Evelyn Skye hat Russische Literatur & Geschichte an der Stanford University und Jura an der Harvard Law School studiert. Sie kam auf die finale Liste für den 2013 Katherine Paterson Preis für Young Adult Writing (beurteilt von Rebecca Stead), und ihre Kurzgeschichte wurde im Sucker Literary Magazine veröffentlicht. www.evelynskye.com
Für Reese –
Du bist der Grund, warum ich an Magie glaube
Das Spiel der Krone ist alt, älter als das Zarenreich. Es begann vor langer Zeit, im Zeitalter des Prinzen Rurik von Nowgorod, als Russland noch ein Haufen verschiedener Stämme war, wild, gesetzlos und jung. Über die Jahrhunderte hat sich das Land weiterentwickelt und mit ihm das Spiel der Krone. Aber seine ungezähmte Wildheit hat es nie, niemals abgelegt.
Dem Sieger des Spiels brachte es unvorstellbare Macht.
Den Besiegten schickte es in trostlose Vergessenheit.
Das Spiel der Krone durfte man nicht verlieren.
Oktober 1825
Ein verheißungsvoller Duft nach Zucker und Hefe empfing Vika schon an der Tür des Ladens, der wie ein Kürbis aussah, an der Hauptstraße ihres kleinen Dorfes. Sie widerstand der Versuchung, in die Aschenputtel-Bäckerei zu stürmen – ihr Vater hatte sich sechzehn Jahre lang bemüht, sie zur Sittsamkeit zu erziehen –, und so betrat sie das Geschäft leise und reihte sich bescheiden hinter den Frauen mittleren Alters ein, die dort Schlange standen.
Eine der Frauen drehte sich um, wollte sie begrüßen und zuckte zusammen, wie alle Leute, wenn sie Vika sahen. Sie schienen zu glauben, dass in ihren Adern kein Blut floss, sondern eine heißere und flüchtigere Essenz als bei jedem anderen, sodass man sich an ihr verbrennen würde, wenn man ihr zu nahe kam. Vikas wilde, rote Mähne mit der einen pechschwarzen Strähne dazwischen half auch nicht unbedingt, die Frauen zu beruhigen. Das einzig »normale« an Vika war ihr Kleid, ein hübsches (wenngleich zerknittertes) grünes Gewand, das sie auf Anweisung ihres Vaters stets tragen musste, wenn sie ins Dorf ging – allerdings ohne das hässliche gelbe Band, das ihre Taille zu eng zusammenschnürte, weshalb es ihr sinnigerweise in den Bach Preobraschenski »gefallen« war.
Vika schenkte der Frau ein Lächeln, das eher wie eine Grimasse ausfiel. Die Frau schnaubte über Vikas Unverschämtheit, dann drehte sie das Gesicht zur Schlange vor ihr.
Darauf erlaubte sich Vika ein offenes Grinsen.
Nachdem alle Kundinnen in der Schlange versorgt und aus der Bäckerei geflüchtet waren – vor mir geflüchtet sind, dachte Vika achselzuckend – schenkte ihr Ludmila Fanina, die stämmige Bäckerin hinter dem Tresen, ihre Aufmerksamkeit.
»Privet, meine liebe Viiikaaa«, sagte Ludmila und zog ihren Namen dabei wie eine Opernarie in die Länge. Sie war die Einzige – außer ihrem Vater – auf der Insel Owtschinin, die Vika in die Augen sah, wenn sie ihr begegnete. Die Bäckerin sang weiter: »Wie geht es Euch an diesem schönen Morgen?«
Vika applaudierte und Ludmila vollführte einen unbeholfenen Knicks. Sie stieß dabei gegen ein Tablett mit Oreschki, und das Karamell-Walnuss-Gebäck wackelte bedenklich am Rand des Tresens. Typisch Ludmila. Vika zauberte das Tablett heimlich an seinen Platz zurück.
»Otschen charascho, spacibo«, sagte Vika. Es geht mir sehr gut, danke. Sie sprachen Russisch, anders als die Aristokraten in St. Petersburg, die das »vornehmere« Französisch bevorzugten. Ihr Vater (Baron Sergej Michailowitsch Andrejew, um genau zu sein) war zwar adelig, wollte aber, dass seine Tochter wie eine echte Russin aufwuchs – durch die Birkenwälder wanderte, Balalaika spielen lernte und mit beinahe religiöser Leidenschaft für Buchweizen-Kasha mit Pilzen und frischer Butter schwärmte. Das war der Grund, weshalb sie auf dieser bäuerlichen Insel wohnten und nicht in der zaristischen Hauptstadt, denn Sergej schwor, dass sie dem Herzen ihres Landes näher blieben, wenn sie auf der Insel Owtschinin lebten.
»Und wie geht es dir?«, erkundigte sich Vika bei Ludmila.
»Nun, auch sehr gut, nachdem mit Euch ein Sonnenstrahl in meinen Laden gedrungen ist«, antwortete die Bäckerin mit normaler Stimme. »Das Übliche für Sergej?«
»Selbstverständlich. Vater will nichts anderes zum Frühstück essen.«
Ludmila griff lachend nach einem Laib Borodinski, dem festen, russischen Schwarzbrot, das Sergej täglich zu sich nahm. Sie wickelte es in braunes, an den Ecken zerknittertes Papier und band es mit einem Baumwollband zusammen.
Vika zahlte und verstaute das Brot in ihrem Korb, in dem bereits einige Würste vom Metzger lagen und ein Glas Dillgemüse aus dem Lebensmittelladen zwei Straßen weiter. »Danke«, sagte sie auf dem Weg nach draußen. Sie mochte Ludmila sehr, aber in der Bäckerei waren die Wände zu dick und die Luft so stickig wie in einer Sauna, wenn man zu lange darin saß. Draußen im Freien fühlte sie sich einfach wohler, eben nicht eingesperrt. »Bis morgen.«
»Bis Mo-horgen, Vii-kahah«, sang Ludmila, und die Tür der Bäckerei schlug zu.
Vika stolperte eilig den schmalen Feldweg hinauf, der sich durch die Hügel auf der Insel Owtschinin schlängelte. Eigentlich sollte sie sich mit maßvollen Schritten fortbewegen, wenn die Leute sie sehen konnten, aber das war schwierig. Sergej sagte, es habe damit zu tun, dass Vika ein Geist in einer zu kleinen Flasche sei. Eines Tages werde ich eine Welt erschaffen, in der es gar keine Flaschen gibt, dachte sie.
