EIN NAVI
FÜR DEN BILDUNGSWEG
Aus dem Englischen von Karoline Zawistowska
Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger
Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw.
Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.
Copyright © 2018 by Ken Robinson
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel
You, Your Child, and School. Navigate Your Way to the Best Education bei Viking, Mitglied der Penguin Random House LLC, New York (USA).
1. Auflage
© 2018 Ecowin Verlag bei Benevento Publishing,
eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Gesetzt aus der Minion Pro, Eureka Sans, Mrs. Eaves
Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:
Red Bull Media House GmbH
Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15
5071 Wals bei Salzburg, Österreich
Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT
Umschlaggestaltung: b3K design, Andrea Schneider, diceindustries
ISBN 978-3-7110-0175-7
eISBN 978-3-7110-5240-7
In Liebe
für James und Kate
1. Orientieren Sie sich
2. Bedenken Sie Ihre Rolle
3. Verstehen Sie Ihr Kind
4. Stärken Sie Ihr Kind
5. Die Rolle der Schule verstehen
6. Finden Sie die richtige Schule
7. Betrachten Sie das Wesentliche
8. Bauen Sie eine Beziehung auf
9. Gehen Sie das Problem an
10. Blicken Sie nach vorn
Danksagung
Anmerkungen
Wenn Sie Kinder im Schulalter haben, ist dieses Buch das Richtige für Sie. Mein Ziel ist es, Ihnen dabei zu helfen, Ihrem Kind die Schulbildung zu ermöglichen, die es braucht, um ein produktives, erfülltes Leben zu führen. Mein gesamtes Berufsleben lang habe ich im Bildungssystem gearbeitet. Dabei habe ich unzählige Unterhaltungen mit Eltern über Schulbildung geführt. Ich bin selbst Vater und weiß somit aus erster Hand, dass es sowohl eine Herausforderung als auch eine Erfüllung ist, Kinder großzuziehen. Wenn Ihre Kinder in die Schule kommen, wird es noch komplizierter. Bis dahin waren Sie selbst für ihre Erziehung und ihr Wohlergehen verantwortlich. Und plötzlich übergeben Sie ihre Kinder für einen Großteil des Tages anderen Menschen, die dadurch während der prägendsten Jahre einen enormen Einfluss auf sie ausüben.
Der erste Schultag bringt eine Unmenge an Gefühlen mit sich. Sie hoffen, dass Ihre Kinder Spaß am Lernen haben, Freunde gewinnen und in der Schule Glück und Inspiration finden. Gleichzeitig wird Ihnen vermutlich ein wenig bang ums Herz. In der Schule werden ganz neue Beziehungen aufgebaut. Wie wird Ihr Kind auf seine Lehrer reagieren? Wird die Schule erkennen, was an ihm besonders ist? Was ist mit den anderen Eltern und Kindern? Wird Ihr Kind diese neuen sozialen Hürden überspringen, oder wird es ins Stolpern geraten? Es ist kein Wunder, wenn Sie am ersten Schultag ihres Kindes einen Kloß im Hals verspüren. Es kommt Ihnen vor, als würde sich alles ändern. Und das stimmt.
Emma Robinson ist Lehrerin in England. Auch sie hat ein Kind und weiß, wie man sich als Mutter oder Vater am ersten Schultag fühlt. Ihr Gedicht »Dear Teacher« wurde inzwischen von Tausenden Menschen auf Facebook geteilt. Hier ein Auszug:
Ich weiß, Sie haben viel zu tun
Hier sind die Schüler schon
Am ersten Tag bleibt wenig Zeit
Doch das hier ist mein Sohn.
Sie haben alles voll im Griff
Da kann ich sicher sein
Doch mein Kind ist gerade vier
Er ist doch noch so klein!
Er wirkt so groß in Uniform
So selbstbeherrscht und kühn
Doch hier im großen
Schulhof Scheint alles viel zu früh.
Das erste Mal, dass ich ihn hielt
Scheint gar nicht lange her
Ich liebte und beschützte ihn
Er lernte nur von mir.
Jetzt küsse ich ihn noch einmal
Und schicke ihn hinein
Und weiß, er wird nie wieder ganz
Mein kleiner Junge sein.1
Schon immer ist es Eltern schwergefallen, ihre Kinder anderen anzuvertrauen, und immer wieder gibt es neue Gründe, sich über die Schule Gedanken zu machen. Vielen Eltern machen die Zustände im Bildungswesen zu schaffen. Sie fürchten, dass Kindern zu viele Tests und zu viel Stress zugemutet werden. Sie empfinden den Lehrplan als zu beengt, nachdem viele wichtige Kunst- und Sportprogramme und Veranstaltungen außerhalb des Lehrplanes gestrichen wurden. Sie haben Angst, dass ihre Kinder nicht als Einzelpersonen wahrgenommen werden und die Schule es versäumt, ihre Neugier, Kreativität und ihre persönlichen Talente zu fördern. Es erschreckt sie, bei wie vielen Kindern Lernschwächen diagnostiziert und diese dann medikamentös behandelt werden. Sie fürchten Mobbing und Belästigung. Eltern von Kindern in der Oberstufe machen sich Gedanken über immer höhere Studiengebühren und die Berufschancen ihrer Kinder, ob diese nun studieren oder nicht. Am meisten macht es ihnen allen Angst, als Eltern nichts ausrichten zu können.
Kürzlich wollte ich auf Facebook und Twitter wissen, was den meisten Eltern in der Erziehung ihrer Kinder Sorgen bereitet. Es dauerte keine Stunde, bis Hunderte Menschen aus der ganzen Welt geantwortet hatten. Bec, eine junge Mutter aus den Vereinigten Staaten, sprach vielen aus dem Herzen: »Die Stärken der Kinder werden nicht geschätzt und ihre Schwächen überbewertet. Noten sind wichtiger als Selbstbewusstsein.« Kimmie, eine andere Mutter, fragte sich: »Werden meine Kinder ihr Potenzial erkennen und auf einen Beruf vorbereitet, in dem sie gern und voller Enthusiasmus arbeiten?« Conchita schrieb: »Ich mache mir ziemliche Sorgen um meine beiden Töchter. Ich denke, das jetzige Bildungssystem wird ihnen keine Chance geben, sich hervorzutun, und meine Zehnjährige wird zu wenig Hilfe dabei bekommen, ihre Lernschwäche und Angstgefühle zu überwinden.«
Jon befürchtete, dass »Kindern nach und nach das Gefühl vermittelt wird, dass Lernen keinen Spaß macht, dass es als mühsames Ritual betrachtet wird, das wir alle durchleben müssen, ohne genau zu wissen, warum. Es ist ein ständiger Kampf, das Interesse und die Neugier am Lernen wachzuhalten, wenn das System alles verplant und vorgibt.« Karin meinte: »Schulbildung funktioniert nicht mehr. Es gibt zu viel Druck, zu viele Prüfungen, zu viele Anforderungen, zu viel Fließband. Wie können wir alles auf null setzen? Wie können wir unsere Kinder auf ein Leben vorbereiten, das völlig anders ist als das, auf das die Schule sie vorbereitet?«
Carol machte sich Sorgen, dass der »gleiche Ansatz für alle, erdacht von Einzelpersonen, die im Bildungswesen nichts zu suchen haben, Schüler hervorbringt, die nicht selbstständig denken können und unter Versagensängsten leiden«. Eine weitere Mutter machte sich vor allem Gedanken darüber, ob Schulen »Kindern beibringen, kreativ Probleme zu lösen. Prüfungen bringen keinen Schüler dazu, flexibel zu denken.« Tracey drückte eine tief sitzende Besorgnis aus: »Es macht mir zu schaffen, dass die Entscheidungsträger wenig Interesse an den Meinungen von Eltern haben. Im besten Fall werden diese einfach abgetan, und diejenigen, die Entscheidungen über Bildung treffen, haben keine Ahnung, wie es in einem Klassenraum wirklich zugeht.« All diese Sorgen sind berechtigt, und wenn Sie sie teilen, dann tun Sie das nicht ohne Grund.
