Paul Engleman
Tod von zarter Hand
Roman
Aus dem Amerikanischen von Mechtild Sandberg-Ciletti
FISCHER Digital
Paul Engleman wurde 1953 in Nyack, Bundestaat New York, geboren. Nach dem Collegeabschluss arbeitete er in diversen Servicebranchen, bis er sich dazu entschloss, Schriftsteller zu werden. Sein Debüt ›Dead in Center Field‹ erschien 1983. Neben zahlreichen Artikeln in Zeitungen und Magazinen hat er weitere Kriminalromane publiziert.
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Warum der berühmte Baseball-Spieler der Mörder seiner Frau sein soll? Er ist schwarz – und sie weiß und steinreich ... Staranwalt O’Leary übernimmt den Fall.
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei FISCHER Digital
© 2018 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
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Impressum der Reprint Vorlage
ISBN dieser E-Book-Ausgabe: 978-3-10-562109-7
Es war einer jener herrlichen Frühlingstage, die die Fernsehmeteorologen so selbstgefällig anzukündigen pflegen, als hätten sie persönlich sie herbeigezaubert. Gleich als ich aus meiner Wohnung in der West 72. Straße trat, spürte ich, daß die ganze Stadt unerträglich froher Laune war. Die Kellnerin im Chock Full O’Nuts zwinkerte mir zu. Die Herren in den Nadelstreifenanzügen wichen den Wermutbrüdern mit freundlicher Nachsicht aus. Sogar die Taxifahrer waren höflich und besannen sich ihrer Bürgerpflichten, indem sie ab und zu bei Rot hielten.
Es war ein Wetter, wie ich es nicht mal mag, wenn ich keinen Kater habe.
Am Abend zuvor hatte ich tatenlos zusehen müssen, wie die Boston Bruins meine New York Rangers niedergemacht und den Stanley Cup gewonnen hatten. Ich pflege die Niederlagen meines Eishockey-Teams mit einer Flasche Tequila zu begießen, darum lief ich nur auf zwei Zylindern statt wie sonst auf drei, als ich auf dem Weg zu Jim Downey’s Steakhaus die Eigth Avenue überquerte.
Als ich aus dem qualvoll hellen Sonnenschein in die wohltuende Düsternis von Downey’s Bar trat, war ich im ersten Moment wie blind. Aber dann entdeckte ich den Mann, den ich suchte.
Mike O’Leary hing, wie er versprochen hatte, auf dem zweiten Hocker von hinten, auf demselben Platz, wo er gesessen hatte, als ich ihn vier Jahre zuvor das letztemal gesehen hatte.
Das war 1968 gewesen. Vieles hatte sich seitdem verändert. Zum einen war ich nicht mehr mit seiner Tochter verheiratet. Zum anderen war er nicht mehr mein Anwalt. Und drittens hatten wir seither kein Wort mehr miteinander gesprochen.
Bis zum gestrigen Tag.
Sein Anruf hatte mich überrascht, wie das Anrufe dieser Tage häufig tun. Ich krieg’ so selten welche. Das ist im allgemeinen ein schlechtes Zeichen bei einem Privatdetektiv. Aber mir machte es nichts aus.
Sechs Monate zuvor hatte ich ein stattliches Sümmchen geerbt, zumindest an meinen Maßstäben gemessen, und ich habe noch nie eingesehen, warum man arbeiten soll, wenn es nicht absolut notwendig ist. Ich habe auch nie zu denen gehört, die meinen, man müsse für den Lebensabend was auf die hohe Kante legen. Aber nach meinem vierzigsten Geburtstag im vergangenen Jahr sagte ich mir, es wäre vielleicht an der Zeit, endlich die Dinge wie ein erwachsener Mensch zu sehen. Nach mehreren tödlich langweiligen Abenden mit diversen Versicherungsvertretern und Börsenmaklern, entwickelte ich kurzentschlossen meinen eigenen Anlageplan.