Vorerst wollte sie zu ihrem Vater zurück und zu der Aufgabe, die er für sie vorgesehen hatte. Als Vika den Wald betrat, ging sie mit vorgebeugtem Oberkörper weiter, die Muskeln gespannt, aber nicht verspannt, wie ein altgedientes Rennpferd an der Startlinie.
Zwei Jahre noch, dachte sie. Zwei Jahre noch, dann ist meine Magie so mächtig, dass ich dem Zaren und dem Reich damit dienen kann. Vielleicht war sie ihr Flaschengefängnis dann endlich los.
Vika sprang über Baumstämme und schlüpfte zwischen moosbedeckten Felsen hindurch. Als sie mit einem Sprung über den Preobraschenski setzte, der unter ihr gurgelte, als hätte er es eilig, seinen eigenen Unterricht zu erreichen, sah sie ihren Vater auf einem Baumstamm sitzen. Seine Tunika und die Hosen waren schmutzig von der Erde, in der er seit dem frühen Morgen nach Baldrianwurzeln gegraben hatte. In seinem Bart hingen Blätter. Jetzt schnitzte er an einem Holz. Kein Baron hatte einem Bauern je so ähnlich gesehen. Vika lächelte.
»Das Brot duftet köstlich«, sagte Sergej und richtete seine Nase auf Vikas Korb.
Sie grinste. »Vielleicht gebe ich dir etwas davon, wenn du mir sagst, welche Aufgabe du heute für mich vorgesehen hast.«
»Mit sechzehn Jahren immer noch ungeduldig.« Die Lachfalten um die Augen ihres Vaters waren so tief, als wäre der Pflug nicht nur durch die Gemüsefelder, sondern auch durch sein wettergegerbtes Gesicht gefahren.
»Du verwechselt Ungeduld mit Begeisterung«, schimpfte Vika lachend. »Kein Grund, mich auf meinen Lorbeeren auszuruhen, weil es außer mir keinen Magier im Zarenreich gibt.«
Ihr Vater nickte anerkennend. »Dein Schild ist bereit?«
»Selbstverständlich.« Ihre ersten Lektionen hatte sie vor einer Dekade bekommen, als sie alt genug war, um zu begreifen, dass Magie nicht nur dem Vergnügen diente, sondern auch Russland und seinem Zaren. Mittlerweile errichtete sie ohne nachzudenken vor jeder Lektion eine Barriere um den Wald.
Vika spähte dennoch über ihre Schulter, um sicher zu sein, dass sich kein Dorfbewohner in die Nähe verirrt hatte. Sie hatte früh von ihrem Vater gelernt, dass Menschen schon für weitaus geringere Vergehen als die ihren auf dem Scheiterhaufen geendet hatten. Und Vika gefiel die Vorstellung nicht, in einem Flammenmeer zu sterben.
Aber heute war niemand im Wald. Das war der zweite Grund, warum sie in diesem winzigen Wald auf einer Insel lebten. Auf Owtschinin gab es nicht mehr als ein paar hundert Menschen. Sie wohnten in der Ebene beim Hafen, bis auf zwei Ausnahmen oben in den Bergen: Sergej, ein harmloser Forscher mit einer Leidenschaft für Heilkräuter, und Vika, seine ergebene (allerdings nicht immer folgsame) Tochter.
»Gut«, sagte ihr Vater. »Heute sollst du ein Blitzgewitter produzieren. Regen ist nicht nötig, nur trockene Blitze. Genau über diesem Baum.« Er deutete auf eine Birke in sechs Metern Entfernung.
»Wozu?«
Er schüttelte den Kopf, aber seine Augen funkelten. »Du weißt doch, dass es sinnlos ist zu fragen.«
Sie wusste es. Er würde ihr das Ziel der Lektion nicht nennen. Um den Überraschungseffekt nicht zu zerstören. Und Vika liebte Überraschungen.
Hinter ihr flitzte etwas aus dem Gestrüpp. Vika wirbelte mit erhobenen Händen herum, bereit, alles zu verzaubern, was da sein mochte. Doch nur ein Fasan rannte unter den nächsten Busch – nichts Ungewöhnliches und ganz sicher nicht das Startzeichen für ihre Lektion. Ihr schallendes Lachen hallte zwischen den schlanken, weißen Bäumen. Aber als sie sich wieder zu dem Baumstamm umdrehte, auf dem Sergej gesessen hatte, war da nur ein leerer Platz.
»Vater?«
Hm. Wo war er geblieben? Aber auch das war nicht ungewöhnlich. Sergej verschwand oft von der Bildfläche und ließ sie mit ihrer Aufgabe allein. Vermutlich hatte er sich in einiger Entfernung vor dem Blitzgewitter in Sicherheit gebracht.
Der erwähnte Blitz würde jedoch nicht von sich aus am Himmel zucken.
Vika stellte ihren Korb ab, hob die Arme und konzentrierte sich auf die unsichtbaren geladenen Teilchen am Himmel. Sie schwirrten umher wie elektrisierter Staub, jedes Körnchen damit zufrieden, für sich allein durch die Luft zu wirbeln. Sie wollte jedoch etwas anderes. Vereinigt euch, befahl sie ihnen, kommt und spielt mit mir.
Am Himmel summte es und dann zerriss plötzlich ein ohrenbetäubender Knall die Stille. Vika hielt sich schnell die Ohren zu, dann schlug der Blitz sechs Meter entfernt in die Birke ein und setzte den Stamm in Brand.
Mit dem Einschlag loderte ein silberner Draht auf. Er war zwischen den Blättern verborgen gewesen, aber als jetzt Elektrizität hindurchsauste, sah Vika, dass die erste Birke mit fünfzig weiteren Birken mithilfe des Drahtes zu einem Ring verbunden war. Das Feuer breitete sich so schnell aus, als hätte der Blitz in alle fünfzig Bäume eingeschlagen.
Die magischen Kräfte ihres Vaters mochten dürftig sein – er war Mentor, kein Magier und kannte deshalb nur ein paar einfache Tricks und Zauberkünste –, aber mit dem Errichten kunstvoller Fallen kannte er sich aus. In Sekunden war Vika umringt von Flammen und beißendem Rauch. Die Baumstämme wankten.
Vika lächelte. Also los.
Als der erste Baum zu fallen drohte, bedeutete Vika dem Wind, die Bäume wieder in die Senkrechte zu blasen, indem sie ihre erhobenen Hände vorwärtsbewegte. Es hätte klappen können, wenn nur ein Baum bedroht gewesen wäre. Aber da waren fünfzig Birken oder mehr, die gleichzeitig Feuer und Asche spien und viel zu schnell auf sie kippten, um den Sturz aller Bäume gleichzeitig umzukehren.
