen jedoch versichern, dass er, nun ja, »ziemlich hoch« ist, wenn Sie unter »ziemlich hoch« schneebedeckte, erhabene Berggipfel weit über den Tälern, Sümpfen und bescheidenen Hügeln der überwiegenden Mehrzahl der menschlichen Spezies verstehen. Den Mund weit offen starre ich ihn an. »Was denn?«, sagt er. »Das hat vermutlich gar nichts zu bedeuten.«
Lassen Sie uns einen kurzen Schlenker zum IQ machen.
Wenn er sagt, dass sein IQ nichts zu bedeuten habe, lässt sich Nunn vermutlich von seiner Bescheidenheit hinsichtlich des Wertes eines IQ-Tests leiten. Es ist jedoch vielsagend, dass er den Wert von IQ-Tests leugnet und sagt, die Tests würden lediglich feststellen, wie gut man im Durchführen von IQ-Tests sei. Laut Stuart Ritchie, einem Intelligenzforscher am Fachbereich Psychologie der University of Edinburgh »ist das ein bisschen so, als würde ein Multimilliardär sagen: ›Sicher, ich kann nicht klagen, aber Geld ist nicht alles.‹« Diese Kritik hört man jedoch öfter, lassen Sie uns also einen Blick darauf werfen. IQ-Werte korrelieren stark mit einem breiten Spektrum dessen, was wir im Leben erreichen. »Wenn wir einen Schritt zurücktreten und uns die ganze Bandbreite von Menschen ansehen könnten, mit viel niedrigeren und viel höheren IQs als unserem eigenen, würden wir Muster erkennen, inwiefern dieser verknüpft ist mit Ausbildung, Gesundheit, beruflichem Erfolg, Lebensdauer und so weiter«, sagt Ritchie. »Der IQ misst etwas, das im Leben ziemlich wichtig zu sein scheint, und nicht nur, wie gut Sie darin sind, diese Tests zu absolvieren.«
Ich gebe Ihnen ein anschauliches Beispiel. 1947 machten etwa 94 Prozent der 1936 geborenen schottischen Bevölkerung einen IQ-Test. Der Test weist eine lebenslange Stabilität auf, was bedeutet, dass die von Kindern im Alter von elf Jahren erreichte Punktzahl stark mit dem IQ-Wert im späteren Leben korreliert. 2017 gelang es den Wissenschaftlern, bei mehr als 65 000 dieser Kinder nachzufassen. Sie stellten fest, dass das Risiko für einige Todesursachen umso niedriger ist, je höher der IQ in der Kindheit war.12 Dazu zählten Tod durch Atemwegserkrankungen, Herzinfarkt und Schlaganfall sowie Demenz und Selbstmord. Der sozioökonomische Status hatte nur einen geringen Einfluss auf die Sterbewahrscheinlichkeit.
Ich habe nie einen IQ-Test gemacht. Es macht mich einfach zu nervös, womöglich nicht so gut abzuschneiden. Tatsächlich ist die Sorge unangebracht. Feststellungen über den IQ wie jene in der schottischen Studie besprochenen basieren stets auf IQ-Punktwerten, die über die Grundgesamtheit gemittelt werden. Bezogen auf Individuen ist ein hoher oder niedriger Punktwert kein verlässlicher Prädikator für Erfolg oder Scheitern.13 Für viele Menschen besteht die größere Sorge jedoch darin, dass wir andere möglicherweise anhand des IQs bewerten, obwohl das menschliche Leben natürlich aus sehr viel mehr besteht. Es ist das »ich möchte nicht auf eine Zahl reduziert werden«-Argument. Dazu zwei treffsichere Antworten. Erstens, sagt Ritchie, »hat nie jemand behauptet, dass es eine einzelne Zahl sei«. Niemand behauptet, Ihr IQ repräsentiere Ihr ganzes Leben. Der IQ ist eine zweckmäßige Zusammenfassungsgröße, aber Wissenschaftler bauen statistische Modelle mit einer ganzen Hierarchie von kognitiven Fähigkeiten, die von spezifisch bis allgemein reichen, und sehen sich an, wie diese mit verschiedenen Lebenssituationen verknüpft sind.