Schulbildung wird oft als Vorbereitung auf das betrachtet, was nach der Schule passiert – wenn Ihr Kind eine Stelle sucht oder auf eine Hochschule gehen möchte. Das stimmt auf gewisse Art auch, aber Kindheit ist kein Probelauf. Ihre Kinder leben im Hier und Jetzt; sie haben Gefühle, Gedanken, und bauen Beziehungen auf. Schulbildung muss sie auch hier und jetzt begeistern, genau wie Sie es als Eltern tun. Wer Ihre Kinder werden und was sie in der Zukunft erreichen, hat mit dem zu tun, was sie in der Gegenwart erleben. Wenn sie eine zu engstirnige Schulbildung haben, kann es sein, dass sie die Talente und Interessen nicht entdecken, die ihr Leben in der Gegenwart bereichern und ihre Zukunft inspirieren können.
Wie kann dieses Buch Ihnen also helfen? Ich hoffe, dass es Ihnen auf drei Arten von Nutzen ist. Einmal zeigt es auf, welche Art von Schulbildung Ihr Kind heutzutage braucht und wie diese mit Ihrer Rolle als Eltern in Verbindung steht. Eltern denken oft, dass ihre Kinder dieselbe Schulbildung brauchen, die sie selbst genossen haben. Das kommt natürlich auf die Art von Schulbildung an, aber es stimmt höchstwahrscheinlich nicht. Die Welt verändert sich so schnell, dass sich auch die Schulbildung ändern muss. Zweitens soll das Buch die Herausforderungen beleuchten, mit denen Sie auf der Suche nach einer solchen Schulbildung konfrontiert werden. Manche Herausforderungen hängen mit dem Bildungssystem zusammen und andere allgemeiner mit der Welt, in der wir heute leben. Drittens komme ich auf die Möglichkeiten zu sprechen, die sich Ihnen als Eltern bieten, um solche Herausforderungen zu meistern. Dazu muss ich zuerst einige Einschränkungen erwähnen.
Zuallererst ist dies kein Ratgeberbuch, das Sie zu besseren Eltern machen soll. Das würde ich mir nicht anmaßen. Sicherlich beruhigt Sie das, denn die meisten anderen Ratgeber scheinen genau das zu tun. Vom Baby-Guru Dr. Spock in den Vierzigern bis zu den Tigermüttern erzählt Ihnen schon jeder, wie Sie Ihre Kinder erziehen sollen. Zusätzlich zu ungewollten Ratschlägen von Freunden, Verwandten, und oft selbst Ihren eigenen Kindern gibt es mehr als vier Millionen Erziehungsblogs im Internet, und der Buchhandel bietet mehr als 150 000 Bücher zum Thema Erziehung an. Ich möchte Sie nicht noch weiter belasten.
Meine Frau und ich haben zwei Kinder und viele Verwandte und Bekannte mit eigenen Kindern. Wir haben die meisten Herausforderungen, die in diesem Buch beschrieben werden, selbst meistern müssen. Meinem Schreibpartner Lou Aronica geht es genauso; er hat selbst eine große Familie. Wir wissen, dass Eltern ständig unter Druck stehen. Für den Rest Ihres Lebens werden Sie sich um Ihre Kinder sorgen und versuchen, ihnen auf ihrem Weg zur Seite zu stehen. Eltern zu sein ist eine Lebensaufgabe. Es kann sehr schwierig werden, und die Arbeitszeiten sind gnadenlos. Betrachten Sie dieses Buch als eine kleine Erholungspause von all dem Stress. Wir leben nicht in einer Fantasiewelt, in der alle besser klarkommen als Sie selbst. Ich möchte tatsächlich einige Erziehungsprinzipien beschreiben, die für die Schulbildung wichtig und durch Forschung und Erfahrung belegt sind. Aber ich möchte Ihnen versichern, dass ich davon genauso profitiere wie Sie. Meine Ratschläge kommen von Menschen, die auch nicht immer alles richtig gemacht haben.
Ebenso wenig ist dieses Buch ein Kompendium guter Schulen. Ich werde oft gefragt, ob ich bestimmte Schulen oder Systeme empfehlen kann. Jede Schule ist anders. Es gibt gute und schlechte staatliche Schulen, genauso wie es gute und schlechte Privatschulen oder freie Schulen gibt. Ich rate immer allen, direkt in die Schule zu gehen und sie sich anzusehen. Sie bekommen dann einen Eindruck davon, ob diese Schule etwas für Sie und Ihr Kind ist oder nicht. Um das zu tun, müssen Sie eine Vorstellung davon gewinnen, was eine gute Schule ausmacht, und genau das wollen wir uns ansehen.
Ich möchte keine Lösung vorschlagen, die für alle Bedürfnisse passt. Im Gegenteil: Keine zwei Kinder sind gleich, und Ihre sicher auch nicht. Ihre Erziehungsmaßstäbe und Prioritäten hängen natürlich von Ihrem eigenen Hintergrund und Ihren Umständen ab. Alleinerziehende Eltern in einer ärmeren Gegend haben selbstverständlich nicht die gleichen Wahlmöglichkeiten wie Eltern mit Hausangestellten in einem wohlhabenden Viertel. Vielleicht können Sie sich aussuchen, auf welche Schule Ihr Kind gehen soll. Die meisten Eltern haben keine Wahl. Müssen Sie sich also einfach mit den Tatsachen abfinden? Das stimmt nicht ganz. Es gibt trotzdem Möglichkeiten, und diese wollen wir näher betrachten.
Allgemein möchte ich Ihnen erläutern, was eine gute Schulbildung ausmacht und wie Sie als Eltern dafür sorgen können, dass Ihr Kind eine solche erhält. Dazu gehören Ratschläge, wie Sie Ihr Kind im derzeitigen Bildungssystem unterstützen können oder es aus ihm herausnehmen können. Die folgenden Möglichkeiten stehen allen Eltern offen:
•Sie können Ihr Kind in die örtliche Schule schicken und es dabei belassen.