Was ist zu tun, was ist zu tun …
Die Bäume kamen gefährlich nahe.
Wasser! Nein, Eis! Vika warf sich auf den Waldboden und wedelte mit einem Arm über ihrem Kopf, um dort eine Eiskuppel zu errichten. Sie zitterte unter ihrem Schild, während ein Baum nach dem anderen herunterkrachte und spitze Eissplitter auf sie herabrieselten. Purpurne Bächlein aus Blut tröpfelten vom Mieder ihres Kleides. Vika kniff die Augen zu.
Der Brandanschlag dauerte eine gefühlte Ewigkeit, aber sie hielt aus. Dann endlich knallte der letzte Stamm auf ihren eisigen Schild, die Erde bebte und am Himmel verhallte der letzte Donnerschlag.
Ihr Lächeln strahlte heller als das Feuer.
Sergej hatte auf einem Felsbrocken in der Nähe gesessen, während Vika unter ihrem Schild aus Eis ausharrte. Er hätte ihr geholfen, wenn es ihm erlaubt gewesen wäre. Aber das durfte er nicht. Es war Teil ihrer Ausbildung. Sie würde größeren Gefahren als dieser entgegentreten müssen, wenn sie Magierin des Zaren wurde.
Fünf Stunden vergingen, bis Vika den letzten der fünfzig umgestürzten Bäume auf ihrem Schutzschild losgeworden war, und das Eis war geschmolzen. Sie lag in einer Pfütze und zitterte.
Sergej begrüßte sie mit einem Zungenschnalzen.
»Vater, du hättest mich töten können.«
»Du weißt, dass ich das niemals tun würde. Wer sollte mir denn dann jeden Morgen mein Brot aus der Bäckerei holen?«
»Nun, der Angeschmierte bist du, denn es ist inzwischen weit nach Mittag und du hast dein Brot bei mir vergessen.« Zwinkernd griff Vika in ihren Korb und warf ihm den gefrorenen Laib zu.
Sergej ließ das Brot noch im Flug auftauen und fing es, als es angenehm geröstet war. »Du weißt, dass ich dein Leben niemals gefährden würde, aber der Zar braucht niemanden, der in seinem Salon Tricks vorführt. Deine ästhetischen Talente werden sicher auf eleganten Bällen und Staatsempfängen gefragt sein, aber du musst ebenso auf Politik und Intrigen und Krieg vorbereitet sein.«
Vika strahlte über das ganze Gesicht. »Ein kleines Risiko hat mich noch nie behindert.« Sie deutete mit dem Kopf auf die verkohlten Reste der Feuersbrunst. »Vielmehr beflügelt es meinen Eifer, dem Zaren als Magierin zu dienen.«
Sergej schüttelte den Kopf und lachte. »Ich weiß. Mit deinem Feuer liebst du die Herausforderung mehr als alles andere, genau wie deine Mutter. Nichts kann dich erschrecken, Vikoschka.«
Sie rümpfte die Nase wegen des Kosenamens. Jetzt, wo sie erwachsen war, fand sie ihn zu niedlich, aber Sergej konnte es nicht lassen. Er sah immer noch das Baby in ihr, so winzig, dass es in seine beiden Hände gepasst hatte.
Als Vika jünger war, hatte sie gelegentlich geklagt, dass sie gern mit anderen Magierkindern spielen würde. Aber das hatte sie schnell abgelegt, denn Sergej hatte erklärt, dass gerade ihre Einzigartigkeit das Besondere an ihr war, nicht nur in Russland. So gut wie überall auf der Welt war die Magie in Vergessenheit geraten und es gab nur wenige Magier. Marokko, hieß es, hatte noch einen Magier, weil der Sultan die alten Gebräuche pflegte. Aber damit war er mit dem Zaren der Einzige, und Letzterer ließ nicht nach außen dringen, dass er an Mystik glaubte. Der Glaube an das »Okkulte« war eine politische Einstellung. Ein Kaiserlicher Magier im Verborgenen machte ihn ganz nebenbei für den Zaren auch noch zu einer Geheimwaffe gegen seine Feinde. Die allerdings nicht unbedingt verlässlich war. Magier der Krone waren trotz allem menschlich, was der vorherige Magier Jakob Zinschenko bewiesen hatte, indem er unerwartet in der Schlacht bei Austerlitz gegen Napoleon zu Tode kam.
Einmal, im Alter von sechs Jahren und ganz zu Anfang ihrer Ausbildung, hatte Vika Sergej die Frage gestellt, warum er nicht Magier der Krone war.
»Meine magischen Kräfte sind zu schwach«, hatte er geantwortet und damit die Wahrheit gesagt, aber nur zum Teil. Etwas hatte er verschwiegen, ein Geheimnis, von dem er hoffte, dass sie nie davon erfahren müsste.
»Aber meine Magie ist groß?«, hatte Vika unschuldig gefragt.
»Sie könnte größer nicht sein«, hatte Sergej geantwortet. »Und ich werde dich unterrichten, so gut ich kann, damit du die mächtigste Magierin wirst, die es je gegeben hat.«
Jetzt, zehn Jahre älter und hundert Mal mächtiger geworden, fragte Vika: »Hast du Sorge, ich wäre nicht bereit, Magierin des Zaren zu werden?«
Sergej seufzte. »Nein … das habe ich nicht gesagt. Es sollte heißen … nun, ich würde dich gern hier auf Owtschinin behalten. Aus Eigennutz. Ich würde dich lieber nicht mit dem Zaren teilen.«
»Ach, Vater, nach außen gibst du dich so bärbeißig und innen bist du Brei. Wunderbarer, gefühlsduseliger Brei.« Sie lächelte gerade so, wie sie als Kind gelächelt hatte, mit großen, unschuldigen Augen. Nun ja, unschuldig für Vikas Verhältnisse.
Sergej kam über den verschlammten Waldboden zu ihr und nahm sie in die Arme. »Du bist nicht zu beneiden. Der Magier des Zaren hat eine große Last zu tragen. Versprich mir, Vikoschka, dein Misstrauen stets zu bewahren, was dir die Zukunft auch bringen mag.«
»Ich schwöre es dir.« Vika legte einen Finger an den Basaltanhänger an ihrem Hals. Mit dieser Geste besiegelte sie Versprechen, die sie niemals brechen würde, denn ein Schwur bei der Halskette ihrer verstorbenen Mutter war ein feierliches Gelöbnis. Ein Hauch Dramatik war auch dabei, und Vika hatte viel für selbst inszenierte Melodramen übrig. Sergej wusste jedoch, dass es ihr in den seltenen Fällen, wenn sie bei ihrer Halskette schwor, absolut ernst war.
