Mathias Hansen
HOMERS ODYSSEE
HOMERS ODYSSEE
Die Simpsons und die Literatur
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Für Fragen und Anregungen
info@rivaverlag.de
Originalausgabe
1. Auflage 2018
© 2018 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
Nymphenburger Straße 86
D-80636 München
Tel.: 089 651285-0
Fax: 089 652096
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Dieses Buch ist kein offizielles Lizenzprodukt und wurde weder von Bongo Entertainment, Inc./Matt Groening noch von der Twentieth Century Fox Film Corporation autorisiert, genehmigt oder lizenziert.
Redaktion: Desirée Simeg
Umschlaggestaltung: Maria Wittek
Satz: inpunkt[w]o, Haiger (www.inpunktwo.de)
Druck: CPI books GmbH, Leck
eBook: ePubMATIC.com
ISBN Print 978-3-7423-0634-0
ISBN E-Book (PDF) 978-3-7453-0182-3
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-7453-0183-0
Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter
www.rivaverlag.de
Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de
INHALT
PROLOG
Das literarische Springfield
1 ZEHN JAHRE AUF DER HEIMREISE
Über Homer
2 ZEITLOSE ERZÄHLUNGEN
Über die Bibel
3 WIE MAN UM SEIN LEBEN ERZÄHLT
Über die Geschichten aus Tausendundeiner Nacht
4 SEIN ODER NICHTSEIN?
Über William Shakespeare
5 VON DER SCHÖNHEIT UND DER WAHRHEIT
Über John Keats
6 SPRACH DER RABE: NIMMERMEHR!
Über Edgar Allan Poe
7 MÄRCHENSTUNDE MIT DEN SIMPSONS
Über die Gebrüder Grimm und Robert Southey
8 FRANKENSTEIN IST KEIN MONSTER
Über Mary Shelley
9 WAS FÜR EIN TAG IST HEUTE?
Über Charles Dickens
10 O CAPTAIN! MEIN CAPTAIN!
Über Walt Whitman
11 DANKE, SZENE AUS MOBY DICK!
Über Herman Melville
12 KREATIVE EINSAMKEIT
Über Emily Dickinson
13 KEARNEYS REISE UM DIE ERDE
Über Jules Verne
14 LISA ALS MAULWURF
Über Kenneth Grahame
15 LÖWE, VOGELSCHEUCHE UND ZINNMANN
Über Lyman Frank Baum
16 DER PROTOTYP-VAMPIR
Über Bram Stoker
17 ENTLARVENDE SATIRE
Über Mark Twain
18 EIN RÄTSELHAFTER BUCHSTABE
Über Nathaniel Hawthorne
19 DIE SIMPSONS IM WUNDERLAND
Über Lewis Carroll
20 ELEMENTAR, MEIN LIEBER WATSON!
Über Arthur Conan Doyle
21 KUNST OHNE NUTZEN
Über Oscar Wilde
22 EIN TAG IN DUBLIN
Über James Joyce
23 NEUES AUS MITTELERDE
Über J. R. R. Tolkien
24 DER MACHO UNTER DEN AUTOREN
Über Ernest Hemingway
25 AUF DEN SPUREN VON ROBINSON CRUSOE
Über William Golding
26 DIE SCHATTEN SEITEN EINES BESTSELLERS
Über J. D. Salinger
27 KRUSTYS BIOGRAF
Über John Updike
28 BIG BROTHER IS WATCHING YOU
Über George Orwell
29 DIE KEHRSEITE DES AMERICAN WAY OF LIFE
Über Arthur Miller
30 AUCH ROBOTER BRAUCHEN GESETZE
Über Isaac Asimov
31 EXZENTRISCHE BEATNIKS
Über die Beat-Generation, Charles Bukowski, Tom Wolfe und viele mehr
32 MIT NUR EINEM BUCH ZUM PULITZER-PREIS
Über Harper Lee
33 MRS. ROBINSON IN SPRINGFIELD
Über Charles Webb
34 LISA IM CAFÉ KAFKA
Über Robert Pinsky
35 HOMER UND DIE SCHOKOLADEN FABRIK
Über Roald Dahl
36 ANONYME GASTAUFTRITTE
Über Thomas Pynchon
37 MEISTERHAFTESCHAUER GESCHICHTEN
Über Stephen King
38 FANTASY AUF KNOPFDRUCK
Über Neil Gaiman
39 BESTSELLER FÜR JUNG UND ALT
Über Joanne K. Rowling
EPILOG – EIN KRITZELNDER SCHRIFTSTELLER
Über Matt Groening
Für meine Eltern Ina und Gerhard, die mir schon in frühen Jahren einen Fernseher gekauft und mir so ermöglicht haben, täglich Die Simpsons zu verfolgen.
