Thriller
Die Rechte für die Grafiken auf S. 90 und 112 liegen bei Peter Palm, Berlin
(S. 90 nach einer Vorlage der AlpTransit Gotthard AG in Luzern).
Das Foto auf S. 373 stammt vom Autor.
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1. Auflage
© Deutsche Erstausgabe 2018 Benevento Verlag bei Benevento Publishing Salzburg – München, eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg
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Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:
Red Bull Media House GmbH
Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15
5071 Wals bei Salzburg, Österreich
Lektorat: Antje Steinhäuser, München
Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT
Gesetzt aus der Minion Pro
Umschlaggestaltung: b3K design, Andrea Schneider, diceindustries
Umschlagmotiv: Hans Leister
eISBN 978-3-7109-5068-1
ISBN 978-3-7109-0053-2
1 Steppach − Rädchen im Uhrwerk
2 Zarah − Männer ohne Peilung
3 Zumtobel − Fünfzig Tonnen Schokoriegel, versteckt im Berg
4 Zarah − Gelbe T-Shirts im Einsatz
5 Zumtobel − Alarm! Das ist keine Übung
6 Steppach − Fahrradsturz im Gotthard-Basistunnel
7 Zarah − Wohin mit einem Toten?
8 Steppach − Auf so was kommen nur Berliner
9 Zarah − Reden hilft
10 Steppach − Gegen jede Vorschrift der SBB
11 Zumtobel − Rettung von Menschen vor Geheimhaltung
12 Steppach − Notaufnahme im Bunker-Hospital
13 Zarah − Blind ins Überleben fahren
14 Zumtobel − Zerstörung und Dunkelheit
15 Steppach − Das Erwachen
16 Zarah − Küchendienst
17 Zumtobel − Eine überraschende Idee
18 Steppach − Paolo setzt seine Lok in Bewegung
19 Zumtobel − Sprengkommando am Bunkereingang
20 Zarah − Ahnen, was passiert ist
21 Der Klassenausflug nach Potsdam
22 Zumtobel − Endlich Funkkontakt!
23 Zarah − Wut auf die Klima-Weltuntergangsfachleute
24 Steppach − Wassereinbruch im Tunnel
25 Zumtobel − Darkness during daytime
26 Zarah − Beschäftigungstherapie im Bunker
27 Breitenbacher − Der Rhein wird umgeleitet
28 Steppach − »Würdest du für mich auch machen.«
29 Zumtobel − Gerüchten ist entgegenzutreten!
30 Zarah − Der Koffer des Holländers
31 Zumtobel − Der Zusammenbruch
32 Steppach − Gärtner im Bunker
33 Zarah − Große Liebe
34 Steppach − Plastikmüll im Container nach China
35 Breitenbacher − Wie in der Kriegsschule
36 Zarah − Die Verteidigung der Verena
37 Viele, viele Tausend Jahre später: Die Überlieferungen der oropäischen Ureinwohner
Es war ein Samstag im Mai, alles war wie immer.
Ich kam nachmittags mit dem Auto von zu Hause, in Lörrach, zum Basler Bahnhof, genauer gesagt zum Schweizer Bahnhof, Basel SBB. Nicht zu verwechseln mit dem Badischen Bahnhof in Basel, der von der Deutschen Bahn betrieben wird. Spätabends sollte mein Dienst zu Ende gehen, da würde kein Zug mehr nach Lörrach fahren.
Meine berufliche Heimat, die Schweiz, war ein Land, in dem alles exakt und pünktlich verlief, insbesondere der Verkehr der Eisenbahn. Und ich war stolz darauf, Teil des Fahrplan-Räderwerks zu sein.
Zu meinem Beruf als Lokführer, genauer gesagt Triebfahrzeugführer, war ich eher zufällig gekommen, weil es in Lörrach wenig Aussicht auf einen interessanten und anständig bezahlten Job gab. Vorher war ich Bauingenieur bei einer Tiefbaufirma gewesen, die machte allerdings 1999 den Laden dicht, und meine Frau wollte in Lörrach bleiben. Das Arbeitsamt gab mir damals den Tipp mit der Schweizer Bahn.
In den vielen Berufsjahren seit Anfang 2001, als ich zum ersten Mal selbstständig am Fahrerpult saß, hatte ich mich trotz fehlender weiterer Aufstiegsmöglichkeiten mit dem Beruf angefreundet. Das Arbeiten als Lokführer hatten schon Volljuristen, Statiker und Architekten für sich entdeckt, die den geradezu autistischen Ablauf der stereotypen, oft langweiligen und dennoch beständig hohe Aufmerksamkeit erfordernden Stunden im Führerstand etwas abgewinnen konnten und eine spezielle Eignung dafür an den Tag legten. Man war sein eigener Herr im Führerstand, man musste immer aufmerksam sein, konnte aber gleichzeitig seinen Gedanken nachhängen und musste nicht viele Worte verlieren. Wenn ich hörte »Zug 504 in Basel SBB heute abweichend Gleis 8«, musste ich wiederholen »Hier 504, verstanden, Basel SBB heute abweichend Gleis 8«, und das war schon einer der längeren Sätze. Schreiben fällt mir nicht schwer, aber Konversation und viele Worte liegen mir nicht, deshalb habe ich es auch vorgezogen, eine Niederschrift zu erstellen, statt dem Chronisten ein Interview zu geben.
Im Führerstand der Lokomotiven und Triebwagen wurde ich zum Naturbeobachter. Für mich war es aufregend, zu allen Jahres- und Tageszeiten das Leben in der Landschaft zu beobachten. Ich wusste, wo entlang der Strecke Wildschweine oder Rehe zu erwarten waren und wo im Morgendunst oder im letzten Abendlicht am Bahndamm spielende Jungfüchse im Bau verschwinden würden, wenn ich mit dem Zug näher kam. Neben den Förstern hatten wahrscheinlich Lokführer die beste Kenntnis der heimischen Natur.
Natürlich gab es auch unschöne Erlebnisse für Lokführer, so hatte ich schon etliche Tiere überfahren. Moderne Züge waren leise, und junge Rehböcke oder Fasanhähne meinten schon mal, sich auf den Gleisen besonders imposant darstellen zu müssen. Ich habe immer das Makrofon, die durchdringend laute Zweiklanghupe, betätigt, wenn Tiere auf den Gleisen waren, aber nicht immer konnte ich verhindern, dass ein Tierleben mit einem hässlichen Rumpeln in Sekundenbruchteilen zu Ende ging. Besondere Vorschriften gab es für den Fall von Tieren auf den Gleisen nicht, nur bei Menschen auf den Bahngleisen war vorgeschrieben, was zu tun war: Schnellbremse, Signalhorn betätigen und – wegschauen, um die eigene Psyche nicht dauerhaft zu belasten, wenn es zum Aufprall kam. Selbstmörder auf dem Gleis – das war mir in all den Jahren erspart geblieben, damit war ich aber inzwischen schon eine Ausnahme unter den Kollegen.
