Eine unterirdische Einführung
Teil 1: Schlecht daheim
1 Schlecht ernähren
2 Schlecht wohnen
3 Schlecht Gäste empfangen
4 Schlecht Computer spielen
5 Schlecht organisiert sein
6 Schlecht handwerken
7 Schlecht kochen und backen
Teil 2: Schlecht mit sich selbst
8 Schlecht motivieren
9 Schlecht meditieren und Yoga machen
10 Schlecht anziehen
11 Schlecht im Internet surfen
12 Schlecht genesen
13 Schlecht in sozialen Netzwerken
14 Schlecht Schmink-Tutorials machen
Teil 3: Schlechte Kultur
15 Schlecht schreiben
16 Schlecht gärtnern
17 Schlecht denken
18 Schlecht Kultur genießen
19 Schlecht Witze reißen
20 Schlecht Musik machen
21 Schlecht kreativ sein
22 Schlecht diskutieren
Teil 4: Schlecht draußen
23 Sich schlecht fortbewegen
24 Schlecht Urlaub machen
25 Schlecht Sport machen
26 Schlecht den ÖPNV nutzen
27 Schlecht snacken & picknicken
Teil 5: Zwischenunmenschliches
28 Schlecht daten
29 Schlecht Kinder erziehen
30 Schlecht selbstbewusst auftreten
31 Schlecht Tiere halten
32 Schlecht romantisch sein
33 Schlecht selbstverteidigen
34 Schlecht Sex haben
35 Schlecht Alkohol und Drogen konsumieren
36 Schlecht aufreißen
37 Schlecht smalltalken
Epilog
»Besser schlecht leben.«
LUISE SCHICKEDANZ
Ich wollte einen lustigen Text schreiben. Es wurde ein sehr viel längerer Weg, als ich dachte. Unterwegs habe ich sehr viel gelernt, unter anderem die heißesten 696 Tipps fürs Schlafzimmer, wie man einen sehr großen Schreibtisch baut oder wie man durch Pessimierung dem Wahn der Leistungsgesellschaft entgehen kann.
Eigentlich sollte es nur eine kleine Satire werden auf das Gespenst, das in Europa umgeht. Es ist der Geist der Selbstoptimierung. Mir waren dabei anfangs gar nicht so sehr die Ratgeber aufgefallen, sondern eher ihre jüngeren Geschwister: Podcasts, Lifehacks, Fitnessarmband-Apps, Tutorials und Bastelanleitungen in Überraschungseiern. Es schien sich dabei um eineiige Fünflinge zu handeln, denn bei näherer Betrachtung waren sie sich überraschend ähnlich. Diese schräge kleine Familie sollte Inhalt meines kleinen Textes werden. Als ich mich dann aber in das Thema einarbeitete und mich auf dem Markt umschaute, stellte ich fest, dass die Familie viel größer war, als ich dachte. Es gibt offensichtlich keinen Lebensbereich mehr, in dem die Menschen sich nicht gegenseitig Ratschläge geben würden. Dabei kassieren sie dafür meist auch noch ein hohes Entgelt.
Und ganz offensichtlich gibt es eine große Anzahl von Menschen, die willens sind, dieses Entgelt zu zahlen. Nicht nur im monetären Sinne, sondern in einer Art demütiger Unterwerfung gegenüber dem Drang zur Optimierung. Wie anders ist es zu erklären, dass sich erwachsene Menschen von einem Armband durch die Gegend scheuchen lassen? Was treibt uns an, unsere gezählten Schritte, ein Foto von unserem Salat oder von unserem neuen Sofa über soziale Netze zu verbreiten, als wären wir von Stolz überwältigt, weil wir Möbel haben, etwas Gesundes essen oder uns tatsächlich bewegen? Warum geben wir großspurig damit an, völlig normale Leute zu sein?
»Guck mal, Gisela! Ich hab eine Hose an! Bin ich nicht der Krasseste?«
»Günther, wir sind hier an Gleis 3 im Hamburger Hauptbahnhof. Jeder hier hat eine Hose an.«
»Ja, aber ich trage sie an den Beinen UND an der Hüfte! Den Tipp hab ich aus einem Ratgeber! Ich bin der Beste! Kniet nieder, ihr Narren! Ich habe das Günther-Power-Prinzip!«
»Günther, hör bitte auf, so rumzubrüllen. Du hast eine Hose an, das haben wir ja alle verstanden.«
»Warum? Ich bin der BESTE! POWER-GÜNTHER! DER HOSENMANN! DER ÜBERMENSCH! ICH BIN DER HOSENKÖNIG DER WELT!«
Ganz normales Gespräch an deutschen Bahnhöfen. Und soziale Medien sind ja im Prinzip nichts anderes als Bahnhöfe und Marktplätze, auf denen alle sich permanent gegenseitig anbrüllen.
