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Originalausgabe
1. Auflage 2019
© 2019 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
Nymphenburger Straße 86
D-80636 München
Tel.: 089 651285-0
Fax: 089 652096
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Redaktion: Alfred Hackensberger
Lektorat: Daniel Matissek, Sabine Franke
Umschlaggestaltung: Marc-Torben Fischer, München
Satz und E-Book: Daniel Förster, Belgern
ISBN Print 978-3-7423-0427-8
ISBN E-Book (PDF) 978-3-95971-946-9
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-95971-947-6
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Ich widme dieses Buch meiner Mutter und meinem Vater:
Ohne eure Unterstützung gäbe es dieses Buch nicht.
Danke.
Vorwort
Teil I
Geschichte, Politik und Struktur
1. Die Geschichte der Kurden
2. Sykes-Picot, Sèvres und Lausanne
3. Die unterschiedlichen Teile Kurdistans und ihre Parteien
Trennung nach Sprachen
Trennung nach Staatsgrenzen
Die Region Bakur
Başûr – die Autonome Region Kurdistan
Das syrische Kurdistan: Rojava
Der iranische Teil: Rojhilat
4. Die Familien Barzani und Talabani
Macht und Relevanz im Allgemeinen
Die Vorgeschichte der Familien
Konflikt und Bürgerkriege
Die jüngere Entwicklung
5. Abdullah Öcalan und die PKK
Teil II
Aktuelle Situation der Kurden
6. Minderheiten
7. Presse- und Meinungsfreiheit
Grundsätzliches zur Entwicklung der Pressefreiheit in Kurdistan
8. Die Situation der Frauen
Zwischen Tradition und Moderne
Gegensätze zwischen Anspruch und Wirklichkeit
Die Unterdrückung der Frau ist allgegenwärtig
Bildteil
Teil III
Wirtschaft und Partner
9. Wirtschaftliche Situation
Aufschwung seit 1991
2014: Die Krise
Die gegenwärtige Lage
Einflussnahme der irakischen Zentralregierung
Ausblick
10. Beziehungen zur Türkei
Kurden und Türken im Licht der Geschichte
Wirtschaftliche Partnerschaft
Das türkische Kurdenproblem
Wohlwollen und Willkür – die Beziehung zu Erdoğan
Pragmatismus als Fundament
11. Waffenlieferungen
Teil IV
Unabhängigkeit und Freiheit
12. Kurdische Unabhängigkeit – ein unerfüllter Traum
Die Ankündigung des Referendums 2017
Barzanis Beweggründe
Vom Westen alleingelassen
Durchführung, Ausgang und Folgen des Referendums
Ein weiteres Unabhängigkeitsprojekt: Das kurdische Staatswesen in der Föderation Nordsyrien
13. Die Rolle des Iran
14. Israel und Kurdistan – Geschwister im Schicksal
Ein Gastbeitrag von Arye Sharuz Shalicar
Resümee
Danksagung
Glossar
Quellen
Über den Autor
Kurdistan. Vor dem Jahr 2014 verbanden viele mit diesem Begriff wohl am ehesten »Das wilde Kurdistan« von Karl May. Ich selbst habe diese orientalischen Reiseerzählungen des deutschen Erfinders von Winnetou und Old Shatterhand – wohl auch zum Glück – nicht gelesen. So konnte ich mich ganz vorurteilsfrei in mein persönliches Kurdistan-Abenteuer stürzen. Ich muss gestehen, dass für mich – als Politiker, Ex-Unternehmer und später hauptberuflicher Journalist – das Land ein weißer Fleck war.
Natürlich wusste ich, dass es Kurden und das sogenannte »Kurdenproblem« gibt, aber wirklich beschäftigt hatte ich mich damit nicht. Auch war ich nie in Kurdistan gewesen. Dann kam jedoch das Jahr 2014. Genauer gesagt, es war der Juni 2014. In diesem Monat wurde die Geschichte der gesamten Region neu geschrieben. Denn der sogenannte Islamische Staat (IS) überfiel den Irak. Zuerst überrannten die Terroristen nahezu kampflos Mossul, die zweitgrößte Stadt des Landes, da der Großteil der dort stationierten irakischen Armee davongelaufen war. Im August drangen die Extremisten in die Ninive-Ebene und in die Provinz Sindschar (Shingal) ein, den Lebensraum der ethnischen Minoritäten von Assyrern und Jesiden.
