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Megan Devine

Es ist okay, wenn du traurig bist

Megan Devine

Es ist okay, wenn du traurig bist

Warum Trauer ein wichtiges Gefühl ist und wie wir lernen, weiterzumachen

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen:

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Wichtiger Hinweis

Dieses Buch ist für Lernzwecke gedacht. Es stellt keinen Ersatz für eine individuelle medizinische Beratung dar und sollte auch nicht als solcher benutzt werden. Wenn Sie medizinischen Rat einholen wollen, konsultieren Sie bitte einen qualifizierten Arzt. Der Verlag und der Autor haften für keine nachteiligen Auswirkungen, die in einem direkten oder indirekten Zusammenhang mit den Informationen stehen, die in diesem Buch enthalten sind.

5. Auflage 2022

© 2018 by mvg Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2017 bei Sounds True, Inc. unter dem Titel It’s OK That You’re Not OK. Copyright © 2017 by Megan Devine, Foreword © 2017 by Mark Nepo. This Translation was published by exclusive license from Sounds True, Inc. and by the agency of Agence Schweiger.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Übersetzung: Martin Bauer, München

Redaktion: Annett Stütze, Frankfurt am Main

Umschlaggestaltung: Manuela Amode, München

Umschlagabbildung: shutterstock/ Tatiana Liubimova; shutterstock/ Loric

Satz: FotoSatz Pfeifer, Krailling

Druck: CPI books GmbH, Leck

eBook: ePubMATIC.com

ISBN Print 978-3-86882-940-2

ISBN E-Book (PDF) 978-3-96121-226-2

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96121-227-9

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.mvg-verlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

All denjenigen gewidmet, die anderen Albträume bereiten

All dem ausgesetzt, was verloren ist, singt sie mit einer Streunerin, die sie selbst auch ist, ihr Amulett.

ALEJANDRA PIZARNIK

Kleine Wesen wie wir können die unermessliche Weite nur mit Liebe ertragen.

CARL SAGAN

Inhalt

Vorwort

Danksagung

Einleitung

Teil I: All das ist genau so verrückt, wie Sie glauben

1. Kapitel – Die Realität des Verlusts

2. Kapitel – Der unausgesprochene Halbsatz

3. Kapitel – Es liegt nicht an Ihnen, sondern an uns

4. Kapitel – Emotionale Taubheit und die Vorwurfskultur

5. Kapitel – Das neue Trauermodell

Teil II: Vom Umgang mit Trauer

Bevor wir anfangen: Eine Bemerkung zum richtigen Timing

6. Kapitel – In der Realität des Verlusts leben

7. Kapitel – Trauer lässt sich nicht beheben, Sie müssen aber auch nicht leiden

8. Kapitel – Wie (und warum) man überlebt

9. Kapitel – Was ist mit meinem Verstand los?

10. Kapitel – Trauer und Angst

11. Kapitel – Was hat Kunst mit alledem zu tun?

12. Kapitel – Finden Sie Ihr eigenes Bild von »Besserung«

Teil III: Wenn Freunde und Familie ratlos sind

13. Kapitel – Belehren oder ignorieren?

14. Kapitel – Hilfstruppen finden

Teil IV: Der Weg nach vorn

15. Kapitel – Der Danach-Stamm

16. Kapitel – Nur die Liebe bleibt

Anhang: So helfen Sie einem trauernden Freund

Anmerkungen

Hilfsangebote

Zitatnachweise

Über die Autorin

Vorwort

Der menschlichen Existenz liegt ein doppeltes Paradoxon zugrunde. Erstens kann niemand dein Leben für dich leben – niemand kann dir abnehmen, was du selbst tragen musst, niemand fühlen, was du fühlen musst – aber gleichzeitig schafft es niemand allein. Zweitens besteht unser Leben aus Lieben und Loslassen. Niemand weiß, warum. Aber so ist es nun mal. Sobald wir uns auf Liebe einlassen, erfahren wir unweigerlich auch Trauer und Verlust. Versuchen wir Trauer und Verlust zu vermeiden, können wir niemals wirklich lieben. Und doch erweckt uns seltsamerweise erst das Wissen um Liebe und Verlust gänzlich zum Leben.

Megan Devine hat wahrlich viel Liebe und herben Verlust erfahren, sie ist eine starke und liebevolle Begleiterin. Sie hat einen geliebten Menschen verloren und weiß, dass das Leben sich für immer ändert. Es gibt kein Darüber-Hinwegkommen, höchstens ein Unter-die-Räder-Kommen. Trauer und Verlust verändern unsere innere Landschaft. Das Gelände ändert sich, es gibt keine »Normalität«, zu der sich zurückkehren ließe. Es gibt nur die innere Aufgabe, eine neue zutreffende Landkarte zu zeichnen. Wie Megan so weise sagt: »Trauer ist kein Problem, das abgestellt gehört, sondern eine Erfahrung, die man pflegen muss.«

Die Wahrheit lautet: Die Trauernden tragen eine Weisheit in sich, die wir anderen brauchen. Angesichts unserer Gesellschaft, die sich vor Gefühlen fürchtet, ist es von großer Bedeutung, einander für die Tiefe der menschlichen Reise zu sensibilisieren. Wir müssen lernen, unsere Gefühle zuzulassen.

Letztlich entstehen echte Bindung, Liebe und Freundschaft dadurch, dass wir gemeinsam Liebe und Verlust erfahren, ohne die anderen für ihre Gefühle zu verurteilen oder ihnen eine Richtung geben zu wollen. Wir lassen die anderen nicht ertrinken und retten einander aus der Feuertaufe unserer Seele. Wie Megan schreibt: »Wahre Sicherheit besteht darin, uns den Schmerzen der anderen zu stellen und uns selbst darin zu erkennen.«

Unsere Arbeit, allein und gemeinsam, besteht darin, nicht den Schmerz und den Verlust zu verringern, sondern zu beleuchten, was diese lebensverändernden Vorfälle in uns öffnen. Durch meinen eigenen Schmerz und meine Trauer habe ich gelernt, dass es keinen Grund gibt, alles als kaputt zu betrachten, nur weil man selbst zerstört am Boden liegt. Das Geschenk der menschlichen Existenz konzentriert sich auf den Versuch, das wiederherzustellen, worauf es wirklich ankommt, und in Notzeiten sein Herz gut zu nutzen.