•Sie können sich aktiv an der Bildung Ihres Kindes beteiligen und gute Beziehungen zu seinen Lehrern aufbauen oder es zu Hause zusätzlich fördern.
•Sie können sich ganz allgemein stärker in das Schulleben einbringen.
•Sie können die Entscheidungen einzelner Schulen durch eine Teilnahme am Schulelternrat beeinflussen.
•Sie können sich zusammen mit anderen Eltern für Veränderungen einsetzen.
•Sie können sich nach einer anderen Schule umsehen.
•Sie können Ihr Kind in bestimmten Ländern ganz aus der Schule nehmen.
•Sie können Bildungsressourcen im Internet nutzen.
Wenn Sie tatsächlich die Wahl zwischen mehreren Schulen haben – für welche sollten Sie sich dann entscheiden, und aufgrund welcher Kriterien? Wenn Sie diese Wahl nicht haben – was sollten Sie von Ihrer Schule erwarten, und was können Sie tun, wenn es an etwas mangelt? Diese Entscheidungen sind abhängig von verschiedenen Themen, die in den folgenden Kapiteln besprochen werden. Das erste Thema ist Ihre Elternrolle und was diese mit Schulbildung zu tun hat. Das zweite Thema ist die allgemeine Entwicklung von Kindern von der Geburt bis ins frühe Erwachsenenalter. Es ist wichtig, davon eine Vorstellung zu haben, damit Sie sich darüber im Klaren sind, welche Art von Erfahrungen Sie und die Schule Ihrem Kind bieten sollten. Das dritte Thema ist die große Bedeutung, die der Erkennung von Talenten und Interessen sowie der Charaktereigenschaften Ihres Kindes zukommt. Im vierten Teil beschreibe ich, warum die Art von Schulbildung, die Ihr Kind heute braucht, sich gegebenenfalls von Ihrer eigenen unterscheidet. Danach beschäftige ich mich mit dem Thema, warum viele Schulen diese Art von Schulbildung noch nicht bieten und was Eltern dagegen tun können.
Bevor wir dazu kommen, möchte ich drei Begriffe klären, die immer wieder vorkommen werden: Lernen, Bildung und Schule.
•Lernen beschreibt die Aneignung von neuen Fähigkeiten und das Verstehen.
•Bildung beschreibt ein organisiertes Lernprogramm.
•Schule beschreibt eine Gemeinschaft von Lernenden.
Kinder lernen gern; Bildung liegt ihnen nicht immer, und manche haben große Probleme in der Schule. Woran liegt das?
Lernen ist für Kinder ein ganz natürlicher Prozess. Babys lernen ungeheuer schnell. Denken Sie nur an ihren Spracherwerb. In den ersten vierundzwanzig Monaten entwickeln sie sich von unverständlich schreienden und brabbelnden Wesen zu sprachbegabten Menschen. Das ist eine erstaunliche Entwicklung, und sie »lernen« das von niemandem, nicht einmal von Ihnen. Sie könnten Ihren Kindern das gar nicht beibringen. Sprechen zu lernen ist viel zu kompliziert. Wie lernen Babys es also? Es ist eine natürliche Fähigkeit, die ihnen gegeben ist, und sie lernen es gern. Und wie? Durch Zuhören und Nachahmen von Lauten, die sie hören. Sie ermutigen Ihr Baby mit Ihrem Lächeln und Ihrer Freude, und Ihr Baby ermutigt Sie. Babys lernen Sprechen, weil sie es möchten und können. Auf ihrem Lebensweg erwerben sie noch viele andere Fähigkeiten und neues Wissen, einfach nur deshalb, weil es ihnen Spaß macht: weil sie es möchten und können.
Bildung ist ein organisierteres Herangehen ans Lernen. Sie kann formell oder informell sein, selbstbestimmt oder von anderen organisiert. Das kann zu Hause sein, online, im Beruf oder anderswo. Peter Gray ist Forschungsprofessor für Psychologie am Boston College und Autor des Buches Befreit Lernen. Wie Lernen in Freiheit spielend gelingt. Kinder, so Gray, »sind von der Natur wunderbar dazu ausgestattet worden, ihre Bildung selbst in die Hand zu nehmen. In der gesamten Menschheitsgeschichte haben sie sich selbst Dinge beigebracht, durch Beobachten, Erforschen, Hinterfragen, Spielen und Mitmachen. Diese Instinkte funktionieren immer noch perfekt, wenn man Kindern eine Umgebung ermöglicht, die ihnen dabei hilft, sich zu verwirklichen.«2
Eine Schule ist eine Gemeinschaft von Menschen, die zusammenkommen, um gemeinsam oder voneinander zu lernen. Vor Kurzem wurde ich gefragt, ob ich das Prinzip von Schulen noch gutheißen kann. Das tue ich, und zwar deshalb, weil wir das meiste in unserem Leben mit oder durch andere lernen. Lernen ist ein ebenso sozialer wie individueller Prozess. Die wichtigere Frage ist, welche Art von Schule Kindern am besten beim Lernen hilft. Viele Kinder mögen Schulbildung nicht; aber nicht, weil sie ungern lernen, sondern weil die Rituale und Stressfaktoren des konventionellen Schulsystems sie davon abhalten.
Die meisten von uns haben ihre Schulerfahrungen in einem Schulgebäude gesammelt. Woran denken Sie beim Wort »Schule«? Wenn Ihnen »Oberschule« einfällt, dann sehen Sie wohl lange Korridore und Spinde vor sich, Klassenzimmer mit Bänken und einer Tafel, eine Aula, eine Sporthalle, Physik- und Chemieräume, vielleicht einen Musikraum, einen Kunstraum oder einen Sportplatz. Was ist mit dem, was drinnen passiert? Vielleicht denken Sie an einzelne Fächer (wichtige und weniger wichtige), Stundenpläne, Klingeln, Schülerströme zwischen einzelnen Klassenräumen, Aufgaben, Klausuren und Arbeitsgemeinschaften. Und was ist mit der Grundschule? Was auch immer Sie von Schulen halten, wenn sie plötzlich in einer aufwachen würden, wäre Ihnen schnell klar, wo Sie sich befinden. Seit der Einführung der Breitenbildung sind Schulen zu leicht erkennbaren Einrichtungen mit bestimmten Abläufen geworden. Viele schulische Rituale sind lediglich Gewohnheiten, die wir deshalb akzeptieren, weil sie schon immer gleich waren. Nicht an allen Schulen ist das so, und es muss auch an keiner Schule so sein. Die Tatsache, dass noch so viele Schulen auf die gleiche Art funktionieren, ist lediglich Gewöhnung und nicht Notwendigkeit. Wir werden auf andere Schularten eingehen und darauf, dass die besten Schulen Voraussetzungen schaffen, die es Kindern ermöglicht, mit Freude zu lernen und ihre Ziele zu verwirklichen. Nicht nur für die Kinder selbst, sondern auch für Sie ist es wichtig, dass Ihre Kinder gern lernen.