Ist das der Grund, warum wir so viele Ratgeber kaufen, so viele Tutorials gucken, so viele Fitness-Apps runterladen? Weil wir uns besser fühlen wollen als andere – und wenn möglich, sogar besser als wir selbst? Weil wir uns aus der eigenen Normalität erheben wollen? Weil wir es nicht aushalten, ganz reguläre, mit Fehlern behaftete, zweifelnde, leidende, unsichere Wesen zu sein?
Wie im Eingangskapitel schon erwähnt: Allein auf dem Buchmarkt machen Ratgeber in Deutschland 1,3 Milliarden Euro Umsatz pro Jahr. Ganz offensichtlich sind die Menschen unzufrieden mit ihrem Ist-Zustand und suchen auf dem Weg zum erträumten Soll-Zustand Orientierung oder wenigstens eine grobe Struktur. Mindestens aber mal jemanden, der laut und aus voller Überzeugung ausruft:
»Das Leben ist schwer, aber mach dir keine Sorgen, mein junger Lehrling. Ich weiß Bescheid, wo es langgeht. Mach einfach genau das, was ich dir sage, dann musst du nicht mehr nachdenken. Wenn du alles richtig machst, wirst du am Ende reich belohnt. Solltest du es aber wagen, es nicht so zu machen, wie ich es dir sage, dann kommst du in die Hölle. Und mit Hölle meine ich, dass du ein paar Gramm mehr Fett am Körper hast als Heidi Klums gephotoshopte Kleiderständerinnen. Die Hölle, das ist eine schlecht eingerichtete Wohnung, ein Essen mit falschen Nährwerten, ein Urlaub in einem nicht trendigen Land oder eine Beziehung, die nicht dem Happy End eines Bollywood-Films entspricht! Die Hölle ist mangelnde Fitness! Die Hölle ist die falsche Balkonbepflanzung und ein undurchdachter Schlafrhythmus! Die Hölle ist es, ein ganz normaler Mensch zu sein! Aber keine Sorge! Ich kann dir dabei helfen, diese Fehler zu vermeiden!« Man kennt das ja. Wer würde da nicht mitmachen wollen?
Die schiere Masse der Ratgeber hat mich mindestens sehr überrascht, und einige Auswüchse haben mich tatsächlich erschreckt. Manches klang gar wie eine Art Ersatzreligion, anderes fast wie Wissenschaft, das meiste jedoch einfach nur stumpf. Was treibt uns an, all diese Bücher zu kaufen? Hassen wir uns selbst und unsere Fehlbarkeit? Oder ist es letztlich vielleicht doch nur der Wunsch, das eigene Geld dringend loszuwerden? Sind Sie womöglich gar nicht so unzufrieden mit sich und der Welt, sondern wollen nur den Buchmarkt am Laufen halten?
Dann habe ich eine hervorragende Idee für Sie: Kaufen Sie sich doch einfach ein Jahr lang überhaupt keine Ratgeber mehr, sondern belassen Sie es bei diesem Buch, das Sie jetzt gerade in der Hand halten. Wenn alle Deutschen sich dieses Buch hier kaufen, kommt das nach einem Jahr in etwa auch auf die 1,3 Milliarden Euro Umsatz raus. Es bleibt also quasi alles beim Alten. Nur dass Sie sich nicht mehr von irgendwelchen Ratgebern stressen lassen müssen, sondern frei sind und sich ganz der Verschlechterung Ihres Zustandes widmen können.
Ein bedauerlicher Nebeneffekt davon wäre, dass ich persönlich unfassbar reich werden würde. Aber gut, das würde ich auf mich nehmen – für Sie. Ich bin halt ein Autor mit gesunder Service-Mentalität. Jetzt gucken Sie doch nicht so streng wie ein Sanifair-Bon im Fahrkartenschlitz. Ich hab das alles auch nicht kommen sehen. Ich wollte eigentlich nur einen lustigen Text schreiben.
Aber schauen Sie sich doch mal um: Wie viele Menschen geben Ihnen Ratschläge, und wie vielen Menschen geben Sie Ratschläge? Da herrscht doch ein krasses Ungleichgewicht, das allein schon aus logischen Gründen gar nicht bestehen dürfte. Also arbeiten wir uns ab wie die Lemminge, um ein Gleichgewicht wiederherzustellen, das es so vielleicht niemals gab.
