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eISBN 978-3-649-63109-5

© 2018 Coppenrath Verlag GmbH & Co. KG,

Hafenweg 30, 48155 Münster

Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise

Text: Katrin Lankers

Covergestaltung: Anne Sent, Sara Vidal

Lektorat: Waltraud Grill

Satz: Sabine Conrad, Bad Nauheim

www.coppenrath.de

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Tötet grauser Mord den einen,

obsiegt fortan der Menschheit Streit.

Nur Gemini die Feinde einen,

wenn sie verdrehen den Lauf der Zeit.

Aus einer Schrift mit »Prophetien« aus dem 16. Jahrhundert – Nostradamus zugeschrieben (vermutlich fälschlicherweise).

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

EIN JAHR DANACH

1

Bis zu meinem fünfzehnten Geburtstag verlief mein Leben verhältnismäßig normal. Ich würde nicht so weit gehen zu behaupten, dass es langweilig gewesen wäre. Wenn man mit Luisa Emilia da Costa Moreira – genannt Lulu – befreundet ist, liegt die Wahrscheinlichkeit, sich zu langweilen, etwa bei eins zu einer Billion. Zum Vergleich: Die Wahrscheinlichkeit, durch das Anziehen einer Hose im Krankenhaus zu landen, liegt bei eins zu zehntausend. Und die, vom Blitz getroffen zu werden, bei eins zu sechs Millionen.

Ich habe das übrigens gerade gegoogelt, nicht dass ihr glaubt, ich hätte eine Ahnung von Wahrscheinlichkeitsrechnung. Im Gegenteil. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich in Mathe schon wieder eine Fünf im Zeugnis bekomme, dürfte über hundert Prozent betragen.

Aber zurück zur Normalität meines Lebens. Ich bin von Natur aus ein eher zurückhaltender Mensch. Abenteuer sind nicht mein Ding. Ich schätze, das liegt daran, dass meine Mutter bei einem Autounfall ums Leben kam, als ich noch ein Baby war. Schuld waren zu hohes Tempo, Blitzeis und ein Baum.

Keine Sorge, ich bin davon nicht schwer traumatisiert oder so. Ich kann mich ja nicht einmal daran erinnern. Und ich hatte trotzdem eine glückliche Kindheit. Meine Großmutter wohnte bei uns und kümmerte sich um mich, wenn mein Vater auf Geschäftsreisen unterwegs war. Wenn er nach Hause kam, unternahmen wir tolle Sachen zusammen, und er erfüllte mir jeden Wunsch.

Aber die Sache mit dem Autounfall hat wohl dazu geführt, dass die beiden ganz besonders gut auf mich aufpassen wollten. Deshalb habe ich ziemlich häufig Sätze gehört wie »Sei vorsichtig«. Und deshalb habe ich vermutlich insgeheim immer ein bisschen Angst vor zu hohem Tempo, Blitzeis und Bäumen. Entsprechend habe ich mich aus allem herausgehalten, was auch nur im Entferntesten nach Abenteuer aussah. Zumindest bis Lulu vor einem Jahr meine beste Freundin wurde.

Gegensätze ziehen sich an – so heißt es doch. Auf Lulu und mich trifft das definitiv zu. Für Lulu ist Angst ein ebensolches Fremdwort wie Langeweile. Sie kommt ständig auf verrückte Ideen, die sie dann auch sofort in die Tat umsetzt. Lulu liebt es, im Regen zu tanzen, wie in diesem uralten Schwarz-Weiß-Tanzfilm (sie liebt uralte Tanzfilme), auf dem Spielplatz Kinderkarussell zu fahren, bis die Welt sich dreht (und der Magen), eine Sahneschlacht in unserer Küche zu veranstalten (meine Stiefmutter hätte mich fast mit der Sprühsahnedose erschlagen) und anderen Leuten schräge Streiche zu spielen, zum Beispiel im Supermarkt wahllos Sachen in fremde Einkaufswagen zu legen (zum Totlachen, wenn der Rocker in Lederkluft an der Kasse den Weichspüler entdeckt).

Aber am schönsten sind unsere Freundinnenaktionen. Wir haben mal unsere Anfangsbuchstaben mit einem Herz in eine Parkbank geritzt (und sind gerannt, als eine alte Dame mit Dackel vorbeikam). Wir haben einen Tag lang so getan, als wären wir die jeweils andere (sogar in der Schule). Wir haben einen meterlangen Schal gestrickt und um unsere Hälse gewickelt (also ein Schal um beide Hälse). Und wir haben einen ganzen Tag lang nicht gesprochen, sondern versucht, uns alles gegenseitig von den Lippen abzulesen (was die anderen wahnsinnig gemacht und zu einigen witzigen Missverständnissen geführt hat). Solche Aktionen. Wir machen das am 28. eines jeden Monats, denn an einem 28. fing unsere Freundschaft an. Genauer gesagt am 28. Mai – der Tag, an dem wir beide Geburtstag haben!

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Lulu kam mitten im Schuljahr neu in unsere Klasse, weil ihre Eltern sich getrennt hatten und ihre Mutter wegen ihres Jobs in die Stadt gezogen war. Bis dahin hatte ich mich zwar regelmäßig mit einigen Mädchen aus meiner Klasse getroffen, eine allerbeste Freundin hatte ich aber nicht. Inzwischen glaube ich, dass ich einfach auf Lulu gewartet habe. Sie faszinierte mich sofort. Mit ihren farbenfrohen, außergewöhnlichen Outfits und ihrem selbstbewussten Auftreten war sie ganz anders als all die anderen Mädchen. Natürlich hätte ich mich nie getraut, sie einfach anzusprechen. Doch dann stand sie eines Tages in der großen Pause vor mir.

»Ich hab gehört, dass du heute in einer Woche Geburtstag hast«, sagte sie.

Ich nickte und fragte mich, wo sie das aufgeschnappt haben mochte.

»Ich auch«, fuhr sie fort. »Wollen wir zusammen feiern?«

Ich konnte bloß wieder erstaunt nicken.

Die Party zu meinem vierzehnten Geburtstag wurde dann die beste meines bisherigen Lebens.

In unserem Garten hatte Lulus Mutter Marisa ein Buffet aufgebaut, auf dem sich fantastische Kuchen nach Rezepten aus ihrer Heimat Portugal stapelten. Etwas so Zuckerigleckeres hatte ich nicht mehr gegessen, seit meine Omili ausgezogen war, die mir zu meinen Kindergeburtstagen immer Regenbogentorten gebacken hatte. Da Sylvia, meine Stiefmutter, eine strenge Verfechterin gesunder Ernährung ist, hatte es auf meinen Geburtstagen seither immer nur Obstigel, Gurkenschlangen und Möhrenkuchen gegeben, die ohne ein einziges Gramm Zucker auskommen mussten. Ich schwebte also auf Kuchenwolke sieben.

Allerdings schwebte ich dort nur so lange, bis mir ganz schrecklich schlecht wurde, weil ich sogar für meine Verhältnisse unvernünftige Mengen gegessen hatte. Und während draußen im Garten die Partyspiele losgingen, lag ich ganz allein drinnen auf dem Sofa und kämpfte gegen die Sahnetörtchen, die in meinem Bauch eine eigene Party veranstalteten. Doch plötzlich tauchte Lulu auf und ließ sich neben mich auf den Fußboden plumpsen.