Wie Johannes vom Kreuz, der der dunklen Nacht der Seele trotzte, und Jakob, der am Grund einer Schlucht mit dem namenlosen Engel rang, verlor Megan ihren Partner Matt und rang in einer langen, dunklen Schlucht. Die Wahrheit, die sie uns von dort mitbrachte, lautet: Nicht alles wird gut, nicht jeder Schaden repariert, nicht alles vergessen. Doch die Dinge entwickeln sich weiter, und auch diejenigen, die einen Verlust erleiden, werden wieder ins Leben verwoben, obgleich sich alles verändert.

In Dantes Göttlicher Komödie führt Vergil Dante durch die Hölle ins Fegefeuer, direkt auf eine Feuerwand zu. Dante zögert ängstlich, doch Virgil versichert ihm: »Du hast keine Wahl. Dies ist ein Feuer, das brennt, doch nicht verzehrt.« Trotzdem fürchtet Dante sich weiter. Vergil spürt das, legt ihm die Hand auf die Schulter und sagt: »Du hast keine Wahl.« Darauf reißt Dante sich zusammen und tritt ins Feuer.

Jeder, der lebt, gelangt irgendwann an diese Feuerwand. Wie Vergil begleitet Megan uns durch die Hölle hin zur Feuerwand, die jeder von uns alleine durchschreiten muss und jenseits derer wir wieder unsere eigenen Führer sein müssen. Wie Vergil zeigt Megan uns einen Weg, nicht den Weg, sondern einen Weg. Sie bietet den von tiefer Trauer Erschütterten einige Dinge zum Festhalten. Es erfordert Mut zu lieben und zu verlieren und beieinanderzubleiben, egal, wie lang die Strecke auch ist. Und Megan ist eine mutige Lehrerin. Wenn die Trauer Sie gepackt hat, greifen Sie zu diesem Buch. Es wird Ihnen helfen, das zu tragen, was Sie tragen müssen, und die Reise weniger einsam machen.

von Mark Nepo

Danksagung

Ich lese immer die Widmungen und Danksagungen von Büchern. Mir gefällt es, Beziehungslinien zu verfolgen, die Mentoren und Vorbilder zu sehen und das Leben um jedes Buch und den Autor herum zu rekonstruieren. Ein Buch ist ein winziger Schnipsel Leben und ein Nebenprodukt des Lebens. Buch und Leben füttern einander. (Zugegeben, eine merkwürdige Formulierung.) Ich habe mich mit diesem Buch schwergetan. Es war aber auch schön, es zu schreiben, auf eine Art, die sich vielleicht nicht immer deutlich im Text niederschlägt, die die Menschen in meinem Leben aber deutlich spürten. Samantha (die alles hielt), Cynthia, Rosie, TC, Steph, Michael, Sarah, Naga, Wit und eine Handvoll weiterer Menschen, die diese Phase miterlebten. Danke, dass ihr da wart, mir zugehört und mir weitergeholfen habt, wenn ich mich verirrt hatte. Dank auch meinen geliebten Zwillingen! Während des Schreibens wart ihr mein Spiel, mein Abenteuer, meine Erholung und meine Freude. Danke für die Zeit, solange diese anhält, und darüber hinaus. Dank auch meiner Tango-Gruppe; bei euch fand ich Ruhe vom Schreiben, immer, sogar im Kopf. Ich möchte auch den Teilnehmern meiner Schreibkurse Writing Your Grief danken, und zwar aus vielen Gründen. Ihr bildet das Rückgrat dieses Buchs, eure E-Mails und Anmerkungen kamen oft genau im richtigen Augenblick, um mich daran zu erinnern, warum ich diese Arbeit mache. Vielen Dank, ihr Lieben, dass ihr eure Herzen und Texte mit mir geteilt habt! Dank auch all meinen Freunden und Vertrauten, die in den Jahren seit Matts Tod starben. Ich spüre euch noch um mich. Eure Unterstützung bedeutet mir auch heute noch alles. Außerdem möchte ich meinem Agenten David Fugate danken, der vom ersten Augenblick an die Botschaft von der kulturellen Transformation glaubte. Dank auch meinem Team bei Sounds True! Wie ich euch schon gesagt habe, fühle ich mich von euch geliebt und umsorgt. Was könnte man sich mehr wünschen? Danke!

Außerdem, auch wenn das jetzt merkwürdig oder sogar arrogant klingt, schulde ich mir selbst unendlichen Dank – der Person, die ich war, jener Person am Fluss, die ich mal war, und jener Person in den darauffolgenden Jahren, die weiterlebte, obwohl sie nicht wollte. Dieses Buch ist ein Liebesbrief an sie, eine Zeitreise. In vielerlei Hinsicht wünsche ich mir bei diesem Buch, was ich mir für jeden Leser wünsche – ich möchte mein altes Ich mit meinen Worten erreichen, es trösten, ihm beim Überleben helfen. Ich bin so froh, dass es weiterlebt.

Einleitung

Die Art und Weise, wie unsere Gesellschaft mit Trauer umgeht, ist völlig zu Bruch gegangen. Ich dachte, ich wüsste einiges über Trauer, schließlich hatte ich fast ein Jahrzehnt lang als Psychotherapeutin gearbeitet. Ich hatte Hunderte von Patienten betreut – Menschen mit Suchtproblemen, Menschen, die immer wieder ihre Wohnung verloren, Menschen, die mit jahrzehntealtem Missbrauch, mit Traumata und Verlust kämpften. Ich hatte Opfer sexuellen Missbrauchs betreut und Menschen geholfen, die grässlichsten Erfahrungen ihres Lebens zu verarbeiten. Ich kannte die neueste Forschung zu den Themen emotionale Intelligenz und Resilienz. Ich war mit ganzem Herzen dabei und spürte, dass ich eine wichtige, wertvolle Aufgabe erfüllte.

Und dann musste ich an einem herrlichen, alltäglichen Sommertag des Jahres 2009 mit ansehen, wie mein Partner Matt ertrank. Matt war stark, fit und gesund. Er stand drei Monate vor seinem 40. Geburtstag. Angesichts seiner Fähigkeiten und seiner Erfahrung gab es nicht den geringsten Grund, warum er hätte ertrinken sollen. Es traf ihn willkürlich, völlig überraschend, und meine Welt zerbrach in tausend Teile.