Zu meiner letzten Schicht als Lokführer musste ich mich an jenem Tag, am 19. Mai 2018, um 16 Uhr 30 in der Meldestelle einfinden. Natürlich war ich schon früher da, ich hatte immer reichlich Reservezeit eingeplant. Im Aufenthaltsraum steckte ich mein Tablet in das Basisgerät, um die neuesten Strecken- und Fahrplandaten überspielt zu bekommen. Michael Oppliger, der Disponent, quittierte die Dienstaufnahme und gab mir ein »Gute Fahrt. Kann sein, dass du heute später abfährst. Anschlussaufnahme, vom ICE« mit auf den Weg. Einer der aus Deutschland kommenden ICE-Züge war wieder mal zu spät. Nur in seltenen Ausnahmefällen entschied die Betriebsleitung, dass ein Schweizer Zug auf Züge mit Fahrgästen aus dem »großen Kanton«, wie die Schweizer Deutschland scherzhaft nannten, warten sollte.
Mehr als drei oder vier Minuten wurde meist aber nicht gewartet, sonst wäre der gesamte Schweizer Fahrplan in Unordnung gekommen. Vier Minuten war die Reserve bis zum nächsten Knotenbahnhof im Netz, und das war in aller Regel die längste Wartezeit, und das auch nur per Sondergenehmigung.
Ich zog die orangefarbene Weste mit der Aufschrift »Zugpersonal« an und ging zum Gleis 7, wo der Intercity-Triebwagen aus Lugano einfahren und von wo aus er, nach knapp zehn Minuten, wieder dorthin zurückfahren sollte. Die Fahrt geht dabei 57 Kilometer lang durch den Gotthard-Basistunnel, den längsten Tunnel der Welt. Bisher wurde dieser Dienst von Luzerner Kollegen gefahren, neuerdings wurden auch Basler Lokführer für die Tunnelbefähigung geschult.
Ich hatte die Strecken-Berechtigung für den neuen Gotthard-Basistunnel noch nicht ganz. Die heutige Fahrt durch den Tunnel sollte in Begleitung eines Luzerner Lokführers erfolgen. Einen Kurs über den Betrieb des Tunnels hatte ich schon absolviert, samt Aufenthalt in den Nothaltestellen im Tunnel, zweimal hatte ich das Gotthard-Massiv auf dem Bildschirm mit dem Fahrsimulator im neuen Tunnel durchquert. In zwei Wochen stand eine abschließende Prüfung an, dann würde ich sie bekommen, die »GBT-Befähigung«, die Erlaubnis, als Lokführer Züge im Gotthard-Basistunnel zu fahren.
Ich fand es großartig, den Tunnel in meine Streckenzulassungen aufzunehmen. Es gab unter Lokführern immer einen Wettbewerb um die meisten Berechtigungen für Strecken und Fahrzeugtypen. Ich lag da bisher nur im Mittelfeld, der Tunnel würde ein Highlight auf meiner Liste sein.
Abends sollte es laut Dienstplan nach einer kurzen Pause in Lugano wieder zurück über Luzern nach Basel gehen, zuerst die zweite Fahrt im Tunnel durch die andere Röhre von Süd nach Nord in Begleitung, ab Luzern sollte ich wieder allein bis Basel fahren, Ankunft dort 1 Uhr 02. Dann musste ich nur noch den Zug in die Serviceanlage fahren, für die Leerung der Toiletten, die Reinigung der Wagen und die Inspektion der Technik. Dienstende gegen 2 Uhr.
Dieser Tag im neuen zwanzigtägigen Dienstplan für die Basler Lokführer, in dem ich heute eingesetzt war, sagte mir zu: neun Stunden unterwegs, acht Stunden bezahlt, sieben Stunden reine Fahrzeit, eine Stunde Pause in Lugano, zugebracht im Pausenraum im Bahnhof oder im Sommer bei einem Spaziergang zur Eisdiele am See. Der Wechsel der Fahrtrichtung jeweils in Luzern bot willkommene Abwechslung und Gelegenheit zu einem Toilettengang.
So der Plan.
Aber den Basler Bahnhof, meine Familie und meine Wohnung habe ich nie wiedergesehen.
Pünktlich fuhr der Zug um 16 Uhr 55 aus Lugano ein. Es war ein ICN, ein Neigetechnik-Intercity mit der Nummer RABDe 500 009, also die Nummer neun dieser Baureihe. Beim Halt des letzten Wagens musterte ich das Aufschriftfeld für die Sonderzulassungen, wo das Kürzel »GBT« vermerkt war, also die Zulassung für den Gotthard-Basistunnel. Nur ein Teil dieser Zug-Baureihe war für den neuen Tunnel besonders ausgerüstet worden, mit Brandmeldern und Sprinkleranlagen, die Nummer neun gehörte also dazu; den Punkt konnte ich auf der Checkliste abhaken.
Es gab ein Gedränge an der letzten Einstiegstür, die bei Abfahrt ganz vorn am Zug sein würde. Der ankommende Zug war gut besetzt, und es dauerte lange, bis alle Aussteigenden die drei Stufen bewältigt hatten, ungeduldige Pendler, trödelnde Kinder, kurznervige Mütter, unbeholfene ältere Leute und schwer bepackte Rucksacktouristen. Ich wartete an der Flanke der eleganten Zugspitze. »Friedrich Dürrenmatt«, der Name des Zuges, war dort angeschrieben.
Danach ging es ans Einsteigen, in der Schlange waren viele Pendler, es ging daher deutlich schneller. Ich stieg als Letzter ein, ging nach rechts durch das kleine Fahrradabteil und schloss die Tür zum Führerstand auf.
Die Jacke links auf den Kleiderhaken der Führerstandsrückwand, den Tablet-Computer in die Halterung links am Fahrerpult, das dienstliche Mobiltelefon bereitgelegt, mit dem Schlüssel das Bedienpult eingeschaltet, die Tasche in die vordere linke Ecke des Fußraums geschoben. Danach auf dem Fahrersitz Platz genommen, die heutige Zugnummer und alle weiteren Daten in den Bordrechner und in das Display des Signalsystems eingegeben. Alles Routine, jeder Handgriff und jede Bewegung wie immer, die Systeme piepten zur Bestätigung, genau so, wie sie es zu tun hatten.
Krächzend meldete sich der Lautsprecher, es war der Kollege vom anderen Ende des Zuges, der seinen Dienst eben beendete. »Im Buffetwagen ist die Kaffeemaschine defekt, die Toilette in Wagen 5 meldet Störung, das Zugpersonal hat sie schon gesperrt. Sonst alles okay.« Ich kann mich nicht erinnern, dass er mehr gesagt hätte als noch einen kurzen Gruß, er war sicher müde nach der langen Frühschicht und wollte nach Hause.