»Hey du«, sagte sie. »Die anderen spielen Wahrheit oder Pflicht, aber ich würde das viel lieber mit dir spielen.«

»Ich glaube nicht, dass ich gerade in der Lage bin, irgendwelche Aufgaben zu erfüllen.« Ich grinste matt.

»Egal, Wahrheit ist eh viel spannender.« Auch Lulu grinste. »Erzähl mir die peinlichste Situation deines Lebens.«

»Du meinst, eine andere als diese hier?«

Wir lachten beide. Und dann erzählten wir uns immer abwechselnd alle peinlichen Situationen, in die wir jemals geraten waren. Wir hatten so viel Spaß dabei, dass mir der Bauch am Ende nicht mehr vom Kuchen, sondern vom vielen Lachen wehtat. Und dabei vergaßen wir ganz, dass die eigentliche Party draußen stattfand.

»Weißt du was?«, sagte Lulu irgendwann. »Ich hab das Gefühl, dich schon ewig zu kennen. Als wären wir schon immer befreundet. Verrückt, oder?«

»Ziemlich verrückt«, erwiderte ich und mein Herz machte einen freudigen Hüpfer. »Aber mir geht’s genauso.«

Seit diesem Tag sind Lulu und ich unzertrennlich. Mit Lulu befreundet zu sein, fühlt sich an, als hätte ich endlich mein fehlendes Puzzlestück gefunden. Wir sind wie Yin und Yang. Wie Aronal und Elmex. Wie Ben und Jerry’s. Wie … Ihr wisst, was ich meine!

Langweilig war mein Leben also seit einem Jahr absolut nicht mehr. Mit Lulu zusammen erlebte ich eine ganze Menge spannender Sachen. Aber es waren allesamt normalspannende Sachen, die jedem beliebigen Teenager passieren könnten. Zumindest jedem, der eine so besondere Freundin wie Lulu hat.

Man kann sagen, dass ich ein ganz normales Leben mit ganz normalen Problemen führte. Und dass ich damit mehr oder minder ganz zufrieden war. Zumindest war das so bis zu meinem – oder besser gesagt unserem – fünfzehnten Geburtstag.

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»Hallo, Herzensmensch.« Ich drückte meine rechte Hand aufs Herz, hob die Finger an meine Lippen und warf Lulu einen Luftkuss zu. So wie wir es immer taten, wenn wir uns trafen. Lulu erwiderte die Begrüßung, wandte sich dann aber dem Spiegel zu.

»Erinnere mich daran, nie wieder Rot zu kaufen!«, jammerte sie, während ich die Zimmertür schloss, und betrachtete sich missmutig in dem großen Spiegel neben ihrem Kleiderschrank. Durch eine schwindelerregende Drehung ihres Kopfes versuchte sie, einen Blick auf ihren eigenen Rücken zu erhaschen.

»Hey, du bist keine Eule«, warnte ich sicherheitshalber.

»Am Po sitzt das Teil überhaupt nicht«, ignorierte meine beste Freundin meine Warnung. »Guck dir mal diese Beulen an.« Sie zupfte an einer eingebildeten Falte am unteren Rücken herum. »Und diese Farbe! Darin sehe ich aus wie eine Scheibe Toastbrot!«

Als ob Lulu mit ihren südländischen Genen jemals blass aussehen könnte! Das schaffte nicht einmal dieses zugegeben sehr knallrote und zudem ziemlich knallenge Minikleid, das sie vermutlich in einer stockdunklen Umkleidekabine anprobiert hatte. Eine andere Entschuldigung konnte es für diesen Missgriff eigentlich nicht geben.

»Das ist der Fehlkauf des Jahrhunderts«, nörgelte meine Freundin. »Und jetzt habe ich nichts anzuziehen. Ausgerechnet heute!«

Lulus Verzweiflung hatte einen einfachen Grund: Es war nicht nur unser Geburtstag, heute fand auch die große Schulparty statt. Mit einem abgrundtiefen Seufzen ließ sie sich neben den himalayahohen Kleiderberg auf ihr Bett fallen. Ich setzte mich zu ihr, sorgsam darauf bedacht, keins der Kleidungsstücke zu zerdrücken. Zwei der bunten Kissen, von denen sich mindestens zwanzig auf der Patchwork-Decke türmten, plumpsten auf den Boden.

»Warum ziehst du nicht einfach eine Jeans an? Und ein schönes Shirt?«, schlug ich vor.

»Weil das laaangweilig ist«, meckerte Lulu und hielt sich schnell die Hand vor den Mund, als ihr bewusst wurde, dass ich in genau diesem Outfit neben ihr saß.

»Entschuldige, allerliebste Claire. Warum kann ich bloß nie nachdenken, bevor ich losquassele?«

»Schon gut«, beschwichtigte ich sie.

»Nein, wirklich, ich bin manchmal so ein Trampel«, beharrte meine Freundin zerknirscht. »Kannst du mir verzeihen?«

»Immer wieder gern«, erwiderte ich.

Lulu ist eine waschechte Drama-Queen! Und eigentlich finde ich das meistens liebenswert und amüsant.

»Okay, vergessen wir die Klamottenfrage für einen Moment.« Lulu ist nicht nur eine Drama-Queen, sie wechselt auch schneller zwischen zwei Gemütszuständen hin und her, als ein normaler Mensch das Wort Gemütszustand aussprechen kann. »Es gibt doch wirklich Wichtigeres! Geschenke zum Beispiel.«

Lulu sprang vom Bett und drei weitere Kissen gingen zu Boden. Ohne darauf zu achten, fing sie an, in ihrem Schreibtisch herumzuwühlen, wobei sie fortwährend Wo ist es denn nur? murmelte. Lulu hat viele besondere Talente. Sie ist witzig und nie lange schlecht drauf, sie kann bühnenreif tanzen und sich mit dem dicken Zeh hinterm Ohr kratzen. Sie schafft es, in nur fünf Minuten einen Schokokuchen in der Mikrowelle zu backen, in den man sich reinlegen möchte. Und sie ist immer, wirklich immer, für mich da.

Ordnung zu halten, zählt allerdings nicht zu Lulus Stärken. Zum Glück besitzen ihre Sachen die Fähigkeit, an den erstaunlichsten Orten von selbst wieder aufzutauchen. Ihr Haustürschlüssel zum Beispiel, den wir einen ganzen Nachmittag lang gesucht hatten, lag unbekümmert in ihrer Sockenschublade, die Lulu eigentlich nur öffnete, weil sie ihre Lieblingsohrringe darin vermutete, die sie völlig überraschend drei Tage später im Vorratsschrank hinter den Schoko-Pops entdeckte, wo sie eigentlich ihr Hausaufgabenheft zu finden hoffte, das jedoch irgendwie den Weg zwischen die Schminksachen ihrer Mutter gefunden hatte, wo Lulu vermutlich niemals danach geschaut hätte, wenn sie nicht auf der Suche nach ihrem Lipgloss gewesen wäre …

»Ha!«, machte Lulu zufrieden und holte ein kleines Päckchen aus der Tonne mit der schmutzigen Wäsche. »Bitte schön!«

Das Geschenk war flach, in mattgoldenes Papier gewickelt und mit einer überdimensionalen schwarzen Schleife geschmückt. Ich grinste, als sie es mir hinhielt, angelte neben dem Bett nach meinem Rucksack und zog ein identisch verpacktes Geschenk heraus.