Nach Matts Tod spürte ich den Drang, all meine Patienten anzurufen und mich bei ihnen für meine frühere Ahnungslosigkeit zu entschuldigen. Ich hatte geglaubt zu wissen, wie man mit tief gehenden Gefühlen umgeht. Doch Matts Tod zeigte mir eine völlig neue Welt. Nichts von dem, was ich wusste, galt bei Verlusten solcher Größenordnung. Dabei hätte ich mit meiner Ausbildung und Erfahrung doch besser imstande sein müssen als irgendjemand sonst, einen solchen Verlust zu bewältigen.

Doch nichts hätte mich darauf vorbereiten können. Meine ganze Ausbildung half mir nichts.

Glücklicherweise war ich nicht allein.

In den Jahren nach Matts Tod entdeckte ich allmählich eine ganze Gemeinschaft trauernder Menschen. Autoren, Aktivisten, Professoren, Sozialarbeiter und Wissenschaftler, Menschen, die in jungen Jahren ihren Partner, sowie Eltern, die ein Kind verloren hatten – die gemeinsame Erfahrung von Schmerz führte unsere kleine Gruppe zusammen. Doch wir teilten nicht nur den Verlust, sondern auch die Erfahrung, von der Umwelt wegen unserer Trauer verurteilt oder gerügt worden zu sein. Wir erzählten einander davon, wie wir aufgefordert wurden, »uns zusammenzureißen«, die Vergangenheit hinter uns zu lassen und nicht länger von denen zu reden, die wir verloren hatten. Man ermahnte uns, wieder unser normales Leben aufzunehmen, und behauptete, aus den Unglücksfällen ließen sich wichtige Lektionen fürs Leben lernen. Selbst diejenigen, die nur helfen wollten, vergrößerten unser Leid letztlich. Plattitüden und gut gemeinte Ratschläge vermittelten den Eindruck, unsere Gefühle würden abgetan. Doch unser gewaltiger Schmerz ließ sich nicht mit Grußkarten-Weisheiten lindern.

Wir alle fühlten uns genau in jener Phase, in der wir am dringendsten Liebe und Unterstützung gebraucht hätten, alleingelassen, missverstanden, beschämt und nicht ernst genommen. Dabei war niemand absichtlich gemein zu uns – die anderen wussten einfach nicht, wie sie uns wirklich hätten helfen können. Und so hörten wir – wie die meisten Trauernden – auf, mit unseren Freunden und Verwandten über unser Leid zu sprechen. Lieber taten wir so, als wäre alles prima, als ständig unsere Trauer vor Menschen zu rechtfertigen, die nichts davon verstanden. Also redeten wir mit anderen Trauernden; sie waren die Einzigen, die wussten, wie Trauer sich anfühlte.

Jeder Mensch erfährt irgendwann Trauer und Verlust. Wir alle fühlten uns wohl in Zeiten großer Pein schon einmal missverstanden. Oder mussten hilflos zusehen, wie andere litten. Wir alle haben schon vergebens nach den richtigen Sätzen gesucht, im Wissen, dass Gerede sowieso nichts wiedergutmachen kann. Und alle verlieren in diesen Situationen: Die Trauernden fühlen sich missverstanden, Freunde und Angehörige fühlen sich angesichts der Trauer hilflos und dumm. Wir Trauernde wissen, dass wir Hilfe brauchen, aber nicht recht, worum wir bitten sollen.

Angehörige und Freunde versuchen, Trauernden zu helfen, die die schlimmste Zeit ihres Lebens erfahren, und machen oft alles noch schlimmer. Sie sind besten Willens, doch irgendwie kommt alles falsch raus.

Das ist nicht ihre Schuld. Wir möchten uns in Zeiten der Trauer geliebt und unterstützt fühlen, und wir alle wollen den Menschen helfen, die wir lieben. Das Problem besteht darin, dass uns die falsche Methode beigebracht wurde, wie man das macht.

In der westlichen Kultur wird Trauer als eine Art Krankheit betrachtet, eine erschreckende, chaotische Emotion, die geordnet und möglichst bald überwunden werden muss. Folglich haben wir absurde Vorstellungen davon, wie Trauer sich äußern und wie lange sie anhalten sollte. Wir sehen Trauer als etwas, das man überwinden und abstellen muss, nicht als etwas, das man pflegen und hegen sollte. Selbst Therapeuten betrachten Trauer oftmals als Störung statt als natürliche Reaktion auf einen gewaltigen Verlust. Wenn nicht mal die Profis wissen, wie man mit Trauer umgeht, was darf man dann von Normalsterblichen erwarten? Etwa Geschick und Eleganz?

Es klafft ein riesiger Abgrund zwischen dem, was sich Trauernde am meisten wünschen, und der aktuellen Situation. Die Instrumente, die wir derzeit zur Bewältigung von Trauer in Händen halten, reichen nicht, um diesen Abgrund zu überbrücken. Die kulturellen Vorurteile darüber, wie Trauer auszusehen habe, halten uns davon ab, uns um unser trauerndes Selbst zu kümmern oder denen zu helfen, die wir lieben. Schlimmer noch: Durch diese überholten Vorstellungen entsteht nur noch weiteres Leid.

Es geht aber auch anders.

Seit Matts Tod habe ich auf meiner Website Refuge in Grief Tausende Trauernde betreut. Über die Jahre sammelte ich sehr viele Erfahrung damit, was auf dem qualvollen Weg der Trauer wirklich hilft. Inzwischen gelte ich in Amerika als führende Expertin in der Trauerbegleitung und als Vorkämpferin für einen einfühlsameren, bewussteren Umgang miteinander.

Meine Theorien zu Trauer, Verletzlichkeit und emotionaler Intelligenz entwickelte ich aufgrund meiner persönlichen Erfahrung und den Erzählungen Tausender Menschen, die sich nach Kräften durch die Landschaft der Trauer kämpften. Aus den Aussagen der Trauernden selbst und ihrer Angehörigen filterte ich das wahre Problem heraus: Unsere Kultur hat uns einfach nicht beigebracht, hilfreich mit Trauer umzugehen.