Das klingt sehr widersprüchlich, aber es mag sein, dass genau das der Schlüssel ist: unsere eigene Widersprüchlichkeit. Ich würde dieser These jedenfalls zustimmen und sie abstreiten. Vielleicht wissen wir alle so wenig darüber, wie die Welt funktioniert und was wir damit anstellen sollen, eben weil wir so viel darüber wissen. Vielleicht ist das die Bürde, die man tragen muss, wenn man sich für das klügste Tier hält.
Haben Sie schon mal eine Warzenkröte gesehen, die Selbstzweifel hegt und darum in einem Ratgeber blättert? Kennen Sie persönlich ein Hängebauchschwein, das sich zu dick fühlt und sich darum einen Schrittzähler um das Handgelenk legt? Wissen Sie von einem unglücklichen Kieselstein, der in einem YouTube-Tutorial seine Antworten sucht? Falls Sie jetzt denken, dass ich unverschämt bin, weil ich den Menschen vorwerfe, dümmer zu sein als ein Kieselstein, nur weil sie den Weg zum Glück in einem Ratgeber suchen, liegen Sie exakt richtig. Ich bin definitiv unverschämt.
Und unsere Klugheit und unser Glauben an die eigene Überlegenheit haben uns so stolz und ängstlich und dumm gemacht, dass wir jetzt Bücher lesen, die 21 Pflanzenpersönlichkeiten heißen, dabei Sürströmming essen und nebenher Ziegen-Yoga machen. Vielleicht liegt der Widerspruch einfach wirklich in uns selbst. Vielleicht sind wir Menschen einfach zutiefst paradoxe Wesen.
Nehmen Sie doch nur einmal die Worte des weisen Propheten Bob Marley:
»Don’t worry about a thing,
Cause every little thing is gonna be alright.«
So singt er in voller Lebensfreude im Song »Three little birds«. In einem anderen Song namens »Natural Mystic« hingegen heißt es:
»Many more will have to suffer,
Many more will have to die,
Don’t ask me why.«
Ja, was denn nun, Bob? Wird alles gut oder wird alles schlecht? Oder muss ich mir vielleicht doch eine Chaiselongue ins Wohnzimmer stellen und etwas Ballaststoffreiches zu essen bestellen, um ein vollwertiges Leben zu führen? Ich weiß es nicht. Und ich will es auch gar nicht wissen. Ich bin ja auch nur ein schlechter Ratgeber.
Doch es ist an der Zeit, dass wir unsere eigene Ratlosigkeit, unsere Fehlbarkeit und unsere Unfähigkeit annehmen als das, was sie sind: zutiefst menschlich. Schluss mit dem Leistungswahn, der uns durch die Mangel dreht, bis wir platt und glatt sind – und vor allem nicht mehr wir selbst. Schluss mit der ständigen Optimierung, die uns vorgaukelt, wir könnten ein durchweg gutes, gesundes, erfolgreiches und von Sorgen und Nöten befreites Leben führen. Das würde bedeuten, kein Mensch mehr zu sein.
Vergessen Sie die Ratgeber, Tutorials, Lifehacks, Fitness-Apps, Bucket Lists und Anleitungen: Es gibt kein Rezept für uns selbst. Sie sind doch kein Elsässer Flammkuchen mit laktosefreier Crème fraîche! Also lassen Sie sofort das Dinkelbrötchen fallen, verbrennen Sie Ihre modischen Klamotten und jagen Sie Ihren Traumpartner aus dem Haus. Wenn Sie ehrlich sind, ist all das Glück im Grunde doch eh nichts für Sie.
Nehmen Sie sich einen Locher, machen Sie Konfetti aus all Ihren Ratgebern und feiern Sie Ihr Scheitern. Glauben Sie mir: Nur ein schlechtes Leben ist ein gutes Leben!
Das Thema Ernährung ist ein perfekter Einstieg in dieses Buch, denn es handelt sich um einen Klassiker der Selbstoptimierung. Das Thema ist so alt, dass es sogar historische Stolpersteine gibt. So hatte einmal ein Geschichtsprofessor von mir in einer Sprachklausur die Aufgabe gestellt, einen englischen Text über den von Karl V. einberufenen Wormser Reichstag (engl. »Diet«) zu übersetzen. Darin fand sich unter anderem der Satz »The Diet of Worms took place in 1521«. Ein Mitstudierender übersetzte das mit »1521 gab es eine Wurmdiät«.
Das war natürlich eine wahre Meisterleistung, aber die Missverständnisse beim Thema Ernährung und Diät ziehen sich bis heute. Dieser Tage findet man nämlich allerorten Hinweise zur guten Ernährung. Das Thema ist so angesagt, dass selbst in einschlägigen Fast-Food-Ketten so getan wird, als wäre das Essen dort gesund.