Für meinen Bruder Frank, ohne den ich möglicherweise nie auch nur eine einzige Episode geschaut hätte.
Für Billy, der sicherlich noch mehr Simpsons-Szenen auswendig zitieren kann als ich.
Für Gordon, der fast gar keine Szenen zitieren kann, aber dennoch viel zu diesem Buch beigetragen hat.
Und für Melanie, die sich seit über sechs Jahren täglich mindestens zwei Simpsons-Zitate aus meinem Mund anhören muss und unsere Nachbarn mittlerweile als »Nachbarinos« bezeichnet.
PROLOG
Das literarische Springfield
Wer dieses Buch zur Hand nimmt, hat sich mit Sicherheit die folgende Frage gestellt: Was um alles in der Welt haben Die Simpsons mit Literatur zu tun? Springfield ist schließlich alles andere als ein literarisches Mekka: Homer beispielsweise hält Balzac für eine Zote, Picasso wiederum für einen Schriftsteller, und als Marge ihn in einen Buchladen mitschleift, zeigt er sich nur wenig begeistert: »Aber wir haben doch schon ein Buch!« Und Bart benutzt Bücher scheinbar eher, um sich so sportlich fit zu halten, und kickt sie deswegen durchs Wohnzimmer. Als sein Sohn einmal auf Diät gesetzt wird und Homer sich zu einem Milchshake-Festival schleichen will, durchschaut er die Ausrede, die Familie gehe in die Bibliothek, daher sofort: »Wo geht ihr wirklich hin?«
Doch es geht auch anders: Regelmäßige Simpsons-Zuschauer wissen natürlich, dass Bart mit »Bücklinge zum Frühstück« sogar ein eigenes Theaterstück geschrieben hat. Lisa zählt Virginia Woolf zu ihren Idolen, Marge schreibt sogar einen eigenen Roman – den übrigens weder Bart noch Homer jemals lesen. Auch fernab der Simpson-Familie geht es durchaus literarisch zu: So verhilft Lisa dem Barkeeper Moe beispielsweise zu einem kurzzeitigen Durchbruch als Schriftsteller, und Barts strebsamer Mitschüler Martin setzt sich dafür ein, Werke von Isaac Asimov und Arthur C. Clarke in die Bibliothek aufzunehmen. Andererseits: Hinterwäldler Cletus benutzt ein Buch aus der Bibliothek, um den Panzer einer Schildkröte zu zerschlagen. Zudem fährt in der Stadt ein Buchverbrennungsmobil herum. Das Verhältnis zur Literatur ist in Springfield offenbar gespalten.
Obwohl bis heute niemand weiß, wo genau Springfield liegt, lässt sich eines zumindest mit Sicherheit sagen: Ganz hinter dem Mond leben die Bewohner definitiv nicht. Dennoch sind sie offenbar leicht an der Nase herumzuführen. Allzu oft bemerken sie nämlich nicht, dass ihnen Dinge passieren, die in ganz ähnlicher Form bereits bekannten literarischen Figuren widerfahren sind. Dieses Schicksal teilen die Figuren nicht selten mit jenen Zuschauern, die weniger literaturbewandert sind. Aber das macht gar nichts, denn die Autoren haben die Serie schließlich so konzipiert, dass man jede Folge problemlos anschauen kann, ohne auch nur den blassesten Schimmer davon zu haben, auf welche literarischen Werke die Handlung manchmal anspielt. Die Simpsons machen auch ohne das entsprechende Hintergrundwissen einen Riesenspaß! Dennoch, und das ist das Hauptanliegen dieses Buchs, kann dieser Spaß noch ein wenig gesteigert werden, wenn dem Zuschauer bewusst ist, woran die eine oder andere Folge oder Szene angelehnt ist. Darüber hinaus soll dieses Buch einige Informationen zu den literarischen Größen liefern, die unsere moderne Kultur nachhaltig geprägt und eben auch in Springfield ihre Spuren hinterlassen haben.
