MAURICE LIMAT
ICH, DER VAMPIR
- 13 SHADOWS, Band 16 -
Roman
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
In dem Schädel des jungen Mannes brodelt und kocht es. Die verrücktesten Gedanken kreisen in seinem Hirn. Marika hat auf ihn gewartet! Jean-Louis ist ihr völlig gleichgültig. Es kommt ihm sogar so vor, als ob sie die einstigen Beziehungen zu seinem Onkel nur als Vorwand benutzt hat, um ihn für dieses seltene und sensationelle Rendezvous zu gewinnen.
Marika bleibt stehen. Bernard genauso. Eine Weile verharren sie so - reglos und wortlos im Mondschein... Die Strahlen des Mondes brechen sich auf der Wasseroberfläche in der Bucht wie kleine tänzelnde Goldklumpen. Bis Marika plötzlich sagt:
»Schauen Sie mal, Bernard, die Felsen! Sie sehen jetzt genauso rot aus wie bei Tage... Blutrote Felsen! Ist das nicht wunderbar?«
Bernard möchte gerne etwas sagen, aber seine Kehle ist ihm wie abgeschnürt, und er hat keine Stimme.
Marika kümmert sich nicht weiter darum. »Rot wie Blut«, wiederholt sie. »Nicht wahr, Blut hat eine schöne Farbe?«
Der Roman ICH, DER VAMPIR von Maurice Limat wurde in Deutschland erstmals im Jahr 1972 in der Reihe HORROR-EXPERT veröffentlicht und erscheint als sechzehnter Band der Horror-Reihe 13 SHADOWS aus dem Apex-Verlag (als durchgesehene Neuausgabe), die ganz in der Tradition legendärer Heftroman-Reihen wie GESPENSTERKRIMI und VAMPIR-HORROR-ROMAN steht.
Es ist sehr störend, wenn man am Steuer von der Sonne geblendet wird. Das weiß selbstverständlich jeder. Es gibt zwar Autofahrer, die so etwas auf die leichte Schulter nehmen, aber das ist dann eine Temperamentsfrage. Ich selbst zähle mich mehr zu denjenigen, die in solchen Sachen sehr genau sind, übergenau. Manchmal kann das zur Pedanterie ausarten. Aber jedes Mal, wenn ich in meinen Wagen steige, habe ich ein bisschen Angst davor. Ich kann es nicht ändern.
Denn man möchte ja schließlich keinen Unfall verursachen.
Suzy hat sich deshalb schon über mich lustig gemacht. Ich war eine ganze Zeit mit Suzy zusammen. Damals dachte ich sogar, wir würden heiraten. Aber das ist dann doch anders gekommen. Suzy ist fort, und nun...
Aber wen interessiert diese Geschichte schon? Jetzt bin ich jedenfalls wieder allein, wenn ich auch unsere Trennung noch nicht ganz verwunden habe. Der Kummer nagt immer noch in mir. Aber, wie gesagt, das geht keinen etwas an.
Vielleicht ist das auch der Grund dafür, dass es mich nirgends lange hält. Sesshaftigkeit ist nicht meine Sache. Ich habe es so eingerichtet, dass ich möglichst viel unterwegs bin. Das Büro Desvignes, das mich als jungen Architekten angeheuert hat, war so freundlich, mich in die Provence zu schicken. Es ist die beste Gelegenheit, um auf andere Gedanken zu kommen. Natürlich will ich auch etwas auf die hohe Kante legen, um mich eines Tages selbständig zu machen.
In der Nähe von Cannes war gerade eine Stelle freigeworden. Es handelte sich da um die Leitung eines Neubaus, wenn auch ein bisschen abgelegen. Der Architekt, der bis dahin Bauleiter gewesen war, hatte aus gesundheitlichen Gründen aufhören müssen. Ich wusste, dass sie einen Freiwilligen suchten. Aber meine beiden Kollegen, Antier und Marivel, hatten keine Lust, wochenlang aus der Hauptstadt wegzubleiben. Es konnte vielleicht sogar Monate dauern. Ich hatte volles Verständnis dafür. Schließlich waren sie beide verheiratet.
Ich habe sofort zugegriffen. Mein Chef, Desvignes, war auch sofort einverstanden. Er gab mir sogar noch hoffnungsfrohe Worte mit auf den Weg, bevor ich meine Floride bestieg:
»Mein lieber Lechêne«, sagte er, »auf diese Art machen Sie noch Extra-Ferien...«
In der Gegend von Gourdon muss irgendwo ein kleines Dorf liegen. Das muss ich ansteuern. Es soll eine ausgesprochen günstige Lage haben. So etwas findet man heutzutage selten. Sie haben mir gesagt, dass es im Tal der Siagne liegt. Und dort soll nun eine von diesen neuen, ultramodernen Wohnstädten aus dem Boden gestampft werden.