Vom Kleinkindalter an verbringen die meisten amerikanischen Kinder ungefähr vierzehn Jahre in der Schule, vierzig Wochen im Jahr, fünf Tage die Woche, durchschnittlich acht Stunden am Tag, Hausaufgaben inbegriffen. Zusammen sind das etwa 22 000 Schulstunden, und dazu kommt für viele später noch ein Studium. Insgesamt sind das genauso viele Stunden, wie Autofahrer in der gesamten Schweiz letztes Jahr im Stau standen. Die Schweizer sind geduldige Menschen, aber trotzdem ist das eine Menge Zeit. Dazu kommt noch die Zeit, die Sie dafür aufwenden, Ihre Kinder früh für die Schule fertig zu machen, sie hinzubringen und abzuholen, ihnen bei den Hausaufgaben zu helfen, zu Elternabenden und Versammlungen zu gehen, und all die Stunden, die Sie deswegen im Stau stehen. Was erhoffen Sie sich von diesem enormen Zeit- und Arbeitsaufwand? Wozu sollen Ihre Kinder überhaupt Bildung genießen? Was erwarten Sie davon?
Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass die meisten Eltern möchten, dass ihre Kinder etwas über die Welt erfahren, in der sie leben, ihre natürlichen Talente und Interessen verwirklichen und das Wissen und die Fähigkeiten erwerben, die sie brauchen, um gute Staatsbürger mit einem komfortablen Lebensunterhalt zu werden. All das sind vernünftige Erwartungen. Wir hatten genau die gleichen, als unsere Kinder in die Schule gingen, und unsere Eltern hatten sie, als wir jung waren. Was auch immer Sie möchten, welche Art von Bildung ist Ihrer Meinung nach dafür nötig? Wenn Sie der Meinung sind, eine traditionelle akademische Ausbildung mit perfekten Noten ist der richtige Weg, dann könnten Sie unrecht haben. Selbst wenn Sie selbst nicht so denken, dann tun es viele Entscheidungsträger, und das ist problematisch. Ich denke, auch sie haben unrecht.
Einer der Gründe, warum Sie heute ganz anders an Bildung herangehen sollten, ist die Tatsache, dass die Welt, in der Ihre Kinder aufwachsen, so völlig anders ist als die von Ihnen oder Ihren Eltern. Wir werden später noch genauer darauf eingehen, aber hier sehen Sie einen Überblick:
Familien ändern sich. Heutzutage leben nur 60 Prozent der amerikanischen Kinder in Familien, zu denen verheiratete Eltern und deren biologische Kinder zählen. Bei den restlichen 40 Prozent sieht die Situation anders aus: Sie leben bei nur einem Elternteil, bei den Großeltern, bei gleichgeschlechtlichen Eltern, in Patchworkfamilien oder unter ganz anderen Umständen. In anderen Ländern sind ähnliche Trends zu vermerken. Falls Sie sich fragen, ob sie als »Eltern« gelten, lassen Sie mich das klarstellen. Aufgrund der erwähnten sozialen Veränderungen bedeutet das Elternsein in unserem Fall, dass Sie für ein Kind bestimmte Rollen übernehmen. Ob Sie blutsverwandt sind, tut weniger zur Sache. Vielleicht ist das Kind biologisch Ihres, vielleicht auch nicht. Wie dem auch sei, wenn Sie die Hauptsorge für ein Kind tragen, sind Sie seine Mutter oder sein Vater.
Kinder ändern sich. Körperlich werden Kinder immer schneller reif, vor allem Mädchen. Sie stehen unter großem sozialen Druck, ausgehend von der Populärkultur und sozialen Medien. Sie kämpfen mit enormem Stress und Angstgefühlen, die oft mit der Schule zusammenhängen. Sie leben ungesünder und bewegen sich zu wenig. Fettleibigkeitsquoten im Kindesalter haben sich in den letzten dreißig Jahren mehr als verdoppelt und bei Jugendlichen sogar vervierfacht.
Arbeit ändert sich. Digitale Technologien verändern viele traditionelle Märkte und schaffen ganz neue. Es ist beinahe unmöglich vorherzusagen, welche Berufe die heutige Jugend in fünf, zehn oder fünfzehn Jahren ausüben wird, wenn sie denn Arbeit hat.
Die ganze Welt ändert sich. Seien wir doch ehrlich: Überall auf der Welt kommt es derzeit zu großen kulturellen, politischen, sozialen und ökologischen Umbrüchen. Schulbildung muss darauf eingehen, wenn sie Kindern dabei helfen will, in einer sich so rasant verändernden Welt ihren Weg zu finden und sich zu entfalten.
Scheinbar verstehen viele Regierungen das zumindest teilweise und versuchen in Komitees und durch Abstimmungen, die Lehrpläne anzupassen. Bildung ist zu einem großen politischen Spielball geworden, und Sie und Ihre Kinder stehen mitten im Kreuzfeuer.
Seit über dreißig Jahren investieren Regierungen auf der ganzen Welt in Versuche, Schulbildung zu reformieren und das Niveau in Schulen zu verbessern. Ihre Motive sind zum größten Teil wirtschaftlicher Natur. Insbesondere digitale Technologien haben den Welthandel und die Arbeitsmärkte verändert, und die Gesetzgeber haben erkannt, dass ein hohes Bildungsniveau für den Wohlstand und die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes unverzichtbar ist. Sie haben damit nicht unrecht. Für Sie und Ihre Kinder liegt das Problem in den Methoden, die zur »Verbesserung« von Bildung herangezogen worden sind. In vielen Ländern gibt es vier davon: MINT-Fächer, Tests und Wettbewerb, Akademisierung und Vielfalt und Auswahl. In manchen Ländern, vor allem den Vereinigten Staaten, gibt es noch einen fünften Faktor: Profit. Auf den ersten Blick wirken einige dieser Strategien durchaus sinnvoll. In der Praxis haben sie oft genau den gegenteiligen Effekt, mit besorgniserregenden Konsequenzen für viele junge Menschen und ihre Familien.
Als Eltern wollen Sie, dass ihr Kind gut in der Schule ist, einen guten Job bekommt, der seinen Begabungen entspricht, und finanziell abgesichert ist. Regierungen wollen etwas Ähnliches für ihr Land, aber sie denken dabei nicht an einzelne Kinder, sondern an die gesamte Arbeitskraft und Konzepte wie das Bruttosozialprodukt. Deshalb gilt ihr besonderes Augenmerk den sogenannten MINT-Fächern Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik, da sie glauben, dass nur diese für Wirtschaftswachstum und Wettbewerbsfähigkeit vonnöten sind. Sie argumentieren damit, dass die moderne Wirtschaft vor allem von Innovationen in diesen Gebieten lebt und somit für diejenigen, die sich damit auskennen, gute Arbeitsmöglichkeiten bereithält.