»Das ist auch so«, ruft da der Mann hinterm Schalter, »die Pommes werden in Biofett frittiert, der Burger enthält ein hochgesundes halbes Salatblatt, und wir lagern einen Kieselstein im Kühlraum, sodass die Cola durch die Lagerung energetisch mineralisiert ist. Oder mineralisch energetisiert – das kann ich mir nie so genau merken.«
»Und die Mayonnaise?«
»Die gewinnen wir nachhaltig und ökologisch korrekt aus dem Talg in den Poren unserer pubertären Mitarbeiter.«
»Omnomnom«, wie das Krümelmonster sagen würde.
Fast noch besser läuft das Geschäft mit den Ratgebern, Workshops und Internetseiten zum Thema Ernährung. Selbst im Privatbereich wird man nicht verschont. Kaum eine Mahlzeit, die man mit Familie oder Freunden einnimmt, bei der nicht darüber gesprochen wird, wer jetzt welche Diät macht oder diesen und jenen Ernährungsplan ausprobiert.
Große Begeisterung rief zuletzt die Paläo-Diät hervor. Die Anhänger*innen argumentieren, dass sich unser Verdauungssystem seit der Steinzeit nicht signifikant weiterentwickelt hat und dass man sich darum optimalerweise wie in der Steinzeit ernähren sollte. Darum treffen sie sich morgens vor ihren Höhlen, feilen die Steinspitzen ihrer Speere und springen dann im Lendenschurz in den Wald, auf der Suche nach dem Mammut. Das ist ziemlich clever, aber das Mammut ist noch klüger. Um sich selbst zu schützen, ist es bereits vor Jahrtausenden ausgestorben. Die Paläos seufzen und knabbern Moos und Fichtenrinde in einer Marinade aus eigenen Tränen. Es ist zu vermuten, dass auch unser Gehirn sich seit der Steinzeit nicht signifikant weiterentwickelt hat.
Doch selbst modernere Ernährungstipps lesen sich interessant. So schreibt etwa Michael Pollan in 64 Grundregeln Essen. Essen Sie nichts, was Ihre Großmutter nicht als Essen erkannt hätte:
»Je weißer das Brot, desto eher bist du tot!«
Das reimt sich sehr schön, und man weiß ja: Was sich reimt, ist gut.
Ich möchte ergänzen:
»Bist du heut schon tot, isst du gar kein Brot.«
Und überhaupt:
»Reimst du Regeln über Brot,
bist du vielleicht ein Idiot.«
Pollan schreibt weiter, dass man nichts essen sollte, was man nicht aussprechen kann. In erster Linie will er damit vermutlich auf die chemischen Zusätze vieler Nahrungsmittel hinaus, die Calciumpropionat, Diglyceride oder Lysergsäurediethylamid heißen. Okay, okay, letzteres findet man eher auf Goa-Partys als im Müsli, es wird gemeinhin LSD abgekürzt. In dem Fall leuchtet diese Regel ja auch ein. Allerdings ist es schade, dass wir in Zukunft wohl auf andere Lebensmittel verzichten müssen, zum Beispiel Croissants. Falls Sie die letzte Pointe nicht verstanden haben, liegt es vielleicht daran, dass Sie das Wort »Pointe« auch nicht aussprechen können.
Weit vorne auf der Metaebene und in den Bestsellerlisten findet sich 2018 der Titel Der Ernährungskompass: Das Fazit aller wissenschaftlichen Studien zum Thema Ernährung von Bas Kast. Kast kann man nur bewundern. Er ist die Sorte Mensch, die tatsächlich Aber tausende Studien und Bücher zum Thema Ernährung liest und dann den einzig richtigen Schluss zieht: »Was der Welt fehlt, ist ein weiteres Buch zum Thema Ernährung.«
Ähnlich populär ist Dr. Nadja Hermann mit ihrem Buch Fettlogik überwinden. Das leuchtet ein, denn wenn Fett eins ist, dann logisch. Man muss sich dem Fett unlogisch nähern, um es effektiv bekämpfen zu können. Ich muss dabei an meinen alten Kollegen Christoph Knüsel denken, dessen brillante Diät-Idee es war, einfach so viel zu essen wie immer, aber dafür jeden Tag 500 Gramm mehr zu kacken.