Dort werde ich also in den nächsten Monaten leben. Und dort soll unter meiner Leitung ein Hochhaus entstehen. Mit allen Schikanen der Neuzeit. Das Modernste vom Modernen, wenn man so sagen darf. So erstaunlich modern, dass es die Schönheit der Natur weit in den Schatten stellen dürfte. Das also ist mein Ziel.
Ah, diese verdammte Sonne! In jeder neuen Kurve habe ich sie wieder im Rückspiegel. Und jedes Mal blendet das so blödsinnig! Ich fahre jetzt etwas langsamer. Es ist besser so. Die Fahrbahn brennt mir direkt unter den Reifen. Irgendwie macht mir das Angst. Und dann immer diese tiefen Schluchten. Kaum einen Meter weit entfernt. Man muss höllisch aufpassen in so einer Gegend.
Ich kann mir plastisch vorstellen, wie es aussieht, wenn man da einen Purzelbaum schlägt! Hübsche Aussichten! Auf diesen Gebirgsstraßen kann man nur fahren, wenn man nicht gerade ein Neuling am Steuer ist. Ohne Erfahrung ist da nichts zu machen. Ich bin auch nur den Verkehr in der Stadt gewöhnt. Hier packt mich beinahe auf jedem Meter ein kleines Schwindelgefühl. Und ich bin sowieso kein Draufgänger. So etwas ist eine Charakterfrage.
Immer noch diese Sonne! Soll ich nun einfach losfluchen, weil sie so schön scheint? Schließlich bin ich ja nicht zuletzt wegen der Sonne hierhergefahren. Und ich war begeistert, weil hier unten immer schönes Wetter ist. Nein, es wäre idiotisch, jetzt loszufluchen.
Aber trotzdem. Diese scharfen Strahlen sind wie ein Stachel aus Feuer, der bis in die Netzhaut hinein brennt. So grässlich habe ich das noch nie zu spüren bekommen. Irgendwie habe ich dauernd das Gefühl, dass sich alles dreht ringsum. Ich spüre, jetzt muss wieder eine Schlucht kommen, aber ich sehe sie dann vorübergehend überhaupt nicht. Eine scheußliche Angst überfällt mich. Ich klammere mich ans Steuer. Es wird besser sein, wenn ich jetzt bremse...
Noch eine Kurve. Ich ahne mehr, dass es eine Kurve sein muss. Von Sehen kann keine Rede sein. Und ich versuche immerzu, die Augen richtig offenzuhalten. Ich muss diesen Zustand überwinden.
»Ah, verdammt, träume ich? Da hinten... da steht doch jemand...«
Die Gestalt ist ganz unerwartet aufgetaucht. Sie steht auch nicht direkt auf der Straße, sondern etwas abseits von dem endlosen, glänzenden Asphaltstreifen, der unter der stechenden Sonne zu zerlaufen scheint. Ich habe immer noch das Gefühl, als ob sich ein Pfeil aus Feuer in meine Augen bohrt. Da ist doch jemand! Direkt am Rand der Fahrbahn, gleich neben der unheilvollen Schlucht. Es ist phantastisch deutlich zu erkennen. Aber das kann nur meine lädierte Netzhaut sein, die mir da einen Streich spielt. Wer sollte in dieser abgelegenen Gegend auf der Straße stehen?
Eine Frau. Eine Anhalterin. Nein, es stimmt. Kein Zweifel mehr möglich.
Sie steht da und macht die berühmte Bewegung mit dem Daumen. Die bekannte freundliche Aufforderung: »Nun halten Sie doch mal, und nehmen Sie mich mit!« Man kann sie gar nicht übersehen. Sie hat irgendetwas Attraktives und Fragendes zugleich an sich.
Es ist ganz klar, dass ich auf die Bremse trete und stoppe. Ich kurble die Scheibe herunter und gucke nach draußen. Dabei blinzle ich genauso hilflos ins Freie wie eine Fledermaus, die sich in helles Tageslicht verirrt hat. Jedenfalls stelle ich mir vor, dass Fledermäuse in ähnlich gelagerten Fällen genauso mit den Augendeckeln klappern wie ich jetzt.