»Wie du weißt«, sagte Vika und löste sich aus seiner Umarmung, »habe ich nichts dagegen, die Insel hin und wieder zu verlassen. Oder für immer.«
»St. Petersburg gefällt mir nicht«, sagte er.
»Wie wäre es mit Finnland? Das ist nicht weit.«
»Die Großherzogin von Finnland interessiert mich nicht im Geringsten.«
»Vielleicht interessiert sie mich.«
»Ich bin sicher, dass du viel reisen wirst, wenn du erst Magierin des Zaren bist. Meine Zeit mit dir ist jedoch begrenzt. Mach einem alten Mann eine Freude und bleib noch eine Weile mit mir auf der Insel. Der Wald wird nur noch sieben Mal seine Farben ändern, dann bist du achtzehn.«
Vika kaute auf ihrer Lippe. Sergej war gewarnt. Er kannte das Funkeln in ihren Augen. Wer eine Magierin zur Tochter hatte, musste damit rechnen, dass Unstimmigkeiten nicht nur mit Worten ausgetragen wurden.
Plötzlich flatterten die rot- und orangefarbenen Blätter zum Waldboden und der Herbst eilte dahin. Dann legte sich eine Schneedecke auf die kahlen Äste. Kurz darauf schmolzen die Eisflöckchen und aus dem feuchten Boden sprossen Knospen und erblühten zu voller Pracht. Wenig später trat das üppige Grün des Sommers an ihre Stelle. Danach war wieder Herbst. Und Winter. Und Frühling. Alles in weniger als einer Minute.
»Die sieben Jahreszeiten sind wohl schon vorbei«, sagte Vika.
Sergej verschränkte die Arme vor der Brust. »Vikoschka.«
»Nun gut.« Sie stellte den Herbst wieder her, wie es sich gehörte. Die Blätter an den Birken waren wieder goldgelb.
»Ist es wirklich so unerträglich hier bei mir?«
»Nein, natürlich nicht, Vater. Ich wollte nur …«
»Ich werde dich bei deinen Lektionen noch mehr fordern.«
Vika horchte auf. »Wirklich?«
»So viel du willst.«
»Mach mich zur Gefahr für jeden, der es wagt, Russland zu belästigen.«
»Du bist jetzt schon gefährlich.«
Vika kniff Sergej in die Wange. »Dann mach mich noch gefährlicher.«
Nikolais Taschenuhr tickte zur zweiten Morgenstunde. Er hätte längst zu Bett gehen sollen, aber da stand er nun, immer noch vor dem dreiteiligen Spiegel in seinem Zimmer. Ein Maßband und Stecknadeln schwirrten um ihn herum, während er einen neuen Gehrock kreierte. Nikolai war vom dicklichen Waisenknaben aus der Kasachischen Steppe zu einem recht stattlichen jungen Mann herangewachsen. Seine Augen waren dunkel und wild, Gesicht und Körperbau kantig, während er eher geschmeidig wirkte, wenn er sich bewegte – und eigentlich auch, wenn er nur stand –, einerseits ein Gegensatz zu seinen messerscharfen Kanten, andererseits unverwechselbar er. Er besaß eine Art grüblerische Anmut, wie man sie bei einem achtzehnjährigen Jungen selten sah.
Für sein Leben in der Hauptstadt Kleidung zu entwerfen war natürlich unerlässlich. Es gab zahlreiche Einladungen zu einem Mittagessen oder zum Kartenspiel oder zu einer Jagdgesellschaft auf dem Land. Nikolai musste sich für all diese Gelegenheiten selbst versorgen, denn seine Mentorin und Wohltäterin, die Baronin Galina Zakrewskaja, war nicht bereit, auch nur eine Kopeke für neue Stiefel oder eine ordentliche Büchse für die Jagd auf Birkhühner auszugeben und selbstverständlich auch nicht für Tanzstunden, obwohl sich Galinas Freunde darin gefielen, ihr Mündel zu ihren Bällen einzuladen.
Und so hatte Nikolai gelernt zu tauschen. Er lieferte Pakete für die Schneider bei Bisette & Söhne im Austausch gegen Stoffballen. Er schliff die Schwerter eines Armeeoffiziers und ließ sich dafür unterrichten. Er assistierte unentgeltlich bei Madame Allard, die alle Debütantinnen für die Bälle vorbereitete, und lernte im Gegenzug in der Gesellschaft der hübschesten Mädchen der Stadt das Tanzen. Nikolai schätzte seinen eigenen Wert mindestens so hoch wie den aller noblen Knaben in der Hauptstadt und gab niemandem Gelegenheit, ihm das Gegenteil zu beweisen.
Insofern gehörte Nikolai vielleicht nicht zur Gesellschaft von St. Petersburg, aber er war dabei, auf seine ganz eigene, unangepasste Weise. Und Galina wurde allenthalben von ihren albernen Freunden für ihre Mildtätigkeit gelobt und für ihr Geschick, einen rohen, kasachischen Stein so zu schleifen, dass er wie ein echter Petersburger Diamant aussah. Galina widersprach ihnen nicht.
Jetzt stand Nikolai reglos da, während seine Schere am anderen Ende des Zimmers über dem Mahagonitisch schwebte und eine Stoffbahn aus schwarzer Wolle zuschnitt. Mit einem Fingerzeig bedeutete er der Schere, eine Kerbe ins Revers zu schneiden.
Die Schere kam nicht dazu, seine Anweisung auszuführen, denn Galina stürzte ins Zimmer – schließlich war es ihr Haus, in dem er lebte – und hielt die Schere in der Luft an. »Arrête.« Sie sprach Französisch, und das tat sie seit ihrer ersten Begegnung in der Kasachischen Steppe, wo er als Kind unter Nomaden gelebt hatte. Französisch war damals Kauderwelsch für ihn gewesen. Aber jetzt war Nikolai die Sprache zur zweiten Natur geworden und er sprach sie ohne jeden Akzent, worauf er ziemlich stolz war. Der Adel von St. Petersburg sprach Französisch.
Nikolai entfernte sich vom Spiegel, wo das Maßband immer noch geschäftig herumschwirrte.
»Keine Kerbe im Revers«, sagte Galina.