Die MINT-Fächer sind wichtig in der Schulbildung, um ihrer selbst willen genauso wie aus wirtschaftlichen Gründen. Aber florierende Wirtschaftssysteme werden nicht ausschließlich von Wissenschaftlern, Ingenieuren und Mathematikern getragen. Sie brauchen die Talente von Unternehmern, Investoren und Wohltätern und werden erst durch Designer, Schriftsteller, Künstler, Musiker, Tänzer und Schauspieler zu einer Gesellschaft. Apple ist eines der erfolgreichsten Unternehmen der Welt. Seinen Erfolg hat es nicht nur Softwaretechnikern und Programmierern zu verdanken, so notwendig deren Arbeit auch ist, sondern Menschen in den verschiedensten Disziplinen: Erzählern, Musikern, Filmemachern, Marketingexperten, Verkäufern und vielen anderen.
Das Augenmerk auf die MINT-Fächer zu legen hat außerdem dazu geführt, dass Kunst und Geisteswissenschaften in Schulen immer weniger gefördert werden. Für eine ausgewogene Bildung Ihrer Kinder und die Lebenskraft von Kommunen und Wirtschaft sind diese jedoch genauso wichtig. Kindern den Eindruck zu vermitteln, dass die Welt sie nicht braucht, nur weil sie sich in den MINT-Fächern nicht wohlfühlen, ist irreführend, denn die Welt braucht sie trotzdem.
Im Jahr 2011 führte die Farkas-Duffett-Forschungsgruppe (FDR) in den Vereinigten Staaten eine Umfrage unter 1000 Lehrern von der dritten bis zur zwölften Klasse durch, um Informationen über Lehrverhalten und Unterrichtspraxis zu sammeln.3 Die Lehrer sollten detailliert darüber berichten, was in den Klassenräumen und Schulen vor sich ging: wozu die Unterrichtszeit genutzt wurde, wie Prüfungsanforderungen ihre Arbeit beeinflussten und welche Fächer mehr oder weniger Aufmerksamkeit bekamen. Die meisten Lehrer waren der Meinung, dass der Lehrplan an den Schulen immer weiter beengt wurde und Unterrichtszeit und Ressourcen immer weiter auf Mathematik und Sprachkompetenz beschränkt und von Kunst, Musik, Fremdsprachen und Sozialkunde abgezogen wurden. Das traf alle Schüler. Die Umfrage ergab, dass vor allem in Grundschulen ein immer beschränkterer Lehrplan angewendet wurde.
Bob Morrison ist der Gründer von Quadrant Research, einer Forschungsgruppe, die sich als eine der führenden Instanzen in den Vereinigten Staaten mit den Auswirkungen von Schulpolitik beschäftigt. Er erzählt, dass eine der landesweiten Folgen eines solcherart auf Tests ausgerichteten Lehrplanes der Rückgang von Exkursionen und Kunstprogrammen an Schulen ist. Weil die Schüler so stark auf Prüfungen vorbereitet werden müssen, haben viele Schulen Ausflüge und wöchentliche Programme abgeschafft. Auf die Frage nach dem Warum antworteten die meisten, sie hätten zu wenig Zeit.4
Die meisten Lehrer sahen in einem weitgefächerten Lehrplan die Grundlage einer guten Schulbildung. Die meisten waren der Ansicht, dass die staatlichen Mathematik- und Englischprüfungen zu einem verengten Lehrplan führten und dass die Ausrichtung auf Prüfungen zu weitreichenden Veränderungen im Unterrichtsgeschehen und dem Schulleben beitrug. Den Schwerpunkt auf Mathematik und Sprachkompetenz zu legen, auf Kosten anderer Fächer, hatte den Lehrern zufolge auch noch weitere Auswirkungen. Neun von zehn Lehrern meinten, dass ein Fach in der Schule weitaus ernster genommen wird, wenn es mit einer staatlichen Prüfung abschließt. Zwei Drittel gaben an, dass es einfacher sei, Geldmittel für Technologien und Materialien in Prüfungsfächern zu bekommen.
Viele Lehrer und Befürworter einer ausgewogeneren Schulbildung setzen sich dafür ein, dass auch Kunst den Rang eines MINT-Faches erhält: also MINKT. Das freut mich sehr. Genauso sollten Schulen Geisteswissenschaften anbieten: Wird es dann MINGKT? Und was ist mit Sport? Sie sehen, wo das Problem liegt. Die Antwort lautet natürlich, einen ordentlich ausgearbeiteten Lehrplan ohne solche Abkürzungen zu erstellen, und dafür sollten wir uns alle einsetzen.
Entscheidungsträger aller Couleur betonen immer wieder, wie wichtig es ist, das Bildungsniveau anzuheben. Dagegen kann man nichts einwenden. Warum sollte man es auch senken? Doch soll dies meist durch den massenhaften Einsatz von Vergleichstests erreicht werden, die oft auf Multiple-Choice-Fragebögen hinauslaufen. Die Antworten können leicht durch optische Scanner eingelesen werden und so Unmengen von Daten generieren, die dann in vergleichenden Tabellen und Ranglisten wiedergegeben werden. Da auf MINT-Fächer besonderer Wert gelegt wird, handelt es sich hauptsächlich um Tests in Mathematik, den Naturwissenschaften und Lese- und Schreibkompetenzen.
In hohen Maßen zu testen sollte dazu führen, das Niveau im Bildungswesen anzuheben. Stattdessen ist es zu einer tristen Kultur verkommen, die auf Schüler und Lehrer gleichermaßen demoralisierend wirkt. In den 1980er-Jahren wurde an US-amerikanischen Highschools ein paar Mal im Schuljahr eine Prüfung abgelegt. Und damit meine ich keine Ankreuzübung, sondern Klausuren oder Prüfungen, die sich auf die Versetzung oder das Abschlusszeugnis auswirkten oder bestimmten, auf welche Uni man kam. Sie hatten also tatsächlichen Nutzen. Heutzutage wird andauernd und das ganze Jahr über getestet, beginnend in den Grundschuljahren (und teilweise auch schon in der Vorschule), und der Druck auf die Kinder und Eltern wächst stetig. Diese Tests haben enorme Auswirkungen: Sie führen zu schulischen Ranglisten, die wiederum das Gehalt der Lehrer bestimmen oder die Summe, die eine bestimmte Schule an Fördermitteln erhält oder eben auch nicht.