»Mademoiselle...?«
Und jetzt sehe ich sie. Richtig. Zum erstenmal ganz aus der Nähe und in voller Lebensgröße.
Wie alt kann sie sein? Ich schätze sie auf fünfundzwanzig oder achtundzwanzig Jahre. Sie ist zierlich, schlank und hat einen festen Busen, der den Stoff ihres leichten Kleides, Farbe Goldbraun, auf sympathische Weise straff spannt. Allem Anschein nach ist sie eine reife Frau. Und so etwas ist nie zu verachten.
»Vielen Dank, dass Sie angehalten haben!«
Ihre Stimme klingt angenehm harmonisch. Sie hat ein sanftes Timbre, das einem gleich durch und durch geht. Genau wie gewisse Süßigkeiten im Orient. Da kommt man immer mehr auf den Geschmack. Es muss auch noch irgendetwas anderes sein. Es lässt sich nicht genau ausdrücken. In dieser Frauenstimme spüre ich noch einen seltsamen, beunruhigenden Nebenton...
Vielleicht klingt das jetzt reichlich romanhaft. Aber ich muss gestehen, dass ich für den Bruchteil einer Sekunde den Impuls habe, ich müsste dieses Mädchen lieber stehenlassen. Ich möchte am liebsten auf das Gaspedal treten und abrauschen.
Vor ihr fliehen. Ja, das trifft es besser.
Ich frage mich nur, warum?
Idiotisch! Dieses Mädchen ist unbedingt hübsch, ja sogar verführerisch. Das merkt man doch sofort! Es muss absolut nicht unangenehm sein, so einen reizvollen Körper auf dem Sitz neben sich zu haben.
Wenn sie nur nicht diese leichenblasse Hautfarbe hätte. Das gibt so einen Widerstreit der Gefühle...
Aber sie hat mich so nett angesprochen, dass ich auch irgendetwas sagen muss:
»Wie kommen Sie denn in diese menschenferne Gegend? Haben Sie sich verlaufen? Wohin kann ich Sie bringen?«
Gleichzeitig mache ich eine einladende Handbewegung. Was soll ich sonst auch tun? Und ich öffne die Tür. Ich sehe, wie ihr Lächeln deutlicher wird. Sie hat sehr hübsche, blendendweiße Zähne.
Jetzt läuft sie schnell um den Kühler herum und steigt neben mir ein.
»Ich nehme an, Sie fahren in Richtung Gourdon«, sagt sie.
Ich nicke: »Ja... das heißt... ich will runter ins Tal. Aber ich kann natürlich auch einen anderen Weg fahren, wenn Sie wollen...«
Sie ist wirklich hübsch. Und wirklich eine reife Frau. Da kann man sich nicht benehmen wie ein Stoffel.
Aber da kommt es mir bereits so vor, als ob ich mich zu etwas zwingen müsste. Ja, ich muss mich zusammennehmen. Denn jetzt spüre ich plötzlich ganz deutlich, dass es kühl im Wagen geworden ist. Mir läuft eine Gänsehaut über den Rücken. Es klingt idiotisch bei dieser Hitze. Bei dem Sonnenschein haben wir wenigstens fünfunddreißig Grad. Ob ich mich unterwegs erkältet habe? Das kommt mir auch reichlich absurd vor. Und ich kann schließlich nicht gut zu meiner neuen Baustelle kommen, guten Tag sagen und mich krank melden. Das wäre so ziemlich das Letzte.
Ich trete auf die Kupplung.
Da sagt sie: »Das ist sehr nett von Ihnen. Ich werde Ihnen dann sagen, wo Sie halten müssen...«
Wir fahren ab. Ich weiß nicht recht, wie ich eine Unterhaltung in Gang bringen soll. Obwohl ich unter normalen Umständen bei Frauen durchaus nicht schüchtern bin. Gewiss, von Natur aus bin ich vorsichtig und kein Draufgänger. Aber das heißt noch lange nicht, dass ich mich bei einem hübschen Mädchen wie ein Hasenfuß benehme. Für Schönheit und jugendliche Frische habe ich durchaus etwas übrig.
Und meine unvorhergesehene Mitfahrerin hat beides. Sie ist schön. Daran ist überhaupt nicht zu rütteln.
Ich drehe mich ein wenig zur Seite, um sie anzusehen. Irgendetwas muss ich jetzt sagen. Und wenn es die banalste Binsenweisheit ist. Aber ich muss diese Mauer, die da noch zwischen uns ist, durchbrechen. Es kann doch nicht schwer sein, ein paar passende Worte zu finden...