Die Abfahrtszeit 17 Uhr 04 rückte näher. Im Führerraum war es angenehm warm, erneut blätterte ich auf dem Bildschirm des Bordcomputers durch das Menü mit dem Zustand der wichtigsten Komponenten des Zuges. Energieversorgung, Antriebsanlage, Bremsen, alles schien so weit in Ordnung, der Zug war vorgestern gerade aus der planmäßigen Instandhaltung gekommen. Dass wieder einmal die Kaffeemaschine kaputt war, war ärgerlich, aber nicht weiter schlimm. Die Störung der Toilette war bestimmt wieder durch den Einwurf einer Windel oder eine ähnliche Fehlbedienung verursacht, wahrscheinlich war es kein echter technischer Defekt. Und nicht weiter tragisch, der Zug hatte genug andere Toiletten, dachte ich, nicht ahnend, dass sich noch am gleichen Tag das Toilettenproblem im Zug kritisch zuspitzen würde.
Lokführer waren darauf trainiert, etliche Stunden ohne Toilette auszukommen, von den Fahrgästen hinten im Zug konnte man das hingegen schlecht verlangen.
17 Uhr 04, Abfahrtszeit, das Signal zeigte mit dem hell leuchtenden roten Licht allerdings weiterhin »Halt«, und im Rückspiegel war noch viel Bewegung auf dem Bahnsteig und an den Einstiegen zu sehen. Jugendliche schleppten Koffer und Taschen die Treppe herab, schleiften sie über den Bahnsteig und luden sie in einen Wagen im vorderen Teil. Um 17 Uhr 07 sprang das Signallicht auf die Signalkombination Grün/Gelb, eine Kette der kleinen Rangiersignale am Gleis markierte mit jeweils zwei schräg stehenden weißen Lichtern den Weg aus dem Bahnhof.
Weiterhin machten sich zwei oder drei Personen auf dem Bahnsteig an ihren Koffern zu schaffen oder waren an den Türen zugange, aber schließlich waren alle im Zug, der Perron fast leer, wie ich im Rückspiegel sehen konnte. Der Zugbegleiter gab Handzeichen, ein scharfer Pfiff, der durch die geschlossenen Fenster zu hören war, das Abfahrauftragssignal leuchtete auf. Das Schließen der Türen war Routine, und nachdem die Türkontrollleuchte auf dem Führerpult Grün zeigte, löste ich die Bremse und schob den kleinen Fahrthebel in der rechten Armlehne locker und vorsichtig mit dem Handballen nach vorn. Ein letzter Kontrollblick im Rückspiegel am Zug entlang. Die Uhr vor mir auf dem Pult zeigte 17 Uhr 09 und 30 Sekunden, und ich trug »17:09« in mein Fahrtprotokoll ein. Die Leistungselektronik begann vieltönig elektronisch zu singen und zu summen und setzte den Zug in Bewegung, ich nahm gleich die Zugkraft wieder zurück. Der Rückspiegel klappte zischend ein, wir waren unterwegs, zunächst mit verhaltener Geschwindigkeit. Nach der letzten Weiche musste gewartet werden, bis auch der letzte Wagen sie genommen haben musste, dann schob ich mit dem rechten Daumen den Fahrthebel ganz nach vorn.
Wie befreit legte der Zug los. Die Geschwindigkeitsanzeige lief hoch, bei 145 Stundenkilometern nahm ich den Hebel etwas zurück, bei 155 noch ein bisschen mehr, um sanft die 160 zu erreichen, mit der wir durch den Adlertunnel rauschten.
Nach einigen Minuten hatten wir die »Agglomeration Basel«, die Großstadt mit ihren Industrieanlagen, Wohnblöcken, stark gewachsenen Vororten und den Bahnanlagen, hinter uns gelassen und glitten durch die grünen Wiesen mit Obstbäumen hinter Liestal ins Hügelland. Trotz der stabilen Glasscheiben war das Windgeräusch bei Tempo 160 deutlich zu hören, der Fahrersitz federte bei jeder kleinen Unebenheit im Gleis.
Die Strecke war frei, die Vorsignale und Signale leuchteten schon von weitem Grün. Die vier Minuten Verspätung ab Basel waren fast eine Garantie für freie Fahrt: Unser Rädchen als Teil des Uhrwerks Eisenbahn war im Verzug, überall auf den Unterwegs-Bahnhöfen wurde auf unseren Zug gewartet. Die Kollegen der Güterzüge oder Regionalzüge, die auf dem Nebengleis überholt wurden oder nach unserer Durchfahrt die Strecke kreuzen sollten, warteten wahrscheinlich schon ungeduldig vor einem Halt gebietenden Signal. Ich ließ den Zug nicht wie sonst den einen oder anderen Kilometer mit abgeschaltetem Antrieb rollen, um Energie zu sparen, sondern hielt die Geschwindigkeit immer am Limit des Zulässigen, mal 120, mal 135, um die Verspätung aufzuholen. Nach dem kurzen Zwischenhalt in Olten hatte sich bis Luzern die Verspätung auf eine Minute reduziert.
In Luzern fuhr ich den Zug in den Kopfbahnhof, kam wie vorgesehen fünf Meter vor dem Prellbock zum Stehen, bremste den Zug fest und schaltete den Führerstand ab. In Luzern waren planmäßig fünfzehn Minuten Standzeit. Ich nahm meinen Lokführer-Rucksack, stieg aus und ging am Bahnsteig an »meinem« Zug entlang bis zum Buffetwagen, um einen Kaffee mitzunehmen. Dienst hatte Marawi, ein asiatisch aussehender Kollege aus Lugano. Es war zwar nur Basler Filterkaffee aus Thermosbehältern, die Kaffeemaschine war ja kaputt, aber besser als nichts.
Vom Buffetwagen aus ging ich durch den Zug zu dem anderen, jetzt vorn befindlichen Führerstand, wo ich den Kollegen aus Luzern treffen würde. Die zweite Klasse war gut besetzt, der Gang in Wagen 2 war durch das viele Gepäck, meist Taschen, Rucksäcke und knallbunte Koffer, kaum passierbar. Sie gehörten einer Gruppe von Jugendlichen, vor allem Mädchen, es waren die, die ich schon in Basel beim Einsteigen beobachtet hatte. Sie unterhielten sich laut und aufgedreht, die Stimmung war gut, in eine Zweiersitzbank hatten sich drei Mädchen gequetscht und kicherten. Offenbar waren sie mit dem verspäteten Zug aus Deutschland gekommen, ihretwegen hatten wir gewartet, und jetzt waren sie gut drauf, auf dem Weg in die Südschweiz. Ich wunderte mich nur, warum wir wegen einer Gruppe Jugendlicher unseren Zug verspäten mussten.
Vorn im Führerstand angekommen, wartete schon der Lokführerkollege, der mich begleiten sollte. Duber Hans, so stellte er sich vor. Ich quetschte mich wieder in den Fahrersitz, der Kollege setzte sich schräg hinter mir auf den Klappsitz. Es war ausreichend Zeit für einen Plausch. Das System wieder hochzufahren war reine Routine.