Noch mal einen ganz anderen Weg gehen die Erfinder der »Hapifork«, einer Gabel, die dabei helfen soll, im richtigen Tempo zu essen. Denn, so der Gedanke dahinter, wer sein Essen in sich reinschlingt, der kann sich nicht auf sein natürliches Sättigungsgefühl verlassen und isst zu viel. Außerdem sei schlecht ge kautes Essen schwerer verdaulich, heißt es. Das können die Paläos sicher so unterschreiben, die gerade auf ihrer Fichtenrinde rumknuspern. Wenn man nun also zu schnell isst, vibriert Hapifork und blinkt rot. Ein Traum für alle, die offen zugeben mögen, dass ihr Essbesteck klüger ist als sie selbst. Die können sich dann endlich das Essen mit einer gezackten Mischung aus iPhone und Vibrator in den Hals schaufeln.
Natürlich gibt es auch weniger skurril anmutende Ratschläge zur guten Ernährung, doch ihnen allen ist gemein, dass sie uns in ihre Richtung lenken wollen, uns sagen wollen, dass unsere Lebensweise nicht in Ordnung sei und dringend optimiert werden müsse. Und für diese Einmischung in unser Privatleben und Wohlbefinden sollen wir dann in der Regel auch noch reichlich Geld bezahlen. So geben die Menschen nicht nur ein Vermögen aus für Ratgeber, Workshops und Seminare, sondern auch für spezielle Lebensmittel. Gojibeeren, Amaranth, Chiasamen, Acai und viele andere sogenannte Superfoods sind fast allgegenwärtig, unanständig teuer und im Grunde völlig sinnlos.
Nehmen wir zum Beispiel Chiasamen. Sie kosten sehr viel Geld, schmecken quasi nach nichts und ruinieren das Klima, denn sie werden vom anderen Ende der Welt hierher importiert. Und das alles nur, weil die Selbstoptimierer konsequent ausblenden, dass man fast alles, was in Chiasamen gesund ist, in ähnlicher Form auch in einheimischen Leinsamen findet. Aber die haben halt den Nachteil, dass sie nicht wahnsinnig teuer sind und den Klimawandel nicht beschleunigen. »Langweilig!«, rufen da die Selbstoptimierer. Denn je kaputter der Rest der Welt, umso optimaler strahlt im Kontrast der optimierte Mensch.
* * *
Aus all diesem Wahnsinn gibt es nur einen logischen Weg heraus: schlechte Ernährung. Erfreulicherweise ist aber auch schlechte Ernährung schon lange ein zentrales Thema unserer Gesellschaft. An allen Ecken und Enden wird sich schlecht ernährt, erfreulicherweise mit zunehmender Tendenz. Machen wir uns nichts vor, da ist in den letzten Jahren schon viel erreicht worden. In Funk und Fernsehen und auf riesigen Plakatwänden werben Prominente und Models für die Vorzüge von ungesundem Essen: Es ist schnell, es ist günstig, es glänzt und leuchtet im Dunklen, nachdem man es verdaut hat. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs der Vorzüge schlechter Ernährung. Das ist heutzutage dank umfassender Aufklärung durch die Werbeindustrie den meisten Menschen bewusst.
Längst kein Grund, sich zufrieden zurückzulehnen. Es gibt noch viel zu tun, oder, wie es der Volksmund sagt: »Auch nach Erwerb einer Fritteuse wächst die Wampe nicht von alleine.« Auf dem Gebiet der schlechten Ernährung gilt es, keine halben Sachen zu machen. Wenn es wirklich den gewünschten Effekt haben soll, muss man konsequent sein. Man muss die schlechte Ernährung nicht als Projekt begreifen oder als Hobby, sondern als Lebensstil. Denn das Geheimnis schlechter Ernährung liegt nicht darin, was man zu sich nimmt, sondern wie man dies tut.
Auf dem Weg zur schlechten Ernährung ist es natürlich ein guter erster Schritt, solche Lebensmittel auszuwählen, die über durch und durch schlechte Nährwerte verfügen, wie zum Beispiel ein Schokoriegel, der mit Käse überbacken und anschließend mit einer Schokoglasur überzogen und frittiert wurde. Ein Burger in Karamellsoße, der in einem riesigen Schnitzel eingebacken wurde. Eine panierte Thunfischdose in einem Bett aus Hackfleisch. Ein Apfel.
Das ist alles elementar und das Fundament, auf dem wir bauen wollen. Aber mindestens ebenso wichtig wie der Inhalt ist die Form. In diesem Kontext bedeutet das zuallererst, dass man nicht nur ungesunde Dinge zu sich nimmt, sondern auch noch zu völlig unpassenden Zeiten. Gehen Sie da ruhig mal einen Schritt weiter, als Sie es bisher gewohnt waren. Genehmigen Sie sich einen großen Teller frittierter Tintenfischringe zum Frühstück und spülen Sie das Ganze mit einer Flasche Doppelkorn runter. Das hat zwar nur wenige Ballaststoffe, aber umso mehr Ballerstoffe! Speisen Sie statt dreimal oder fünfmal am Tag mindestens fünfundzwanzigmal am Tag. Fortgeschrittene können sich auch einen Wecker stellen und um drei Uhr morgens noch im Bett liegend ein Spanferkel in Rahmsoße verputzen.