Wenn wir besser füreinander sorgen wollen, müssen wir die Trauer wieder als zutiefst menschliches Gefühl akzeptieren lernen. Wir müssen über sie reden. Wir müssen sie als natürlichen, normalen Prozess verstehen, nicht als etwas, das vermieden, rasch abgehakt oder gar verteufelt werden sollte. Wir müssen anfangen, über die wahren Fähigkeiten zu reden, die wir zum Umgang mit einem Leben brauchen, das von einem Verlust völlig auf den Kopf gestellt wurde.

Dieses Buch soll Ihnen neue Perspektiven auf Trauer verschaffen. Und es stammt nicht von einem Professor, der einsam in seinem Kämmerlein sitzt, sondern von jemandem, der selbst tiefe Trauer erfahren hat. Auch ich habe mich heulend am Boden gewälzt, war unfähig zu essen und zu schlafen, unfähig, das Haus für mehr als ein paar Minuten zu verlassen. Auch ich lag auf der Couch eines Therapeuten und musste mir überholten und irrelevanten Quatsch über Trauerphasen und die Macht des positiven Denkens anhören. Ich habe die körperlichen Folgen der Trauer am eigenen Leib verspürt – Gedächtnisschwächen, kognitive Veränderungen, Angst – und herausgefunden, was dagegen hilft. Dank meiner beruflichen und persönlichen Erfahrungen erkannte ich den entscheidenden Unterschied: Es kann bei der Trauerbewältigung nicht darum gehen, Schmerzen zu nehmen. Nein, es gilt, den Schmerz zu pflegen. Aus eigener Erfahrungen weiß ich, dass es Menschen nur verletzt, wenn man sie aus ihrer Trauer »herausreden« will. Wirkliche Hilfe für Trauernde sieht anders aus.

Dieses Buch zeigt einen Weg auf, unser aller Beziehung zur Trauer zu überdenken. Es ermuntert den Leser, Trauer als natürliche Reaktion auf Tod und Verlust zu betrachten, nicht als zu behebende Störung. Trauer ist kein Problem, das abgestellt gehört, sondern eine Erfahrung, die man würdigen muss. Mit dieser Einstellung bekommen wir alle, was wir uns am meisten wünschen: Verständnis, Mitgefühl und Bestätigung. Sie weist uns einen Weg durch den Schmerz.

Dieses Buch zeigt, wie man klug und mitfühlend mit Trauer umgeht. Es handelt davon, wie man das Leben von Trauernden und ihrem Umfeld verschönert. Irgendwann erleben wir alle einen schmerzlichen Verlust. Und jeder wird miterleben, wie nahestehende Menschen schmerzliche Verluste erfahren. Verlust ist eine universelle Erfahrung.

Ich möchte der Weltsicht, die Trauer um einen geliebten Menschen sei eine zu behandelnde Krankheit, entschieden Kontra geben. Und alle auffordern, ihre Einstellungen zu Liebe, Verlust, gebrochenen Herzen und Kameradschaft zu überdenken. Wenn es uns als Gesellschaft gelingt, die wahre Natur von Trauer zu verstehen, wird unser Zusammenleben liebevoller und hilfreicher. Wir alle können bekommen, was wir uns am meisten wünschen: Beistand in Zeiten der Not, das Gefühl, auch in den schrecklichsten Augenblicken unseres Lebens geliebt und unterstützt zu werden. Fangen wir also an, anders über Trauer zu reden! Das erleichtert uns allen das Leben.

Uns allen ist ein Wunsch gemein: Wir wollen besser lieben. Wir wollen auch im größten Schmerz uns selbst lieben. Und einander lieben, wenn der Schmerz dieser Existenz zu viel wird für einen Einzelnen. Dieses Buch zeigt Ihnen, wie Sie diese Liebe verwirklichen. Danke, dass Sie hier sind. Danke für Ihre Bereitschaft zu lesen, zuzuhören und dazuzulernen. Gemeinsam können wir die Dinge verbessern, auch wenn wir sie nie wiedergutmachen können.

Teil I

All das ist genau so verrückt, wie Sie glauben

1. Kapitel

Die Realität des Verlusts

Vorausschickend möchte ich Ihnen gleich eines sagen: Tiefe Trauer ist wirklich so schlimm, wie Sie es sich ausmalen.

Ganz gleich, was andere vielleicht sagen mögen, sie ist grässlich. Was passiert ist, kann nie wieder repariert werden. Was verloren ging, kommt nie wieder. Darauf läuft es hinaus, und daran ist überhaupt nichts Gutes.

Akzeptanz ist alles.

Sie leiden. Und niemand kann Ihr Leid lindern.

Die innere Realität Ihres Verlusts unterscheidet sich von dem, was Außenstehende glauben. In dieser Welt gibt es Schmerzen, bei denen keine Aufmunterung hilft.

Sie brauchen keine Lösungen. Sie müssen Ihre Trauer nicht endlich hinter sich lassen. Sie brauchen jemanden, der Ihre Trauer wahrnimmt und anerkennt. Sie brauchen jemanden, der Ihnen die Hand hält, während Sie schockiert auf das Loch in Ihrem Leben starren.

Manche Dinge lassen sich nicht reparieren. Man kann sie nur ertragen.

Die Realität der Trauer

Nach einem Todesfall außerhalb der natürlichen Ordnung oder einem anderen lebensverändernden Ereignis wird nichts wieder so sein, wie es früher war. Selbst wenn wir ihn erwarten, treffen Tod oder Verlust uns unvorbereitet. Alles ist jetzt anders. Das Leben, das Sie sich ausgemalt haben, verpufft, verschwindet. Die Erde tut sich auf, nichts ergibt mehr Sinn. Ihr Leben war normal, und jetzt ist es plötzlich alles andere als normal. Und ansonsten vernünftige Menschen geben nur noch Plattitüden von sich, um Sie aufzuheitern.

***

Das haben Sie nicht erwartet.

Die Zeit hat angehalten. Nichts fühlt sich real an. Immer und immer wieder geht Ihr Gehirn die Ereignisse in der Hoffnung durch, sie könnten anders enden. Die Alltagswelt fühlt sich hart und grausam an. Sie können nichts essen (oder essen wahllos). Sie können nicht schlafen (oder schlafen ständig). Alltagsgegenstände werden zu Artefakten, Symbolen des Lebens, wie es früher war oder wie es hätte sein können. Kein Ort bleibt von Ihrem Verlust unberührt.