Zweitens, wenn wir uns weigern, komplexe Dinge auf Zahlen zu reduzieren, können wir sie nicht wissenschaftlich untersuchen – das bezieht sich auf alles, von psychologischen Tests bis zu Klimaforschung. »Wir sind uns alle überaus bewusst, wie komplex Intelligenz ist«, sagt Ritchie, »und diese Zahlen und Modelle sind lediglich ein erster Schritt auf dem Weg, wirklich zu verstehen, warum manche Menschen klüger sind als andere.«
Der IQ-Test mag das kontroverseste Maß in der Wissenschaft sein, aber die Psychologie hat kein noch exakteres und differenziertes Beurteilungsverfahren. »Alle Tests und Studien weisen Probleme auf«, sagt Dana Joseph, eine Psychologin im Fachbereich Management der University of Central Florida, »aber Intelligenztests wurden ausgiebiger analysiert als vermutlich jede andere Art von Test, sodass diese Probleme so weit wie möglich minimiert wurden.« IQ-Tests decken nicht alle Formen von Intelligenz ab, aber kein Test erfasst 100 Prozent des Gebildes, das er zu messen beabsichtigt. »Wir haben Hinweise, dass viele Intelligenztests die Intelligenz ziemlich gut erfassen«, sagt sie.
Ein geeigneter IQ-Test misst eine Bandbreite verschiedener Fähigkeiten – Erinnerungsvermögen, Schlussfolgern (sowohl verbal als auch abstrakt), Allgemeinwissen, Geschwindigkeit geistiger Verarbeitung und räumliches Vorstellungsvermögen. Die Ergebnisse jeder Testuntergruppe werden zusammengefasst zu einer Gesamtpunktzahl und der Durchschnitt der Bevölkerung wird von den Testern bei 100 angesetzt. Viele von uns sagen jetzt vielleicht so etwas wie, »Oh, ich bin gut mit Worten, aber ein hoffnungsloser Fall in Mathe« oder »Ich bin gut im Schlussfolgern, aber mein Gedächtnis ist katastrophal« – wir haben den Eindruck, dass wir auf manchen Gebieten über Stärken verfügen und auf anderen nicht. Aber das ist das Eigentümliche und Beeindruckende am IQ: Menschen, die in einem Testgebiet gut sind, sind es in der Regel auch in anderen. Alle Messwerte zusammen ergeben den »Allgemeinen Faktor der Intelligenz«, den die Forscher als g bezeichnen.
IQ ist nicht gleichbedeutend mit Allgemeiner Faktor der Intelligenz, aber da er viele verschiedene Aspekte der Intelligenz abfragt, korreliert er stark damit. Zahlreiche Arbeiten haben im Laufe vieler Jahre gezeigt, dass Menschen mit einer hohen Punktzahl bei Intelligenztests in der Schule und im Beruf erfolgreicher sind und sogar über eine bessere Gesundheit verfügen. Wir wissen auch, dass es einen genetischen Einfluss auf die Intelligenz gibt. Es gibt viele Gene, die jedes für sich eine kleine Auswirkung auf die Intelligenz haben, wie wir es von komplexen Fähigkeiten erwarten. Wenn die genetische Auswirkung gemessen wurde, erwies sie sich als geringer in Bezug auf den IQ als auf g. Anders ausgedrückt scheinen kulturelle, soziale und Bildungsfaktoren größeren Einfluss auf den IQ haben, während g eher biologisch ist. Wenn man den Lebensweg von Menschen mit einem hohen IQ verfolgt, dann entpuppen sich diese in der Regel als extrem erfolgreich. Mit größerer Wahrscheinlichkeit verfügen sie über Macht, einflussreiche Jobs und Einfluss in vielen Lebensbereichen, von Kunst und Musik über Politik bis zu Wissenschaft. Sie sind in der Regel gesünder, weil sie bessere Entscheidungen treffen. Nebenbei bemerkt, liegt die Übereinstimmung beim IQ von Ehepartnern bei etwa 40 Prozent; für Persönlichkeit liegt sie bei 10 Prozent und für Körpergröße und Gewicht bei 20 Prozent.14
Erhebliche Kritik bleibt. Eine der ärgerlichsten ist, dass jegliche Unterschiede beim IQ, die zwischen verschiedenen Menschengruppen festgestellt wurden – etwa Afroamerikaner und weiße Amerikaner – genutzt werden können, um nahezulegen, dass es dort Unterschiede bei der Intelligenz gibt. Am wahrscheinlichsten ist, dass etwaige Unterschiede die sozioökonomischen und kulturellen Unterschiede widerspiegeln, wie das Erfahren von Rassismus und Armut, statt etwas Genetisches.