Ich sag’ Ihnen gratis, wie er aussieht: Es gibt derzeit einen mündelsicheren Traber namens Albatross, der wahrscheinlich das beste Pferd in der Geschichte des Trabrennsports ist. Jedesmal wenn er läuft, setze ich fünftausend Dollar auf Sieg und Platz. Die Gewinne, die ich einstreiche, sind bescheiden, aber dafür ist der Einsatz ohne jedes Risiko.
Ich weiß selber nicht, wieso ich mich angesichts meiner zufriedenstellenden finanziellen Verhältnisse darauf einließ, mich mit meinem Ex-Schwiegervater zum Mittagessen zu treffen. Wahrscheinlich wollte ich nur das Telefongespräch so rasch wie möglich beenden. Oder – das gebe ich gar nicht gern zu – ich hatte vielleicht ein bißchen Sehnsucht nach den Tagen, als Mike O’Leary und ich auf den letzten zwei Hockern in Downey’s Bar trübe Winternachmittage mit ein paar Gläsern Whisky aufzuhellen pflegten.
O’Leary empfing mich mit dem für ihn typischen Gnomengrinsen. Ich sah, daß auf dem Tresen schon ein Glas Bourbon auf mich wartete. Er reichte mir die Hand, so klein wie ich sie in Erinnerung hatte, aber ein bißchen schwammiger.
»Ich nehme an, du trinkst immer noch Grand-Dad.«
»Seit heute morgen nicht mehr. Jetzt ist Baseball-Saison.«
»Ach, stimmt ja, Gin und Tonic.« Er wollte dem Barkeeper winken.
»Laß nur«, wehrte ich ab. »Ich tu’ einfach so, als wär’ noch Eishockey-Saison.«
»Hast du das Spiel gestern abend gesehen?«
»Ich war dort.«
O’Leary lachte, und mir fiel ein weiterer Grund ein, warum ich nie wieder mit ihm hatte reden wollen. Er war ein Fan der Boston Bruins, das Ekelhafteste, was es überhaupt gibt.
»Ich hab’ mir’s im Fernsehen angeschaut«, bemerkte er. »Tolles Spiel.«
»Zum Kotzen.«
»Für dich, ja, kann ich mir vorstellen.«
»Ich hoffe, du hast mich nicht hergebeten, um mit mir über Eishockey zu reden«, versetzte ich. »Wenn ich mich nämlich recht erinnere, ist das eines von vielen Themen, von denen du überhaupt nichts verstehst.«
»Wunderbar! Du bist so sarkastisch wie eh und je.«
O’Leary hatte immer noch dieses blöde Grinsen auf. Man kann es ihm nur vom Gesicht wischen, indem man ihm eins auf die Nase gibt. Das weiß ich aus persönlicher Erfahrung. Das einzige Mal erlebte ich O’Leary ohne das Grinsen, als ich ihn von dem Hocker kippte, auf dem er jetzt saß. Es war eine Wohltat gewesen. Nur später war’s nicht mehr so wohltuend. Mike O’Leary ist zwanzig Jahre älter als ich und ungefähr dreißig Zentimeter kleiner. Er ist gebaut wie der sprichwörtliche Hydrant. Man könnte vielleicht sagen, daß ich damals die Beherrschung verlor. Das kann einem bei Mike O’Leary leicht mal passieren.
Er haute mir auf den Rücken. »Lange her, was?«
»Vielleicht nicht lang genug.«
»Ach, komm doch. Du bist doch nicht etwa immer noch sauer auf mich? Ich hab’ lediglich die Interessen meiner Kleinen wahrgenommen. Das kann man einem Vater nicht verübeln.«
Sicher nicht. Nur war O’Learys »Kleine« inzwischen dreiunddreißig Jahre alt. Sie war fünfundzwanzig, als ich sie heiratete. Sie hatte die Schönheit ihrer Mutter und die schlechten Gewohnheiten ihres Vaters geerbt. Die herausragendste unter ihnen war ein Hang zum Alkohol und das Unvermögen, ihn zu verkraften. Wir lernten uns in McCabe’s Bar in der West 72. Straße kennen. Kathy arbeitete hinter dem Tresen, ich davor. 1964 machten wir die große Dummheit. Bei ihr war’s das erstemal, bei mir das zweitemal. Die Ehe hielt bis 1968.