Die Simpsons thematisieren Literatur also sowohl explizit als auch implizit. Alles andere wäre auch überraschend, schließlich bildet Springfield einen Mikrokosmos unserer realen Welt mit all ihren Eigenheiten. Nach mittlerweile 29 Staffeln und 639 Episoden (Stand Juli 2018) gibt es kaum ein Thema, dessen sich Die Simpsons noch nicht angenommen hätten. Die Macher von Southpark prägten dafür einst – wahrscheinlich unabsichtlich – den Ausspruch »Simpsons did it«, der innerhalb der Fangemeinde schnell zum geflügelten Wort avancierte. Es gibt nichts, was es bei den Simpsons nicht gibt!
Und so kommen zu den vielen politischen, philosophischen, religiösen, mathematischen und psychologischen Themenkomplexen eben auch zahlreiche literarische Referenzen. Matt Groening sagte einst über die Machart seiner Erfolgsserie, dass die Gags auf mehreren Ebenen funktionieren müssten: Slapstick, etwas für Pseudointellektuelle, und derbe Späße, wie sie seinen Kindern gefielen. »Ich liebe es, wenn jeder die höchsten Ansprüche daran stellen kann.« Nun denn: Dieses Buch ist für all die Pseudointellektuellen unter den Simpsons-Fans.
Die Zitate dieses Kapitels entstammen der Biografie Matt Groening. Der Gott der Simpsons von Jeff Lenburg.
1
ZEHN JAHRE AUF DER HEIMREISE
Über Homer
Schon in der zweiten Folge der ersten Staffel, »Bart wird ein Genie«, findet sich eine literarische Anspielung – wenn auch nur sehr versteckt. Aufmerksamen Zuschauern, die vor dem Pause-Knopf nicht zurückschrecken, ist hier vermutlich das Buch Odyssey by Homer aufgefallen, das für einen kurzen Moment im Hintergrund zu sehen ist und eventuell direkt zu einiger Verwirrung führt. Denn anders als man vielleicht meinen möchte, wurde dieses Buch natürlich nicht vom Familienoberhaupt der Simpsons verfasst. Im Gegensatz zum Sicherheitsinspektor von Sektor 7G wird der gesuchte Autor nämlich auf der hinteren Silbe betont, gilt als frühester Dichter des Abendlandes und damit als einer der bedeutendsten Schriftsteller der weltweiten Literaturgeschichte.
Über die Person selbst ist dabei relativ wenig bekannt, schon die wichtigsten Eckdaten seiner Biografie sind stark umstritten. Die Beweislage über Homers Leben ist so dürftig, dass bis heute nicht zweifelsfrei belegt werden konnte, dass er jemals wirklich gelebt hat. Ebenso umstritten ist, welche antiken Werke ihm zuzuschreiben sind. Seine wohl berühmtesten Werke sind Ilias und Odyssee, doch auf beiden ist kein Autorenname zu finden, weshalb sie die sogenannte homerische Frage aufwerfen: War Homer wirklich der Autor?
Wie dem auch sei: Diese beiden Werke sind durch ihre Themen und ihre Stoffe in der klassischen antiken und europäischen Literatur allgegenwärtig. Seit der Antike arbeiteten sich unzählige Autoren an diesen Epen ab, griffen sie auf, arbeiteten sie um, parodierten und zitierten sie. Zudem stammen nicht nur zahlreiche geflügelte Worte aus Homers Feder; auch die Formulierung »geflügelte Worte« selbst geht auf ihn zurück: Sie kommt in der Ilias 46 Mal, in der Odyssee ganze 58 Mal vor.
Der Einfluss, den die Odyssee auf die nachfolgende Literatur hatte, ist immens! Zur Erinnerung: Die Geschichte handelt von König Odysseus von Ithaka und seinen Gefährten, die vom Trojanischen Krieg heimkehren. Nachdem der Krieg schon geschlagene zehn Jahre gedauert hat, folgt auf dem Heimweg eine Irrfahrt, die noch einmal genauso lange dauert, bis Odysseus schließlich heimkehren darf. Schon in der Antike griff Vergil (70–19 v. Chr.) den Text in seinem Epos Aeneis auf, im Orient beeinflusste Homers Werk die Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht (siehe Kapitel 3) und die deutsche Übersetzung des Dichters Johann Heinrich Voß (1751–1826) soll für die deutsche Sprache von ebenso hoher Bedeutung wie Martin Luthers Bibelübersetzung gewesen sein.
Natürlich hat die Odyssee auch in anderen Medien und kulturellen Bereichen deutliche Spuren hinterlassen: Es gibt Dramen und Opern, Filme und Hörbücher, Comics und – natürlich! – diverse Simpsons-Folgen, die das Epos aufgreifen. So trägt beispielsweise die dritte Episode der ersten Staffel den Originaltitel »Homer’s Odyssey«, was natürlich doppeldeutig gemeint ist: Einerseits spielt es auf die antike Geschichte an, andererseits handelt die Folge davon, wie Homer Simpson durch Springfield irrt und sich schließlich sogar von einer Brücke stürzen will.