Ein weiterer Kritikpunkt besteht darin, dass der IQ die emotionale Intelligenz ignoriert, also die Fähigkeit, zu verstehen, was andere Menschen denken und fühlen. (An dieser Stelle sei Folgendes erwähnt: Der Journalist Adam Grant hat darauf hingewiesen, dass zu den bedeutenden Persönlichkeiten der Geschichte, die die emotionale Intelligenz stark beherrschten, Martin Luther King Jr. gehörte … und Adolf Hitler.)15
Ein Messen der emotionalen Intelligenz wird als nützlich angesehen beim Beurteilen von Bewerbern für Jobs, die Interaktion mit anderen Menschen erfordern. Allerdings legen die Arbeiten von Dana Joseph und ihren Kollegen nahe, dass normale IQ-Tests bessere Leistungsprädikatoren sind.16 Es sieht so aus, als leiste der IQ-Test bessere Arbeit als andere Tests, bei deren Konzeption an verschiedene Formen von Intelligenz gedacht wurde.
Zusammengefasst: Ja, es gibt Probleme, aber der IQ ist die beste Maßeinheit für Intelligenz, die wir haben, und sie korreliert auffällig mit einer Reihe von Lebenssituationen. Dennoch bin ich mir sehr wohl bewusst, dass Intelligenz umfangreich, komplex und vielfältig ist und sich auf die unterschiedlichste Weise zeigt. Da ich noch mehr Menschen mit unterschiedlichen Intelligenzformen eingehender betrachten möchte, habe ich einen Termin mit einer unserer größten lebenden Autorinnen arrangiert.
Bevor ich mich mit Hilary Mantel treffe, versuche ich, in die Rolle ihres Protagonisten zu schlüpfen. Ich spaziere ein kurzes Stück längs der Themse in West-London, vom Ship Pub in Mortlake längs einer Mauer, die dieselbe Grenze nachzeichnet wie vor 500 Jahren die Wand von Thomas Cromwells Haus. Heinrich VIII. ernannte seinen Generalvikar 1536 zum Lord of the Manor of Mortlake. Ich stelle mir vor, die Uhr um 481 Jahre zurückzudrehen, sodass ich Cromwell aus der Kutsche steigen sehe. Er kehrt aus der Stadt zurück, vielleicht in Begleitung eines kleinen Gefolges von Dienstboten, wo er den König am Hof beraten hat. Ich versuche, mir das Gelände ohne die modernen Gebäude, den Pub, die alte Brauerei und Chiswick Bridge vorzustellen. Aber auch ohne diese Dinge bleiben immer noch ein paar Hundert Jahre, die ich zurückspulen muss. Nur die Form des Flusses ist noch dieselbe wie zu Cromwells Zeiten. Vielleicht stehen hier ein paar alte Eichen, die vor einem halben Jahrtausend noch jung waren. Ich kann mir die Szenerie nur schwer vorstellen – nicht so wie Hilary Mantel, die sie beschrieben, recherchiert, sich ausgemalt und praktisch darin gelebt hat.