Ich erinnere mich noch gut: Es war eine Reportage des US-Nachrichtensenders CNN über den Vernichtungsfeldzug des IS, die mich damals, wie ein Schlag ins Gesicht, plötzlich wachrüttelte.
Am 2. August hatten die Dschihadistenhorden ihre Jagd auf die Jesiden begonnen. Hunderttausenden Jesiden war nur die panische Flucht geblieben, um ihr nacktes Überleben zu retten. Dabei sind die Jesiden traditionell friedfertige Menschen, die einer monotheistischen, nicht-aggressiven Naturreligion anhängen. Nun mussten sie in das Sindschar-Gebirge fliehen, ihren letzten Zufluchtsort, dorthin, wo sich ihre heiligen Tempel und Wallfahrtsstätten befinden.
Die Temperaturen lagen, wie im Sommer im Irak üblich, bei 50 Grad Celsius im Schatten. Das ist buchstäblich eine mörderische Hitze für alle jene, die nicht genügend Wasser bei sich haben. Hunderte von Jesiden verdursteten auf ihrem oft tagelangen Fußmarsch in die rettenden Berge. Mütter mussten sich entscheiden, welches ihrer Babys überleben durfte und welches sie zum Sterben zurückließen. Denn das Wasser, das zur Verfügung stand, reichte nur für ein Kind.
Die Not und das Elend der Flüchtlinge waren in einer Flut von Bildern und Videos im Internet zu sehen. Kinder brüllten nach Wasser. Menschen weinten vor Angst. Sie erzählten von Massenerschießungen und brutalen Entführungen durch den IS, die sie mit ansehen mussten. Helikopter flogen zwar pausenlos Lebensmittel und Wasser zu den Tausenden von Flüchtlingen auf dem Plateau des Sindschar-Gebirges. Aber die Hilfslieferungen reichten nicht. Voller Verzweiflung und Panik bestürmten Menschen die Hubschrauber, um ausgeflogen zu werden. Jeder in der Menge versuchte irgendwie einen Platz zu ergattern. Aber der Helikopter war binnen weniger Momente voll besetzt und musste abheben.
Ein Reporter von CNN, der mitgeflogen ist, hat zutiefst bewegende Bilder mit seiner Kamera eingefangen. Da sind die weiterhin angsterfüllten Blicke der Jesiden, obwohl sie der Hölle entkommen sind. Darunter ist ein kleines Mädchen, mit dunklen, weit aufgerissen Augen. Ihre schmalen Kinderlippen zittern, sie ringt panisch nach Luft, ihr Körper scheint kurz davor, zu kollabieren. Die Kamera fängt diesen Blick des Mädchens ein, von dem man nicht weiß, ob es überleben wird. Es ist ein schockierender Blick, der mir mitten ins Herz geht.
Diese Momente im Hubschrauber bedurften keiner Worte mehr. Sie lösten in mir eine Explosion aus. Wut, Verzweiflung, Hass und Hilflosigkeit kamen zuerst hoch, aber am Ende stand dann der feste Wille: Du musst etwas tun! Ich griff zum Telefon und rief Gunter Völker an, der in Erbil, der Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistans, ein bekanntes Restaurant mit deutscher Küche unterhält. Er berichtete von Hunderttausenden von Flüchtlingen, denen in erster Linie sauberes Trinkwasser fehle. Daraufhin organisierten wir gemeinsam eine erste Wasserlieferung nach Erbil, die wir aus eigener Tasche finanzierten. Über Nacht baute ich eine Spendenseite im Internet auf, und meine politische Jugendorganisation, die Jungen Liberalen Rheinland-Pfalz, erklärte sich bereit, als transparente Sammelstelle zu fungieren. So konnten wir sofort helfen. Ab dem 26. August gingen die ersten Spenden ein. Nach zehn Tagen waren schon über 20 000 Euro gespendet worden. Kurz darauf war ich auf dem Weg in die Autonome Region Kurdistan. Das Flugzeug musste vor der Landung auf dem Flughafen von Erbil mehrmals kreisen, um sicherzugehen, dass es vom IS nicht abgeschossen werden konnte.