Die Trennung sollte eigentlich kurz und schmerzlos vor sich gehen. Dachte ich. Schön dumm. Vor dem Scheidungsrichter spielte O’Leary ein paar Karten aus, die mich ganz nett in die Bredouille brächten. Zwei Jahre lang mußte ich jeden Monatsersten blechen. Nach einer Weile tat ich es einfach nicht mehr. Ich zog zwei wertvolle, wenn auch teure Lehren aus dieser Sache: erstens, traue niemals einem Rechtsanwalt; zweitens, traue niemals deinem Schwiegervater.
Wieso hockte ich dann jetzt wieder mit dem Kerl zusammen? Vielleicht weil ich, wie meine Mutter zu sagen pflegte, ein Spätzünder bin. Vielleicht aber verschaffte es mir auch eine gewisse Genugtuung zu wissen, daß O’Leary schon schwer in der Tinte sitzen mußte, wenn er mich um Hilfe angehen mußte – und daß ich ihn abblitzen lassen konnte.
Doch als ich über den Rand meines leeren Glases hinweg den grinsenden kleinen Gnom ansah, ging mir auf, daß es einen ganz simplen Grund hatte. Ich mochte ihn einfach.
»Nein, ich bin nicht mehr sauer auf dich, Mike. Du bist zwar ein altes Schlitzohr, aber gar nicht so übel.«
Er versetzte mir einen freundschaftlichen Rippenstoß. »Na also. Los, trinken wir noch eine Runde.«
»Und was sagst du zu meiner guten alten Nase?« fragte er und drehte den Kopf, um sich im Profil zu zeigen.
Auf meinen Vorschlag hin hatten wir uns ins Restaurant gesetzt und Steaks bestellt. Ich hielt es für geraten, mir für die vielen Whiskys, die zweifellos noch folgen würden, eine Unterlage zu schaffen.
»Sieht aus wie immer«, antwortete ich. »Knollig, rot und häßlich.«
»Du hast sie mir ja auch gleich zweimal gebrochen. Hat mich zwei Riesen gekostet, sie richten zu lassen.«
»Reg dich nicht auf. Das ist nur die Hälfte von dem, was du mir an Unterhalt abgeknöpft hast.«
»Ach was, komm schon. Sagen wir, daß wir quitt sind. Du hättest die Mäuse sowieso auf der Rennbahn oder in der Kneipe verbraten.«
»Ganz im Gegensatz zu Kathy, die das Geld bestimmt sehr sinnvoll angelegt hat.«
»He, sei vorsichtig. Sie ist seit zwei Jahren trocken.«
»Ja, hab’ ich gehört. Sehr gescheit von ihr.«
»Du hast sicher auch gehört, daß sie wieder geheiratet hat.«
Ich nickte, und er seufzte.
»Der Bursche, den sie geheiratet hat, ist ja ein netter Kerl, aber stinkfade. Und trinken tut er auch nicht. Sie haben sich in Verona, ganz in meiner Nähe, ein Haus gekauft. Manchmal fahr ich sonntags rüber, aber ich halt’s kaum aus. Die haben nicht mal eine Dose Bier im Haus. Ich krieg’ jedesmal Entzugserscheinungen, wenn ich dort bin.«
Ich werde auch ab und zu sentimental, aber mir fehlten die alten Zeiten nicht so wie O’Leary. Im Gegensatz zu ihm war ich froh, daß sie vorbei waren.
»Wie wär’s, wenn du mir jetzt mal erzählst, was du eigentlich willst, Mike.«
Er sah auf seine Uhr. »Wieso hast du es so eilig? Laß uns doch erstmal ein bißchen von den schönen alten Zeiten reden, eh’ wir aufs laufende kommen.«
Nach drei Drinks brauchte O’Leary im allgemeinen Stunden, um aufs laufende zu kommen, und man kam dabei keinen Schritt vorwärts.