Besonders direkt nimmt die Folge »Drei uralte Geschichten« auf die Odyssee Bezug. Darin liest Homer seinen Kindern Bart und Lisa aus einem Buch mit dem Titel Classics for Children vor. Ihm kommt die Namensgleichheit merkwürdig vor: »Hm … Homers Odyssee. Geht’s da um den Minivan, den ich mal gemietet hab?« Lisa klärt ihn auf: »Nein, Dad, das ist ’ne Heldensage aus dem alten Griechenland.«
In der anschließenden Geschichte geht es um den klugen Odysseus (dargestellt von Homer), der die Trojaner besiegen möchte. Deshalb schenkt er dem König von Troja (Flanders) ein großes hölzernes Pferd. In der Nacht klettern griechische Soldaten (Lenny, Carl, Moe, Professor Frink) aus dem Pferd und töten die Trojaner. Odysseus ist zufrieden und möchte nach Ithaka zu seiner Frau Penelope (Marge) zurückkehren. Ein weiterer Soldat (Apu) erinnert ihn daran, den Göttern mit einem Tieropfer für den Sieg zu danken, doch er lehnt ab. Die Götter (Quimby als Zeus, der Kapitän als Poseidon, Barney als Dionysos) sind verärgert. Meeresgott Poseidon schickt Homer und seine Mannschaft daher mit einem heftigen Wind in gänzlich andere Gefilde. Dort hören sie den verführerischen Gesang von Frauen auf einer Insel. Carl ist begeistert: »Lasst uns gedankenlos drauf zusteuern!« Doch bei genauerem Hinsehen entpuppen sich die vermeintlich attraktiven Frauen – Sirenen genannt – als Patty und Selma. Die Mannschaft dreht in Sekundenschnelle um!
Währenddessen schwelgt Penelope noch in Erinnerungen an ihren Odysseus, doch ihr Sohn (Bart) schlägt vor, so langsam einen Nachfolger zu erwählen – Hausmeister Willie, der Clown Krusty, Disco Stu, Nachrichtensprecher Kent Brockman, Rektor Skinner und Kirk van Houten, der Vater von Milhouse, stehen bereits Schlange. Doch sie zögert.
Als Odysseus schon kurz vor Ithaka angelangt ist, greift erneut Poseidon korrigierend ein: Odysseus’ Schiff verschlägt es nun zur Insel von Kirke, einer Zauberin. Sie bietet der Mannschaft etwas zu trinken an, und schon nach dem ersten Schluck verwandeln sich Lenny, Carl, Moe und Apu in kleine Schweinchen. Der etwas später eintreffende Homer erkennt zwar die Ähnlichkeit, zieht daraus jedoch keine weiteren Schlüsse und verspeist daher unwissend seine Kollegen. Anschließend macht er sich wieder auf in Richtung Ithaka. »Dafür musst du durch den Hades und den Fluss Styx überqueren«, klärt ihn Kirke auf. Mittlerweile überlegt die zwanzig Jahre lang allein gelassene Penelope ernsthaft, sich doch für einen ihrer Verehrer zu entschieden, als plötzlich Odysseus ins Haus platzt und seine Nebenbuhler mit einem Speer tötet, woraufhin ihm Penelope umgehend seine Abwesenheit verzeiht.
Im griechischen Original widersetzt sich Odysseus dem Gesang der Sirenen, indem er sich an den Mast des Schiffs fesseln lässt. Den Fängen der Zauberin Kirke entkommt er nur mithilfe des Götterboten Hermes, der ihm ein besonderes Kraut überlässt. Und tatsächlich macht Odysseus noch auf viel mehr Inseln halt, bevor er endlich zu seiner Penelope zurückkehren darf. Mit der Vorlage haben es die Simpsons-Macher also nicht ganz genau genommen.
Auch in einer anderen Folge, »Barts Freundin«, versteckt sich noch eine kleine Anspielung auf das griechische Epos. In dieser Episode erliegt Bart der hinterhältigen Jessica, der Tochter von Reverend Lovejoy. In einer Szene, in der sich Bart ihr eigentlich widersetzen will, wird er von ihrem verführerischen, sirenengleichen Gesang magisch angezogen und in die Kirche gelockt – nur um festzustellen, dass dort nicht Jessica, sondern Ned Flanders singt. Er dürfte ähnlich überrascht gewesen sein wie Homer, als er in seiner Rolle als Odysseus auf Patty und Selma stieß!