In den Tagen und Wochen seit Ihrem Verlust mussten Sie sich alle möglichen Kommentare anhören: Der Verstorbene hätte nicht gewünscht, dass du traurig bist. Alles passiert aus gutem Grund. Zumindest ist dir ein wenig Zeit mit ihm/ ihr geblieben. Du bist stark und klug und einfallsreich, du stehst das schon durch! Diese Erfahrung macht dich stärker. Du kannst es immer noch einmal versuchen – such dir einen neuen Partner, bekomm noch mal ein Kind, ergreife die Chance, deinen Schmerz in etwas Schönes, Nützliches und Gutes zu verwandeln.

Doch solche platten Aufmunterungen helfen nicht. Sie vermitteln Ihnen nur das Gefühl, niemand verstehe sie. Das hier ist keine kleine Schramme. Das hier ist kein moralischer Durchhänger. Sie hätten kein Unglück gebraucht, um zu erfahren, was wirklich zählt, um Ihre wahre Bestimmung zu finden oder um zu erkennen, wie sehr Sie geliebt werden.

In Ihrer Lage hilft nur gnadenlose Ehrlichkeit: Ihr Verlust ist genau so schlimm, wie Sie glauben. Und Ihr Umfeld wird, und sei es noch so bemüht, hilflos reagieren. Sie sind nicht verrückt. Etwas Verrücktes ist passiert, und Sie reagieren, wie jede vernünftige Person reagieren würde.

Wo ist das Problem?

Das meiste, was heutzutage so unter Trauerhilfe läuft, hilft überhaupt nicht. Da wir nicht über unsere Verluste reden, halten die meisten Menschen – auch die meisten Fachleute – Trauer und Schmerz für Verirrungen vom Pfad des normalen, glücklichen Lebens.

Laien wie Fachleute glauben, Trauerhilfe müsse darauf abzielen, die Trauer zu überwinden und die Schmerzen abzustellen. Trauer gilt als unglückliche, aber vorübergehende Erfahrung, die man schnell verarbeiten und hinter sich lassen sollte.

Diese irrige Vorstellung führt dazu, dass viele Trauernde sich einsam und alleingelassen fühlen, was zusätzliche Schmerzen bereitet. Bei allen Kommentaren des Umfelds schwingt ein korrigierender, urteilender Unterton mit, sodass viele Betroffene bald aufhören, von ihrem Schmerz zu berichten. Wir verschweigen also die Realität unseres Verlusts, weshalb andere Betroffene irrtümlicherweise für seltsam oder falsch halten, was in ihnen vorgeht.

Doch an Trauer ist nichts Falsches. Sie ist die natürliche Folge von Liebe. Sie stellt eine gesunde und natürliche Reaktion auf Verlust dar. Ja, Trauer fühlt sich schlimm an, doch daraus folgt nicht, dass sie schlimm wäre. Und nur weil Sie sich verrückt fühlen, bedeutet das noch nicht, dass Sie verrückt sind.

Trauer gehört zur Liebe. Zur Lebenslust, zur Selbstliebe, zur Liebe für andere. Was Sie erleben, so schmerzhaft es auch ist, ist Liebe. Und Liebe tut weh. Manchmal verdammt weh.

Um Trauer als Fortsetzung der Liebe sehen zu können, müssen wir anfangen, Klartext zu reden. Trauer hat nichts Pathologisches, aber am Ende wird auch nicht alles wieder gut. Machen wir uns da keine falschen Hoffnungen!

Jenseits der »normalen« Trauer

Das Leben bringt Verluste und Trauer mit sich. In der westlichen Gesellschaft müssen wir noch gewaltig daran arbeiten, alle Stimmen zuzulassen, all die Schmerzen in unseren Herzen und unsere Verluste anzuerkennen und zu würdigen. Und dieses Buch handelt nicht von alltäglichen Verlusten.

Das Leben schlägt mitunter Wunden, die schmerzen, gewaltig schmerzen, aber letztendlich heilen. Durch Arbeit an sich selbst und bedingungslosen Einsatz lassen sich viele Schwierigkeiten überwinden. Es liegt wirklich Gold am Grunde der harten Arbeit des Lebens, wie die Jungianer sagen. Aber bei katastrophalen Verlusten sieht die Sache völlig anders aus. Wir reden nicht von einem harten Tag im Büro. Oder von einem lang gehegten Wunsch, der unerfüllt bleibt. Wir haben nicht etwas Schönes verloren, damit etwas Besseres daherkommen kann. Der Versuch, sich die Situation schönzureden, funktioniert in solchen Fällen nicht. Manche Verluste stellen unsere Welt auf den Kopf, verändern unsere Perspektive für immer. Die Trauer reißt alles ein. Der Schmerz versetzt uns in ein völlig neues Universum, auch wenn alle anderen glauben, nichts hätte sich wirklich verändert.

Wenn ich von Verlust und Trauer rede, meine ich Umstände, die von der natürlichen Ordnung der Dinge abweichen. Ich meine Unfälle und Krankheiten, Naturkatastrophen, menschengemachte Katastrophen, Gewaltverbrechen und Selbstmorde. Ich meine völlig unvorhersehbare, untypische, ungewöhnliche Verluste – die aber immer häufiger aufzutreten scheinen, je länger ich diese Arbeit mache. Ich meine die versteckte Trauer, den Schmerz, über den niemand reden möchte (oder vielmehr von dem niemand hören möchte): die Trauer der Eltern um einen Fötus, der Tage vor dem Geburtstermin ohne ersichtlichen Grund im Mutterleib starb. Die Trauer eines sportlichen, ehrgeizigen jungen Mannes, der mit dem Auto in einen Teich fuhr und eine Querschnittslähmung erlitt. Die Trauer der jungen Witwe, die ansehen musste, wie ihr Mann bei einem Überfall erschossen wurde. Die Trauer um den Partner, der von einer Riesenwelle mitgerissen wurde. Die Trauer des Ehemanns, des kleinen Sohnes und zahlreicher Freunde um eine tatkräftige, gesunde Mutter, bei der im Zuge einer Routineuntersuchung Krebs im Endstadium festgestellt wurde und die wenige Monate später starb. Die Trauer um einen 20-jährigen Jungen, der während einer humanitären Mission in Südamerika von einem Bus überfahren wurde. Die Trauer um eine Familie, die in Indonesien Urlaub machte, als der Tsunami kam. Die Trauer einer Community, nachdem ein Mitglied Opfer eines Hassverbrechens wurde. Die Trauer um ein kleines Mädchen, das einer Mutation in ihren Knochen erlag. Die Trauer um einen Bruder, der beim Frühstück noch gesund und munter und am Mittag tot war. Die Trauer um einen Freund, von dessen Seelenqual Sie nichts mitbekamen, bis Sie von seinem Selbstmord hörten.