»In Erinnerungen können wir später schwelgen«, sagte ich. »Mir wär’s lieber, du sagst mir jetzt, wo du noch halbwegs nüchtern bist, was du für Schwierigkeiten hast.«
»Schwierigkeiten? Wie kommst du denn auf die Idee?«
»Aus zweierlei Gründen, mein Lieber. Du wärst wahrscheinlich überhaupt nicht extra nach New York gekommen, wenn’s nicht wichtig wäre. Und du wärst schon gar nicht hier in die Kneipe gekommen, um ausgerechnet mit mir zu reden, wenn du nicht auf dem letzten Loch pfeifen würdest. Also, was ist passiert? Bist du ins Fettnäpfchen getreten?«
»Nein, Schlaumeier, das bin ich nicht. Die Sache ist total legitim. Ich brauch’ einen guten Detektiv, und da hab’ ich eben an dich gedacht. Ich mein’, nur weil du ein lausiger Ehemann warst, bist du ja nicht auch gleich ein lausiger Detektiv.«
»Du bist auch nicht gerade der Welt bester Schwiegervater«, versetzte ich bissig. »Ehrlich gesagt, bist du nicht mal ein mittelmäßiger Anwalt.«
Er prustete mir eine Ladung Scotch ins Gesicht. Auf Knalleffekte hatte sich Mike immer schon verstanden. Ein Kellner und ein Page stürzten zu uns an den Tisch, zweifellos in der Hoffnung, wir wären nun endlich zu zahlen bereit.
Mike enttäuschte sie. »Noch mal das gleiche«, sagte er und wandte sich wieder mir zu. »Ich kann in deinem Interesse nur hoffen, daß du’s nie mit einem guten Anwalt zu tun kriegst, Renzler. Wenn es schon so ein Ausbund an Mittelmäßigkeit wie ich mühelos schafft, dir das Fell über die Ohren zu ziehen.«
Ich wartete, bis sein wieherndes Gelächter nachgelassen hatte, ehe ich sagte: »Kommen wir zur Sache, Mike.«
»Was denn? Willst du anfangen, Doppelte zu trinken?«
Er wollte zur nächsten Lachsalve ansetzen, aber dazu ließ ich es nicht kommen. »Hör endlich auf mit dem Quatsch«, fuhr ich ihn an und wunderte mich wieder einmal darüber, daß ich diesem Burschen in vier Jahren der Bekanntschaft nur einmal eins in die Fresse gegeben hatte.
»Okay, okay. Es geht um Dwight Robinson. Sagt dir der Name was?«
Jeder, der sich auch nur am Rande für Baseball interessiert, hat von Dwight Robinson gehört. Ich neige, was diesen Nationalsport angeht, zum Fanatismus; selbstverständlich war Robinson mir ein Begriff.
Vor zwei Jahren war er die Nummer eins bei den New Yorker Yankees gewesen, der größte Star seit Mickey Mantle. So nannte man ihn auch – den schwarzen Mickey Mantle. Ein Naturtalent, ein absolutes Phänomen und der lebende Beweis dafür, daß die klassische amerikanische Erfolgsgeschichte immer noch möglich war.
Er wuchs in einer Wohnsiedlung in Paterson auf, so ziemlich der schlimmsten Stadt von ganz New Jersey, und wenn Sie Newark, Trenton oder Camden kennen, wissen Sie, was das heißt. Als Robinson mit siebzehn Jahren von der high school abging, hatte er fast sämtliche Baseballrekorde gebrochen – darunter auch einen von mir aufgestellten, aber das ist eine andere Geschichte.
1971 kam Dwight Robinsons rasanter Aufstieg vor einer Hamburger-Bude in Wayne Township zu jähem Halt. Ich kenne auch diesen hübschen Teil des Garden State, wenn ich auch seine Entwicklung nicht mit dem gleichen Eifer verfolgt habe wie Robinsons. Meine Eltern lebten in den frühen fünfziger Jahren eine Weile in der Gegend, lange bevor man überhaupt daran dachte, die Felder und Wiesen umzuackern und mit Betonklötzen zu bepflanzen.