»Zwei Blöde, ein Gedanke.« Lulu grinste ebenfalls.

»Happy Birthday«, sagten wir gleichzeitig und tauschten die Geschenke aus.

»Von Schnick-Schnack?«, erkundigte sich meine Freundin und hielt das Geschenk hoch, das ich ihr überreicht hatte.

»Klar«, erwiderte ich und hob meins hoch. »Das auch?«

»Klar.«

Schnick-Schnack-Schmuck war unser Lieblingsgeschäft für Schmuck und jede Menge Schnickschnack, den man eigentlich nicht brauchte, der aber viel zu schön war, um ihn nicht zu haben. Der Laden gehörte Alexa, der besten Freundin meiner Großmutter, und bereits als ich noch klein war, hatten wir dort viele Stunden verbracht. Bei Alexa zu sein, erinnerte mich an meine Omili, und schon deshalb ging ich gern dorthin. Dass Lulu das Geschäft genauso mochte wie ich, machte es nur umso besonderer für mich.

»Also auf drei«, schlug Lulu vor.

»Einverstanden. Eins. Zwei …«

Und schon riss Lulu das Papier auseinander. Geduld gehört auch nicht unbedingt zu ihren Stärken.

»Das ist nicht wahr …« Lulu lachte erneut, als sie das Geschenk hervorholte, das ich für sie ausgesucht hatte. Es war eine lange Kette oder besser gesagt zwei, die fest umeinander gedreht waren. Zwillingskette hatte Alexa das Schmuckstück genannt, als sie es mir gezeigt hatte, und erzählt, dass sie davon gerade erst zwei Stück angefertigt hatte.

Mir war sofort klar gewesen, dass ich diese Kette für Lulu kaufen wollte. Aber jetzt fragte ich mich, ob Lulu sie nicht doch zu schlicht fand.

»Gefällt sie dir nicht?«, fragte ich unsicher. »Ich dachte, es wäre passend, weil wir auch Zwillinge sind, als Sternzeichen meine ich, und irgendwie auch Herzenszwillinge … oder?«

Doch meine Freundin schüttelte bloß den Kopf. »Pack einfach aus.«

Also entfernte ich vorsichtig das Papier von meinem Päckchen … und hielt schließlich die exakt gleiche Kette in der Hand wie Lulu.

»Zwei Blöde, ein Gedanke«, wiederholte ich und lachte nun ebenfalls.

»Als Alexa sie mir gezeigt hat, wusste ich sofort, dass es das perfekte Geschenk für dich ist.«

Gegenseitig hängten wir uns die Ketten um den Hals und nahmen uns dann fest in den Arm.

»Witzig, dass Alexa uns beiden die gleiche Kette empfohlen hat«, meinte Lulu, als wir uns schließlich wieder losließen.

»Na ja, aber auch irgendwie logisch, oder?«, erwiderte ich. »Sie weiß doch, dass wir allerbeste Freundinnen sind.«

»Stimmt natürlich.«

»Ich muss dir übrigens unbedingt noch etwas zeigen.« Wieder wühlte ich in meinem Rucksack, bis ich das kleine Säckchen aus rotem Samt fand. Vorsichtig knotete ich das Band auseinander, mit dem es oben zusammengehalten wurde, und ließ den Inhalt in meine Hand gleiten.

»Was ist das?« Lulu beugte sich über die Kugel, die ich ihr entgegenstreckte.

»Ein Geschenk von meiner Großmutter«, sagte ich und spürte augenblicklich die gleiche Mischung aus Traurigkeit und Freude mit einem Hauch von Ehrfurcht wie am Morgen, als ich das Päckchen ausgepackt hatte.

»Von deiner Großmutter«, echote Lulu verwundert. »Aber die ist …«

»… tot, ich weiß«, beendete ich den Satz für sie. »Mein Paps hat mir das Geschenk von ihr gegeben. Er hat gesagt, sie hätte darauf bestanden, dass ich es an meinem fünfzehnten Geburtstag bekomme.«

»Das ist ja toll«, sagte Lulu. »Und was ist es?«

»Es ist ein Anhänger«, erklärte ich. »Ein Kettenanhänger.«

»Sieht uralt aus.« Lulu rutschte ein Stück näher an mich heran, um ihn genauer betrachten zu können. »Und irgendwie … seltsam.« Erneut schlug sie sich die Hand vor den Mund. »Hätte ich das jetzt nicht sagen sollen?«

»Quatsch«, beruhigte ich sie und strich mit dem Daumen über die verschlungenen Gravuren, die sich über die kugelige Oberfläche des Anhängers wanden. Er war etwa so groß wie ein Tischtennisball und das Metall fühlte sich kühl an. »Du hast ja recht, er sieht tatsächlich eigenartig aus.«

»Aber warum vermacht deine Großmutter dir ausgerechnet dieses Schmuckstück? Und warum zum fünfzehnten Geburtstag? Warum nicht zum sechzehnten oder zum achtzehnten?«

»Ich habe keine Ahnung.« Als ob ich mir diese Fragen nicht auch schon gestellt hätte! »Ich habe den Anhänger jedenfalls noch nie zuvor gesehen.«

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Meine Großmutter hatte Schmuck geliebt, große Ketten mit farbigen Steinen, zu denen sie immer die passenden Armreifen und Ohrringe trug. Als Kind hatte ich ganze Nachmittage damit verbracht, in ihren Schatullen zu stöbern. Aber an diesen Anhänger konnte ich mich nicht erinnern.

»Das ist alles billiger Modeschmuck«, hatte das abfällige Urteil meiner Stiefmutter Sylvia gelautet. Da mein Vater seit seiner Beförderung eigentlich ständig auf Dienstreise war, hatte sie die Wohnung meiner Großmutter nach ihrem Tod ausgeräumt. Mein Vater war wohl ganz froh gewesen, dass Sylvia ihm das abgenommen hatte, und hatte ihr freie Hand gelassen. Und so hatte sie – noch bevor ich Protest einlegen konnte – Omilis Schmuck und den Inhalt ihres Kleiderschranks ins Sozialkaufhaus gegeben, während ich in der Schule war. Mir tat es bis heute leid, dass ich kein Erinnerungsstück an meine Großmutter behalten konnte. Umso bedeutsamer erschien mir nun dieses Geschenk.

»Mein Vater hat gesagt, Omili hat den Anhänger im Banktresor aufbewahrt«, erzählte ich Lulu das Wenige, das ich wusste.

»Krass«, staunte Lulu. »Dann ist er richtig wertvoll?«

»Ich weiß nicht. Es ist wohl ein Familienerbstück. Das sagt zumindest mein Paps. Vielleicht hatte Omili ihn aber auch bloß im Tresor, damit Sylvia ihn nicht in die Finger bekommt.«

»Tststs«, tadelte Lulu mich, wurde dann aber gleich wieder ernst. »Und hat er sonst noch was gesagt?«

»Nicht wirklich. Meine Omili hat ihm wohl noch einen Brief für mich gegeben, aber du kennst ja meinen Vater. Er hat ihn irgendwo zwischen seine Unterlagen gelegt, wo er ihn jetzt nicht mehr findet.«

Mein Vater hatte mir das Päckchen am Morgen überreicht, nachdem ich meine anderen Geschenke ausgepackt hatte: Ein neues Smartphone von ihm, genau wie gewünscht. Einen Kosmetikkoffer von Sylvia, den ich ungefähr so gut gebrauchen konnte wie einen Raumanzug. Und von meiner Stiefschwester Sophie ein Buch mit dem Titel Bedeutende Persönlichkeiten der Weltgeschichte, das sie mir mit der Bemerkung überreicht hatte, sie hoffe, mein Bildungsniveau damit ein klein wenig anheben zu können, auch wenn sie fürchte, dass ihre Bemühungen vergeblich sein würden.