Anya Kamenetz ist eine US-amerikanische Schriftstellerin und Journalistin, die sich auf das Bildungswesen spezialisiert hat. Auch sie hat Kinder, und sie weiß, wie viel bei den staatlichen Prüfungen jedes Jahr auf dem Spiel steht. Die allseits verhassten Ankreuztests, sagt sie, »werden inzwischen dazu herangezogen, um nicht nur über die Zukunft einzelner Schüler, sondern auch die ihrer Lehrer, Schulen, Bezirke und des gesamten bundesstaatlichen Bildungssystems zu entscheiden, obwohl solche Vergleichstests darüber wenig Aussagekraft haben«. Weil solche Tests über Versetzung und Schulabschlüsse entscheiden, »werden viele Minderheiten, Arme, Nicht-Muttersprachler und Lernschwache benachteiligt. Die Tests werden zur Bewertung von Lehrerleistung benutzt, Lehrer bekommen dadurch oft keine Festanstellung oder werden gekündigt, je nachdem, wie ihre Schüler abgeschnitten haben. Schulen, die bestimmte Ergebnisse nicht erzielen, werden bestraft, verlieren ihre Schulleiter oder müssen schließen; Bezirke und Bundesstaaten müssen diese Tests durchführen und sich an die Regeln halten, oder sie riskieren den Verlust von Millionen an staatlichen Fördermitteln.«5 Dies seien nur die offensichtlichsten und direkten Auswirkungen solcher Vergleichstests; die indirekten Auswirkungen einer solchen Konzentration auf Zahlen und Ergebnisse ziehen sich durch die gesamte Gesellschaft.
Die Testversessenheit führe dazu, dass viele staatliche Schulen, »die neun von zehn Schüler besuchen, zu traurigen Orten werden. Verschiedenste Vergleichstest und diagnostische Tests summieren sich in manchen Schulbezirken zu 33 im Jahr. Sport, Kunst, Fremdsprachen und andere wertvolle Fächer werden gekürzt, damit in den Kernfächern stärker gedrillt werden kann … In ärmeren Bezirken ist es am wahrscheinlichsten, dass Testvorbereitung all die anderen Fächer ersetzt, die Schüler dringend brauchen.«6
Plätze an besonders beliebten Schulen oder Hochschulen werden oft auf der Grundlage von Testergebnissen vergeben. Schülern wird immer früher eingetrichtert, dass gute Ergebnisse zu erfolgreichen Karrieren führen und dass schon ein Ausrutscher verheerende Folgen haben kann. Wenn man diesen einen Test nicht besteht, kann man die Teilnahme am Uni-Vorkurs vergessen, und ohne den wollen die richtig guten Unis nichts von einem wissen, und wenn man nicht auf eine solche geht, bekommt man auch keinen gut bezahlten Job. Eine solche Denkweise ist auf unzählige Arten falsch, aber jungen Leuten wird sie tagtäglich in der Schule vermittelt – und oft auch von ihren Eltern.
Dieses Testsystem hat in den Vereinigten Staaten Milliarden Dollar verschlungen, ohne das Bildungsniveau tatsächlich anzuheben. Die Ergebnisse der Schüler in Mathematik, Naturwissenschaften und Englisch haben sich kaum verändert, ebenso wenig wie die Stellung der Vereinigten Staaten im internationalen Bildungsvergleich. Alles, was erreicht wurde, ist enormer Stress für Sie, Ihre Kinder und deren Lehrer. Ganz nebenbei sorgen sich Experten in den Naturwissenschaften, Technologien und der Mathematik, dass ständige Tests Schülern die Kreativität und Freude an diesen Disziplinen nehmen.
Das Hauptaugenmerk der Bildungsreform liegt auf der Niveauverbesserung in den Kernfächern, die man für einen Universitätsabschluss benötigt. Regierungen ermutigen so viele Schüler wie möglich, zur Universität zu gehen, da sie davon ausgehen, dass Absolventen die Fähigkeiten mitbringen, die Unternehmen brauchen, und somit eher Arbeit finden als Menschen ohne Universitätsabschluss.
Das mag vielleicht logisch klingen, aber es funktioniert nicht. Ein Universitätsabschluss ist längst kein Garant für einen gut bezahlten Job mehr, und das liegt auch daran, dass so viele Menschen inzwischen einen haben. Auch die Unternehmer sind nicht glücklich, und genau sie sind es ja, mit denen sich die Politik gut stellen will. In Anbetracht der sich rasant verändernden Arbeitswelt suchen Arbeitgeber heute anpassungsfähige Angestellte, die sich schnell an immer neue Anforderungen gewöhnen; sie brauchen kreatives Personal, das neue Produkte, Dienstleistungen und Systeme entwirft, und sie brauchen Teamplayer, die zusammenarbeiten können. Sie kritisieren, dass viele junge Menschen mit traditionellen akademischen Universitätsabschlüssen weder anpassungsfähig noch kreativ sind und keinen Teamgeist haben. Warum sollten sie auch? Jahrelang hat ihnen das testzentrierte Bildungssystem suggeriert, dass Konformität, Fügsamkeit und Wettbewerb belohnt werden.
Und dieses Problem haben nicht nur die Vereinigten Staaten. 2016 veröffentlichte das Weltwirtschaftsforum eine Liste von Schlüsselkompetenzen, die jeder Arbeitnehmer auf der Welt bis zum Jahr 2020 erwerben sollte: Kreativität, Flexibilität, Teamfähigkeit und emotionale Intelligenz.7 Das Forum stellte fest, dass diese Kompetenzen in den Bildungssystemen verankert werden müssen. Die Tendenz, das Augenmerk auf akademische Prüfungsfächer zu legen, geht außerdem auf Kosten von berufspraktischen Fächern, die einst ein unverzichtbarer Ausbildungsweg für viele Schüler waren, deren Interessen und Fähigkeiten heutzutage in Schulen vernachlässigt werden.
Früher schickten Eltern ihre Kinder zur staatlichen Schule um die Ecke. Heute haben sie mitunter die Wahl zwischen staatlichen, privaten, freien, alternativen, gewinnorientierten oder virtuellen Schulen, und manche erziehen ihre Kinder zu Hause. Vielleicht leben sie auch in einer Gegend, in der Bildungsgutscheine verteilt werden. Alternative Schulformen sind vielleicht nicht an sich besser oder schlechter als andere, aber durch ihre Finanzierung gingen dem staatlichen Schulsystem Geldmittel verloren, und viele Eltern haben wenige Auswahlmöglichkeiten. Sehen wir uns beispielsweise einmal Bildungsgutscheine an.
Einige US-amerikanische Bundesstaaten und Länder in Europa haben mit einem solchen System experimentiert. Anstatt staatlichen Schulen genug Fördermittel für jeden Schüler bereitzustellen, wird das Geld den Eltern in Form von Gutscheinen übergeben. Theoretisch können Sie nun genau die richtige Schule für Ihr Kind aussuchen und ihr den Gutschein überreichen. Der Gedanke hinter diesem System ist die Wettbewerbungsförderung zwischen Schulen und die Annahme, dass die Wahlmöglichkeiten von Eltern so das Bildungsniveau anheben. Äußerlich betrachtet wirkt diese Idee für Eltern ziemlich attraktiv. Wenn Ihnen die staatliche Schule um die Ecke nicht gefällt, können Sie ihren Gutschein dazu nutzen, Ihr Kind zu einer anderen staatlichen oder einer freien Schule zu schicken. In Wirklichkeit funktioniert das allerdings nicht ganz.