Falsche Zubereitung ist ein weiterer Schlüsselmoment, damit die schlechte Ernährung ihre volle Wirkung entfalten kann. Kochen Sie Ihren Reis statt in Wasser in Whiskey. Backen Sie den Salat. Lassen Sie dafür die Frikadelle roh. Lutschen Sie das noch gefrorene Fischstäbchen als Eisriegel zum Nachtisch. Mit Himbeersoße. Hier sind der Kreativität kaum Grenzen gesetzt.
Genauso wichtig ist es, dass Ihr Essen nicht nur ungesund ist, sondern auch unappetitlich aussieht. Der Leitsatz muss hier lauten: Nur was wie der Bodensatz eines seit dem Mittelalter nicht mehr gereinigten Plumps klos aussieht, kann auch so schmecken!
Schlechte Ernährung ist dabei nicht nur eine lästige, sondern notwendige Aufgabe. Und schlechte Ernährung kann auch Spaß bringen: Machen Sie aus jeder Mahlzeit eine spannende Challenge, indem Sie sich selbst maximal dreißig Sekunden geben, um einen Teller voller Pfannkuchen in Ahornsirup zu verputzen. Das fetzt.
Natürlich werden Sie Leuten begegnen, die für Ihre Konsequenz der schlechten Ernährung wenig übrighaben. Man wird Sie auf Partys drängen, doch mal den gesunden Obstsalat zu probieren. Man wird über Ihr Wohlfühlgewicht lästern. Man wird womöglich sogar versuchen, Ihnen Gemüsescheiben in die Chipstüte zu mogeln. Unterschätzen Sie nicht den gesellschaftlichen Druck, der da aufgebaut werden kann. Teils wird man Ihre Zurechnungsfähigkeit infrage stellen, bloß weil Sie versucht haben, ein Kilo mittelalten Gouda mit Käse zu überbacken. Die Leute sind seltsam.
Bei all dem müssen Sie stark bleiben und daran denken, dass Sie einem höheren Ziel folgen und noch nicht jeder Mensch so weit ist. Grämen Sie sich nicht und lassen Sie die Kritik nicht an Ihr Herz und vor allem nicht an Ihren Magen gelangen. Im Zweifel streuen Sie den Besserwissern Chiasamen in die Augen und hauen Sie sie mit der Hapifork, bis es ordentlich rot blinkt.
Das Leben ist zu kurz für unfrittiertes Essen. Im Zweifel können Sie ja immer noch in Worms eine Wurmdiät machen.
Ein Blick ins Zeitschriftenregal der lokalen Bahnhofsbuchhandlung genügt mir, um zu erkennen, wie gravierend das Problem ist. Da gibt es Zeitschriften, die tragen Titel wie SCHÖNER WOHNEN. Da frage ich mich doch: »Okay, okay, schöner wohnen. Aber als wer?« Das wird aber an keiner Stelle verraten, auch nicht, wenn man die Zeitschrift kauft. Da steht nur drin, welche Kissen man auf welcher Chaiselongue liegen haben sollte. Da frage ich mich doch: »Was ist eine Chaiselongue?« Und: »Wo soll ich so etwas denn herkriegen um drei Uhr nachts in der Bahnhofsbuchhandlung?« In Panik renne ich heimwärts und recherchiere im Netz.
Dort wird behauptet, die Chaiselongue erinnere stark an das antike Triclinium. Na klar, denke ich. Da hätte ich ja jetzt auch selbst draufkommen können. Auf Wikipedia heißt es weiter: »Aufgrund ihres geringen Sitzkomforts wird der eher selten gewordenen Chaiselongue heute die Bettcouch vorgezogen.« Na, das ist doch beruhigend. Der neue heiße Scheiß ist also ein unbequemes Sitzmöbelstück, auf das schon seit der Antike keiner mehr Bock hat: Shut up and take my money!
Doch damit enden noch lange nicht die Hinweise, wie ich zu wohnen habe. Auf der Seite wunderweib.de findet sich ein Artikel mit der Überschrift »Herrlich skurril! Crazy Accessoires für eine individuelle Wohnung«. Als erstes Beispiel aufgeführt sind Blumentöpfe. Aber keine normalen Blumentöpfe, sondern welche, die man kopfüber aufhängt. Mensch, wie crazy ist das denn? Ein Blumentopf! Aber ganz anders als ein Blumentopf! Und trotzdem ganz genauso wie ein Blumentopf! Herrlich skurril! Mir wird ganz wuschig im Gemüt!