Ich hatte beschlossen, ihr zum nächsten Geburtstag eine »Bravo« zu kaufen, um ihr Normalitätsniveau damit ein klein wenig anzuheben.

Dann packte ich den Anhänger aus. Für den Bruchteil einer Sekunde entgleisten Sophies perfekt geschminkte Gesichtszüge und sie wirkte verletzt. Fast mitleiderregend. Zu ihrem fünfzehnten Geburtstag vor zwei Monaten hatte Sophie nämlich kein Päckchen von Omili bekommen. Was erstaunlich war, denn obwohl Sophie nicht ihre eigene Enkeltochter gewesen war, hatte meine Großmutter sich immer sehr bemüht, uns beide gleich zu behandeln. Und ich glaube, Sophie hatte sie wirklich gerngehabt. Sofern meine Stiefschwester zu solchen Gefühlen fähig war.

»Deine Großmutter hat in ihrem Testament verfügt, dass nur du ihn bekommen sollst«, hatte Paps mir erklärt. »Und dass du unbedingt gut darauf achtgeben sollst.«

»Dafür hat sie sich ja genau die Richtige ausgesucht«, hatte Sophie in Bühnenlautstärke gemurmelt. Mein Mitleid war augenblicklich wieder dahingeschmolzen.

»Hm.« Lulu spitzte ihre Lippen. Das tat sie immer, wenn sie über etwas nachgrübelte. Es sah aus, als würde sie einen Kussmund formen, was gelegentlich ziemlich unpassend wirkte. Während einer Mathearbeit zum Beispiel. Kussmünder und Mathe passen einfach nicht gut zusammen.

»Hm«, machte Lulu noch einmal.

Ich wartete gespannt. Wenn Lulu »Hm« machte, kamen manchmal überraschend brillante Einfälle heraus.

»Ziemlich mysteriös.«

Ich seufzte. Manchmal auch nicht.

»Der Anhänger sieht auf jeden Fall total schön aus.« Lulu streckte die Hand aus, um mit ihren langen schmalen Fingern über die Kugel zu streichen. »Und fühlt sich auch irgendwie schön an. Diese Gravuren wirken geheimnisvoll, findest du nicht? Wie irgendwelche Zeichen. Oder Buchstaben oder so … Hast du eine Ahnung, was sie bedeuten?«

»Ich … nein«, erwiderte ich abgelenkt. Denn als meine Freundin mit ihren Fingern über die Kugel gefahren war, hatte es sich angefühlt, als würde diese leicht vibrieren. Und ich hatte den Eindruck gehabt, dass das Metall mit einem Mal wärmer geworden war. Schnell schloss ich meine Hand darum zur Faust. Doch es war schon vorbei und vermutlich war es ohnehin bloß Einbildung gewesen. Wieso sollte ein Anhänger vibrieren?

»Los, häng ihn um.«

»Was?«, fragte ich verwirrt.

»Ich sagte, dass du ihn umhängen sollst«, wiederholte Lulu. »Du könntest den Anhänger an der neuen Kette befestigen. Das sieht bestimmt gut zusammen aus. Und würde dein, sagen wir mal, zeitlos schlichtes Outfit ziemlich aufwerten.«

»Ich weiß nicht.« Noch immer hielt ich die Hand zur Faust geschlossen. Bei dem Gedanken, den Anhänger zu tragen, fühlte ich mich nicht wohl. »Der ist doch viel zu groß und auffällig! Was, wenn ich ihn verliere oder wenn er kaputtgeht?«

»Warum sollte er kaputtgehen?« Lulus dunkle Locken wippten, als sie den Kopf schüttelte. »Der Anhänger sieht ziemlich massiv aus. Und warum sollte deine Großmutter ihn dir schenken, wenn sie nicht will, dass du ihn trägst?«

Ich nickte langsam, noch nicht so richtig überzeugt.

»Also, wenn ich so einen coolen Vintage-Anhänger hätte, würde ich nur noch in Jeans und T-Shirt rumlaufen.« Lulu ließ nicht locker. »Komm schon, Clairchen. Trau dich mal was!« Sie nahm meine Hand und begann, sanft meine Finger aufzubiegen.

Ich lächelte und öffnete die Faust. Lulu konnte sehr überzeugend sein. Doch als meine Freundin nach dem Anhänger griff, überkamen mich wieder Zweifel. Reflexhaft schlossen sich meine Finger erneut um Lulus. Ein Ruck ging durch unsere Hände bis in die Arme. Die Kugel vibrierte erneut. Stärker dieses Mal. Gleichzeitig erwischte mich ein Stromschlag. Nicht schlimm, eher als ob man eine Türklinke anfasst, nachdem man sich kräftig die Haare gebürstet hat. Ich hörte ein leises Knirschen und Schaben, als würde Metall über Metall reiben. Ich sah Lulus Augen, die sich weiteten – erst verwundert und dann, als sie begriff, was passiert war, vor Schreck.

Gleichzeitig schnellten unsere Hände auseinander, als hätten wir uns verbrannt. Und zwischen uns aufs Bett fielen die zwei Hälften einer Kugel.

2

»Oh nein! Claire, es tut mir leid. Es tut mir schrecklich leid, Clairchen. Es tut mir leid, es tut mir leid, es tut mir leid.« Wie gesagt: Lulu ist eine Drama-Queen! Sie schlug sich die Hände vor den Mund, raufte sich die Haare und schüttelte dann fortwährend den Kopf, sodass ihre langen Locken flogen.

Ich hingegen war nicht in der Lage, überhaupt irgendetwas zu tun, außer die beiden Teile des zerbrochenen Anhängers auf der bunten Patchwork-Decke anzustarren.

Paps’ Stimme klang mir in den Ohren: »Deine Großmutter hat gesagt, dass du unbedingt gut auf ihn achtgeben sollst.« Und dann Sophie: »Dafür hat sie sich ja genau die Richtige ausgesucht!« Meine besserwisserische Streberstiefschwester hatte recht behalten: Ich hatte es nicht einmal einen Tag lang geschafft, gut auf das Geschenk aufzupassen. Ich spürte, wie mir Tränen in die Augen stiegen, und wischte sie ärgerlich mit dem Handrücken fort.

»Hey, nicht weinen.« Lulu rutschte neben mich und legte mir unsicher einen Arm um die Schultern, wahrscheinlich dachte sie, ich wäre wütend auf sie, weil der Anhänger kaputtgegangen war. Dabei gab ich einzig und allein mir selbst die Schuld daran.

»Es ist nur …« Ich schluckte kräftig und zog die Nase hoch.

So ganz war ich über Omilis Tod noch immer nicht hinweg, obwohl sie mittlerweile seit drei Jahren nicht mehr lebte. Als ich klein war, hatte sie, wie gesagt, bei uns gewohnt und auf mich aufgepasst, wenn mein Vater unterwegs war. Doch als er Sylvia geheiratet hatte, wurde es ziemlich eng in unserem Haus. Und Omili räumte ihr Zimmer für meine blöde Stiefschwester, weil die natürlich ein eigenes benötigte.