Sie sieht mich wieder an und lächelt. Aber dieser Blick! Ich bringe einfach kein Wort heraus. Woran liegt das? Ich habe noch keine Erklärung für diese sonderbare Hemmung. So muffelig habe ich mich noch nie benommen.
Schön? Natürlich ist sie das. Wundervolle Augen? Aber gewiss. Und noch dazu ein Lächeln, das jedem Maler sofort den Pinsel in die Hand gezwungen hätte. Man würde sich reißen um ein solches Modell!
Aber unter ihrem Haar - es ist doch nicht platinblond, wie ich am Anfang vermutete, sondern trotz ihrer Jugend absolut weiß -, unter ihrem Haar ist dieser eigentümliche Blick. Ein Blick, der von ganz woanders zu kommen scheint. Das gibt ihren Augen eine sonderbare Härte, die nicht ganz zu einer Frau passt. Jedenfalls nicht zu einer Frau, die sonst rundum so hübsch ist und eine so sanfte Stimme hat.
Wie kam es vorhin, dass ich ihr Haar so ganz anders gesehen habe? Vielleicht war diese verdammte Sonne daran schuld. Nein, es ist kein Platinblond. Es ist tatsächlich weiß.
Und dann sind noch ihre Zähne da. Klein, außerordentlich regelmäßig und harmonisch. So etwas ist auch selten. Solche wunderbaren Zähne haben sonst nur Mädchen, die für Zahnpasta und Mundwasser Reklame machen.
Ich finde allerdings, dass die Form ihrer Zähne nicht ganz meinen Vorstellungen entspricht. Besser kann ich es nicht ausdrücken. Irgendetwas durchschaue ich nicht. Ich hätte Lust, das mal näher zu untersuchen. Aber dazu ist jetzt wohl nicht der geeignete Augenblick.
Diese Angst ist jetzt auch wieder da. Und es kommt hinzu, dass ich für dieses Mädchen verantwortlich bin. Ich habe sie schließlich mitgenommen. Dann ist da unten immer noch die Schlucht. Das darf ich auch nicht übersehen. Und diese ewigen Serpentinen. Die Straße windet sich wie eine Schlange aus Asphalt. Und hier zwischen Himmel und Erde fahren wir nun zu zweit durch die Gegend, in Windungen, Kurven und mit wechselnden Geschwindigkeiten. Und wir sind völlig allein.
Es ist unbedingt eine zauberhafte Landschaft. Und ich habe das Gefühl, dass diese Fahrt niemals zu Ende gehen dürfte.
Da gibt es mir plötzlich einen Ruck. Was soll das? Warum gehen mir diese komischen Gedanken durch den Kopf? Was ist los mit mir? Wo bleibt mein Verstand?
Jetzt kommt mir auch noch ein anderer dummer Gedanke. Was soll werden, wenn ich beim Fahren plötzlich ohnmächtig werde? Wenn eine Kurve kommt, die ich nicht richtig nehme?
Ich sehe im Geist ein Auto vor mir, das ins Schleudern gerät. Und ich höre direkt den furchtbaren Schrei meiner Mitfahrerin.
Mein lieber Jean-Louis Lechêne, du machst dich lächerlich. Nicht nur vor dir selbst, sondern auch vor diesem Mädchen.
Dann fallen mir wieder meine Freunde in Marseille ein. Wenn die mich jetzt sehen würden, in dieser prickelnden Gesellschaft, in dieser unbeschreiblichen Einsamkeit der Landschaft, unter diesem unendlich blauen Himmel... Sie würden sich natürlich die Frage stellen, warum ich diese Gelegenheit nicht ausnutze. So etwas bietet sich doch nicht alle Tage. Aber wir haben ja noch Zeit. So schnell sind wir nicht am Ziel.
Ich zähle mich übrigens nicht zu Leuten, die mit der Tür ins Haus fallen und zudringlich werden. Ich bin keiner von diesen Flegeln, die gleich aufs Ganze gehen und schon nach dem ersten Kilometer den Versuch machen, ihre Beifahrerin gewaltsam abzuküssen. Gott sei Dank bin ich einigermaßen gut erzogen, und ich weiß, wie man sich mit Frauen unterhält...
Wenn es hübsche Frauen sind, hat mir noch nie das passende Wort gefehlt. Aber hier! Warum bin ich neben diesem Mädchen so schüchtern und völlig entwaffnet?
Ich bin krank. Das ist es! Sonst gibt es doch überhaupt keinen Grund, dass ich diese Kühle so spüre.