Eines musste jetzt bedacht werden: Welcher der Stromabnehmer lag an der Fahrleitung an, der vordere oder der hintere? Im Gotthard-Basistunnel musste es bei dieser Baureihe entgegen üblicher Regel der vordere sein, wegen der besonderen Luftströmungen. Ich fragte zur Sicherheit Duber, der nickte nur, alles richtig gemacht.
Wieder kamen wir nicht pünktlich aus dem Bahnhof, diesmal waren die Einfahrgleise, wo Strecken aus drei Richtungen zusammenlaufen, noch durch andere Züge belegt. Drei Minuten zu spät leuchtete endlich das grüne Ausfahrtsignal, und wir verließen Luzern in Richtung auf die für mein Empfinden schönste Strecke der Schweiz. Sie ist nicht gerade eine der schnellsten, wegen der vielen Kurven, aber sie zeigt immer wieder neue Ausblicke in die Landschaft.
Hinter Rotkreuz lag linker Hand das dunkle Wasser des Zugersees, ruhig und ohne Wellen, kein Boot war unterwegs. Dann der Halt in Arth-Goldau, eine Menge Umsteiger vom InterRegio, hinter Arth-Goldau rechter Hand der Lauerzersee, silbern schimmernd, umgeben von Moorflächen und Schilf. Duber machte mich auf ein Gestell neben und über den Gleisen aufmerksam, auf dem verschiedenste Geräte montiert waren: »Hier werden die Güterzüge auf den Zustand der Wagen und der Ladung kontrolliert; lose Planen, heiße Räder, alles wird rechtzeitig vor dem Tunnel entdeckt. Kein Zug darf in den Tunnel, der ein Problem hat.« Ich nutzte eine S-förmige Kurve, um die Rückspiegel auszuklappen und beide Seiten unseres Zuges auf Auffälligkeiten zu kontrollieren. Alles in Ordnung, die Wagenschlange bewegte sich normal durch die Kurven. Zischend fuhren die Rückspiegel wieder ein.
Durch den Bahnhof Schwyz, dann neben den Gleisen eine Industrieanlage, ein gewaltiger Betonklotz, das ehemalige Zementwerk von Brunnen, das gerade Stück für Stück abgerissen wurde.
Jetzt aktivierte ich das neue moderne Leitsystem, die Funkverbindung kam zustande, ab hier gab es keine Signale mehr. Alle Leuchten im Führerstandsdisplay waren weiß und grün, die Geschwindigkeitsanzeige gelb.
Dann der fast unwirkliche Blick auf das Ende des Vierwaldstättersees, dunkle Felswände im Schatten, darüber Wolkengebirge, beschienen von der Abendsonne; ein kurzer Blick zwischen zwei Tunneln. Wenn es ein Innerstes der Schweiz gab, hier musste es liegen, im Kanton Uri. Nach dem nächsten Tunnel: Lichtstrahlen fielen aus einer Wolkenlücke auf den glitzernden See. Ein Museumsdampfschiff zeichnete mit seiner Bugwelle ein Muster in den See, eine große Schweizer Fahne wehte am Heck. Ich erinnerte mich: Mit einem solchen Schiff war ich mit Ulrike letzten Sommer unterwegs gewesen, Punkt 18 Uhr ab Flüelen, zweieinhalb Stunden später in Luzern, dort Anschluss nach Basel. Auch Teil des Schweizer Fahrplan-Räderwerks.
Dunkle Wolken hingen direkt über der Rütli-Wiese auf dem anderen Seeufer, dem Ursprungsort der Schweiz, der Überlieferung nach. Ein Schweiz-Gemälde, zwischen zwei Tunneln.
In Flüelen war das Spektakel mit den vielen Kurven und kurzen Tunneln zu Ende, es ging auf gerader Strecke auf eine dunkle Wand aus wolkenverhangenen Bergen zu, mit dem rechten Daumen schob ich den Regler ganz nach vorn, wir konnten endlich wieder schneller werden. Erste Tropfen klatschten gegen die Scheibe, der Scheibenwischer begann widerwillig schrubbend seiner Aufgabe nachzukommen, verschmierte aber mehr, als dass er für klare Sicht sorgte.
Bald würde sich die Strecke aufteilen, zur alten Gotthard-Bergstrecke oder durch den Basistunnel. Ich war gespannt: Simulator schön und gut, aber es war trotzdem etwas vollkommen anderes, den Zug auf der Strecke, auf der ich noch nicht selbst gefahren war, wirklich zu spüren. Ich hatte mein Exemplar der »BB GBT« auf dem Pult bereitgelegt, die »Besondere Betriebsanleitung Gotthard-Basistunnel«, um unterwegs notfalls die Vorschriften für den Betrieb und die Sicherheit im Tunnel nachschlagen zu können.
»Jetzt wäre Sand recht«, meinte Duber. Am dissonant singenden Ton, am leichten Ruckeln des Zuges und am nervösen Flattern der Zugkraftanzeige war zu spüren, dass die Räder wegen des beginnenden Regens nicht den Halt fanden, um die elektrische Kraft voll auf die Schienen zu bringen. Auf eine Besandungsanlage hatte man beim ICN verzichtet, das war den Konstrukteuren damals wohl allzu traditionell für einen Hightech-Zug, jetzt wäre es allerdings hilfreich gewesen. Wir hatten immer noch zwei Verspätungsminuten aufzuholen, und Duber meinte: »Sieh zu, dass du so schnell wie möglich bist am Tunnelportal, ein einzeln fahrender ICN beschleunigt im Tunnel bis Sedrun schlecht. Es geht bergauf und gibt einen hohen Luftwiderstand im Tunnel.« Die Strecke stieg im Tunnel bis zur Multifunktionsstelle Sedrun, wie einer der beiden Notbahnhöfe hieß, leicht an, danach ging es ebenso leicht bergab bis zur Ausfahrt im Tessin.
Die kleine Verspätung würde uns den willkommenen Anlass geben, heute im Tunnel nicht auf den Stromverbrauch zu achten, sondern den Zug mit den vollen 200 Stundenkilometern durchzujagen, die dort für unseren Zug zugelassen waren. War ein Zug planmäßig unterwegs, konnte die Geschwindigkeit im Tunnel auf Tempo 180 begrenzt bleiben, das war ausreichend, um den Fahrplan zu halten, und sparte eine Menge Energie. Eine sanfte seitliche Ablenkung, die lang gestreckte Weiche in der Abzweigung von alter Strecke und der Zufahrt zum Basistunnel schob uns in die richtige Richtung, schon tauchten die kastenförmigen Tunnelportale auf.