Mantel war bereits eine erfolgreiche Romanautorin, bevor sie anfing, über Thomas Cromwell zu schreiben. (Er muss, nebenbei bemerkt, einer der intelligentesten Menschen der Tudorzeit gewesen sein, in jedem Fall aber einer der einflussreichsten.) Mit ihren ersten beiden Büchern der Cromwell-Trilogie (Wölfe und Falken) gewann sie jeweils den Man Booker Prize (als erste Frau gewann sie diesen Preis zweimal) und erlangte internationale Bekanntheit. Das Time Magazin kürte sie 2013 zu einer der 100 einflussreichsten Persönlichkeiten der Welt und sie gilt weithin als eine der besten noch lebenden Autorinnen weltweit. Die Tiefe ihrer Charakterisierung und die Klugheit ihrer Literatur werden in nahezu jeder Rezension hervorgehoben. Wenn jemand ein Kandidat für die Aufnahme in dieses Kapitel ist, dann sie.
»Es hat was von nachgeahmtem Tudor«, sagt Mantel, als sie mir die Wegbeschreibung zu ihrer Wohnung durchgibt – wie passend, dass sie in einer Umgebung lebt, die eine moderne Spielart des Tudorstils ist.
Es überrascht nicht, dass sie ihren Umgang mit Worten als ihre erste besondere Fähigkeit nennt. »In unserer Familie erzählt man sich, ich habe nicht gesprochen, bis ich zweieinhalb Jahre alt war – und dann habe ich sofort geredet wie eine Erwachsene.«
Sie sagt, wenn sie an ihre ältesten Erinnerungen zurückdenkt, dann würden die sich nicht so anfühlen, wie wir uns die Erinnerungen eines Kindes vorstellen. Es ist, als erlebte die junge Hilary eine beschleunigte geistige Reifung. »Beinahe so, als hätte in mir eine sehr viel ältere Person gesteckt.«
Sie hält ihre sprachliche Gewandtheit für eine angeborene Eigenschaft. Als junges Mädchen verbrachte sie Tage in der Gesellschaft ihrer Großmutter und deren Schwester, die unentwegt redeten, beinahe ritualisiert und vielleicht nur wenig das variierend, was sie am Vortag gesagt hatten. Aber Hilary saugte alles auf. Als sie eingeschult wurde, verfügte sie bereits über ein umfangreiches Vokabular. Sie war als kleines Mädchen umgeben von Erwachsenen und hatte sich minutiös dem Rhythmus ihrer Sprache angepasst. »Daher rührt mein seltsames Vokabular, als ich zur Schule ging. Bevor ich etwas sagte, habe ich es ausformuliert und erst geredet, wenn ich damit zufrieden und bereit war.«
Diese sprachliche Gabe ist nichts Antrainiertes, da weder Mantel noch die anderen Familienmitglieder diese Art des Sprechens »einstudiert« hatten; ihr Verstand schien bereit zu sein, alles Gehörte korrekt anzuwenden. »Wir können uns alle gut ausdrücken. Sogar meine Mutter, die mit 14 die Schule verließ, macht nie einen Fehler bei Syntax oder Grammatik. Sie kann den längsten Satz bilden – er mag inhaltlich keinen Sinn ergeben, aber die grammatische Form ist perfekt. Und ich glaube, so etwas muss angeboren sein.«
Wir haben bereits gesehen, wie genau der IQ die Intelligenz widerspiegelt und inwiefern das mit vielen Bereichen unseres Lebens korreliert. Das ist umstritten, aber weniger als die Vorstellung, dass einige Aspekte der Intelligenz angeboren sind. Um mehr darüber zu erfahren, treffe ich mich mit Robert Plomin, geboren in Chicago, aber schon vor langer Zeit nach Großbritannien verpflanzt, wo er Professor für Verhaltensgenetik am King’s College London ist. Die von Plomin durchgeführte TEDS-Studie (Twins Early Development Study) ist die größte Zwillingsstudie in Großbritannien, an der mehr als 15 000 eineiige und zweieiige Zwillingspaare teilnahmen, die von frühester