Mein Vater hatte noch vorgeschlagen, Sophie und ich könnten uns ja ein Zimmer teilen. Aber darauf hatte Sylvia sehr bestimmt erklärt, dass wir jeder ein eigenes Zimmer bräuchten, um in Ruhe unsere Hausaufgaben erledigen zu können. Ich wurde bis heute den Verdacht nicht los, dass sie bloß einen Vorwand suchte, damit Omili auszog. Und die tat ihr natürlich den Gefallen.

Damit unserem »Patchwork-Glück« nichts im Wege stand, behauptete meine herzensgute Großmutter, sie sei ganz froh, wieder allein leben zu können. Aber sie nahm sich eine Wohnung, die nah genug bei uns war, damit ich zu ihr gehen konnte, wann immer ich das wollte. Und das war oft. Eigentlich fast jeden Tag.

Mit meiner Omili konnte ich über alles reden, ihr jeden Kummer und jede Frage anvertrauen. Und auch wenn sie nicht auf alles eine Antwort hatte, so hatte sie es stets geschafft, mich am Ende wieder zum Lachen zu bringen.

Sie hatte immer gesagt, dass sie eines Tages in ihrem Bett einschlafen und nicht wieder aufwachen wollte, und genau so war es gekommen. Doch so schön ich das für sie auch fand, hätte sie sich für meinen Geschmack mit dem Sterben noch viel, viel mehr Zeit lassen können.

»Du vermisst sie, oder?« Lulu zog mich fest an sich und drückte mich. Ich nickte bloß, weil ich meiner Stimme nicht traute, und atmete tief ein.

Lulu roch immer ein bisschen nach Schokolade, weil sie Schoko-Lipgloss benutzte. Ich fand den Duft tröstlich.

»Okay, lass mal sehen.« Lulu ließ meine Schultern los und nahm behutsam die beiden Hälften des Anhängers in die Hand. »Vielleicht kann man es ja reparieren. Bestimmt sogar. Ich meine, wir haben ja nicht mit einem Hammer draufgehauen oder so. Er ist einfach auseinandergefallen. Wir bringen ihn zu Schnick-Schnack, bestimmt kriegt Alexa das wieder hin … Oh, schau mal!«, unterbrach Lulu sich selbst und hielt mir ihre Handfläche mit der zerbrochenen Kugel unter die Nase. »Das ist ja krass!«

»Was ist denn?« Ich rieb mir über die Augen. Zur Feier des Tages hatte ich Wimperntusche benutzt – aus Sylvias Schminkkoffer, ich gebe es zu – und mittlerweile vermutlich großflächig in meinem Gesicht verteilt.

»Ich glaube, der Anhänger ist gar nicht kaputt.«

»Wie, nicht kaputt?«Vorsichtig nahm ich Lulu die beiden Stücke aus der Hand, ängstlich, dass ich wieder einen Stromschlag bekommen würde. Aber dieses Mal blieben alle elektrischen Spannungen aus.

»Das ist eine Uhr«, stellte ich erstaunt fest.

»Na ja, eher zwei Uhren, würde ich sagen.«

»Stimmt.« Ich betrachtete die beiden Halbkugeln, die ich jeweils zwischen Daumen und Zeigefinger hielt, genauer. Sie waren exakt gleich. Die Kugel hatte sich genau in der Mitte geteilt, als wäre sie einfach auseinandergeklappt. Jede der Halbkugeln besaß sogar eine eigene Öse. Dadurch, dass die Kugel sich geöffnet hatte, hatte sie zwei Zifferblätter enthüllt, die sich zuvor in ihrem Inneren verborgen hatten. Die Zifferblätter wirkten sehr alt, mit römischen Zahlen und schmalen Zeigern.

»Sieht aus wie eine Taschenuhr«, überlegte ich.

»Ja, aber eine ziemlich komische, oder?«, wandte Lulu ein. »Wer braucht denn zwei Zifferblätter?«

»Vielleicht jemand, der viel verreist?«, rätselte ich. »Damit man den Zeitunterschied einstellen kann und immer weiß, wie spät es gerade zu Hause ist? Mein neues Handy kann das auch.«

»Meinst du?« Lulu zog schon wieder einen Kussmund. »Und wie klappt man die beiden Teile jetzt wieder zusammen? Ich sehe keine Scharniere oder so etwas.«

»Keine Ahnung.« Ich drehte die Kugelhälften hin und her und legte die glatten Flächen schließlich aufeinander, sodass wieder eine vollständige Kugel entstand. Die beiden Zifferblätter waren so eingearbeitet, dass sie sich dabei nicht im Wege waren. Trotzdem ließen sich die zwei Hälften nicht mehr aneinander befestigen.

»Komisch. Vorhin hingen sie doch noch fest zusammen.« Ich drückte und drehte, aber jedes Mal, wenn ich die Hände ein Stück auseinandernahm, lösten sich auch die Hälften voneinander. Während ich zuvor noch den Eindruck gehabt hatte, eine solide Kugel in Händen zu halten, schienen die beiden einzelnen Teile nun alles andere als gewillt, sich wieder zu einem Ganzen zusammenzufügen.

»Sehr komisch«, bestätigte Lulu. »Vielleicht eine Art Magnetismus?«

»Wenn es ein Magnetismus ist, dann funktioniert er jedenfalls nicht mehr.« Ich zuckte mit den Schultern. Die Tatsache, dass die beiden Hälften offenbar von Anfang an getrennt gewesen waren, wir den Anhänger also nicht zerbrochen hatten, beruhigte mich so sehr, dass ich mich nun nicht darum sorgte, wie man sie wieder miteinander verbinden konnte. Ich würde den Anhänger in den nächsten Tagen zu Alexa bringen und ihn reparieren lassen, falls das möglich war. Vielleicht konnte mir Omilis Freundin sogar mehr über dieses besondere Schmuckstück erzählen. Immerhin kannte sie sich mit Schmuck aus.

Und dann hatte ich plötzlich eine Idee.

»Gib mir mal deine Kette«, bat ich Lulu.

»Wieso?«

»Gib einfach her.«

Zögerlich zog sie sich die gedrehte Kette über den Kopf, die ich ihr erst kurz zuvor umgehängt hatte, und reichte sie mir.

»Was hast du vor?«

»Versuch es doch wenigstens mal für einen kleinen Moment mit Geduld«, wimmelte ich sie ab, legte die eine Halbkugel auf meinem Schoß ab und fädelte die Kette von Lulu in die andere.

»Das ist für mich ein Fremdwort und mit Fremdwörtern hab ich es nicht so«, moserte Lulu. Doch ihr skeptischer Gesichtsausdruck wich einem breiten Lächeln, als ich ihr die Kette zurückgab, an der nun eine der Halbkugeln baumelte.