Außerdem ist eine undefinierbare innere Unruhe dabei. Das Nachsehen habe ich allein. Dabei könnte ich mir vorstellen, dass ich nur so ein Mädchen brauchte wie dieses. Dann hätte ich den ganzen Kummer mit Suzy viel schneller hinter mir. Seit ich aus Paris abfuhr, hab ich doch nur an Suzy gedacht.
Habe ich eigentlich jemals so ein Gefühl gehabt, wenn Suzy bei mir war? Oder wenn ich neben irgendeiner anderen Frau saß?
Wir müssen jetzt unbedingt ins Gespräch kommen! Und wenn es nur ein paar belanglose Worte sind! Sonst wird sie unweigerlich zu dem Schluss kommen, dass ich ein Trottel bin. Und ich möchte vor einer Frau nicht das Gesicht verlieren. Nein, wirklich nicht.
»Ulkig, wie man sich manchmal so trifft, so... so weit weg, wo man es gar nicht vermutet...«
Die Gesprächseröffnung war nicht sonderlich geistreich, das gebe ich zu. Aber jetzt ist wenigstens der Anfang gemacht.
Sie scheint auch zufrieden zu sein, dass ich nicht so stumm neben ihr sitze wie ein Fisch.
»Ich bin etwas spazieren gegangen... Bis mir auffiel, dass ich viel zu weit vom Weg abgekommen war. Aber nun habe ich ja einen galanten jungen Mann getroffen...«
Ich lächle: »Aber ich bitte Sie! Das ist doch das wenigste, das ich für Sie tun kann!«
Das Eis ist gebrochen. Die Konversation plätschert eine Weile dahin. Nichts Ernsthaftes. Ein gänzlich neutrales Gespräch. Und ohne Höhepunkte. Erst habe ich gedacht, so ein bisschen Plauderei würde meine Hemmungen beseitigen. Aber nein, ich habe das Gefühl, dass sie noch schlimmer werden. Und keine Erklärung dafür.
Dabei ist es gar nicht wegen ihrer Worte. Aber diese Stimme, dieser Tonfall, dieser ungewöhnliche Blick, mit dem sie mich fortwährend ansieht... Und ihre weißen Haare... Die Zähne auch... Natürlich, die Zähne...«
Immerhin habe ich mir das Mädchen inzwischen etwas näher angesehen. Sie hat ganz wunderschöne Lippen, tiefrot. Diese Lippen machen sie so begehrenswert, glaube ich. Wenn nicht diese kleinen, sonderbaren Zähne wären... Beißerchen, das ist das richtige Wort.
Ich will wenigstens mal versuchen, herauszubekommen, wohin sie will und woher sie kommt...
»Ich finde es sehr schön, dass Sie hier so neben mir sitzen...«
Sie springt gleich darauf an:
»Und ich, dass ich Sie getroffen habe...«
Mein bester Jean-Louis, klingt das nicht ganz wie eine Aufforderung?
»Aber ich würde ganz gerne wissen, wohin ich Sie fahren soll. Bitte denken Sie aber deshalb nicht gleich, ich wollte Sie so schnell wie möglich wieder loswerden! Nein, ich möchte Ihnen eine Gefälligkeit erweisen.«
Ich bin mir absolut klar darüber, dass ich alles durcheinanderbringe und wahrscheinlich genau das Gegenteil von dem sage, was ich eigentlich sagen wollte. Aber das Lächeln meiner Zufallsbekanntschaft ist genauso charmant wie zuvor.
»Wir sind bald da... Sie werden es gleich sehen...«
Es sieht jetzt aus, als ob sie sich ihre Lippen anfeuchtet. Ich sehe, wie ihre Zungenspitze ein kleines Stück aus ihrem Mund herauskommt. Eine köstliche Vision!
Das heißt: Unter jedem anderen Umstand wäre es köstlich gewesen. Aber der Blick auf die Lippen kann mich nicht darüber hinwegtäuschen, dass ich schon wieder anfange zu frösteln. Auf dem Rücken läuft mir noch eine Gänsehaut entlang.
Wirklich erstaunlich, das alles. Und diese Kälteempfindung. Mitten in der prallen Sonne!
Nein... da stimmt etwas nicht. Mir scheint, ich weiß jetzt, warum ich ständig fröstle. Die Kälte kommt aus einer bestimmten Richtung. Ich bin doch nicht krank! Nein, das ist es nicht. Da ist noch etwas ganz anderes!