Schulen haben immer nur begrenzte Plätze, und an beliebten Schule kommt es oft zu Wartelisten. Wenn beliebte Schulen zu viele Bewerber haben, haben sie meist zwei Möglichkeiten. Sie legen bestimmte Auswahlkriterien fest – Prüfungsergebnisse oder Familienverhältnisse zum Beispiel –, die Ihrem Kind bestimmte Chancen für eine Aufnahme geben, oder sie losen Plätze aus. So hat jeder genau die gleichen Chancen. Wenn Sie den Platz nicht bekommen, bleibt Ihnen oft wieder nur die staatliche Schule, die nun weniger Geld zur Verfügung hat, denn das Gutscheinsystem hat für solche Schulen zu Verlusten geführt.
Eltern die Wahl der Schule zu überlassen ist eigentlich eine bewundernswerte Idee. Leider scheint es aber oft nur so, als ob tatsächlich eine Wahlmöglichkeit besteht.
Staatliche Schulbildung ist teuer, und die meisten Regierungen akzeptieren das. Einige, unter anderem in den USA und Großbritannien, tun das nicht, und es scheint, als wollten sie das staatliche System zugunsten unternehmerischer Interessen auflösen. Auf diese Art ist Bildung zu einem ertragreichen Markt für Großunternehmen geworden, mit Ketten von gewinnorientierten Schulen, neuen Technologieplattformen, Tausenden von Apps und unzähligen Geräten, die allesamt gewinnbringend verkauft werden mit dem Versprechen auf bessere Ergebnisse, bessere Leistungen und größeren Erfolg für Ihre Kinder. Offensichtlich ist einer der Beweggründe jener Regierungen, die Kosten für Bildung von der staatlichen in die Privatwirtschaft zu verlagern. Dabei passiert das Gleiche wie in anderen profitgesteuerten Märkten: Profitable Projekte haben Erfolg und unprofitable gehen unter. Nun stellt sich die Frage, ob Sie der Meinung sind, dass Qualität in der Bildung durch einen gewissen Preis garantiert werden kann, und ob es Ihnen recht ist, dass die Bildung Ihres Kindes einer privaten Kosten-Nutzen-Rechnung entspringt.
All diese Reformansätze vermischen und verstärken sich und führen zu Problemen für viele junge Menschen und ihre Familien, und Eltern können eine wichtige Rolle dabei spielen, dem entgegenzuhalten, ob allein oder in Gruppen. Für einige Schüler haben sie besonders tragische Auswirkungen.
Die Zahl der jungen Menschen ohne Schulabschluss ist besorgniserregend hoch. In den Vereinigten Staaten beendet fast ein Fünftel der Schüler die Highschool nicht. Um es anders auszudrücken: Jedes Jahr verlassen eine Million junge Menschen die Schule ohne einen Abschluss; das entspricht einem alle sechsundzwanzig Sekunden. In manchen Gegenden ist diese Anzahl wesentlich höher. Die Daten sind jedes Jahr unterschiedlich, aber um einmal ein Beispiel aufzuzeigen: Eine Auswertung im Jahr 2016 stellte fest, dass die Stadt Albany in Oregon die geringste Schulabschlussquote des Landes hatte, mit wenig mehr als 50 Prozent. (Die höchste Quote gab es in Sherman-Denison, Texas, wo fast 95 Prozent der Schüler die Highschool erfolgreich abschlossen.)8 Ich verwende bewusst nicht das Wort »Schulabbrecher«, denn das klingt, als ob man scheitert. Bei solch hohen Quoten ist es vielleicht besser zu behaupten, dass das System vielen Kindern erst gar keine Chance gibt.
Denken Sie einmal nicht an diese Zahlen und Quoten, sondern an die Menschen dahinter – und an ihre Familien. Jeder Schüler hat seine eigenen Gründe, die Schule nicht zu beenden. Armut kann ein Faktor sein. Vielleicht lebt man bei einem Elternteil mit mehreren Jobs und zu wenig Zeit für die Schulbildung der Kinder. In den Vereinigten Staaten lebt bis zu einem Drittel der jungen Menschen unter 18 mit nur einem Elternteil zusammen. Schwangerschaften während der Schulzeit können ein weiterer Grund sein. Nur 40 Prozent junger Mütter auf der Highschool erlangen ihren Schulabschluss. Dieser Trend scheint sich fortzusetzen: Nur etwa zwei Drittel von Kindern minderjähriger Mütter machen selbst ihren Highschool-Abschluss.9
Es gibt noch viele weitere Gründe, keinen Abschluss zu erlangen, aber für viele Schüler haben Druck und Langeweile wohl etwas damit zu tun. Wenn Kinder den ganzen Tag sitzen müssen, um anspruchslose Schreibarbeit für einen sinnlos erscheinenden Test zu machen, ist es kein Wunder, wenn sie sich gestresst fühlen oder einfach abschalten. Auch Sie würden das tun. Prüfungen sind ein Faktor, aber manche Schüler kommen mit den typischen Abläufen in einer Schule nicht zurecht. Es ist nicht nur das Was in der Bildung, das dazu führt, dass Schüler sich ausklinken, sondern auch das Wie.
Es gibt viele wundervolle Schulen, in denen großartige Lehrer und Lehrerinnen arbeiten. Auch die Politik übt großen Druck auf Lehrer aus, sodass oft nicht einmal die besten von ihnen genau das unterrichten können, was sie für richtig halten. Wenn Sie die ganzen Tests und das, was sie mit Ihren Kindern anstellen, nicht mögen – und das sollten Sie auch nicht –, dann freuen Sie sich vielleicht zu hören, dass es vielen Lehrern genauso geht. Sie müssen oft Stunden mit Tests und deren Vorbereitung verbringen, anstatt Ihren Kindern dabei zu helfen, Dinge zu lernen, die wirklich wichtig sind. Sie sind überarbeitet und wollen sich nicht als Handlanger der Testmaschinerie sehen. Genau wie Sie wissen Lehrer, dass Bildung kein stressiger Hürdenlauf voller Prüfungen und Tests sein sollte, mit ständiger Versagensangst im Nacken. Genau wie Sie wünschen sich auch Lehrer Veränderungen im Schulsystem und sind somit wertvolle Partner auf dem Weg hin zu solchen Veränderungen.
Nichtsdestotrotz können auch etablierte Abläufe im Schulalltag zu Problemen führen, und viele von ihnen sind lediglich Gewohnheit und nicht Pflicht. Zum Beispiel kann das Festhalten an altersgleichen Gruppen zu Problemen für Schüler führen, die in bestimmten Bereichen schneller oder langsamer lernen. Schulen, die zugunsten von Kernfächern auf praktische oder berufsbildende Kurse verzichten, riskieren es, Schüler abzuhängen, deren Talente in der praktischen Umsetzung von Ideen liegen. Wenn Schulen für bestimmte Fächer bewertet und in Ranglisten eingeordnet werden, ist es kein Wunder, wenn dann in anderen Bereichen gespart wird. Das ist falsch, aber nachvollziehbar. Ändert sich das System, lösen sich solche Probleme oft von selbst.