»Ich mag aber geteilte Revers.«
»Für alltägliche Gehröcke ist das akzeptabel. Aber dieser hier muss sich für formelle Anlässe eignen. Ein Zweireiher.«
Nikolai kaute an seiner Backentasche. Wie unglaublich typisch für Galina, ihm etwas so Banales wie ein geteiltes Revers zu verweigern. Aber dann wedelte er mit der Hand durch die Luft, um seiner Schere neue Anweisungen zu geben. Sie positionierte sich neu und schnitt weiter.
»Dafür haben wir jetzt keine Zeit.« Galina klatschte drei Mal in die Hände, sodass ihre juwelenbesetzten Armreifen klingelten, Wollstoff und Schere verschwanden.
»He!«
»Mach dich zum Ausgehen fertig und sei in fünf Minuten unten. Es ist Zeit für deinen Unterricht.«
»Es ist zwei Uhr morgens.«
Galina zuckte mit den Schultern und schwebte aus seinem Zimmer.
Nikolai seufzte. Seit dem Tod ihres Ehemanns vor sechs Jahren, des alten Kriegshelden Baron Mikhail Zakrewski, war Galina noch widerspenstiger geworden als zuvor. Es war also kein Zufall, dass Nikolai hin und wieder etwas ungehalten reagierte. Er ertrug Galinas Gnadenlosigkeit nunmehr seit insgesamt elf Jahren.
Nikolais Augen wanderten zu seinem Bett. Ohne sein Gehrock-Projekt hing ein Schleier der Müdigkeit plötzlich bedrohlich tief über ihm. Seine Kissen summten wie Sirenen. Er könnte sich weigern, Galinas Befehl nachzukommen. Eine Lektion zu dieser Stunde war unmenschlich.
Aber wenn er ihr nicht gehorchte, würde sie ihn vor die Tür setzen, denn er wurde im Zakrewski-Haus geduldet, weil er Galinas Schüler war. Und das durfte er nicht aufgeben, denn bei ihr zu lernen war seine Chance, mehr zu werden als ein namenloses Waisenkind. Eines Tages könnte er Magier des Zaren sein.
Für diesen Posten klopfte man jedoch nicht einfach so an die Tür des Winterpalasts, um sich zu bewerben. So hätte es sein können, wenn es außer Nikolai keinen weiteren Magier in Russland gäbe, aber wie es der Zufall wollte, waren nach dem Ableben des letzten Magiers zwei mögliche Nachfolger geboren worden. Mehr als ein Magier zur gleichen Zeit war eine Besonderheit, wenn auch nicht ganz beispiellos. Wie Mutter Natur gelegentlich von der Norm abschweifte, so schenkte Russlands Magie dem Reich gelegentlich nicht nur einen einzelnen Magier, sondern gleich ein Magier-Paar.
Aber das ließ sich lösen. »Es ist ein Spiel«, hatte Galina Nikolai erklärt, als sie die Vormundschaft für Nikolai übernahm. »Ein Spiel, bei dem die besten Zauberkünste siegen.«
Er war erst sieben gewesen, als Galina die Kasachische Steppe besucht hatte – die Grenze zwischen Asien und dem Russischen Reich – und sie war so ganz anders gewesen als alle Frauen, denen Nikolai bislang begegnet war. Ein eleganter Hut saß auf ihren wohlfrisierten, braunen Locken. Eine voluminöse Robe aus einem glänzenden, purpurroten Stoff schimmerte in der glühend heißen Mittagssonne. Dazu trug sie Stiefel mit lächerlich hohen Absätzen, die für einen Unfall auf dem unebenen Gelände der grasbewachsenen Steppe wie geschaffen schienen.
Allerdings nur dann, wenn die Dame tatsächlich gelaufen wäre. Nikolai knetete den Saum seiner Tunika und musterte sie. Wie gebannt blickte er auf die Lücke zwischen dem Boden und den Sohlen ihrer winzigen Füße und stellte fest, dass da tatsächlich eine Lücke war, wenn auch nur wenige Zentimeter breit. Sie schwebte und bewegte ihre Beine nur, um die Illusion von Gehen zu vermitteln. Und das tat sie scheinbar, ohne sich dessen bewusst zu sein, als hätte sie sich diese Art der Fortbewegung vor Jahrzehnten zu eigen gemacht. Nikolai grinste und prustete. Den anderen Kindern des Dorfes würde so etwas nicht auffallen. Sie würden die Frau schlicht für außergewöhnlich graziös halten.
Sekunden später schwebte sie zu ihm und beugte sich vor – immer noch schwebend. »C’est toi que je cherche?«, fragte sie.
Nikolai legte den Kopf schief, worauf ihm der Pony seines dunklen Haars ins Gesicht fiel. Er verstand nicht, was die Frau sagte.
Die Frau murmelte etwas in sich hinein. Dann sprach sie laut weiter, diesmal in einem gebrochenen Russisch, das sich anhörte, als hätte sie es durch Zuhören gelernt, aber nie selbst gesprochen. »Eto ti?« Bist du der, nach dem ich suche?
Nikolai schnitt eine Grimasse wegen ihres Akzents.
»Ich bin die Baronin Galina Zakrewskaja«, sagte sie, »und ich bin wegen dir gekommen. Wo sind deine Eltern?«
»Mama ist bei meiner Geburt gestorben«, sagte Nikolai, ohne es zu bedauern. Er hatte sie nicht gekannt und deshalb auch keine Zuneigung zu ihr entwickeln können. »Mein Vater ist auch schon lange weg.«
Galina nickte, als hätte sie genau das erwartet. »Dann bist du ganz allein?«
»Ich habe alle im Dorf.« Nikolai deutete hinter sich auf einige bunte Jurten, runde Zelte mit leuchtend bunt gewebten Zickzack- und Streifenmustern.
»Es wird ihnen wohl nichts ausmachen, wenn sie einen Mund weniger füttern müssen«, sagte Galina.
Womit sie recht hatte. Die Dörfler hatten ihn nur allzu gerne an Galina verkauft, im Austausch gegen zwei Pferde und zwei Schafe. Sie hatten sich gefreut, den Jungen loszuwerden, der über Kräfte verfügte, die sie nicht verstanden und deshalb des Teufels sein mussten.
Jetzt blickte Nikolai murrend auf seine Taschenuhr und die freie Stelle, an der eben noch sein Tuch und seine Schere gewesen waren, aber er fluchte nur leise und halbherzig vor sich hin. Ich bin nicht den weiten Weg aus der Steppe gekommen, um später wieder Schafe zu hüten, dachte er. Und Botenjunge will ich gewiss auch nicht für immer bleiben.