Robinson wurde mit Marihuana erwischt, und zwar in Mengen, die vermuten ließen, daß er weiterverkaufen wollte. Er nahm sich einen erstklassigen Anwalt – nicht Mike O’Leary – und kam mit Bewährung davon. Aber die Yankees beschlossen, ihrem Star den Laufpaß zu geben. Es gab Gerüchte, daß andere Vereine sich für Robinson interessierten, aber der Commissioner of Baseball erstickte alles Gerede im Keim. Er verwies Dwight Robinson auf Lebenszeit des Feldes.
Es gab Leute, die diese Strafe, mit der ein Exempel statuiert werden sollte, zu streng fanden. Ich gehörte auch zu ihnen; ich kann trotz meiner vierzig Jahre manchmal überraschend liberal sein. Außerdem hatte ich während meiner kurzen Karriere als Baseballspieler bei einem der kleineren Vereine genug gesehen, um zu wissen, daß Dwight Robinsons Vergehen nicht einmalig war.
Die Geschichte wird noch schlimmer. Der Ausschluß aus dem Baseballverband war eine Lappalie im Vergleich zu dem Absturz, der folgte. Am Dienstag, dem 9. Mai, fand Robinson den Zeitungen zufolge, als er abends nach Hause kam, seine einundzwanzigjährige Frau Cynthia tot im Wohnzimmer seines Hauses. Er alarmierte die Polizei, die ihn nach einer ersten Untersuchung prompt unter Mordverdacht festnahm.
Ich habe ganz allgemein meine Zweifel an der Tüchtigkeit der Bullen. Mit gutem Grund. Ich war mal eine Zeitlang bei der New Yorker Polizei. Aber nach allem, was ich gelesen und gehört hatte, war dies einer der wenigen Fälle, wo die Bullen auf Anhieb den Richtigen geschnappt hatten.
»Klar weiß ich von der Sache mit Robinson«, sagte ich zu Mike. »Die Zeitungen sind ja seit einer Woche voll davon. Aber was hast du mit der Geschichte zu tun?«
»Ich soll ihn verteidigen.«
»Heiliger Strohsack!« Diesmal war ich es, der dem Kellner winkte. »Da wirst du schwer zu schaffen haben.«
»Stimmt.« Er grinste breit. »Und du auch.«
Ich hob abwehrend den Arm. »Moment mal! Nicht so hastig. Ich finde, du bist ein bißchen voreilig.«
Er zuckte die Achseln. »Kann schon sein. Aber du hattest immer schon ein Herz für die aussichtslosen Fälle. Und schau dir doch mal die Ähnlichkeiten an: ein Junge aus dem Norden von New Jersey. Angehender Baseballstar. Die Karriere endet, noch ehe sie angefangen hat. Abgesehen von ein paar Ausnahmen könnte das deine Geschichte sein.«
»Abgesehen von ein paar großen Ausnahmen, mein Lieber. Ich hab’ meiner Karriere nicht selber ein Ende gemacht. Jemand anderer beendete sie für mich. Und ich hab’ meine Frau nicht umgebracht.«
»Dwight Robinson seine auch nicht«, entgegnete Mike. »Der Junge ist unschuldig.«
»Woher willst du das wissen? Soviel ich weiß, hat er kein Alibi.«
»Doch, er hat eins. Er hat nur keinen Gebrauch davon gemacht.«
»Und warum nicht?«
»Darüber darf ich nichts sagen.«
Ich zog noch einmal an meiner Zigarette, dann drückte ich sie aus. »Wie bist du überhaupt an den Fall gekommen?«
»Ich hab’ mir praktisch alle Spiele mit Robinson angesehen. Meiner Meinung nach hat der Baseballverband ihn ganz gemein in die Pfanne gehauen. Heutzutage raucht doch praktisch jeder zweite mal Marihuana. Der Junge tat mir leid.« Wieder dieses gnomenhafte Grinsen. »Und ich hab’ genau wie du ein Herz für aussichtslose Fälle.«
»Pro bono?«
Er nickte. »So ziemlich.«
»Blödsinn. Du hast in deinem ganzen Leben noch nichts umsonst getan.«
Mike spielte den Gekränkten. »Vielleicht hab’ ich mich in den letzten Jahren verändert.«
»Wenn ja, dann höchstens zum Schlechten. Wer hat dich beauftragt?« Er grinste jetzt von einem Ohr zum anderen. »Ja, ja, ich weiß schon«, sagte ich. »Darüber darfst du nichts sagen.«
»Stimmt genau.«
Mike hob seine schwarze Aktentasche vom Boden auf, ein Prachtstück aus Kunstleder, das ihn midestens fünf Dollar gekostet hatte und in seiner Schäbigkeit kaum noch als Aktenmappe zu erkennen war.