Es ist grauenhaft. Ich muss mich vom Gegenteil überzeugen, sonst schnappe ich noch über...
Ich weiß auch schon, wie ich es anstellen werde.
In der nächsten Kurve ist es soweit. Ich gebe etwas zu viel Gas und neige mich etwas nach rechts hinüber. Durch die Bewegung des Autos wird sie zu meiner Seite herübergedrückt.
Mich überfällt ein Schwindel. Ich habe zweierlei festgestellt... Aber so schnell... so schnell, dass ich mich noch nicht fassen kann.
Die Kälte... Ich weiß jetzt, warum ich andauernd diese Kälteempfindung habe...
Und im Rückspiegel... Ich habe in den Rückspiegel geguckt und nur mich allein gesehen!
Obwohl das Mädchen direkt an meiner Schulter lag. Ist das schon wieder diese verdammte Sonne?
Nein, ich muss jetzt etwas dagegen tun. Es geht nicht, dass ich mich von einem Alptraum überfallen lasse. Ich drehe mich zu ihr hin. Ich will etwas sagen...
Aber ich sehe nur ihren Mund...
Einen bebenden Frauenmund. Unglaublich! Ist so etwas nicht eine Aufforderung? Es kann doch gar keine schönere Aufforderung geben als diesen Mund!
Ich habe noch nie so eine Lust verspürt wie in diesem Augenblick. Aber das schlimmste ist, dass es nicht allein die Lust ist. Gleichzeitig ist auch ein Angstgefühl dabei. Und es ist sogar eine ganz schlimme Angst. Ich weiß wirklich nicht, welchem Gefühl ich nachgeben soll... Ich...
Es ist schon zu spät. Ich habe mich nicht zurückhalten können. Das Auto gehorchte mir nicht mehr... Die Schlucht kommt näher... Ich habe die Herrschaft über das Steuer verloren... Nein, in letzter Sekunde gelingt es mir, das Steuer herumzureißen. Wir rasen auf die andere Straßenseite zu. Gegen die Böschung.
Ich höre, wie jemand laut schreit. Dann merke ich, dass der Schrei aus meinem eigenen Mund kommt. Und dann wird alles dunkel um mich...
Ein tiefer Brunnen... Ja, das ist es. Ich steige aus einem tiefen Brunnen an die Oberfläche...
Es ist immer noch stockdunkel.
Aber ich habe das Gefühl, als ob ich ganz schwerelos bin. Aber vorher muss ich ganz tief gefallen sein. Es war so, als ob mich dieser Brunnen in sich aufgesogen hätte...
Ein Sturz in die Tiefe, die kein Ende nahm. Aber das ist lange, lange her... Jahrhunderte...
Und da ganz oben, noch ganz weit weg, ist ein kleiner Punkt, ein Licht... Und zu diesem Licht klettere ich nun langsam hoch.
Suzy! Oh, Suzy...
Dieser Name geht mir plötzlich durch den Kopf. Er erinnert mich an etwas... Nein, an jemand... Ich weiß nicht mehr genau...
Suzy... der schwarze Brunnen... Das Licht da oben...
Ich tauche auf. Jetzt mache ich die Augen auf. Und endlich begreife ich, dass ich noch lebe.
Und dass ich in einem Bett liege.
Das Gesicht einer Frau neigt sich über mich. Es ist eine junge, hübsche Frau. Ihre glatte Stirn trägt aber einen weißen Verband.
»Nun, wie fühlen Sie sich?« fragt sie mich.
Ich stottere: »Suzy... Wo ist Suzy?«
Sie lächelt mich an. Ein wunderschönes Lächeln. So ein Lächeln, das einen schnell gesund macht, überhaupt sieht es ganz so aus, als ob sie die Gesundheit in Person ist und ich... die Krankheit. Aber das ist nur so ein undeutlicher Gedanke von mir. Ich weiß nicht genau...
Da sagt sie: »Sie ist fort... Aber ich bin sicher, dass sie wiederkommt.«
Ich versuche, mich aufzurichten. Sie hilft mir dabei. Und da merke ich, dass mein Bett mitten in einer wunderbaren Landschaft steht. Ich brauche mich nur aufzurichten, dann habe ich diese Landschaft vor mir.
Märchenhaft blauer Himmel über einem smaragdgrünen Meer. Palmen von einem wunderschönen Grün wiegen sich leicht in einem Hauch von Wind. Die Landschaft ist wie ein Farbfilm in Cinerama. Ich muss meinen Geist zusammennehmen. Stimmt das alles? Doch es stimmt. Ich kann deutlich erkennen, dass vor mir ein großes Fenster liegt, nein, eine ganze Fensterwand, und dahinter das Gestade des Mittelmeers.