Da habe ich doch gleich ein total witziges Partyspiel für euch, ihr flippigen Crazybirds: Nehmt eure Einkommenssteuererklärung und haltet sie vor einen Spiegel. Versucht den korrekten Betrag der Werbungskosten samt Umsatzsteuer im Spiegel zu lesen! Das ist voll funny und herrlich schräg! Da muss ich mich vor Lachen erst mal auf die Chaiselongue legen.
Was mag da wohl Tipp Nummer 2 von wunderweib.de sein? Na logo: eine Pappschachtel, in der man Kresse ziehen kann. Aber außen auf die Pappschachtel hat man ein Haus gemalt. Das sieht dann aus, als würde die Kresse im Vorgarten wachsen. O MEIN GOTT! Madness overload! Ich drehe völlig frei hier! Gleich komm ich in die Klappermühle, hallihallo!
Leider bleibt es aber nicht bei so schrulligen kleinen Ideen. Ein ganzer Industriezweig will uns darauf eichen, unsere Wohnungen permanent besser zu machen. Das ist doch der Trick an SCHÖNER WOHNEN – da ist ein Komparativ drin versteckt. Es muss immer etwas schöner werden. Schön wohnen reicht nämlich nicht.
So versuchen es die Leute permanent mit neuen Trends – oder auch alten Weisheiten. Haben Sie Ihre Wohnung schon mal nach der Lehre des Energieflusses ausgerichtet und korrektes Feng-Shui hergestellt? Da kommt allen Ernstes jemand daher und sagt Ihnen, dass Ihr Sofa aus der Ecke raus muss, damit da die Energie im Raum besser fließen kann.
Ihre Antwort sollte lauten: »Hör mal, Gisela! Da soll keine Energie fließen! Das ist mein Sofa, da will ich meine Ruhe haben! Und jetzt fließ ab hier mit deiner Energie!«
* * *
Aufräumen und schicke Möbel und Style und eine schöne Anordnung, das mag ja zunächst ganz nett klingen. Aber mal ehrlich, was hilft es uns, wenn unsere Wohnung so aussieht, als könnte dort jederzeit ein Fotoshooting für einen Möbelhauskatalog stattfinden? Die Antwort lautet: »Brunftklötzchen«. Das ist natürlich Quatsch, die Antwort lautet nicht »Brunftklötzchen«, ich wollte nur mal testen, ob Sie noch aufmerksam lesen.
Die korrekte Antwort lautet: Wenn unsere Wohnung aussieht, als wäre sie bereit für das Shooting eines Möbelhauses, dann nutzt uns das rein gar nichts. Es sei denn, es findet in unserer Wohnung aktuell ein solches Shooting statt. Dann ist das super. Andernfalls sollten wir uns von den Konventionen lösen wie von unserem Glauben an ein Happy End. Wir müssen alle sterben, also was soll ich mit einem ungemütlichen Sitzmöbelstück und einem umgedrehten Blumentopf?
Lassen Sie uns lieber hausen wie die Axt im Mischwald. Pessimieren Sie Ihr Wohnerlebnis!
Um richtig schlecht zu wohnen, können Sie verschiedene Techniken anwenden. Ein erster Schritt für Anfänger kann es sein, alle Möbel aus dem Wohnraum zu entfernen. Bleiben Sie auf dem Teppich. Streichen Sie das Wort »Komfort« aus Ihrem Wortschatz, nehmen Sie stattdessen das Wort »Aua«.
Alternativ können Sie es auch genau andersherum machen. Entfernen Sie den Wohnraum aus Ihren Möbeln. Weg mit Wänden, Decken, Böden, Fenstern und Türen. Öffnen Sie sich dem Blick auf die Welt, den Himmel und das Novemberwetter im Mai. Lernen Sie Schnee aus der Nähe kennen. Wer ist denn da Ihr neuer Nachbar – der Waschbär aus dem Müllcontainer? Das ist ja fast wie in der Sesamstraße. Nur dass Sie eben ganz allein sind: Es ist die Einsamstraße.
Das ist schon mal sehr schlecht. Aber anstelle von reinem Verzicht können Sie Ihre Situation auch aktiv verschlechtern. Da ist noch Spielraum nach unten. Statt keinerlei Möbel zu nutzen, gehen Sie doch dazu über, vollkommen ungeeignete Gegenstände als Möbel zu nutzen. Nehmen Sie eine benzinbetriebene Kettensäge als Sofa, eine Schüssel Magerquark als Beistelltisch und tackern Sie sich einen lebenden Puma an die Wand als Raufasertapete.