2
ZEITLOSE ERZÄHLUNGEN
Über die Bibel
Reverend Lovejoy vertritt zwar in »Allein ihr fehlt der Glaube« die Meinung, die Bibel sei ein »zweitausend Jahre altes Schlafmittel«, doch die Autoren der Simpsons treten mit gleich mehreren Folgen den Beweis an, dass die biblischen Geschichten auch im 21. Jahrhundert noch durchaus fesselnd sein können!
Für den einen oder anderen mag es vielleicht verwunderlich wirken, ja vielleicht sogar gotteslästerlich anmuten, wenn man die Bibel in diesem Buch unter dem Begriff »Literatur« behandelt. Daher sei zunächst eine Vorbemerkung gestattet: Dem Wort »Literatur« wohnt noch keine Wertung über den Wahrheitsgehalt eines Buchs inne. Natürlich ist der Großteil der Literatur erfunden und fiktiv, doch zählen beispielsweise auch Reiseberichte oder Autobiografien dazu – die sogenannte faktuale Literatur. Die Grenze ist dabei fließend: Die meisten Autoren holen sich für ihre fiktiven Geschichten Inspirationen im wahren Leben und die meisten Autobiografien lassen Stellen aus oder leiden darunter, dass dem Autor die Erinnerung einen Streich spielt.
Eine Bewertung des Wahrheitsgehalts soll hier zudem ja gar nicht vorgenommen werden. Vielmehr wollen wir die Bibel in ihrer Bedeutung für die erzählende Literatur einmal näher beleuchten – denn diese ist immens. Grob gesagt, verfügen Europa und infolgedessen die gesamte westliche Welt über zwei große Komplexe von Erzählungen: die griechische Mythologie und die Bibel. Nachdem wir dank Homer in Kapitel 1 schon einen Einblick in die Welt von Odysseus und Co. erhaschen konnten, ist es daher nun an der Zeit, uns der zweiten großen Inspirationsquelle der westlichen Literatur zu widmen: der Heiligen Schrift.
Spricht man von der Bibel als Wort Gottes, so ist damit meist gemeint, dass Gott die Verfasser der Schriften gelenkt haben soll. Es ist daher nicht sein direktes Wort, sondern vielmehr ein menschliches Zeugnis der göttlichen Offenbarung. Aus dieser Sicht bedarf die Bibel einer gewissen Interpretation. Fundamentalisten hingegen unterstellen der Bibel eine sogenannte Irrtumsfreiheit. Dies kann mitunter zu Problemen führen, wie uns der überaus gläubige Ned Flanders beispielhaft aufzeigt. In »Der total verrückte Ned« zweifelt er zeitweise an Gott und brüllt gen Himmel: »Ich hab alles getan, was in der Bibel steht – selbst den Mist, der an anderer Stelle widerrufen wird!« Und auch in »Ein Fluch auf Flanders« kommt Ned an einen Punkt, an dem ihm die Bibel nicht mehr weiterhelfen kann. Er verkauft sie daher Homer für drei Cent.
Homer wiederum sieht in der Bibel »ein schönes Handbuch für schlimme Streiche« und will in »Die bösen Nachbarn« die Heuschreckenplage nachahmen. Schon hier wird deutlich: Die Auslegung ist ein wesentlicher Faktor bei der Bibellektüre. Doch es geht noch schlimmer: In »Das Schlangennest« zitiert Reverend Lovejoy aus der Bibel, um Lisa davon zu überzeugen, dass »selbst der Herr« den Knüppeltag billige – einen Tag, an dem alle Springfielder sich mit Knüppeln bewaffnen, um Schlangen zu erschlagen. Und in »Die rebellischen Weiber« behauptet Kent Brockman, in der Offenbarung stehe, dass man Frauen wie Marge Simpson und Ruth Powers die volle Strenge des Gesetzes spüren lassen müsse, da es sonst zu einer Anarchie biblischen Ausmaßes kommen würde. In »Auf der Flucht« behauptet Homer sogar, es würde »Leck mich!« in der Bibel stehen.
Was steht denn nun wirklich im meistverkauften Buch der Welt? In der Folge »Bibelstunde, einmal anders« hätten die Simpsons sicher einiges von Reverend Lovejoy lernen können – wenn sein einschläfernder Vortrag nicht in Kombination mit den hohen Temperaturen dazu geführt hätte, dass die gesamte Familie auf den Bänken der Kirche einschläft und träumt.