»Das ist nicht dein Ernst, oder?«

»Ich mache das nur, um zu verhindern, dass du in diesem knallroten Ding auf die Schulparty gehst«, erwiderte ich, nahm meine eigene Kette ab und fädelte die andere Halbkugel darauf, bevor ich sie mir wieder über den Kopf zog. »Du hast gesagt, wenn du den Anhänger tragen darfst, würdest du in Jeans und T-Shirt gehen. Und ich nehme dich beim Wort.«

»Okay, schon gut.« Lulu streckte mir die Zunge raus. »Ich habe verstanden, Miss Stil-Ikone. Ach, und übrigens: danke! Das ist unfassbar lieb von dir.«

Lulu drückte mir einen Schmatzer auf die Wange. Dann schälte sie sich aus dem Kleid und schlüpfte stattdessen in einen ausgewaschenen Jeansrock mit einem breiten pinken Lackgürtel sowie in ein schwarzes Shirt mit einem pinken Stern aus Pailletten. Von meinem Jeans-und-T-Shirt-Outfit war sie damit natürlich Lichtjahre entfernt, doch im Gegensatz zu der Version Bratschlauch in Rot war sie darin ein Hingucker im besten Sinne.

»Jetzt aber mal ehrlich.« Lulu ließ sich wieder neben mich aufs Bett fallen. »Willst du wirklich, dass wir diese Anhänger heute Abend tragen?« Ihre Finger betasteten vorsichtig die Halbkugel. »Keine Angst mehr, dass sie kaputtgehen?«

»Kaputt sind sie ja nun schon.« Ich zuckte mit den Schultern. »Irgendwie hab ich das Gefühl, dass es richtig ist«, versuchte ich zu erklären. Tatsächlich hatte ich plötzlich sogar das seltsame Gefühl, dass meine Großmutter genau das gewollt hätte. »Diese beiden Halbkugeln sind wie Freundschaftsanhänger. Wie diese Herzen, die man in der Mitte durchbricht, und dann steht darauf Beste Freundinnen oder für immer oder so was. Nur dass unsere Anhänger nicht annähernd so kitschig sind, sondern etwas Besonderes.«

»So wie wir.« Lulu nahm meine Hand und drückte sie.

In diesem Moment flog die Zimmertür auf und knallte gegen Lulus Kleiderschrank.

»Seid ihr bald fertig?« Lucas’ Kopf erschien im Türrahmen. »Wir müssen langsam mal los!«

»Raus!« Lulu schnappte sich ein Kissen und warf es Richtung Tür, aber ihr Bruder war schon wieder verschwunden, nicht ohne die Tür lautstark ins Schloss krachen zu lassen.

»Kannst du nicht anklopfen?«, brüllte Lulu ihm hinterher. »Was, wenn ich nackt gewesen wäre?«

Ein kräftiges Klopfen ließ die Tür erzittern.

»Idiot«, grummelte Lulu. »Sei bloß froh, dass du keinen so blöden Bruder hast wie ich.«

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Lieber fünf Brüder wie deinen als eine Stiefschwester wie Sophie, hätte ich widersprechen können. Aber ich hielt sicherheitshalber den Mund. Ich versuchte grundsätzlich, jedes Gespräch mit Lulu über ihren Bruder zu vermeiden. Denn leider war Lucas das einzige Geheimnis, das zwischen Lulu und mir existierte. Beziehungsweise: meine Gefühle für ihn.

Es war wenige Tage nach der Geburtstagsparty passiert, auf der Lulu und ich beste Freundinnen geworden waren. Man muss dazu erklären, dass Lulu an diesem Tag nicht in der Schule gewesen war, sondern mit einer Sommergrippe zu Hause im Bett gelegen hatte. Ansonsten wäre die ganze Sache vermutlich anders abgelaufen.

Ich hatte überraschend meine Tage bekommen und natürlich trug ich eine weiße Jeans, klar … Als ich in der Pause bemerkte, was los war – ich erspare euch an dieser Stelle die buchstäblich blutigen Details –, rannte ich kopflos in die nächste Toilette. Dort hockte ich ziemlich verzweifelt auf dem Klodeckel und grübelte, wie ich diese Kabine je wieder verlassen konnte, ohne mich vor der gesamten Schule zu blamieren. Als ich bemerkte, dass es nicht einmal Toilettenpapier gab, begannen meine Tränen zu laufen. Da hörte ich, dass jemand hereinkam. Na, toll!

»He, was ist los?«, fragte der Jemand. Von einer Sekunde auf die andere wurde mein Elend noch elendiger. Dieser Jemand war ein Junge! Als wäre die ganze Situation nicht schon schlimm genug, war ich aus Versehen in die Jungentoilette gestürmt.

Ich antwortete nicht, sondern zog bloß geräuschvoll die Nase hoch. Hoffentlich ging der Typ weg, wenn ich ihn ignorierte. Doch natürlich wurde mir dieser Wunsch nicht erfüllt.

»Brauchst du Hilfe? Soll ich vielleicht einen Lehrer holen?«, ließ er nicht locker.

»Nein«, quietschte ich. »Auf keinen Fall.«

»Du bist ja ein Mädchen«, stellte der Jemand überrascht fest.

»Sag bloß«, erwiderte ich ironisch und seufzte.

»Und was machst du hier drin?«

»Mädchenprobleme.«

»Oh.« Der Jemand hatte offensichtlich verstanden, um welche Art von Problem es sich handelte. »Kann ich dir trotzdem irgendwie helfen? Brauchst du vielleicht irgendwas?«

»Falls du nicht eine Binde und eine frische Jeans dabeihast, nein, danke«, erwiderte ich mit dem Mut der Verzweiflung.

»Leider nicht.« Der Jemand klang, als täte es ihm tatsächlich leid. »Aber ich könnte dir ein paar Papierhandtücher anbieten. Und meinen Hoodie. Den kannst du dir vielleicht um den Bauch knoten …«

»Ehrlich jetzt?« Plötzlich fühlte ich mich ein bisschen weniger schrecklich.

Statt einer Antwort reichte er mir eine Handvoll Papiertücher und einen Kapuzenpulli über die verschlossene Tür. Einen ziemlich gut riechenden Pulli, wie ich flüchtig bemerkte.

»Danke.« Als ich mir den viel zu großen Hoodie umwickelte, ertönte der Schulgong zum Ende der Pause.

»Kommst du dann jetzt raus?«, fragte der Jemand.

»Ehrlich gesagt, lieber nicht.« So nett der Junge auch gewesen war, war es mir trotzdem viel zu peinlich, ihm persönlich gegenüberzutreten.

»Ich schätze, ich erkenne dich ohnehin an dem Hoodie, oder?«, gab er zu bedenken. »Außerdem hätte ich ihn gerne bei Gelegenheit wieder, ist nämlich mein Lieblingspulli.«

»Oh, richtig.« Er hatte recht, ich würde nicht darum herumkommen, ihm irgendwann ins Gesicht zu sehen. Und so nett, wie er gerade gewesen war, stand wohl auch nicht zu befürchten, dass er mich auslachen würde, wenn ich nun herauskam.

Vorsichtig öffnete ich die Kabinentür. Davor wartete dieser Junge. Etwas älter als ich – wie sich später herausstellte, war er eine Klasse über mir. Etwas zu lange Haare, die ihm in die fast schwarzen Augen fielen. Eine minimal schiefe Nase. Und ein breites Lächeln, das seine Augen blitzen ließ. Es war nicht spöttisch oder gar herablassend. Nein, es war genau die Sorte Lächeln, von der einem ganz warm im Bauch wird.

»Steht dir«, sagte er und deutete auf den Pulli, den ich mir wie einen Rock um die Hüfte geschlungen hatte. In exakt diesem Augenblick verliebte ich mich in Lucas Manuel da Costa Moreira.