Vielleicht lesen Sie dieses Buch, weil jemand gestorben ist. Und ich habe es geschrieben, weil jemand gestorben ist. Vielleicht sind Sie hier, weil sich Ihr Leben unwiderruflich verändert hat – durch Unfall oder Krankheit, ein Gewaltverbrechen oder einen Akt der Natur.

Wie willkürlich und zerbrechlich das Leben sein kann!

Aber darüber reden wir nicht gern: Dass ein völlig normales Leben sich von einer Sekunde zur nächsten in einen Albtraum verwandeln kann. Uns fehlen – individuell und als Gesellschaft – die Worte, die Sprache, die Gehirnkapazität, um uns dieser Tatsache zu stellen. Und weil wir sie totschweigen, kann uns niemand helfen, wenn der Albtraum wahr wird und wir dringend Liebe und Unterstützung bräuchten. Was wir bekommen, ist meilenweit entfernt von dem, was wir bräuchten.

Die Realität der Trauer unterscheidet sich himmelweit von dem, was Außenstehende vermuten oder mitbekommen. Hohle Phrasen helfen kein bisschen. Nicht alles geschieht aus einem guten Grund. Nicht jeder Verlust lässt sich in etwas Nützliches verwandeln. Bei manchen Dingen gibt es keinen Silberstreif am Horizont.

Wir müssen anfangen, ehrlich über diese Art von Schmerz zu reden. Über Trauer, Liebe, Verlust.

Denn die Wahrheit lautet: Lieben bedeutet auf die eine oder andere Art immer auch Verlust. Es ist schwer, in einer derart brüchigen, vergänglichen Welt zu leben. Unsere Herzen brechen mitunter so, dass sich nichts mehr reparieren lässt. Manche Schmerzen werden unverrückbarer Teil unseres Lebens. Wir müssen lernen, das auszuhalten und trotzdem für uns selbst zu sorgen beziehungsweise uns um andere zu kümmern. Wir müssen lernen, in einer Welt zu leben, in der sich unsere Existenz, wie wir sie kennen, jederzeit und endgültig ändern kann.

Wir müssen anfangen, über diese Realität des Lebens zu reden, die auch die Realität der Liebe ist.

Überleben

Klingt das vertraut? Wurden Sie völlig unerwartet in ein Leben gestürzt, um das Sie nicht gebeten haben? Dann tut es mir leid. Ich kann nicht behaupten, alles würde am Ende gut. Denn das stimmt nicht.

Es ist nicht alles gut. Vielleicht wird nie wieder alles gut.

Worum auch immer Sie trauern, es ist wichtig, sich einzugestehen, wie schlimm es ist, wie hart. Der Schmerz ist grässlich, schauderhaft, unüberlebbar.

In diesem Buch geht es nicht darum, Sie oder Ihre Trauer zu »reparieren«. Auch nicht darum, Ihren Schmerz zu lindern oder Sie wieder »auf die Beine zu bekommen«. Dieses Buch handelt davon, wie man mit seinem Verlust leben kann. Wie man erträgt, was sich nicht ändern lässt. Wie man überlebt.

Auch wenn dieser Gedanke – dass man etwas derart Grässliches überleben kann – erst einmal verstörend und entsetzlich klingt, lautet die Wahrheit doch: Höchstwahrscheinlich werden auch Sie das hier überleben.

Dieser Prozess des Überlebens wird nicht in Schritten oder Phasen verlaufen. Er wird auch nicht so verlaufen, wie Außenstehende sich das vorstellen. Es gibt keine einfachen Antworten. Sie können nicht einfach Ihr altes Leben hinter sich lassen und so tun, als hätten Sie es sowieso nicht gewollt.

Um überleben und wieder ein Leben finden zu können, das sich authentisch und wahrhaftig anfühlt, müssen wir uns zuerst die Wahrheit eingestehen. Die Lage ist wirklich so schlimm, wie Sie denken. Alles ist genau so falsch und bizarr, wie Sie es sehen. Von diesem Startpunkt ausgehend können wir anfangen, über das Leben mit der Trauer zu reden, mit der Liebe, die bleibt.

Gebrauchsanweisung für dieses Buch

Dieses Buch besteht aus vier Teilen: Die Realität des Verlusts; Vom Umgang mit der eigenen Trauer; Familie und Freunde sowie Der Weg nach vorn. Immer wieder zitiere ich aus Texten von Teilnehmern meiner Writing Your Grief-Kurse (»Schreib deine Trauer nieder«). Diese Texte illustrieren sehr einfühlsam die schwierigen und facettenreichen Aspekte einer ehrlich und offen gelebten Trauer.

Das Buch folgt natürlich einer inneren Logik, trotzdem können Sie nach Belieben zwischen den Teilen hin und her springen. Wie bei der Trauer gibt es auch hier nicht die eine richtige Methode des Umgangs. Insbesondere kurz nach dem Schock werden Sie nicht sehr aufnahmefähig sein. Auch wenn Sie vor Ihrem Verlust eine lange Aufmerksamkeitsspanne hatten, die Trauer hat ihre Art, sie erheblich zu verkürzen. Beißen Sie nur so viel ab, wie Sie kauen können. (Mehr darüber, wie Trauer das Gehirn beeinflusst, im zweiten Teil.)