Die gute Nachricht ist, dass es Raum für Veränderungen gibt und sich viele Schulen ändern. Oft sind die Wünsche der Eltern dafür ausschlaggebend. Einige staatliche Systeme ändern sich, und das liegt oft an den Auswirkungen neuer Technologien. Schulbildung kann anders sein, und Sie als Eltern haben größeren Einfluss darauf, als Sie denken. Als Erstes sollten Sie sich darüber im Klaren sein, was Sie sich von der Schulbildung Ihrer Kinder erhoffen und welche Art von Schule genau das bieten kann.
Lassen Sie uns mit ein paar Vorurteilen aufräumen. Erstens kann man vom Aussehen einer Schule nicht darauf schließen, ob sie gut ist. Es gibt keinen Zusammenhang zwischen der Menge Efeu, die die Mauern hochrankt, und der Qualität der Bildung, die drinnen vermittelt wird. In Bangladesch gibt es Schulen auf Schiffen, in China eine in einer Höhle, und in Indien gibt es ganze Schulprogramme, die auf Bahnsteigen stattfinden. Die Abo Elementary School in New Mexico liegt unter Tage (sie wurde während des Kalten Krieges gebaut), Hightech-Schulen in Kalifornien haben gläserne Wände und ein ultramodernes Design, und die School of the Future in Philadelphia ähnelt eher einem Museum als einem Ort, an dem man Mathe büffelt. Die Florida Virtual School hat gar kein Schulgebäude, da alle Kurse online stattfinden. All diese Schulen sind reale Bildungseinrichtungen, auch wenn sie nicht so aussehen, wie wir es aus Good Will Hunting kennen.
Ein weiteres Vorurteil besagt, dass Privatschulen besser als staatliche Schulen sind. Das stimmt nicht. Es gibt gute Schulen aller Art, genauso wie schlechte. Worauf sollte man achten?
In den Vereinigten Staaten besuchen knapp über 90 Prozent der schulpflichtigen Kinder (50,4 Millionen) staatliche Schulen. Diese Schulen werden durch das allgemeine Steueraufkommen finanziert und sind kostenfrei. Der örtliche Schulbezirk stellt, basierend auf den Schülerzahlen, Gelder zur Verfügung. Zusätzliche Gelder können durch die Gemeinde aufgebracht werden, vor allem durch Eltern. Wie viel Geld jeder einzelnen Schule zur Verfügung steht, richtet sich nach dem Bezirk und der Gemeinde. Der Schulbezirk legt fest, welche Schule ein Kind besucht (meist die nächstgelegene) und wer dort unterrichtet. Solange sie keine handfesten Gründe vorweisen können, müssen Schulen die Schüler und Lehrer aufnehmen, die ihnen zugeteilt werden. Sie unterliegen außerdem staatlichen und föderalen Bildungsmandaten bezüglich des Lehrplanes, der Prüfungsverordnungen und der Lehrerausbildung. Seien sie nun gut oder schlecht, diese Vorschriften haben einen großen Einfluss darauf, wie an staatlichen Schulen unterrichtet wird und welche Schulbildung die Kinder erhalten.
In anderen Staaten sieht die Situation mitunter anders aus. In vielen Ländern gehen die meisten Kinder auf staatliche Schulen, aber Eltern können zwischen verschiedenen Schulen wählen, und Lehrer können sich an unterschiedlichen Schulen bewerben, statt eine bestimmte zugeteilt zu bekommen. Staatliche Schulen werden anhand von Richtlinien gefördert, die sich nach den Bedürfnissen einzelner Schulen, ihrer Schüler und deren Gemeinschaft richten. In den meisten Ländern sind staatliche Schulen bei Weitem die wichtigste Bildungsressource für die meisten jungen Menschen und ihre Familien.
In den Vereinigten Staaten sind Charterschulen unabhängig geleitete öffentliche Schulen. Normalerweise spezialisieren sie sich auf bestimmte Disziplinen oder Unterrichtsmethoden, oder sie sind in bestimmten kulturellen Gemeinschaften tätig. Charterschulen sind an gewisse, aber nicht alle föderalen Bildungsmandate gebunden, weshalb sie im Gegensatz zu staatlichen Schulen in Bezug auf den Lehrplan und ihre Verwaltung über eine freiere Handhabe verfügen. Die erste Charterschule öffnete in den Vereinigten Staaten im Jahr 1992 in Minnesota. Auch in anderen Bundesstaaten wird ihre Etablierung ermutigt, vorgeblich, um Innovation in der staatlichen Bildung zu unterstützen. Im Jahr 2016 gab es knapp sechstausend solcher Schulen in den Vereinigten Staaten. Etwa fünf Prozent aller Schüler, die staatliche Bildung genießen, besuchen Charterschulen.
Jede Gruppe von Menschen – seien es Lehrer, Eltern, Personen des öffentlichen Lebens, Unternehmer oder andere – kann die Einrichtung einer Charterschule beantragen. Sie muss einen Charterplan erstellen, der die grundlegenden Prinzipien der Schule, ihre Verwaltung und ihre Rechenschaftslegung darstellt. Meist basiert das Verhältnis von Staat und Schule auf der Übereinkunft, dass die Schule größere Freiheiten erhält, dafür aber größere Verantwortung trägt. Wenn der Staat dem Schulplan zustimmt, finanziert er sie wie eine staatliche Schule je nach Schülerzahl. Der Unterschied liegt darin, dass die Schüler vom Bezirk nicht zugewiesen werden; die Schule muss sie selbst anwerben. Das bedeutet, dass eine beliebte Charterschule sich ihre Schüler aussuchen kann, sie handelt also oft selektiv. Oft wird kritisiert, dass Charterschulen aufgrund dieser Selektivität im Vergleich mit staatlichen Schulen besser abschneiden. An sich sind Charterschulen keinesfalls besser als traditionelle staatliche Schulen. Manche sind sehr erfolgreich, andere hingegen nicht.10
Einer von zehn US-amerikanischen Schülern besucht eine Privatschule. Diese Schulen erhalten keine staatliche Förderung und finanzieren sich durch Schulgebühren und private Spenden. Im Durchschnitt lag die private Schulgebühr im Jahre 2016 bei knapp 10.000 US-Dollar pro Schüler oder Schülerin, wobei sie in manchen Teilen der USA weit darüber liegt.11 Obwohl Privatschulen durch Gebühren und Spenden generell mehr Geld als staatliche Schulen erhalten, haben auch sie oft Geldsorgen. Nur wenige Eltern können sie sich leisten, und viele, die es könnten, werden von kostengünstigeren Alternativen wie Charterschulen, gewinnbringenden Schulen oder Onlinekursen abgeworben.