Wie er hieß und dass er Lulus Bruder war, erfuhr ich natürlich erst später. Genauer gesagt am nächsten Tag, als ich meine grippekranke Freundin zum ersten Mal zu Hause besuchte. Sie hatte mich vorher schon ausgiebig vor ihrem blöden Bruder gewarnt.

»Lucas glaubt, er wäre der Chef im Haus. Seit meine Eltern sich getrennt haben, ist er nicht mehr auszuhalten. Bildet sich wer weiß was darauf ein, dass er ein Jahr älter ist. Ständig will er mir sagen, was ich zu tun und zu lassen habe. Räum deinen Kram weg. Beeil dich. Komm aus dem Bad raus. Mach deine Hausaufgaben. Hilf mal ein bisschen mehr im Haushalt mit …« So wie Lulu ihn nachäffte, klang ihr Bruder nach einem echten Ekel.

Dann öffnete er mir die Wohnungstür. Als er mich sah, wirkte er erst überrascht, doch dann lächelte er wieder dieses Warm-im-Bauch-Lächeln. Vielleicht dachte er, ich wollte ihm seinen Pulli zurückbringen, den ich jedoch als Kopfkissen-Ersatz benutzte.

»Da bist du ja!« Lulu flog mir um den Hals. Besonders krank erschien sie mir nicht mehr. »Tut mir leid, dass du als Erstes meinem blöden Bruder begegnen musstest. Ich war leider nicht schnell genug an der Tür.« Sie schickte einen grimmigen Blick in seine Richtung. Dann sah sie zu mir. Und wieder zu ihm.

»Wieso starrt ihr denn so?«, fragte sie irritiert. »Fall bloß nicht auf sein hübsches Gesicht rein«, fügte sie schnell an mich gewandt hinzu. »Er ist nicht so nett, wie er aussieht.«

»Quatsch, ich steh eh nicht auf dunkelhaarige Typen.« Es war heraus, bevor ich mir auf die Zunge beißen konnte. Ich wollte bloß Lulu damit gefallen. Aber als ich versuchte, einen entschuldigenden Blick in Lucas’ Richtung zu schmuggeln, sah ich, wie ihm sein Lächeln aus dem Gesicht rutschte und einem Ausdruck vollkommener Gleichgültigkeit Platz machte. Was seitdem Lucas’ Grundhaltung mir gegenüber zu sein schien. Nicht einmal seinen Pullover hat er je zurückgefordert.

Nachdem ich eine knappe Million Mal darüber nachgegrübelt hatte, war ich mir inzwischen völlig sicher, dass Lucas’ Lächeln nichts, aber auch wirklich gar nichts zu bedeuten hatte. Nur änderte das leider überhaupt nichts daran, dass mein Herz immer noch nicht kapiert hatte, dass es sich nicht lohnte, schneller zu klopfen, bloß weil Lucas das Zimmer betrat, und mein Magen auch immer noch zu blöd war, um nicht zu flattern, bis mir flau wurde. Immerhin schien man mir das innerliche Geflatter und Geklopfe nicht anzusehen. Lulu hatte jedenfalls noch nichts davon gemerkt.

Anfangs erzählte ich ihr nichts, weil ich fürchtete, dass sie mir sofort wieder die Freundschaft kündigen würde, wenn sie von meiner Schwärmerei für die Person erfuhr, die sie am wenigsten auf der Welt ausstehen konnte. Und dann wurde das Geheimnis irgendwie zur Gewohnheit. Es fand sich einfach nie der richtige Zeitpunkt, um Lulu meine Gefühle für Lucas zu beichten.

Mittlerweile fürchtete ich, sie würde es als Hochverrat an unserer Freundschaft betrachten, wenn sie herausbekam, dass ich Lucas keineswegs so unausstehlich fand wie sie. Und dass ich es ihr die ganze Zeit verschwiegen hatte. Deshalb mussten meine Gefühle ein besser gehütetes Geheimnis bleiben als die Geheimakten der CIA und das Originalrezept von Coca-Cola zusammen. Leicht war das nicht gerade. Denn eigentlich erzählten wir uns alles.

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»Nicht, dass ich meinem blöden Bruder recht geben wollen würde, aber ich schätze, wir müssen wirklich langsam los.« Lulu betrachtete den Uhrenanhänger. »Es ist schon kurz vor sechs.«

»Funktionieren die etwa?« Ich begutachtete meinen eigenen Anhänger. Die Zeiger standen ebenfalls auf kurz vor sechs. »Muss man die nicht aufziehen, oder so?«

»Vielleicht sind Batterien drin.« Lulu schwang sich vom Bett und streckte mir die Hände hin, um mir hochzuhelfen. Mir erschien es zwar unwahrscheinlich, dass so alte Uhren mit Batterien betrieben sein sollten, doch ich beschloss, dass es im Moment nicht so wichtig war. Vielleicht hatte Alexa ja auch dafür eine Erklärung.

»So gehst du mir aber nicht aus dem Haus.« Lulu begutachtete kritisch mein Gesicht. »Auch wenn ich Pandas süß finde.« Sie kramte in ihrem Nachtschränkchen herum und zog schließlich ein Feuchttuch hervor, mit dem sie unter meinen Augen herumzutupfen begann.

»Schon besser«, erklärte sie schließlich zufrieden, schnappte sich ihren Lipgloss vom Nachttisch und verteilte ihn großzügig auf ihrem Scarlett-Johansson-Mund. Sofort stieg mir der verführerische Schokoladenduft in die Nase.

»Ist eigentlich noch was vom Geburtstagskuchen übrig?«, fragte ich hoffnungsvoll. Sylvia hatte sich mit einem zuckerfreien Dinkel-Vollkorn-Zucchini-Kuchen selbst übertroffen und ich lechzte seit dem Morgen nach einem Gebäck mit mehr als zweieinhalb Kalorien auf hundert Gramm.

»Ob noch was da ist?« Lulu lachte laut. »Meine Mutter hat mal wieder genug für ein ganzes Kinderheim gebacken. Bedien dich ruhig. Die Reste müssen wir ohnehin gleich fürs Buffet in die Schule mitnehmen.«

Lulu hatte nicht zu viel versprochen. In der Küche standen auf dem Tisch schon vier Tupperdosen mit den Ausmaßen von Umzugskartons bereit, die bis oben hin mit Törtchen gefüllt waren. Ich öffnete den Deckel einer Box, sog den süßen Duft ein und ließ die Finger darüber kreisen, wie immer unfähig, mich für eins der köstlichen Küchlein zu entscheiden. Schließlich fiel meine Wahl auf die Pasteis de Nata, Blätterteig-Törtchen, deren Namen man »Pasteisch« aussprach, wie ich mittlerweile wusste, und denen ich wegen ihrer sahnigen Cremefüllung nie widerstehen konnte.

»Erst stundenlang stylen und jetzt auch noch futtern … Auf euch zu warten ist schlimmer als auf den Schulgong. Bei dem weiß man wenigstens, dass er irgendwann kommt.« Lucas schlenderte in die Küche und zog ein genervtes Gesicht. Ein hübsches genervtes Gesicht, das ließ sich leider nicht leugnen.

In seiner löchrigen schwarzen Jeans, einem schwarzen Shirt mit verwaschenem Bandlogo und mit den vom Duschen noch feuchten Haaren sah er nicht gerade abstoßend aus. Mein Herz schlug einen kleinen Trommelwirbel. Aber zumindest mein Pokergesicht schien gut zu sitzen, zumindest bemerkte niemand meinen inneren Aufruhr.