Als der Zug durch das Betonbauwerk der Tunnelöffnung in die linke der beiden einspurigen Tunnelröhren einfuhr, gab es einen spürbaren Ruck durch den schlagartig höheren Luftwiderstand. Es war, als hielte eine unsichtbare Riesenfaust den Zug fest. Das Fahrtgeräusch wechselte in ein intensiveres Rauschen und Röhren, die Ohren knackten. Der Tachometer zeigte knapp 190 Stundenkilometer und kletterte nur noch sehr langsam weiter auf den Zielwert 200, obwohl die Zugkraftanzeige der Fahrmotoren am oberen Limit war. Selbst ein stark motorisierter Intercity-Zug musste sich anstrengen, im Tunnel gegen den Luftwiderstand und die leichte Steigung bis zur Tunnelmitte die Sollgeschwindigkeit zu erreichen. Fuhren zwei ICN gekuppelt, ging es leichter: Nur der erste musste den vollen Windwiderstand überwinden und die lange Luftsäule im Tunnel in Bewegung setzen, bei doppelter Antriebsleistung. Die Schienenhaftung war dagegen jetzt im Tunnel kein Problem mehr, die Schienen waren trocken und glänzten sauber.
Die Scheinwerfer des Zuges leuchteten den runden Tunnel aus, hinter den Seitenfenstern war es dunkel, die Tunnelbeleuchtung war ausgeschaltet. Normalzustand. Es war anstrengend, nach vorn zu blicken, das immer gleichbleibende runde Tunnelbild, das trotzdem rasend schnell vorbeizog, ermüdete die Augen. Einzige Abwechslung war der Fahrleitungsdraht an der Tunneldecke, der im leichten Zickzack verlegt war und im Takt von links nach rechts pendelte. Ab und zu tauchte im Scheinwerferlicht eine unbeleuchtete blau-gelbe Signalscheibe auf und sauste vorbei, kein beleuchtetes Signal, denn wir waren vom Leitsystem über Funk überwacht, »ETCS Level 2 ohne Signale« hieß das auf Eisenbahner-Deutsch. Alle 325 Meter leuchtete auf der rechten Seite kurz der grüne Rahmen eines Notdurchgangs auf. Diese Türen führten jeweils zu einem Querstollen in die andere Tunnelröhre der Gegenrichtung, mussten aber im Betrieb druckdicht verschlossen bleiben, wegen der enormen Sog- und Druckwirkung, die die Zugfahrten in den Tunnelröhren entstehen ließen.
Was wir jetzt hatten, war Tunnelblick, zwanzig Minuten lang. Die einzige kleine Abwechslung würden die beiden beleuchteten Nothaltestellen unterwegs sein, wo es auch eine durch Tore verschlossene Gleisverbindung zur anderen Röhre gab.
Doch plötzlich hatten wir mehr Abwechslung, als uns lieb war. Es begann mit einer Durchsage über Zugfunk, von einer Mitarbeiterin der Leitstelle, die mit gepresster und leicht zitternder Stimme sprach: »An alle Personenzüge, an alle Personenzüge, bitte reduzieren Sie die Geschwindigkeit wegen eines Unwetters auf 100 km/h und halten Sie am nächsten Bahnhof oder Haltepunkt an. Ich wiederhole: an alle Personenzü…« Dann brach die Durchsage ab.
Ich konnte mich nicht erinnern, solch eine Durchsage schon einmal gehört zu haben. In Deutschland, ja, da wuchsen hohe Bäume bis an die Gleise, da musste bei jedem stärkeren Wind der Zugverkehr eingestellt werden, aber doch nicht in der Schweiz, wo die Ränder der Strecken sorgfältig von Bewuchs frei gehalten wurden. Unwetter, damit waren wir im Tunnel ja wohl sowieso nicht gemeint, trotzdem: Anhalten am nächsten Bahnhof oder Haltepunkt, galt das auch für uns? An den Nothaltestellen im Tunnel? Ich griff gerade zum Funk, als ein Warnton schrillte und ein Ruck meinen Oberkörper leicht nach vorn kippen ließ. Der Blick auf den Bildschirm zeigte: Die Spannungsanzeige war auf null gefallen, die Zugkraftanzeiger der Motoren ebenfalls.
»Was soll das denn?«, kommentierte mein Kollege.
Die Fahrstromversorgung war offenbar ausgefallen. Wir waren immer noch in der Steigung in Richtung auf den Tunnel-Scheitelpunkt im Bereich Sedrun. Die Steigung und der Luftwiderstand ließen die Geschwindigkeit langsam, aber deutlich sinken.
Ich griff nach dem Heft mit den »Besonderen Betriebsvorschriften GBT« und blätterte hektisch, eigentlich ohne klares Ziel, was ich in dieser Situation suchen sollte. Jetzt war der vor uns liegende Tunnel plötzlich hell, im Seitenfenster leuchtete es im schnellen Rhythmus der Lampen auf. Mir fiel sofort ein, was im Lehrgang erwähnt worden war: Bei einer überraschenden Geschwindigkeitsverminderung eines Zuges schaltet sich automatisch die volle Tunnelbeleuchtung ein, weil das Sicherheitssystem eine Unregelmäßigkeit erkennt. Jetzt waren wir die Unregelmäßigkeit, jeden Moment musste der Anruf von der Betriebszentrale kommen, warum wir langsamer fuhren. Aber es kam kein Anruf.
Das Signalsystem gab uns immer noch freie Durchfahrt durch den Tunnel, trotz der Durchsage. Ich fragte den tunnelerfahrenen Kollegen Duber: »Was meinst du, sollen wir anhalten in Sedrun?« Ein Halt von Zügen sollte im Tunnel möglichst nicht irgendwo erfolgen, sondern nur an einer der Nothaltestellen, genannt »Multifunktionsstellen«, so war das vorgesehen.
»Wenn wir in Sedrun durchfahren, kommen wir in das Gefälle und können notfalls ohne Strom aus dem Tunnel kommen«, gab Duber zu bedenken. Der Zug wurde langsamer, aber mit abnehmender Geschwindigkeit war der Windwiderstand geringer, und wir würden es trotz der leichten Steigung schaffen bis zur Nothaltestelle, deren hellere Lampen jetzt schon zu sehen waren.
Der Kollege versuchte, über Funk mit der Betriebszentrale Kontakt aufzunehmen, um die Ursache des Stromausfalls zu erfahren und weitere Anweisungen einzuholen. Es kam jedoch keine Sprechverbindung zustande. Das beunruhigte mich mehr als der Stromausfall. Wieso ging der Funk nicht mehr? Dieser war gemäß Sicherheitskonzept extra doppelt oder dreifach unabhängig ausgeführt, um unter allen Umständen die Kommunikation mit den Zügen im Tunnel aufrechtzuerhalten. Überhaupt keine Kommunikation, so etwas war nicht vorgesehen. Oder war es ein Problem unseres Funksystems an Bord? Aber das Gerät zeigte normal an. In dem Moment meldete sich das Bordgerät des ETCS-Signalsystems, es hatte den Funkkontakt mit dem RBC, der Basisstation an der Strecke, verloren.