Er befahl den Türen mit den Elfenbeinintarsien an seinem Schrank, sich zu öffnen, Kleider flogen ihm entgegen. Er wusste nicht, was Galina von ihm wollte, aber eine präsentable Kleidung stand außer Frage. Sie legte großen Wert auf Äußerlichkeiten, obwohl sie ihm ironischerweise nie auch nur ein Taschentuch gekauft hatte.
Vielleicht war genau das der Punkt.
Nikolai schnippte mit den Fingern, worauf sich eine schwarze Krawatte fachgerecht um seinen Hals drapierte. Anschließend schloss eine blaue Paisley-Weste (die Nikolai im vergangenen Monat hervorgebracht hatte) ihre Knöpfe vor seiner Brust. Schließlich ließ er sich von einem schwarzen Gehrock umhüllen und lächelte dabei selbstgefällig vor sich hin, weil er den mit den geteilten Revers gewählt hatte. Zum Teufel mit Galina, wenn es je eine Zeit gab, die für geteilte Revers gut genug war, dann doch wohl zwei Uhr morgens, in den jungfräulichen Stunden vor der Dämmerung.
Halt, und ein Hut. Er durfte seinen Zylinder nicht vergessen.
Fertig gekleidet schnippte Nikolai mit den Fingern, um die Tür zu öffnen. Er spazierte den Flur entlang und, nachdem Galina nirgends zu sehen war, rutschte auf dem geschwungenen Holzgeländer ins Erdgeschoss hinab. Die Standuhr am Fuß der Treppe zeigte vier Minuten nach der vollen Stunde. Nikolai eilte über den persischen Läufer in den Salon, durch die Diele – im Dunklen, weil die Kerzen im Kandelaber schliefen – und zur Vordertür hinaus.
Galina hätte bereits mit ihrem hochhackigen Stiefel auf dem Kopfsteinpflaster getrommelt, wenn ihre Füße den Boden tatsächlich berühren würden. Was sie natürlich nicht taten. Für Galina war der Boden schon immer so buchstäblich wie bildlich unter ihr gewesen.
Mit einer hochgezogenen Braue nahm sie Nikolais geteiltes Revers zur Kenntnis. Dann, nach einer Prüfung, die gerade ausreichte, um ihn an den Rand der Unterwürfigkeit zu bringen, drehte sie sich plötzlich um und lief die Straße hinab, zum Ekaterininsky-Kanal, ohne auch nur anzudeuten, wohin sie wollte oder was sie vorhatte.
Nikolai fluchte kurz und eilte hinterher.
Ihr Weg führte sie durch spärlich beleuchtete Straßen, die Lichter der Laternen spiegelten sich auf dem feuchten Kopfsteinpflaster. Galina lief voraus an großen Villen mit pastellfarbenen Fassaden und kunstvollen Fenstern mit weißen und goldenen Ornamenten vorbei, über Steinbrücken – die dazu dienten, die zahlreichen Kanäle zu überqueren, die St. Petersburg den Spitznamen »Venedig des Nordens« eingebracht hatten – und große, verlassene Plätze, wo nur Bronzestatuen die Nacht hüteten. Umschlossen von Finsternis zog Nikolai seinen Rock enger. Sein gemütliches Bett kam ihm wieder in den Sinn. Wo zum Teufel führte ihn Galina hin?
Schließlich erreichten sie das Eingangsportal der Kaiserlich öffentlichen Bibliothek an der Ecke Newski-Prospekt – der breiten Hauptstraße der Stadt – und Sadowaja-Straße. Die Bibliothek war ein gewaltiges Steingebäude in Hellblau mit weißen Säulen. Es hütete nationale und ausländische Schätze wie Voltaires Privatbibliothek, und da Galina nicht für Nikolais Aufnahme an einem Gymnasium oder einer Kadettenanstalt bezahlen wollte, hatte er für sich allein in seiner spärlichen Freizeit hinter diesen Wänden gelernt. Die Kaiserlich öffentliche Bibliothek gehörte zu seinen Lieblingsorten der Stadt. Und jetzt, um halb drei Uhr morgens, kam ihm das Gebäude noch größer vor, bedrohlich wie ein Schatten, gewaltig und unbezwingbar.
»Sagt mir bitte: Ihr wollt doch nicht, dass ich in die Bibliothek einbreche?«
Galina blickte auf ihn hinab, denn jetzt schwebte sie dreißig Zentimeter hoch in der Luft, da zu dieser Stunde niemand auf den Straßen war außer Betrunkenen, denen am Morgen niemand die verkaterten Geschichten geglaubt hätte. (Was erneut die Frage aufwarf, warum er sich so sorgsam herausgeputzt hatte.)
»Einer staatlichen Institution würde ich doch niemals den Respekt verweigern!«, sagte Galina. »Nein, du sollst drinnen einige Bücher an ihre angestammten Plätze zurücksortieren. Sie sind in Unordnung geraten.«
»Zurücksortieren … jetzt? Von hier draußen?«
»Natürlich jetzt, und natürlich von draußen.« Sie warf die Hände in die Luft. »Glaubst du, wir wären ausgegangen, weil du mich auf einem Spaziergang begleiten solltest?«
»Ich …«
»Das Spiel wird bald beginnen. Spürst du das nicht?«
Spüre ich es? Nikolai streckte die Zunge raus, als würde man die Veränderung an der Luft schmecken. Und so war es tatsächlich. Die Luft schmeckte … nach Zimt. Und einem Hauch von Tod.
Nikolais Magen, der ohnehin wegen Schlafmangel rumorte, rutschte bis zur Sohle seiner Stiefel.
Galina redete weiter, als wäre ihre Botschaft, dass das Spiel bald beginnen würde, nichts Außergewöhnliches. »Es sind fünf Bücher, die an einer falschen Stelle in den Regalen stehen.«
Nikolai holte tief Luft. Denk jetzt nicht an das Spiel. Konzentriere dich auf diese eine Aufgabe. Zudem hatte er sich mit der Luft wahrscheinlich geirrt, denn hatte man je gehört, Magie würde wie Zimt schmecken? Und Geschmackspapillen, die Tod schmecken konnten, durfte man nicht trauen. Tod hatte keinen Geschmack und nicht einmal Geruch.
»Nennt Ihr mir die Titel der Bücher?«, fragte er.