Nach diesem September 2014 habe ich die Autonome Region Kurdistan immer wieder besucht – mindestens ein Dutzend Male. Ich mag die Stadt Erbil mit ihrer Altstadt und der alles überragenden, imposanten Zitadelle. Ich kenne die Erdölmetropole Kirkuk mit ihren politisch-ethnischen Konflikten sowie das moderne Sulaimaniyya und natürlich auch Dohuk, das heute vorwiegend aufgrund seiner großen Flüchtlingslager bekannt ist. Unausweichlich waren während des Kriegs gegen den IS auch einige Frontbesuche bei Mossul, in Kirkuk und im Sindschar-Gebirge.
Zum Glück ist dieser Kampf heute zu Ende. In den zerstörten Dörfern und Städten hat der Wiederaufbau begonnen. Die Menschen im heute eher westlich orientierten, irakischen Teil Kurdistans glauben wieder an eine Zukunft. Sie sind offen geblieben, und ihre Gastfreundschaft ist nach wie vor legendär. Das mag mit daran liegen, dass die Bewohner dieser Region in einer multiethnischen und multireligiösen Gesellschaft groß geworden sind, was Toleranz lehrt.
Die Autonome Region Kurdistan steht Europa weit näher als dem Irak, zu dem sie de facto gehört. Es war deshalb nicht verwunderlich, dass die deutsche Bundesregierung für den Kampf gegen den IS Waffen nach Erbil schickte. Sie waren entscheidend im Krieg gegen die Extremisten. Vor allem dank deutscher Militärhilfe konnte der IS aus Kurdistan vertrieben werden. Eine ganz besondere Rolle spielten dabei die Panzerabwehrraketen vom Typ MILAN. Durch sie konnten die zuvor schier unaufhaltsamen Selbstmordattentäter mit ihren Autobomben zielgenau ausgeschaltet werden.
Die Geschichte der Kurden ist geprägt vom Kampf um Unabhängigkeit und dem Willen zur Freiheit. Ihr größter Wunsch ist ein unabhängiger, eigener Staat. Im Jahr 2017 glaubte die kurdische Unabhängigkeitsbewegung schon, dem Ziel einen entscheidenden Schritt näher gekommen zu sein. Im September des Jahres fand im Irak ein Referendum über die Unabhängigkeit der Autonomen Region Kurdistan statt. Ich war als offizieller deutscher Wahlbeobachter vor Ort, neben weiteren internationalen Wahlbeobachtern aus Großbritannien, Österreich, Polen und sogar Japan. Zufällig traf ich bei einer Wahllokalkontrolle auf den deutschen Generalkonsul, der sich ebenfalls einen Eindruck von der Wahl verschaffen wollte.
Das Referendum geriet zum vollen Erfolg für die Befürworter der Unabhängigkeitsbestrebungen: Über 90 Prozent der überwiegend kurdischen Bevölkerung votierte für die Unabhängigkeit – doch leider hatten sie die Rechnung ohne die westliche Staatengemeinschaft gemacht, die das Referendum nicht nur nicht anerkannte, sondern scharf kritisierte. Ein weiteres Mal ließ der Westen die Kurden wie eine heiße Kartoffel fallen (siehe Kapitel 12).
Infolge der verstärkten Bemühungen der Kurden um Unabhängigkeit befürchtete die irakische Regierung als Konsequenz des Referendums Separationsbestrebungen auch in anderen Landesteilen, und entschied sich für harte Gegenmaßnahmen. Im Verbund mit schiitisch-islamistischen Truppen aus dem Iran überfielen irakische Einheiten die kurdische Erdölstadt Kirkuk und vertrieben die dortigen kurdischen Einwohner – nicht ohne diverse Kriegsverbrechen zu begehen. Der Verlust von Kirkuk hat die Seele der Menschen in der Autonomen Region Kurdistan tief verletzt und die politischen Gräben zwischen ihnen und der irakischen Regierung in Bagdad erneut weit aufgerissen. Tatsache ist, dass an ein unabhängiges Kurdistan auf dem derzeitigen Gebiet des Irak erst einmal nicht mehr zu denken ist, Verhandlungen über eine Unabhängigkeit sind vorerst ad acta gelegt.