Anhalten oder nicht, die Frage war jetzt entschieden. Es würden uns nur noch wenige Augenblicke bleiben, dann veranlasste das ETCS-Bordgerät einen »Trip«, eine automatische Schnellbremsung, die nicht aufzuheben war vor dem Stillstand. Zum Glück waren wir aber schon auf wenige Hundert Meter an die Multifunktionsstelle herangekommen, unser Zug war 70 Stundenkilometer schnell. Ich bremste noch nicht, um die Zeit bis zum Auslösen der automatischen Bremsung nicht zu vergeuden und dem Zug die Chance zu geben, auf jeden Fall bis zur Nothaltestelle zu kommen. Erst als wir schon fast den Anfang der Nothaltestelle erreicht hatten, zog ich den Bremshebel durch und löste eine Schnellbremsung aus, fast im gleichen Moment öffnete auch das ETCS das Notbremsventil, wie es mit einem lauten Hupton meldete.
Quietschende Scheibenbremsen waren ungewohnt, sonst bremste der ICN fast nur elektrisch, dann hielten wir mit einem scharfen Ruck an, wie man ihn sonst als Lokführer zu vermeiden versucht.
Kaum hatten wir gehalten, erlosch die Tunnelbeleuchtung. Die Bahnhofsnotbeleuchtung, kleine Diodenlampen am tunnelseitigen Handlauf des Bahnsteigs, gaben einen Ansatz von Licht und Orientierung.
Duber und ich sahen uns an und dachten wohl das Gleiche: Ausfall des Fahrstroms, eine unklare Durchsage der Betriebsleitung an alle Züge wegen eines Unwetters, Ausfall der Kommunikation im Tunnel, Ausfall des Signalsystems, jetzt sogar Ausfall der Beleuchtung im Tunnel trotz einer Unregelmäßigkeit, all das gab es eigentlich gar nicht, all das war in den »Besonderen Betriebsvorschriften« nicht vorgesehen.
Es war streng verboten, im Führerstand zum privaten Mobiltelefon zu greifen. Ich tat es trotzdem, um vielleicht damit eine Verbindung zur Betriebszentrale über das normale Mobiltelefonnetz herzustellen. Es dauerte ewig, bis sich das Telefon hochgefahren hatte, ich fingerte den Code auf den Bildschirm, erst beim zweiten Mal gelang es mir, meine Finger zitterten. Nach einer weiteren Ewigkeit erschien das Startmenü, ganz klein oben die Anzeige »Kein Netz«. Ich holte das Menü auf den Bildschirm, drückte auf »Übersicht Netzwerke«, es kam »Kein Netzwerk verfügbar«. Mir fiel die Jubel-Pressemeldung der SBB ein, in der für den Tunnel das stabile Mobilfunknetz »in besserer Qualität als außerhalb des Tunnels« angepriesen wird. Von wegen, heute jedenfalls nicht.
Nur vorn, wohin unsere Scheinwerfer noch strahlten, war es hell, im Rückspiegel, der sich jetzt ausgeklappt hatte, sahen wir dort, wo der erleuchtete Notbahnsteig sein sollte, nichts als das Band der mickrigen Notbeleuchtung.
Knarzend meldete sich der Lautsprecher, endlich, die Betriebsleitung? Nein, es war der Kundenbetreuer hinten im Zug, er klang ärgerlich: »Kollegen, was ist los bei euch da vorne? Macht ihr mal den Fahrgästen eine Durchsage, oder soll ich was sagen? Wieso halten wir im Notbahnhof? Und wieso ist es auf dem Bahnsteig dunkel?«
Auf all diese Fragen hatten wir auch keine Antwort.
Duber sah mich fragend an, dann griff er zum Mikrofon. Im Tunnel-Lehrgang hatten wir gelernt und geübt, in allen Situationen, die für die Fahrgäste beunruhigend sein könnten, besonders langsam, also beruhigend, und mit möglichst tiefer Stimme zu sprechen. Genauso machte er es jetzt. »Geschätzte Fahrgäste, hier spricht der Lokführer. Wir haben eine technische Störung am Zug. Die Stromversorgung ist kurzzeitig unterbrochen. Wir haben daher in einer Haltestelle im Tunnel angehalten, wie es für diesen Fall als Routinemaßnahme vorgesehen ist. Wir werden bei der Betriebsleitung erfragen, wann es weitergeht, bitte haben Sie noch etwas Geduld. Für die entstehende Verspätung bitten wir schon jetzt um Verständnis. Über Ihre Anschlusszüge in Bellinzona und Lugano werden wir Sie rechtzeitig informieren.« Weil wir auf dem Weg ins Tessin waren, musste die Durchsage auf Italienisch wiederholt werden, was dem Kollegen aus Luzern nicht ganz leichtfiel. In Erinnerung blieb mir nur der Begriff interruzione della alimentazione. Wäre mir auf die Schnelle nicht eingefallen, trotz meines Italienischkurses für die Fahrtberechtigung ins Tessin. Ob es richtiges Italienisch war, weiß ich nicht.
Nachdem inzwischen unsere Kommunikationsversuche per Funk weiter ergebnislos geblieben waren, schlug ich vor, die ortsfeste Kommunikationsstelle auf dem Notbahnsteig zu suchen und von dort aus die Betriebszentrale zu rufen. Vom Besuch in der Tunnelstation während des Lehrgangs wusste ich, dass es dafür überall die orangeroten Kästchen gab. Duber nickte nur. Ich griff mir die gelbe Warnweste und die Batterie-Handlampe aus dem Schrank in der Führerstandsrückwand und entriegelte die Tür des Führerstands ins Zuginnere.
Ein Blick in das Zweite-Klasse-Großraumabteil: Die Gesichter der Reisenden wirkten normal, nicht ängstlich, nicht wirklich erstaunt, eher leicht verärgert wegen der zu erwartenden Verzögerung. Es war merkwürdig ruhig, weil die Klimaanlage ihr beständiges Rauschen eingestellt hatte. Vom Stromausfall war im Fahrgastraum sonst nicht viel zu merken, nur erfahrenen Reisenden konnte aufgefallen sein, dass jede zweite Beleuchtungseinheit ausgeschaltet war, die automatische Sparschaltung bei Stromausfall.
Es war also gelungen, mit der Durchsage den gewünschten Effekt zu erreichen: Alles Routine, nur eine kurze Fahrtunterbrechung. Als ich aber die Außentür über den Notöffnungsschalter entriegelte, zischend die Druckluft entwich und ich die Tür mit viel Kraft aufschieben musste, blickten die ersten Fahrgäste gleich hinter der Tür doch erstaunt auf. Ein Lokführer, der sich mit der Handlampe zu Fuß auf den Weg in den Tunnel machte, das gab es nicht alle Tage.
Die Luft draußen war heiß. Es regte sich kein Lufthauch, das überraschte mich. Von meinem früheren Besuch während des Lehrgangs im Tunnel wusste ich: Eine Gefahr im Tunnel und auf dem Bahnsteig der Nothaltestellen war der Sog, waren enorme Luftströmungen durch die Züge, die den Aufenthalt dort nicht nur ungemütlich, sondern sogar regelrecht gefährlich machten. Jetzt herrschte Stille und kein Lufthauch, und ich spürte kribbelnd im Nacken, wie sich meine Schweißdrüsen meldeten.