Im ersten Teil des Buchs geht es um unsere Trauerkultur und wie unsere Gesellschaft mit Schmerz umgeht. Darin beleuchte ich die historischen Wurzeln der emotionalen Blindheit und der tief sitzenden Aversion, der Realität des Schmerzes ins Auge zu sehen. Ich zeichne ein umfassendes Bild vom Umgang mit Trauer – und Liebe – in unserer Gesellschaft.

Wenn Ihre Welt auf den Kopf gestellt wurde, fragen Sie sich vielleicht, was dieses breitere Bild Ihnen nutzen soll. Warum sollten Sie Ihre Zeit damit vergeuden, über die emotionale Blindheit der Welt nachzudenken?

Zugegeben, in den ersten Tagen des Schmerzes hilft das Verständnis von unserer Kultur des Trauerns nicht weiter. Was aber zählt, ist: Sie erfahren, dass nicht nur Sie das Gefühl haben, Ihr Umfeld lasse Sie mit Ihrer Trauer allein. Meine Ausführungen über den verlorenen Umgang unserer Gesellschaft mit Trauer sollen zeigen, dass Sie nicht allein dastehen. Sie bieten eine Art Erklärung für das Auseinanderklaffen Ihrer Realität und jener, die die Welt Ihnen verkaufen will.

Dieser Abgrund zwischen dem, was die Umwelt glaubt, und dem, was Sie erleben, gehört zu den schwierigsten Aspekten der Trauer.

Ich erinnere mich an die ersten Tage nach Matts Tod. Mit wilden Haaren, hohlen Wangen und wahllos zusammengewürfelter Kleidung stellte ich mich der Welt. Ich sah aus wie eine Obdachlose und führte Selbstgespräche. Ich versuchte, normal weiterzuleben. Vernünftige, erwartete, gewöhnliche Dinge zu tun: Lebensmittel einkaufen, Hund ausführen, mit Freunden zu Mittag essen. Ich nickte, wenn Leute sagten, alles werde gut. Ich hielt meine Klappe und blieb freundlich, als mir ein Therapeut nach dem nächsten erzählte, ich müsse die Phasen der Trauer schneller durchlaufen.

In all dieser Zeit war neben mir, in mir, immer diese heulende, kreischende Masse von Schmerz, die beobachtete, wie diese gewöhnliche Person sich vernünftig benahm. Höflich. Als ob alles okay wäre. Als ob alles nicht so schlimm wäre. Als ließe sich der Horror durch freundliches Verhalten ohne Weiteres bändigen.

Ich sah die Bruchlinien durch all das laufen und ich wusste genau, dass alles nur Blödsinn war: das Zeug, das vernünftige Menschen über die Phasen der Trauer erzählten, der Mist darüber, man müsse den Schmerz nur durchstehen, dann würde alles schon besser, die Bücher, die behaupteten, man könne den Schmerz überwinden, indem man sich irgendwie über ihn erhebe. Aber als ich das laut aussprach, verpasste man mir das Etikett »behandlungsresistent«.

Was hätte ich dafür gegeben, meine Realität irgendwo widergespiegelt zu sehen! Mit der Trauerhilfe verhält es sich wie mit des Kaisers neuen Kleidern: Die Betroffenen sehen genau, dass die angebliche Hilfe nichts bringt, dass das wohlmeinende Umfeld hohle Aufmunterungsphrasen plappert, und der Helfende ahnt im Grund seines Herzens ebenfalls, dass seine Worte nicht helfen. Alle wissen es, und doch schweigen alle.

Was für ein Unfug, über den Umgang mit Trauer zu reden, als handele es sich um eine intellektuelle Übung oder als könne man sie durch schiere Willenskraft überwinden. Der Verstand, der Wörter wählt, Phasen analysiert und diktiert und vernünftiges Verhalten vorschreibt, befindet sich auf einer völlig anderen Ebene als ein zerrissenes Herz.

Trauer ist instinktiv, nicht rational. Das Heulen im Zentrum der Trauer ist roh und real. Trauer ist Liebe in ihrer wildesten Form.

Der erste Teil dieses Buchs beleuchtet den historisch gewachsenen Unwillen der Gesellschaft, diese Wildheit zu spüren. Das Wissen darum ändert zwar nichts an Ihrem Verlust, doch es hilft, die Perspektive zurechtzurücken: Nicht Ihr persönliches Erleben ist verrückt, sondern der Umgang der Gesellschaft mit Trauer.

Der zweite Teil des Buchs handelt davon, was Sie angesichts Ihrer Trauer tun können. Nicht um den Schmerz zu »lindern«, sondern um das Leben besser zu ertragen. Trauer lässt sich nicht abstellen, doch man kann in ihr etwas unternehmen.

Sobald wir den Ansatz wechseln und nicht mehr versuchen, den Schmerz »abzustellen«, sondern uns um ihn kümmern, eröffnen sich eine Vielzahl von Hilfsangeboten. Anerkennung der Trauer und unverblümtes Reden über die Realität des Verlusts helfen beispielsweise enorm, auch wenn dadurch nichts »wieder gut« wird.

Teil zwei behandelt einige alltägliche Aspekte der Trauer, über die aber kaum jemand redet, etwa über die körperlichen und seelischen Veränderungen, die mit schweren Verlusten einhergehen. In diesem Teil finden Sie Übungen, wie Sie unnötigen Stress vermeiden und mit unvermeidlichem Stress umgehen, Ihren Schlaf verbessern, Ängste abbauen, mit wiederkehrenden Bildern und Endlosschleifen umgehen und wie Sie Inseln der Ruhe finden, auf denen zwar nicht alles besser ist, sich aber alles irgendwie ertragen lässt.

Im dritten Teil betrachten wir die oft frustrierende, gelegentlich aber fantastische Hilfe von Freunden, Verwandten und Bekannten. Wie kann es sein, dass ansonsten kluge Menschen nicht die geringste Ahnung haben, wie man andere in ihrer Trauer unterstützt? Klar, diese Menschen meinen es gut, aber das genügt nicht. Denn Sie brauchen Hilfe. Drücken Sie also denjenigen Menschen, die wirklich helfen wollen, dieses Buch in die Hand. Im dritten Teil finden potenzielle Helfer alles, was sie brauchen: Checklisten, Anregungen und Schilderungen aus erster Hand. All das lehrt das Hilfsteam, besser mit dem Schmerz eines Trauernden umzugehen. Ebenso wichtig: Der dritte Teil hilft Ihnen herauszufinden, welche Menschen einfach nicht für Sie da sein können, und zeigt, wie Sie diese zumindest einigermaßen elegant aus Ihrem Leben entfernen.