»Du brauchst sie nicht. Hier geht es um Konzentration, Nikolai, und darum, Aufgaben unter Druck zu lösen.« Sie spähte zum Himmel hinauf, und obwohl der über den Straßenlampen noch pechschwarz war, tat sie so, als könnte sie erste Sonnenstrahlen sehen. »Tick-tack. In etwa drei Stunden, vielleicht weniger, werden die Untertanen der Stadt durch die Straßen eilen, um ihren Geschäften nachzugehen, und jemand könnte dich den Wachen des Zaren melden.«
Nikolais Magen blieb fest an den Sohlen seiner Schuhe kleben. Es gab hunderttausende, vielleicht Millionen von Büchern in der Bibliothek. Und er sollte fünf aus der Ordnung geratene Exemplare finden? In drei Stunden? Er ließ sich an der Straßenecke gegen eine flackernde Laterne sinken.
»Reiß dich zusammen«, sagte Galina. »Und lass dich natürlich nicht bei irgendeinem Zauber erwischen.«
Nikolai nickte kaum merklich. Das bläute sie ihm stets ein, wenn er eine Aufgabe an einem öffentlichen Ort erledigen sollte. Niemand durfte wissen, wer er war. Galina war sich ziemlich sicher, dass der zweite Magier nichts von seiner Existenz wusste, und dennoch sollte er vorsorglich geheim halten, wer er war. Wenn das Spiel begann, war der Überraschungseffekt ein Vorteil für ihn.
Galina hatte sich natürlich nicht die Mühe gemacht, ihm zu sagen, wer der andere Magier war oder woher sie davon wusste. »Ich bin Mentorin«, hatte sie überflüssigerweise erklärt und sich auf ihre lange Ahnenreihe berufen, deren Aufgabe es gewesen war, Magier auszubilden. »Und es ist ohnehin nicht wichtig, wer der andere Magier ist. Es wird dich nur ablenken, wenn du dich darauf konzentrieren sollst, was wichtig ist: Du sollst deine Magie voll und ganz ausschöpfen. Zudem weiß ich genau, dass mein Unterricht dem, was der andere Mentor zu bieten hat, weit überlegen ist. Natürlich nur, wenn du tust, was dir gesagt wird.«
Und so ging es weiter. Galina stellte Ansprüche und Nikolai fügte sich.
Jetzt entfernte sie sich schwebend von der Bibliothek, den Newski-Prospekt hinunter, auf dem Weg zurück, den sie gekommen waren.
»Wenn sie ihre Lektionen nur nicht mitten in die Nacht legen würde.« Aber Nikolai holte tief Luft und ließ seine Finger knacken. Erschöpfung konnte man überwinden. Das hatte er schon so oft geschafft.
Er warf sein Selbstmitleid beiseite, löste sich von der Straßenlaterne und stand auf. Er konzentrierte sich auf die undurchdringlichen Wände der Kaiserlich öffentlichen Bibliothek. Stell dir vor, sie wären durchsichtig, dachte er. Stell dir vor, die Wände wären nichts als Luft.
Für eine Weile blieben sie dicht. Und dann schienen die Wände zu flimmern, sie lösten sich vor Nikolais Augen vollständig auf und er konnte ungehindert hindurchsehen.
Zunächst schien alles zu luftig, zu immateriell, als wäre er in einer Dimension angekommen, die nur Geistern vorbehalten war. Aber allmählich nahmen die Räume Gestalt an. Erst die Tische und Stühle, dann die Säulen und Regale und zuletzt auch die Bücher.
Nikolai staunte. Jetzt, angesichts seiner unlösbaren Aufgabe, wirkten die zahllosen Bücher so viel bedrohlicher als in der Vergangenheit, wenn er an den Regalen entlanggeschlendert war. Wenn ich sie alle durchsehen soll, werde ich nie fertig. Selbst wenn er sich körperlich in der Bibliothek befunden hätte, wären Wochen, vielleicht Monate nötig, um alle Buchrücken durchzusehen und zu prüfen, ob sie in der richtigen Reihenfolge nebeneinanderstanden.
Wenn seine Magie mächtiger gewesen wäre, hätte er den Büchern in der Bibliothek vielleicht befehlen können, gleichzeitig aus den Regalen zu fliegen und in der richtigen Reihenfolge zurückzugleiten. Aber davon konnte er nur träumen, wenn er zu viel Wein und überreichlich billigen Wodka zu sich genommen hatte.
Nikolai ließ seine Gedanken durch die Bibliothek wandern, fing bei den beliebten Lesesälen mit den Zeitungen und Zeitschriften an und streifte immer weiter bis in den Raum mit den seltenen Dokumenten, für den eine besondere Genehmigung erforderlich war – vorausgesetzt, man konnte nicht durch Wände hindurchsehen und die Bestände im Schutz der Nacht prüfen.
Wenn ich es schaffe, all jene Bücher zu isolieren, die in den letzten vierundzwanzig Stunden berührt worden sind – oder weniger, denn Galina ist vermutlich gegen Ende des Tages hier gewesen, um möglichst auszuschließen, dass die Bibliothekare ihre Arbeit rückgängig machen –, dann könnte ich diesen Büchern befehlen, an ihre rechtmäßigen Plätze zurückzukehren.
Wie im Gebet verschränkte er die Hände vor seinem Körper und konzentrierte sich auf jene letzten Bücher in der Bibliothek. Ich befehle allen, die gestern bewegt worden sind, sich zu erkennen zu geben. Gleitet vor, schlüpft aus dem Regal.
Nikolai hielt den Atem an. Mehrere Bände zitterten an ihren Plätzen. Gleitet vor, schlüpft aus dem Regal, wiederholte er seinen Befehl. Einige Bücher rückten vor, nur wenige Zentimeter. Er zog die Brauen zusammen. Gleitet vor, schlüpft aus dem Regal!
Und dann sprangen plötzlich einige hundert Bücher aus den Regalen und hielten kurz darauf inne, mitten in der Luft. Nikolai lächelte.
Jetzt kehrt an eure Plätze zurück, befahl er den Büchern.
Sie regten sich nicht und blieben, wo sie waren.
Hm. Nikolai schnitt eine Grimasse. Es war also nicht so einfach, wie er gehofft hatte, denn sein Plan funktionierte offensichtlich nur, wenn die Bücher genaue Anweisungen bekamen, wo sie hinsollten. Aber es waren nur ein paar hundert Bücher. Das war zu schaffen. Er konnte die Nummern auf den Buchrücken mit den Nummern der Bücher neben ihnen vergleichen, jene zurückschicken, die richtig gestanden hatten, und die herauspicken, die falsch gewesen waren. Wenn gestern kein Anarchistentreffen in der Bibliothek stattgefunden hat, müssen die meisten Bücher am richtigen Platz gewesen sein.