Entlang der Reling mit den LED-Leuchten auf der Unterseite ging ich zu dem orangeroten Kasten. Der Bahnsteig war auch durch das Licht aus dem Zuginnern erleuchtet, dadurch war die Bedienungsanleitung im Dämmerlicht zu lesen, in vier Sprachen stand da über einem einzigen schwarzen Knopf: »Kurz drücken. Warten«. Ich tat genau das. Nichts passierte. Ich drückte etwas fester und etwas länger, wartete ungeduldig, nichts. Dann entgegen der Anweisung lange und hart, bis mein Daumen schmerzte, wieder ohne Ergebnis. Am Rücken spürte ich kalten Schweiß, und das war nicht wegen der Hitze.
Ich ging zurück in den Führerstand, berichtete Duber. Der holte den Teamchef der Zugbegleiter ans Bordtelefon. »Na endlich«, meinte der Teamchef, »was sagt die Betriebsleitung?«
»Wir bekommen niemand an die Leitung, weder über Funk noch über das Streckentelefon.«
Nach einigen hastigen Atemzügen: »Und was machen wir jetzt?«
Darauf bekam der Teamchef keine Antwort.
Wir blieben einfach sitzen im Führerstand, wie gelähmt. Es war völlig still geworden, das elektrische Innenleben des Triebwagens gab keinen Laut mehr von sich. Von Zeit zu Zeit ein erneuter Versuch anzurufen, irgendwann musste das System doch wieder laufen, tat es aber nicht. »Wann sind wir zum Halten gekommen?« Mein Kollege hatte das Formblatt des Berichtbogens über »Besondere Vorkommnisse während der Fahrt« in der Hand und wollte offenbar die genaue Zeit schriftlich festhalten.
Ich rechnete kurz die Fahrzeit nach und teilte ihm meine Vermutung mit, er notierte diese Zeit ohne Kommentar. Niemand von der SBB würde uns jemals einen Bericht, ob mit oder ohne Formblatt, abverlangen, aber das konnten wir zu dem Zeitpunkt noch nicht wissen.
»Schau mal in den BB GBT, ob es nicht doch eine Anweisung gibt«.
Die BB GBT gaben für diesen Fall keinen Rat. Ausfall absolut aller Systeme, das war nicht vorgesehen, das gab es nicht.
»Wir haben nichts falsch gemacht, wir haben im Notbahnhof gehalten, es gibt hier einen Schutzraum, den Durchgang zur Gegenrichtung, wo hoffentlich bald ein Evakuierungszug kommt, und ein Telefon, das hoffentlich bald wieder funktionieren wird.«
Evakuierung, Schutzraum − das waren Wörter, die plötzlich nicht mehr nur theoretische Notfall-Szenarien beschrieben.
Hunderte Reisende zum Verlassen des immer noch angenehm temperierten und beleuchteten Zuges zu bringen, dabei das Gepäck zurückzulassen, das geht nur, wenn man die Lage schonungslos schildert, um den notwendigen Handlungsdruck aufzubauen, so hatten wir es gelernt. Die Fahrgäste auf einem gut beschilderten und ausgeleuchteten Weg über anderthalb Kilometer Fußmarsch durch das Stollensystem zum Notbahnsteig der anderen Tunnelröhre zu schicken, und mit einem hoffentlich dort bald haltenden Zug alle aus dem Tunnel zu schaffen: Das wäre die für diesen Fall vorgesehene Lösung.
Aber noch hatten wir keine Information, ob und wann ein anderer Zug oder der Evakuierungszug eintreffen sollte. Geübt hatte das auch der Kollege nie, wir kannten den Übergang zum anderen Tunnel nur aus dem Lehrgang, da war es mehr wie ein unterirdischer Wandertag gewesen, kein Ernstfall. Vor der Eröffnung des Tunnels hatte es sogar Sonderzüge dorthin gegeben, die Bahn-Fans hatten damals viel Geld bezahlt, um im Wartebereich des Notbahnhofs eine Weile schwitzend in der Hitze herumzulaufen.
»Ich schaue mich mal im Wartebereich um und gehe auf die andere Seite, vielleicht funktioniert dort die Kommunikation. Oder es ist auf dem Gleis in Gegenrichtung schon Hilfe zu uns unterwegs. Und dann können wir uns ja mit dem Übergang vertraut machen, wenn in unserer Röhre nicht doch die Fahrdrahtspannung wiederkommt.«
»Ja, mach das, ich bleibe hier.«
Beim Blick in den Fahrgastraum las ich in den Mienen der Reisenden außer Erstaunen erstmals auch so etwas wie Beunruhigung. Ein älterer Herr, dreiteiliger Anzug, Krawatte, der gleich neben der Ausgangstür saß, sah mich, klappte ärgerlich seinen Laptop zu und schob die Innentür zum Großraumabteil auf. Er machte mich darauf aufmerksam, dass die Netzverbindung schon länger unterbrochen sei. Ich erklärte ihm, dass wir das Problem bald lösen würden, öffnete wieder die Außentür und war froh, den Blicken der Fahrgäste nicht länger ausgesetzt zu sein.
Ich ging zu einer von grüner Notbeleuchtung gekennzeichneten Tür und stellte den Hebel auf das grüne Feld »Öffnen«; nichts passierte, was ich bereits befürchtet hatte. Rot gekennzeichnet gab es auch die Hebelstellung »Notöffnung«, also versuchte ich es damit. Und tatsächlich: In dieser Stellung ließ sich die Tür mit einiger Kraftanstrengung aufschieben. Auch dahinter schimmerte nur die matte blassblaue Dioden-Notbeleuchtung, die gerade so viel Licht absonderte, dass man die Umrisse des Gangs mehr ahnen als sehen konnte. Trotz der Dunkelheit ließ ich beim Gang durch diese Röhre die Handlampe ausgeschaltet, in der Vorahnung, dass wir die Batterien besser schonen sollten, weil wir sie vielleicht noch gut gebrauchen konnten.
Der Sicherheits- und Wartebereich war ebenso schlecht beleuchtet. Als ich im Lehrgang hier war, war es hell und durch das Gebläse fast luftig, jetzt aber stickig und heiß und ziemlich dunkel. Wieder ein orange roter Kasten mit Sprechtaste und der viersprachigen Aufschrift »Kurz drücken. Warten«. Ohne große Hoffnung drückte ich kurz, wartete, drückte länger, aber auch hier brachte Drücken und Warten nichts.
Nicht nur die Beleuchtung fehlte, auch die grünen Notausstiegsrichtungsanzeigen mit der Entfernungsangabe zum anderen Bahnsteig, die im Lehrgang den Weg gewiesen hatten, waren nicht zu sehen. Ich konnte zwar einen der Bildschirme ausmachen, aber er war dunkel. Ich glaubte mich zu erinnern, dass ich in Fahrtrichtung weitergehen musste, um zur anderen Seite zu kommen. Gut, dass wir hier unten im Lehrgang gewesen waren, auch wenn ich mir das noch besser hätte einprägen sollen.