Als Erstes sieht man Marge, wie sie von Adam (Homer) und Eva (Marge selbst) träumt. Während Gott (Flanders) ihnen verbietet, eine Frucht vom Baum der Erkenntnis zu essen, möchte die Schlange (Moe) sie dazu verführen. Es kommt zum sogenannten Sündenfall. Sie erkennen ihre eigene Nacktheit und das Schamgefühl hält Einzug ins Paradies, weshalb sie ihre Blöße fortan mit Feigenblättern bedecken. Schon hier beginnen die großen Unterschiede zwischen der biblischen Vorlage und der Simpsons-Episode: Während sich in der Bibel zuerst Eva verführen ließ und anschließend Adam zu essen gab, greift bei den Simpsons zunächst Adam freudig zu und überredet anschließend Eva. Doch Gott erwischt nur Eva und wirft sie aus dem Paradies – in der Bibel werden beide des Paradieses verwiesen. Bei den Simpsons lässt Adam von einem Einhorn einen Tunnel graben, um Eva zurückzuholen, was Gott so erzürnt, dass er anschließend beide aus dem Paradies verbannt. Sie sind zuversichtlich, dass er sie schon bald wieder zurückholen wird. Damit endet Marges Traum.
Als Nächstes ist Lisas Traum an der Reihe. Dieser handelt vom Auszug aus Ägypten, der im Alten Testament geschildert wird, bei dem die Israeliten aus der Sklaverei des Pharaos von Ägypten (Skinner) befreit werden. In der Simpsons-Version hat jemand den Sarkophag des Pharaos mit einem frechen Spruch beschmiert, woraufhin Ägyptens Herrscher den Täter ermitteln möchte. Ein brennender Dornbusch verrät Bart als den Übeltäter. Im biblischen Original ist es jener Busch, der Moses mitteilt, dass er das Volk Israels befreien soll. Bei den Simpsons ist es die Sklavin Lisa, die Moses (Milhouse) dazu bewegt, die Forderung »Lass mein Volk ziehen!« auszusprechen – mit eher mäßigem Erfolg. Pharao Skinner ist wenig beeindruckt. Aus diesem Grund schütten Moses und Lisa Frösche durch ein Loch im Dach seines Zeltes als Vortäuschung einer Plage. Dies deckt sich in etwa mit der Bibel, in der sich der Pharao ebenfalls weigert, Moses’ Volk ziehen zu lassen, woraufhin dieser seinen Gott JHWH bittet, eine Plage nach der anderen zu schicken – die Frösche sind übrigens die zweite der insgesamt zehn biblischen Plagen. Doch bei den Simpsons unterbindet Pharao Skinner weitere Plagen, indem er Lisa und Moses in eine Pyramide sperrt. Nachdem die beiden durch einen glücklichen Baufehler wieder herauskommen, stiften sie das Volk schließlich zur Flucht an: Durch die gleichzeitige Betätigung aller Toiletten wird das Rote Meer leergesaugt. Im biblischen Original teilt Moses das Meer, um sein Volk anschließend hindurchzugeleiten. Doch die Freude über die gelungene Flucht ist nur von kurzer Dauer: Den Israeliten und ihren Anführern steht eine vierzigjährige Reise durch die Wüste bevor. An dieser Stelle endet Lisas Traum.
Anschließend fantasiert sich auch Homer in die biblische Welt. Er sieht sich selbst als König Salomo, der laut Bibel einst über das Königreich Israel herrschte. Heutzutage ist er vor allem für seine Rechtsprechung bekannt: Das »salomonische Teilen« oder auch ein »salomonisches Urteil« gelten als Synonym für eine kluge, ausgewogene Entscheidung zur Schlichtung eines Konflikts. Auch Homer muss in seinem Traum ein solches Urteil fällen: Chief Wiggum berichtet, Lenny und Carl würden um einen Kuchen streiten. Weise teilt Salomo den Kuchen in zwei Hälften – woraufhin er die Todesstrafe verhängt und den Kuchen selbst aufisst. Hier endet Homers Traum und schon kurz darauf sehen wir Barts Traum.