Kindheit an bis heute (mittlerweile 21 Jahre alt) begleitet werden.17 Weil Zwillinge identische Gene und nahezu dieselbe Umgebung haben, ist es möglich, eine Fähigkeit wie Intelligenz zu untersuchen – aber auch viele andere Aspekte wie Adipositas – und zu bestimmen, wie sehr diese durch Gene oder die Umwelt beeinflusst werden. Plomin nahm auch Zwillinge, die getrennt voneinander aufwuchsen oder adoptiert wurden, in die Studie auf,18 und seine Schlussfolgerungen sind stabil, eindeutig und irgendwie erschreckend. Die meisten akademischen Leistungen der Kinder bis zum Alter von 16 Jahren sind in der Genetik begründet. Es spielt keine Rolle, welche Art von Schule das Kind besucht oder in was für einer Art von Elternhaus es aufgezogen wird – der IQ eines Kindes korreliert stark mit dem des getrennt aufgewachsenen Zwillings oder der biologischen Mutter. Er korreliert überhaupt nicht mit den Ziehgeschwistern oder der Adoptivmutter. »All die verschiedenen Ansätze: Adoptionsstudien, eineiige Zwillinge, Zwillinge, die zusammen oder getrennt voneinander aufwachsen, sie alle gehen von unterschiedlichen Annahmen aus und münden in exakt dieselbe Schlussfolgerung. Der Einfluss der Gene ist sehr viel maßgeblicher als der von Schule oder häuslicher Umgebung. Ich wüsste nicht, wie Menschen diese Daten leugnen wollen«, sagt er.
In einer Studie mit 360 000 Geschwisterpaaren und 9000 Zwillingspaaren stellten Plomin und seine Kollegen fest, dass hohe Intelligenz, von der Art, wie wir sie in diesem Kapitel untersuchen, erblich ist: Fast 60 Prozent der Unterschiede bei hoher Intelligenz sind genetisch bedingt.19 Das stützt Mantels Intuition, dass ein wesentlicher Teil ihrer Intelligenz ererbt ist.
Es gibt jedoch keine »Intelligenzgene«. Oder besser gesagt, die gibt es schon, aber es sind Tausende, jedes mit einer winzigen Auswirkung auf die Intelligenz und mit Einfluss auf andere Eigenschaften. 2017 wurden bei der Genanalyse von 78 308 Menschen 52 Gene gefunden, die zusammen weniger als 5 Prozent der Intelligenzunterschiede zwischen Menschen erklären.20 Falls es verwirrend ist, dass 60 Prozent der Intelligenz genetisch bedingt sind, die Studie aber nur 5 Prozent entdecken konnte, so liegt das daran, dass spezifische Gene schwer zu finden sind. Die 5 Prozent beziehen sich auf spezifische Gene und Wissenschaftler arbeiten daran, die übrigen 55 Prozent zu finden.
Mantel bezeichnet sich nicht als Perfektionistin, aber sie hegt eine Leidenschaft dafür, Dinge richtig zu machen. »Es scheint, als habe ich mich stets darauf vorbereitet, Autorin zu werden. Ich habe immer nach den exakten Wörtern für etwas gesucht, etwas Vages kam nicht infrage.« (Meine Antwort darauf lautete, dass es mir auch eine gute Übung zu sein scheint, um Wissenschaftler zu werden.)
Ihrer Einschätzung nach hält sie ein gutes Gedächtnis und eine ausgeprägte sprachliche Fähigkeit für ihre herausragenden Eigenschaften (wir werden in Kapitel 2 und 4 genauer darauf eingehen). Manchmal geht sie dazu über, von sich in der zweiten Person zu reden, und das ist dann so, als würde man ihre Thomas-Cromwell-Bücher lesen, in denen auf Cromwell oft mit dem Pronomen »er« verwiesen wird. »Du hast den Eindruck, dass du im Hinblick auf allgemeine Intelligenz bei dem Test nicht allzu gut abschneidest«, sagt sie, »aber was ich habe und was ein IQ-Test einem nicht sagt, ist ein ziemlich gutes Gedächtnis und die Fähigkeit, riesige Datenmengen herunterzubrechen.«