Der vierte und letzte Teil des Buchs beleuchtet, wie wir nach einem entsetzlichen Verlust wieder lernen, nach vorne zu blicken. Wie sieht angesichts der Tatsache, dass sich der Verlust nie wieder rückgängig machen lässt, ein »gutes Leben« überhaupt aus? Wie leben Sie hier, in einer völlig veränderten Welt? Es ist ein komplizierter und komplexer Prozess, die Liebe mitzunehmen und wieder nach vorne zu schreiten – ohne etwas »hinter sich« zu lassen. Teil vier behandelt, wie wir echte Unterstützung und Kameradschaft in unserem Verlust finden, wie wir Schmerz – und Liebe – in ein Leben einfügen, das untrennbar mit dem Verlust verwoben ist.

Denn das ist die Wahrheit über Trauer: Verluste werden integriert, nicht überwunden. Es mag lange dauern, doch Ihr Herz und Ihr Verstand werden inmitten dieser bizarr verwüsteten Landschaft ein neues Leben aufbauen. Ganz allmählich werden Schmerz und Liebe einen Weg finden, nebeneinander zu existieren. Irgendwann fühlt es sich nicht mehr schlimm oder falsch an, überlebt zu haben. Sie werden ein Leben führen, das Sie selbst gestaltet haben: das beste Leben, das mit dem, was Ihnen zugeteilt wurde, möglich ist. Möge dieses Buch Ihnen helfen, den Faden der Liebe zu finden, den es noch gibt, und ihm zu einem Leben zu folgen, um das Sie zwar nicht gebeten haben, das aber trotzdem da ist.

Es tut mir so leid, dass Sie dieses Buch brauchen. Und ich bin so froh, dass Sie hier sind.

2. Kapitel

Der unausgesprochene Halbsatz

Warum tröstende Worte so wütend machen

Es ist quälend, einen geliebten Menschen leiden zu sehen. Die Menschen, die Sie lieben, werden Ihnen sagen, Sie seien stark genug, das hier durchzustehen, und versuchen, Sie zu trösten, indem sie Ihnen versichern, dass Sie sich irgendwann besser fühlen werden. Sie versichern, es sei nicht immer so schlimm. Sie verweisen auf eine bessere Zukunft, auf eine Zeit, in der Sie weniger Schmerzen verspüren werden.

Oft kommen andere auch mit Tipps zur schnelleren Bewältigung von Trauer. Sie raten uns, was sie an unserer Stelle täten. Sie erzählen uns von ihren eigenen Verlusten, als wäre Trauer vergleichbar. Als würde das Wissen helfen, dass jemand anderes auch gelitten hat.

Freunde und Bekannte, sie alle haben eine Meinung zu Ihrer Trauer, sie alle möchten Sie irgendwie trösten.

Natürlich wollen sie trösten – das gehört zur menschlichen Natur: Wir möchten anderen den Schmerz nehmen. Wir wollen helfen. Wir möchten, dass uns geholfen wird. Wir wünschen uns Dinge voneinander, die wir eigentlich geben können sollen. Doch die meisten Trauernden fühlen sich nicht geborgen und getröstet, sondern beschämt, ausgestoßen und nicht für voll genommen.

Und diejenigen, die zu helfen versuchen, fühlen sich nicht nützlich und geschätzt, sondern unerwünscht, frustriert und ungewürdigt.

Niemand bekommt, was er will.

Ein Großteil dieses Buchs widmet sich dem zerrütteten Umgang unserer Gesellschaft mit Trauer und Schmerz, doch dieses Kapitel bleibt persönlich: Es ist wichtig, ganz klar festzuhalten, wie sehr die Reaktionen anderer Menschen auf Ihre Trauer Ihnen das Gefühl vermitteln können, verrückt zu sein. Jede Grübelei darüber, ob jetzt die ganze Welt spinnt oder man selbst nur »zu dünnhäutig« ist, fügt nur noch zusätzlichen Stress hinzu. Deswegen ist es so wichtig, dass Gefühle bestätigt und anerkannt werden – denn an der Art, wie andere zu trösten versuchen, ist oftmals überhaupt nichts Tröstendes.

Was sie sagen, scheint okay. Warum werde ich so wütend?

Während ich dieses Buch schrieb, starb der Vater einer engen Freundin. Etwa eine Woche nach seinem Tod schickte sie mir eine SMS: »Die Leute schicken mir außerordentlich liebe Kondolenzkarten. Warum macht mich das so wütend? Ich hasse sie und ihre blöden Karten. Selbst die nettesten Worte wirken gemein.«

Intensive Trauer ist eine Unmöglichkeit: Niemand kann uns unsere Schmerzen nehmen. Tröstungsversuche machen nur wütend. Die »Hilfe« der anderen fühlt sich übergriffig an. Versuche, sich in Sie hineinzufühlen, wirken ahnungslos oder grob. Jeder hat seine Meinung dazu, wie Sie trauern sollten, wie Sie es sich leichter machen könnten. Gemeinplätze wie »Das macht dich nur stärker« und »Sei dankbar für die guten Zeiten, die du hattest« wirken wie Ohrfeigen.

Doch warum klingen Worte des Trosts in unseren Ohren so fürchterlich falsch?

Vor Matts Tod las ich Spirituelle Antworten auf alle Probleme von Wayne Dyer, ein tolles Buch. Als ich nach seinem Tod weiterlesen wollte, fand ich keinen Zugang mehr. Es fühlte sich einfach falsch an, als steckten lästig kratzende Kletten an den Wörtern. Vergeblich suchte ich Trost in den Wörtern, die mich früher getröstet und aufgerichtet hatten.

Ich legte das Buch weg. Und nahm es wieder auf. Wieder das Kratzen. Die Wörter passten einfach nicht, also legte ich es wieder weg.

Ein paar Wochen später fiel mein Blick zufällig wieder auf den Titel des Buchs, das noch auf dem Couchtisch lag: Spirituelle Antworten auf alle Probleme.

Alle Probleme.