Ich begann zu laufen, ja zu rennen, denn ich konnte mich an die Fluchtwegmarkierung mit der eindrucksvollen Entfernungsangabe »1450 Meter« und dem Fluchtweg-Symbol erinnern, die damals hier auf einem der Bildschirme zu lesen war; ich hatte die absurd weit erscheinende Entfernungsangabe sogar fotografiert. Jetzt waren alle Monitore dunkel und kaum zu erkennen. Hinter mir warteten mehr als dreihundert Passagiere und meine Kollegen, ich musste schnell herausfinden, was eigentlich los war, ob schon Hilfe unterwegs war.
Der Tunnelrettungszug fährt mit Diesel, fiel mir ein. Selbst wenn der Strom auf längere Zeit ausfallen sollte, kann einer der Tunnelrettungszüge trotzdem kommen, entweder aus Süden, aus Biasca, oder aus Norden, aus Altdorf, das war näher. Ein Problem könnten höchstens andere Züge sein, die im Tunnel vor und hinter uns oder im anderen Tunnel standen, ebenfalls ohne Strom und Signalsystem, und den Weg versperrten. Das würde dauern, bis die anderen Züge herausgeschleppt waren, aber irgendwann musste es der Rettungszug zu uns schaffen, auch ohne Fahrstrom. Nur: Warum gab es überhaupt gar keine Funkverbindung?
Hastig ging ich vorbei an einem containerartigen Gebäude mit einer riesigen Schiebetür, dann an einem runden Gitterkasten, der bis zur Decke reichte, das musste der Aufzug nach Sedrun sein, dachte ich. Ich glaubte, einen etwas kühleren Lufthauch zu spüren, aber vielleicht war das lediglich Einbildung wegen des Bewusstseins, dass es hier nach oben ins Freie ging. Ich schaltete die Lampe ein und leuchtete nach oben: Dort, wo das Gitter an die Decke reichte, war ein schwarzes Loch. Es war wohl tatsächlich der Schacht nach oben, achthundert Meter lang, oder besser: hoch. Unheimlich.
Ich ging weiter, der Weg durch die Röhre stieg an, eine, zwei Kurven, fiel nun wieder ab, zum Glück war der Boden eben und glatt. Einen Kilometer musste ich schon hinter mir haben. Es war eigenartig, im Laufschritt ohne genaue Sicht auf den Boden vorwärtszuhasten. Der Schweiß lief mir den Rücken herunter, ich begann heftiger zu atmen, es war wieder heiß. Ja, jetzt war ich drüben auf der anderen Seite des Notbahnhofs, beim Gleis in der anderen Richtung. Hoffentlich, hoffentlich war da inzwischen Hilfe eingetroffen, oder wenigstens etwas zu erfahren. Ich konnte nicht mehr rennen, es ging auch nicht mehr abwärts. Ich spürte wieder das flaue Gefühl im Bauch, riss mich aber zusammen, hastete weiter.
Da, endlich, neben einigen Klappsitzen, einer Reihe von Rollstühlen und einer Palette mit Mineralwasserflaschen die erste Möglichkeit, durch einen Querstollen zum Bahnsteig des Gleises in der anderen Richtung zu kommen. Die grüne Schiebetür zum Bahnsteig war geschlossen, diesmal versuchte ich es gar nicht erst lange mit der Hebelstellung »Öffnen«, sondern ging gleich auf »Notöffnung« und stemmte die Tür auf. Dahinter war es genauso schlecht beleuchtet wie überall, aber was vor mir im Dämmerlicht stand, erkannte ich sogleich: Auf dem Transportwagen eines Güterzuges ein Lastwagen-Auflieger mit der Aufschrift »TransEuroSped« auf der blauen Plane.
Ich sah nach links und rechts und konnte im Dämmerlicht eine lange Reihe von Güterwagen mit Containern und Lastwagen-Trailern ausmachen. Vorn am Zug ein Lichtschein von der Lokomotive. Es gab auch hier keine Tunnelbeleuchtung, nur die LED-Notbeleuchtung an der Reling entlang der Tunnelwand am Bahnsteig.
Die Lok war leblos, vom elektrischen Innenleben war kein Laut zu hören. Die Güterwagen gaben ein leises Knacken von sich, die Kupplungen der Bremsleitungen von einem Wagen zum anderen zischten leise, der Geruch der Bremsbeläge lag noch in der Luft, und die lange Wagenschlange schien sich zu strecken.
Ich ging nach vorn bis zum Lichtschein des Führerstands, hämmerte an die Außenwand der Lok. Im Schein der Handlampe sah ich: Die Lok hatte ein weiß-blaues Alpenpanorama an der Seite aufgemalt und hellgrüne Streifen, also ein Zug der BLS-Bahn, die sich am Gotthard einen Konkurrenzkampf mit der SBB um den Gütertransport lieferte. Das Fenster ging auf, ein Kopf erschien. »Endlich, Kollege«, meinte der Lokführer, offenbar erleichtert über mein Erscheinen. »Schon gedacht, bin vergessen. Warum kein Funk, kein Strom? Wann geht’s weiter?« Der Kopf verschwand, innen hörte man eine Tür, dann ging die Außentür auf, und der Kopf tauchte dort wieder auf.
Mir wurde noch heißer: Der italienischsprachige Lokführer des Güterzuges dachte offenbar, ich sei die Rettung! Das hieß, dass er auch keine Verbindung hatte. Ich klärte das Missverständnis auf und kletterte nach oben, ging hinter ihm her in den Führerstand. Aus den Lüftungsgittern hinter den Frontscheiben strömte kühle Luft in das angenehm temperierte Lok-Cockpit. Ich schwitzte am ganzen Körper, atmete schwer. Der kalte Luftzug der Klimaanlage ließ mich frösteln.
In seinem italienisch gefärbten Deutsch wollte der Lokführer von mir wissen, wie lange so eine Energie-Unterbrechung dauern könne, eine Frage, die ich ihm natürlich auch nicht beantworten konnte.
Ich erklärte ihm unser Problem mit den dreihundert Fahrgästen, die wahrscheinlich langsam unruhig wurden. Da lachte der italienische Lokführer nur und meinte, das sei eben das Problem der feinen Intercity-Kollegen. Er jedenfalls fahre lieber all die Container und Frachtstücke, die beschwerten sich wenigstens nicht. Jetzt müsse er sich wohl erst einmal ausruhen, um dann, wenn es weitergehe, fahrfähig zu sein. Im Übrigen habe er noch zwei Flaschen Wasser, er zeigte auf den kleinen Kühlschrank hinter dem Führersitz. Außerdem habe er für solche Fälle immer eine Packung Kekse dabei, er sei nicht auf unseren Speisewagen angewiesen.