»Hör auf zu stänkern«, fauchte Lulu ihren Bruder an. »Nur weil stylen bei dir bedeutet, in die Luft zu spucken und drunter durchzurennen, musst du dich nicht gleich so aufspielen.«

Lucas verdrehte als Antwort die Augen. Im Augenverdrehen erreichte er olympisches Niveau.

»’usch, ’usch, meine Lieben. Es ist an die Seit.« Marisa wehte in die Küche und wedelte wild mit den Händen, um uns hinauszuscheuchen. Sie war eine kleine, kugelige Person mit scheinbar unerschöpflicher Energie und einem starken portugiesischen Akzent. Was sie nicht daran hinderte, doppelt so schnell zu sprechen wie jeder andere Mensch, den ich kannte.

»Ihr seht sauber’aft aus, meine Schätsschen.« Marisa tätschelte ihrer Tochter die Wange, was Lulu mit einem lauten Seufzen quittierte. Aber ich fand es wunderbar, Marisas »Schätsschen« zu sein.

»Und du, Sohn, ssum anbeisen!« Sie strich Lucas die widerspenstigen Haare aus der Stirn.

»Können wir dann endlich? Wir wollen um halb sieben mit dem Soundcheck anfangen!«

Lucas stapfte voraus in den Flur, wo er bereits seine Gitarre geparkt hatte, sodass Lulu und mir nichts anderes übrig blieb, als die vier großen Tupperdosen zu übernehmen.

Zuerst tastete ich aber noch einmal nach dem Anhänger, der mir um den Hals baumelte, und warf einen schnellen Prüfblick darauf. Die Uhr zeigte exakt Viertel nach sechs.

3

»Pünktlisch um ssehn, verstanden?«

»Jaha.« Lulu schlängelte sich als Erste aus dem Auto und ich folgte ihr. Lucas, der vorne gesessen hatte, holte bereits seine Sachen aus dem kleinen Kofferraum des alten Twingo, den Lulus Eltern angeschafft haben mussten, als sie gerade frisch verheiratet gewesen waren.

Für zwei Menschen, die sich sehr gern hatten, hatte der babyblaue Twingo vermutlich die optimale Größe. Drei Teenager, eine Gitarre, einen Verstärker und vier riesige Tupperdosen mit Törtchen darin unterzubringen, war eine sportliche Herausforderung, die vor allem darin bestand, beim Aussteigen aus dem Zweitürer nicht sämtliche Tupperdosen auf den Bordstein vor dem Schultor fallen zu lassen. Erst hielt ich die Dosen, dann reichte ich sie Lulu nach draußen, die beinahe hinter dem Tupperturm auf ihrem Arm verschwand.

»Und wenn isch ssehn sage, meine ich ssweiundswanssisch Uhr nach deutsche Seitverständnis, nicht nach portugiesische. Also nicht ssehn nach ssehn und nicht sswansig nach ssehn, sondern Punkt ssehn!« Auch wenn Marisas Zunge lustig über die vielen Z stolperte, bestand kein Zweifel daran, wie ernst sie es meinte. Lulus Mutter war in vielen Punkten entspannt, zum Beispiel, was das Chaos in Lulus Zimmer betraf oder ihren kreativen Kleidungsstil. Aber wenn Lulu nur fünf Minuten nach der vereinbarten Zeit nach Hause kam, herrschte bei den da Costas Gewitterstimmung.

»Ich warte hier an die Tor.«

»Jaha«, wiederholte Lulu mit Nachdruck.

»Viel Spaß«, rief Marisa uns noch hinterher, doch Lulu warf bereits mit einem eleganten Schwung ihres Hinterteils die Autotür zu. Sie eilte so schnell Richtung Schule, dass ich keine Gelegenheit hatte, ihr wenigstens ein oder zwei der Tupperdosen abzunehmen, die sie einer akrobatischen Darbietung ähnlich auf den Armen balancierte.

»Meine Mutter nervt!«, beschwerte meine Freundin sich, während wir durch das Schultor liefen.

»Sie macht sich halt Sorgen«, verteidigte ich Marisa abwesend, weil ich damit beschäftigt war, den Schulhof nach der Gestalt von Lucas abzusuchen. Aber der war bereits in der gegenüberliegenden Sporthalle verschwunden.

»Ja klar«, ätzte Lulu. »Weil eine Schulparty ja auch so wahnsinnig gefährlich ist. Passiert dauernd, dass Teenager auf Schulpartys entführt werden. Quasi jede Woche … Da!« Sie fuhr herum, was den Tupperdosenstapel in eine bedenkliche Schieflage brachte. »Siehst du? Meine Mutter steht immer noch da und schaut uns hinterher. Was glaubt sie eigentlich, wie alt ich bin? Fünf?«

Lulu schnaubte wütend und drückte mir ohne Vorwarnung den Dosenstapel in den Arm, um ihrer Mutter vehement zum Abschied zu winken. Tatsächlich trat Marisa daraufhin so kräftig aufs Gas, dass der babyblaue Twingo unter vernehmlichem Protest losbrauste. Sie hupte dreimal laut zum Abschied und verschwand.

Das bekam ich allerdings nur aus dem Augenwinkel mit. Denn ich war vollauf mit dem Versuch beschäftigt, die schwankenden Tupperdosen wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Was leider nicht funktionierte! Die Dosen mit ihrem süßen Inhalt rutschten, stürzten und landeten eine über der anderen mit lautem Poltern auf dem Schulhof. Eine der Boxen verlor prompt ihren Deckel, sämtliche Törtchen kullerten heraus und verteilten sich um meine Füße auf dem Schulhof.

»Achtung, die Schwerkraft ist heute wieder besonders heimtückisch«, vernahm ich eine mir nur allzu vertraute Stimme. Und schon wehte meine Stiefschwester Sophie in einer süßlichen Parfümwolke durch das Schultor herein, dicht gefolgt von ihren zwei unvermeidlichen Begleiterinnen, Doreen und Daphne. Lulu und ich hatten Sophies Schatten der Einfachheit halber die Doppel-Ds getauft, was sowohl ihrem gut gepolsterten Brustumfang als auch ihrer Intelligenz – doppelt doof – entsprach.

Eigentlich passten die beiden gar nicht zu meiner Stiefschwester. Ich vermutete, sie waren nur mit ihr befreundet, weil sie sie gelegentlich die Hausaufgaben abschreiben ließ. Und Sophie konnte froh sein, überhaupt Freundinnen zu haben.

»Um deine feinmotorischen Fähigkeiten würde dich jede Dampfwalze beneiden.« Mit hocherhobener Nase schritt Sophie an mir und dem Törtchendesaster vorbei. Die Doppel-Ds folgten ihr kichernd, dabei war ich mir ziemlich sicher, dass sie nicht wussten, was feinmotorische Fähigkeiten überhaupt waren.

»Und auf deine emotionale Intelligenz wäre jeder Zombie neidisch«, rief Lulu Sophie hinterher, aber meine Stiefschwester streckte bloß ihr Näschen noch etwas höher gen Himmel und klapperte Richtung Sporthalle davon, von wo bereits die gedämpften Bässe des Soundchecks zu uns drangen. Dass Sophie es sogar auf hohen Hacken schaffte, grazil wie eine Primaballerina herumzutrippeln, war ein unwiderlegbarer Beweis dafür, dass wir aus komplett unterschiedlichen Genpools stammten.

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