Plötzlich überschlugen sich meine Gedanken. Alles in meinem Kopf purzelt wie wild durcheinander. Ich versuche, Ordnung in diesen Wirrwarr zu bringen. Wie war das doch? Ich sehe noch einmal meine Fahrt von Paris in den Süden vor mir, die Autostraße, dann das Gebirge. Und dann kam dieses unbekannte junge Mädchen, diese Widersprüchlichkeit der Gefühle, die sie in mir weckte. Ja, und der Kuss. Ich weiß noch genau: Meine Angst war genauso stark wie die Lust, sie zu umarmen.
Die Krankenschwester sagt etwas zu mir. Sie spricht leise und ist sehr nett. In einem Reflex habe ich wie ein Kind nach ihrer Hand gegriffen... Sie hat sie nicht zurückgezogen...
Ich spüre die Wärme dieser Hand. Sie lebt, sie ist wirklich da.
Ganz anders als dieses Mädchen, das bei mir im Auto gesessen hat. Wie war das eigentlich?
Dann höre ich meine Krankengeschichte. Es war also ein Unfall. Ich habe eine starke Gehirnerschütterung gehabt. Und eine offene Wunde an der Schläfe. Dadurch habe ich viel Blut verloren. Diese Schläfenwunden bluten bekanntlich immer sehr stark, auch wenn der Zustand des Patienten gar nicht zu ernsthafter Besorgnis Anlass gibt.
Nein, gebrochen ist nichts. Es klingt wie ein Wunder, aber es ist wahr. Trotzdem fühle ich mich furchtbar schwach.
Plötzlich zucke ich zusammen: »Suzy? Nein, nicht Suzy...«
Die Krankenschwester fragt sofort: »Suzy... War das vielleicht Ihre Frau?«
Ich sehe immer noch nicht ganz klar:
»Nein, nein. Ich bringe das alles durcheinander. Ach, Schwester, sagen Sie... Es war doch eine junge Frau bei mir im Auto. Was ist aus ihr geworden?«
Sie lächelt: »Gar nichts. Sie hat überhaupt nichts gehabt. Nur eine große Portion Glück. Und dann war es natürlich auch ein Glück, dass gleich danach ein Lastwagen vorbeikam. Der Fahrer hat sie hierhergebracht. Er hat sich sehr beeilt.«
Ich schüttle den Kopf: »Hierher? In die Klinik?«
Aber sie nickt: »Ja. Wir sind hier in Cannes. Und Sie sind gut aufgehoben bei uns. Und in besten ärztlichen Händen.«
»Ja, aber... Und sie?«
»Sie meinen Suzy?«
Wieder schüttle ich den Kopf:
»Nein... nicht Suzy...«
Jetzt sieht sie mich genauso erstaunt an und begreift an der Geschichte auch nichts mehr.
Ich sehe, dass sie außerordentlich hübsch ist. Ein appetitliches Mädchen mit freudestrahlendem Gesicht. Eine Blondine, wie man sieht. Denn ihre Haare kommen etwas unter der weißen Haube hervor, obwohl das nicht ganz dem Reglement entspricht... Sie hat Augen, die einen gut trösten...
Ich erzähle ihr, dass Suzy in Paris geblieben ist und dass dieses Mädchen aus dem Auto eine reine Zufallsbekanntschaft war; eine Anhalterin, die ich irgendwo mitgenommen hatte.
»Da haben Sie ein ausgemachtes Glück gehabt! Sie wissen ja noch gar nicht, was Sie diesem Mädchen verdanken!«
Doch, ich glaube es zu wissen: »Ich verstehe. Sie hat mich gerettet. Sie hat den Lastwagen angehalten und mich hierherbringen lassen.«
Aber das ist noch nicht alles, wie ich jetzt höre: »Sie hat sogar noch mehr für Sie getan. Das Blut dieses Mädchens fließt nämlich jetzt in Ihren Adern. Es war ein ganz dringender Fall. Doktor Péris hielt eine Transfusion für unbedingt erforderlich. Und sie musste so rasch wie möglich vorgenommen werden. Und da hat sich Ihre Freundin sofort zur Verfügung gestellt. Sie haben dieselbe Blutgruppe.«
»Wußte sie denn das?«
»Ohne Zweifel. Es stimmte dann tatsächlich überein, denn vorher ist es natürlich verglichen worden, wie Sie sich denken können.«
Ich richte mich auf. Die Krankenschwester hilft mir noch einmal. Aber sie gibt mir den guten Rat, mich jetzt nicht unnötig aufzuregen.