Bart tritt darin als David auf. In der Bibel entsteht dessen Auseinandersetzung mit Goliath daraus, dass das israelische Volk gegen das Volk der Philister kämpft. Goliath ist deutlich größer als seine Mitmenschen – ein Riese. Doch mit viel List und Tücke und mithilfe seiner Steinschleuder gelingt es David letztlich, Goliath zu Fall zu bringen. Die Simpsons-Variation dieses Kampfes hält sich nur lose an diese Vorlage. Möglicherweise ist Barts religiöse Bildung einfach nicht sonderlich ausgeprägt. In seiner Fantasie ersticht Goliath jedenfalls Methusalem, was als Ausgangspunkt des Konflikts gilt. Methusalem ist ebenfalls eine biblische Figur und wurde laut Überlieferung stolze 969 Jahre alt. Auch ist David in Barts Traum zum Zeitpunkt seines Kampfes gegen Goliath bereits ein König; in der biblischen Vorlage hingegen war er zu dieser Zeit noch ein berühmter Soldat, die Phase als König folgte erst deutlich später. Wie dem auch sei: Es kommt auch hier zum Kampf zwischen David (Bart) und Goliath (Nelson). Doch als David keinen Stein für seine Schleuder findet, wirft ihn Goliath weit weg und übernimmt fortan die Herrschaft. Nach intensivem Training kehrt David zurück zum Turm zu Babel, in dem der Riese wohnt – was natürlich abermals grober Unfug ist. Der Turm zu Babel war keineswegs der Wohnort von Goliath.
In »Wunder gibt es immer wieder« verlangt Homer von Maude Flanders, ein Eis so hoch wie den Turm zu Babel zu bauen – er hat offenbar nicht aus den Fehlern der damaligen Turmbauer gelernt. Doch zurück zu David und Goliath: David gelingt es, seine Krone zurückzuerobern. Den Tod Goliaths führt jedoch Ralph – in der Rolle eines unscheinbaren Schäfers – herbei. Doch das Volk ist unzufrieden: Goliath habe Straßen, Bibliotheken und Krankenhäuser gebaut. »Für uns war er Goliath, der Sympathiebaumeister«, erläutert Carl. Und so kommt es, dass David nicht gefeiert, sondern verhaftet wird.
Als die Simpsons schließlich wieder aufwachen, stellen sie fest, dass Lovejoys Vortrag längst beendet ist und alle anderen Springfielder die Kirche bereits verlassen haben.
Es gibt noch weitere Episoden, die belegen, dass sich die biblischen Erzählungen noch nicht überlebt haben. In »Homer und die Halbzeit-Show« beispielsweise inszeniert Flanders den Kampf zwischen Kain und Abel als Film mit seinen Söhnen Rodd und Todd. In der Bibel sind Kain und Abel die Söhne von Adam und Eva. Beide bringen Gott ihre Opfer dar, doch Gott findet an Kain Feldfrüchten weit weniger Gefallen als an dem Lamm seines Bruders Abel, der Hirte ist. Kain wird neidisch auf Abel und erschlägt ihn daraufhin.
Flanders’ Film kommt so gut an, dass Mr. Burns ihm einen weiteren finanziert. Darin ist unter anderem zu sehen, wie der Prophet Jona in den Bauch eines Wals gelangt und wie König Salomo den Streit zweier Mütter um ein Kind entscheidet: Er schneidet das Baby in zwei Hälften, was nicht unbedingt der literarischen Vorlage entspricht. In der Bibel droht Salomo lediglich damit, es auf diese Weise zu zerteilen. Während die eine Mutter tatsächlich mit der Teilung einverstanden wäre, lenkt die andere Mutter ein und gibt das Kind freiwillig ab, solange es nur überlebt. Salomo spricht ihr daraufhin das Kind zu.
Marge ist von dem Film entsetzt. Viel zu blutrünstig würde Flanders die biblischen Inhalte wiedergeben! Als sie Mr. Burns mit Boykott droht und andere Springfielder sich ihr anschließen, zieht Flanders seinen Film schließlich zurück. Doch schon bald ergibt sich eine neue Gelegenheit für Ned: Homer kommt die besondere Ehre zu, die Halbzeit-Show des Superbowl inszenieren zu dürfen. Gemeinsam stellen sie die Sintflut dar, bei der Homer als Noah und Ned als Erzähler auftritt. Bei der Sintflut ging es Gott darum, die gesamte Menschheit als Strafe für ihre Sündhaftigkeit auszulöschen. Nur der äußerst fromme Noah und seine Familie sollten verschont bleiben. Mithilfe seiner Arche sicherte er den Fortbestand von Menschen und Tieren. Diese Szene ist es auch, die in der Simpsons-Folge »Wird Marge verrückt gemacht?« von den Mitarbeitern einer Eisdiele inszeniert wird, als Homer einen Eisbecher namens »Die Arche« erhält.