Achtung: Der Puma muss täglich mit fünfzig bis achtzig Kilo Fleisch gefüttert werden, sonst wird er unleidlich. Profitipp: Fünfzig bis achtzig Kilo ist das Gewicht eines durchschnittlichen Vermieters.
Oder wohnen Sie gleich in dafür nicht geeigneten Räumlichkeiten. Richten Sie sich im Keller des Klärwerks häuslich ein, gründen Sie eine WG in einem Dixi-Klo, leben Sie in München. Der Kreativität sind da wenig Grenzen gesetzt.
Machen Sie es sich ruhig richtig ungemütlich, zum Beispiel durch ungeeignetes Licht. Bringen Sie eine Diskokugel im Klo an und bestrahlen Sie diese mit einem Stadionflutlicht. Das ist wie Zähneputzen im Herzen einer Supernova. In der Küche sollten Sie generell nur Stroboskoplicht haben. Damit stellt sich beim Zwiebelschneiden alle halbe Sekunde die Frage neu, ob Sie noch alle Finger haben. Das ist Spiel, Spannung und Spaß für die ganze Familie.
Wenn Sie einen Teppich haben, sollte dieser übrigens zu jedem gegebenen Zeitpunkt nass sein. Befeuchten Sie ihn dazu am besten mehrmals täglich mit einer 50:50-Mischung aus Wurstwasser und Thunfischeigensaft. Das freut nicht nur die Hunde und Katzen in der Nachbarschaft, sondern ergibt ein unangenehmes Quietschgeräusch bei jedem Schritt durch die Wohnung.
Und seien Sie kein Messi, das ist viel zu einfach. Sammeln Sie in Ihrem Wohnzimmer nicht allen Schrott, der Ihnen über den Weg läuft, Schmutzwäsche aus den 1970ern oder 28 Jahrgänge der Zeitschrift SCHÖNER WOHNEN.
Seien Sie konsequenter, wenn Sie wirklich etwas erreichen wollen. Sammeln Sie Messis! Stapeln Sie die putzigen kleinen Chaoten in Ihrem Wohnraum. Schauen Sie zu, wie sie sich gegenseitig in die Regale sortieren und goldig umeinander wuseln. Das herrliche Geschrei ist der perfekte Soundtrack zur Verschlechterung Ihrer Behausung. Also: Wohnen Sie noch oder leiden Sie schon?
Sind wir mal ehrlich: In Deutschland wird Gastfreundschaft nur großgeschrieben, weil es zufällig ein Nomen ist. Außer wenn hier vielleicht gerade eine Fußball-Weltmeisterschaft stattfindet, dann ist »die Welt zu Gast bei Freunden« und wir holen unsere Flaggen raus und klemmen sie uns an die Autos, als wären wir alle der Bundespräsident im rostigen Twingo. Wenn jedoch jemand privat zu Besuch ist, dann sagen wir gerne: »Fühl dich wie zu Hause« und meinen »Glaub ja nicht, dass ich dir was zu trinken anbiete, nur weil du hier zu Besuch bist«.
Aber natürlich gibt es eine Flut von Ratgebern, die uns da auf die Sprünge helfen will, angefangen beim Urgroßvater aller Ratgeber, dem Knigge. »Der Anstand verlangt es, jeden Gast möglichst persönlich zu empfangen«, ist etwa auf knigge.org zu lesen. Schöner kann man eigentlich nicht implizit sagen, dass man davon ausgeht, dass jeder Leser eine Menge Personal hat und den Fehler begeht, den Butler oder gar den Gärtner vorzuschicken. Dabei weiß man doch, dass der Gärtner immer der Mörder ist!
Das muss man also schön selbst übernehmen. Anschließend zeigt man seinem Gast »diskret, wo sich die Toilette befindet«. Und dann soll man ihn auch noch in den Empfangsraum geleiten. Wer hat denn bitte schön einen Empfangsraum? Ich habe den milden Eindruck, nicht zur Zielgruppe des Knigge zu gehören, da so ein Zimmer einfach fehlt in meinem südfranzösischen Barockschloss.
Vielleicht geht es in Manuela von Perfalls Buch etwas geerdeter zu, dachte ich. Willkommen bei großartigen Gastgeberinnen: Die Kunst des Einladens heißt es. Darin geben bodenständige Mittelschichtgastgeberinnen tolle Tipps weiter, zum Beispiel Marianne Fürstin zu Sayn-Wittgenstein, Alexandra von Rehlingen oder Isa Gräfin von Hardenberg.
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