Sie reicht mir einen Spiegel. Ja, mein Schädel steckt in einem dicken Verband. Aber das wird weiter nicht schlimm sein. Ein paar Tage in der Klinik. Anschließend noch etwas Ruhe, und ich kann meine Arbeit wiederaufnehmen. An der Baustelle im Siagnetal sind sie schon im Bilde. Radio Monte Carlo hat in seinem Nachrichtendienst über den Unfall berichtet. Daraufhin ist der Vermesser mit einem der Poliere sofort in die Klinik, gekommen. Aber ich war noch in Narkose.
»Sagen Sie bitte, Schwester. Ich möchte sie gerne sehen. Wo ist sie?«
Ich merke, wie sie in Verlegenheit gerät. Sie versucht, es mit einem Lächeln zu überspielen. Aber wenn ich sie auch ausgesprochen charmant finde, will ich mich doch nicht mit einem freundlichen Lächeln abspeisen lassen.
»Nun, ja«, beginnt sie. »Es ist komisch. Wir haben sehr schnell gearbeitet. Die Bluttransfusion schien ihr überhaupt nichts auszumachen. Ich muss Ihnen sogar gestehen, dass ich noch nie jemand erlebt habe, vor allem keine Frau, die mit solcher Leichtigkeit Blut spendete. Es hat sie in keiner Weise mitgenommen. Und sie hat sich auch nicht im Mindesten aufgeregt, wie das sonst so ist. Hinterher wollte sie sich nicht einmal hinlegen und sich ausruhen. Und sie ist dann komischerweise auch sofort gegangen. Unten im Büro ist sie noch gesehen worden. Aber was dann war, weiß keiner.«
Ich frage: »Wann war denn das nun überhaupt alles?«
»Es war gestern.«
Ich begreife immer noch nicht recht: »Sie ist also nicht noch einmal gekommen, sagen Sie. Hat sie auch nicht gesagt, wohin sie ging? Hat sie keine Adresse hinterlassen? Irgendein Hotel oder sonst etwas?«
»Nein, wirklich gar nichts.«
Unglaublich! Dieses Mädchen, das mir aus mehr als einem Grund höchst bizarr vorkam, hat sich spontan bereit erklärt, Blut für mich zu spenden. Und dann verschwindet sie auf ebenso mysteriöse Art, wie sie aufgetaucht ist.
Woher konnte sie überhaupt wissen, was ich für eine Blutgruppe habe?
Blut... Mich überkommt ein gewisser Appetit nach Blut. Es fließt so wunderbar rot. Merkwürdig, da ist plötzlich eine ganz kuriose, sinnliche Empfindung in mir. In meinen Adern habe ich also Blut von ihr. Und es vermischt sich mit meinem. Es belebt mich. Das ist doch so ähnlich wie eine ganz unglaubliche und sonderbare Umarmung.
Ich glaube, ich werde noch verrückt. Wie kann man solche Gedanken haben!
Und mein Auto? Daran habe ich bis jetzt überhaupt noch nicht gedacht! Was mag mit dem Wagen sein? Das müsste ich sie noch fragen. Ich...
Darüber schlafe ich ein.
Das alles ist nun genau vier Tage her.
Jetzt geht es mir wieder besser. Es geht mir sogar gut.
Isabelle, das ist der Name der Krankenschwester, ist ein wahrer Engel. Immer freundlich, immer liebenswürdig und entgegenkommend. Außerdem scheint sie ihr Metier vollendet zu beherrschen, was ja auch nichts schaden kann.
Inzwischen habe ich auch den Arzt kennengelernt. Doktor Péris ist ganz prachtvoll. Jedes Mal, wenn er kommt, sagt er mir etwas Nettes, Ermutigendes. Die beiden Kollegen von der Baustelle, Vermesser und Polier, waren auch noch einmal da. Jetzt kennen wir uns wenigstens schon, und in einem oder in zwei Tagen wollen sie wiederkommen. Der Arzt hat mir erlaubt, dass ich mich langsam wieder mit beruflichen Dingen beschäftige. Sie wollen dann die Zeichnungen von dem Hochhaus mitbringen. So kann ich ihnen von der Klinik aus schon meine ersten Anweisungen geben, bevor ich mich endlich selbst auf dem Bau sehen lasse.