Und da bekanntermaßen unser alljährliches Weihnachtsfest ursprünglich einen religiösen Hintergrund hat, kommen die Weihnachtsfolgen der Simpsons natürlich nicht gänzlich ohne Bibelreferenz aus – auch wenn Bart das Ganze ein wenig anders sieht. In »Die Lieblings-Unglücksfamilie« verkündet er nämlich, an Heiligabend feiere man die Geburt des Weihnachtsmanns.
In der Folge »Simpsons Weihnachtsgeschichten« ist Reverend Lovejoy leider verhindert, weshalb kurzerhand Ned die Predigt übernehmen soll. Doch er schneidet sich an seiner vorbereiteten Rede und fällt in Ohnmacht. Glücklicherweise ist Homer bereit, als Prediger einzuspringen. Er erzählt die Geschichte des Zimmermanns Josef (Homer) und seiner Frau Maria (Marge), die trotz ihrer Jungfräulichkeit schwanger wurde. Ein Engel (Lisa) prophezeit, dass das Kind (Bart als Jesus) einst der König der Juden sein würde. Auch die Heiligen Drei Könige (Dr. Hibbert, Rektor Skinner und Professor Frink) haben davon gehört und bringen Gold, Weihrauch und Myrrhe. König Herodes (Mr. Burns) denkt, mit dem »König der Juden« sei er gemeint, woraufhin ihm Skinner erklärt, dass die Geschenke nicht für ihn seien. Der König befiehlt daraufhin, das Jesus-Baby umzubringen. Durch einen Trick – der ganz sicher nicht so in der Bibel steht! – gelingt Josef und Maria die Flucht: Sie setzen Barts Heiligenschein, dem Herodes’ Schergen folgen, einer Ente auf, die in eine andere Richtung läuft. Homer ist von seiner eigenen Geschichte mehr als überzeugt und erzählt euphorisch weiter: »Und habt ihr gewusst, dass das kleine Jesus-Baby … herangewachsen ist … als Jesus?« Die Springfielder sind begeistert!
Simpsons
Es gibt übrigens noch eine weitere Folge, die eine Geschichte aus der Bibel als Grundlage hat – jedoch wissen es vermutlich die wenigsten. Dabei spielt schon der Originaltitel der Episode »Karriere mit Köpfchen« darauf an: »Simpson and Delilah« ist an die Erzählung von »Samson und Delilah« angelehnt. Sie handelt von dem als unbesiegbar geltenden Richter Samson und einer Frau namens Delilah, die ihn schließlich doch bezwingt. Samson verdankt seine ungeheuren Kräfte seinem Haar. Sollte es einmal geschnitten werden, erlöschen sie. Als er sich eines Tages in die junge Delilah verliebt, die einem feindlichen Volk angehört, bieten ihr die Fürsten 1100 Silbermünzen dafür, ihn zu bezwingen. Das Problem: Niemand außer Samson selbst kennt die Quelle seiner Kraft. Mehrfach versucht Delilah, sein Geheimnis aus ihm herauszukitzeln, und mehrfach tischt er ihr stattdessen eine Lüge auf. Als sie ihm daraufhin vorwirft, ihr nicht genug zu vertrauen, offenbart er ihr schließlich doch die Wahrheit – welche sie nur alsbald den Fürsten berichtet. Sein Tod ist damit besiegelt.
In der erwähnten Simpsons-Episode kauft Homer sich eine neue Haarwuchskur, die tatsächlich wahre Wunder bewirkt. Schon bald ist sein bislang kahler Kopf gefüllt mit vollen braunen Haaren. Der neue Look hat auch einen Aufstieg auf der Karriereleiter zur Folge: Mr. Burns ist von dem jung und dynamisch wirkenden Homer sichtlich beeindruckt und befördert ihn. Doch als die Verantwortlichen mitbekommen, dass Homer sein Haarwuchsmittel über die Krankenkasse des Atomkraftwerks abrechnen lässt, streichen sie die dafür vorgesehenen Gelder umgehend. Homer kann sich die Kur fortan nicht mehr leisten, und so schnell, wie seine Haare einst aus der Kopfhaut schossen, verschwinden sie daraufhin auch wieder. Parallel dazu verliert Homer auch seine neue Stelle und schon bald sitzt er wieder an seinem alten Arbeitsplatz als Sicherheitsinspektor in Sektor 7G. Da hat es Samson vergleichsweise deutlich schlimmer getroffen!