Dafür gibt es auf der anderen Seite der Grenze neue Hoffnungen. Im Norden Syriens hat sich eine Föderation mit basisdemokratischen Regierungen etabliert: die autonom agierende Demokratische Föderation Nordsyrien. In dieser Region leben zwar überwiegend Kurden, trotzdem ist das, was dort entstehen soll, kein reiner Staat für Kurden. Es handelt sich vielmehr um ein polyethnisches Projekt, an dem auch Araber, Assyrer und Turkmenen gleichberechtigt mitwirken.
Ich war in Nordsyrien, um die Entwicklungen rund um diese junge demokratische Regierung zu beobachten, deren Entwicklung schon deshalb spannend ist, weil dieses Staatsprojekt ohne kurdischen Nationalismus auskommen will. Schulen, Verwaltung und Krankenhäuser der Demokratischen Föderation Nordsyrien werden von den USA unterstützt. Im syrischen Teil Kurdistans hat es Washington also nicht nur bei der Militärhilfe für die Demokratischen Kräfte Syriens (DKS) belassen, sondern engagiert sich auch im Zivilleben. Zur Erinnerung: Die DKS (im Englischen SDF für Syrian Democratic Forces) haben mithilfe der USA den IS bekämpft und besiegt. Sie haben Rakka, die Hauptstadt des »Kalifats« des Islamischen Staates, von der Gewaltherrschaft der Terroristen befreit. (Die DKS, in denen Kurden, Araber und Christen Seite an Seite kämpfen, sind nicht mit den sogenannten »syrischen Rebellen« zu verwechseln, die, beispielsweise in Aleppo, jahrelang gegen das Regime von Präsident Bashar al-Assad Widerstand leisteten.)
Dieses Buch versucht einen genaueren Einblick in das syrische und das irakische »Kurdistan« zu geben. Wer sind diese Kurden, die wir als Partner des Westens im Mittleren Osten sehen, an vorderster Front unsere Freiheit und unseren Lebensstil gegen den Terror verteidigend? Welche Rolle können sie zukünftig im komplexen politischen Geschehen der Region spielen? Basierend auf vielen, teils vertraulichen Gesprächen werde ich nach allgemeinen Eingangskapiteln zu Geschichte, Politik und Struktur der Kurdengebiete auf die derzeitige Lage hinsichtlich der Presse- und Meinungsfreiheit, der Menschenrechte und der Rechte der Frauen insbesondere im irakischen Teil der Kurdenregion eingehen. Wie sieht es aus mit der Religionsfreiheit, und wie leben die verschiedenen konfessionellen Gruppen mit- und nebeneinander? Inwiefern dominiert der Islam die beiden Regionen und ist die Situation in Syrien und im Irak anders als bei den Nachbarn?
Im dritten Abschnitt des Buches zeige ich auf, wie die Autonome Region Kurdistan und die angrenzenden Kurdengebiete wirtschaftlich aufgestellt sind und warum gerade bei den irakischen Kurden eine so große Abhängigkeit von der Türkei zu beobachten ist. Ich hinterfrage die aktuellen Grenzen und die Haltung der Bundesregierung zur »territorialen Integrität« des Irak und zu ihrer umstrittenen Partnerschaft zum Iran und der Türkei. Der letzte Teil des Buches befasst sich damit, ob die Autonome Region Kurdistan überlebensfähig ist, und wenn ja, wie. Welche Rolle können die Kurden im gesamten Mittleren Osten zukünftig einnehmen, und welche Chancen bieten sie uns im Westen als Partner?
Der Glaube ist in dieser Region nach wie vor stark verwurzelt, er ist dort geradezu identitätsbestimmend. Das gilt insbesondere für die vielen Minoritäten, die bereits viele Jahrhunderte vor dem sunnitischen Islam existierten, der gegenwärtig den religiösen »Mainstream« im Mittleren Osten bildet. Das Kurdengebiet ist die Heimstätte von Jesidentum, Zoroastriern, Aleviten, Drusen und dem Judentum, um nur einige zu nennen. Es ist die Wiege vieler Kulturen – und nicht zuletzt deshalb sollte uns die Zukunft dieser Region nicht gleichgültig sein.