Und so begann Nikolai mühsam zu sortieren. Das erste Buch war ein russisches Nachschlagewerk, die Bücher dahinter trugen alle dieselbe Gruppenkennzahl. Du darfst zurück an deinen Platz. Das Buch tat wie geheißen und glitt ordentlich ins Regal zurück. Es folgten mehrere Bücher, die ebenfalls an der richtigen Stelle gestanden hatten. Offensichtlich waren sie nur aus den Regalen gezogen worden, um einen Blick hineinzuwerfen, aber von den Besuchern korrekt zurückgestellt worden.
Fünfundvierzig Minuten später hatte Nikolai jedoch noch kein einziges falsch einsortiertes Buch gefunden. Er rieb sich den Nacken. Diese Strategie taugte vielleicht doch zu nichts. Vielleicht hatte er bei seinem Zauber, mit dem er die Bücher bewegt hatte, einen Fehler gemacht. Inzwischen näherten sich die Zeiger der Uhr der vierten Stunde, sehr bald würde die Stadt erwachen und Nikolai konnte nicht noch einmal von vorn beginnen. Er musste sich sputen, wenn er nicht entdeckt werden wollte.
Das nächste Buch, das vor seinem Regal schwebte, war eine Anleitung für den Anbau von Weizen. Es hatte jedoch neben Abhandlungen über Volkswirtschaftslehre gestanden und damit eindeutig falsch, ein Vergleich der Kennzahlen auf den Buchrücken war überflüssig. »Endlich«, sagte er laut. Nikolai schickte die Anleitung für den Anbau von Weizen mehrere Gänge weiter zu ihren Brüdern.
Eins geschafft, vier fehlten noch.
Aber dann hörte er hinter der Ecke zur Sadowaja-Straße ein Stimmenpaar. Nikolai holte tief Luft, huschte um die andere Ecke der Bibliothek und presste sich an die Wand.
Es waren zwei Fischer, die nach Hause wankten – oder vielleicht zu den Hafenanlagen am Ufer der Newa – nach einer langen Nacht in der Taverne. Wenige Zentimeter von der Stelle entfernt, an der Nikolai mit angehaltenem Atem und angespannten Muskeln stand, hielten sie an. Der eine Trinker öffnete seine Hose und erleichterte sich an der Straßenlaterne. Der andere lachte und öffnete ebenfalls seine Hose, richtete seinen Strahl aber auf seinen Kumpan.
»Du Hurensohn!« Der erste Fischer wedelte mit seinem Strahl vor dem anderen wie mit einem flüssigen Säbel. Ein Urinduell begann.
Teufel auch! Mussten die sich wie Achtjährige benehmen?
Die Fischer krümmten sich vor Lachen während des »Kampfes« mit ihren stinkenden, gelben Schwertern. Nikolai presste sich noch enger an die Wand, als der zweite Trinker noch schlechter zielte und Nikolais Stiefel nur knapp verfehlte.
Endlich waren sie fertig und torkelten fröhlich und unbeschwert ihres Weges. Nikolai wartete, bis ihre schlurfenden Schritte verklangen, und wagte erst dann, wieder zu atmen.
Anschließend erhöhte er sein Arbeitstempo und fand drei weitere Bücher in falschen Abteilungen. Nur ein deplatzierter Titel fehlte noch. Aber Nikolai war nicht länger allein auf der Straße. Es war jetzt Viertel nach fünf und weitere Passanten tröpfelten vorbei. Der Newski-Prospekt war schließlich eine der beliebtesten Straßen der Stadt. Jene Leute warfen seltsame Blicke auf den gut gekleideten jungen Herrn, der da wie in Trance an der Ecke Newski-Prospekt und Sadowaja-Straße stand.
Ein Blumenmädchen auf der anderen Straßenseite spähte zu ihm hinüber. Sie winkte einen Mann mit mehreren Apfelkisten heran.
Jetzt oder nie, dachte Nikolai. Knapp dreißig Bücher mussten noch überprüft werden. Um allen Büchern einer gut gefüllten Bibliothek zugleich einen Befehl zu erteilen, reichte seine Magie nicht aus, aber mit dreißig Bänden würde er doch wohl fertigwerden? Er verschränkte seine Hände noch fester vor dem Bauch und flüsterte wie zu sich selbst: »Kehrt an eure angestammten Plätze zurück! Ihr alle!«
Drinnen in der Bibliothek sausten zwei Dutzend Bücher geradewegs an ihre Plätze. Fünf oder sechs hingegen schwirrten durch die Luft, ein paar stießen dabei fast zusammen, dann flogen sie durch die Bibliothek, zurück in ihre angestammten Räume, angestammten Gänge, angestammten Regale.
Als es vorüber war, ließ Nikolai die Arme sinken und blinzelte. Jetzt konnte er nur noch hoffen, dass unter den falsch einsortierten Büchern auch jene fünf gewesen waren, die Galina selbst verschoben hatte.
Der Apfelmann setzte seine Kisten ab und marschierte auf Nikolai zu. Nikolai machte auf dem Absatz kehrt und eilte die Straße hinunter. »He! Junger Herr!«, schrie der Apfelmann, ganz und gar nicht höflich bis auf die Worte »junger Herr«.
Nikolai zögerte keinen Augenblick. Er bog um eine Ecke und flitzte in eine Gasse. Prüfend blickte er um sich – nach links, rechts, vorn und hinten –, um sich zu versichern, dass er nicht aus einem Hauseingang oder Fenster beobachtet wurde. Dann ließ er seine Hand von Kopf bis Fuß vor seinem Körper hinabgleiten und belegte sich selbst mit einem Zauber, der seine noble Bekleidung in die eines Arbeiters verwandelte. Zylinder in unförmigem Filzhut. Gehrock in Mantel aus grober Wolle. Krawatte in fleckiges Halstuch. Und so weiter, bis zu den ausgefransten Schnürsenkeln seiner abgetragenen, braunen Stiefel. Als Nikolai aus der Gasse trat, rannte der Apfelmann direkt an ihm vorbei. Nikolai atmete erleichtert auf, zum tausendsten Mal, seit ihn Galina in die Nacht hinausgezerrt hatte.
Und jetzt durfte er endlich nach Hause gehen und sich schlafen legen. Vorausgesetzt, Galina würde dort nicht mit der nächsten Überraschung auf ihn warten.