»Ich hab’ hier alles, was du brauchst, um gleich anfangen zu können«, sagte er und schob mir ein Bündel Papiere über den Tisch. »Polizeibericht, Zeugenaussagen, Hintergrundinformationen. Eine Liste der Leute, mit denen du dich mal unterhalten solltest, ist auch dabei. Ich dachte mir, du könntest dir die Unterlagen übers Wochenende mal durchsehen.« Er hielt kurz inne. »Lesen kannst du doch, oder?«
»Ja doch. Ich hab’ sogar zwei Jahre College. Vielleicht setz’ ich mich eines Tages sogar noch hin und mach’ mein Diplom. Du erinnerst dich wohl nicht zufällig, wo du deines bekommen hast?«
Er schlug mir lachend auf den Arm. »Wie in alten Zeiten, hm?«
»Genau, Mike. Wie in alten Zeiten.«
»Wenn du nach der Lektüre Fragen hast, können wir die bei einem Drink besprechen.«
»Klar, wunderbar. Wie wär’s morgen früh um neun?«
»Ich glaub’ nicht, daß das nötig sein wird. Das können wir auch telefonisch erledigen. Aber ein anderer Punkt wäre jetzt gleich zu besprechen.«
Er zog seine Brieftasche heraus. Sie paßte vorzüglich zu der Aktenmappe.
»Das war mir klar.« Er legte zwei Fünfziger auf den Tisch. »Fünfzig pro Tag, wenn ich mich recht erinnere.«
»Du hast ein hervorragendes Gedächtnis. Aber in Jersey kostet es das Doppelte.«
Er zuckte die Achseln. »Okay, kein Problem.«
»Und da du der Auftraggeber bist, kostet es das Dreifache.«
»Du willst mich wohl verarschen?«
Ich lächelte wie die Unschuld vom Lande. »Würde ich dich verarschen, Mike?«
Ich hockte fast den ganzen Samstag über den Papieren, die Mike O’Leary mir mitgegeben hatte. Das heißt, der Tag war schon halb um, als ich es endlich schaffte, mich aus dem Bett zu wälzen und ins Wohnzimmer zu wanken, das mir gleichzeitig als Büro dient. Unterwegs schluckte ich mehrere Aspirin und goß vier Tassen Kaffee nach. Das Mittagessen mit Mike hatte sich bis Mitternacht hingezogen.
Wenn es ans Sammeln von Informationen geht, ist Mike genauso gründlich wie beim Trinken; es mangelte also nicht an Lesematerial. Vieles davon war mir jedoch bereits bekannt. Mord findet bei den Zeitungen immer Anklang, jedenfalls bei denen, die ich lese. Und Gattenmord, besonders wenn die Ehefrau eine Weiße und der Ehemann ein Schwarzer ist, wird mit besonderer Vorliebe ausgeschlachtet. Da kriegt man einfach alles zu lesen, ob man will oder nicht.
Doch der Fall Robinson war noch mehr als nur ein Zeitungsknüller; hier war der amerikanische Traum in einen Alptraum umgeschlagen. Stoff für einen großen Hollywood-Film. Es hätte mich interessiert, ob Mike O’Leary schon daran gedacht hatte, sich die Verfilmungsrechte zu sichern.
Dwight Robinson heiratete Cynthia Vreeland am 13. Juni 1970. Er war einundzwanzig, sie neunzehn Jahre alt. Man könnte sagen, daß sie einiges gemeinsam hatten. Er war der zweite Mickey Mantle, sie war die Schönheitskönigin ihrer high school. Beide wuchsen sie in New Jersey auf; er in einer Wohnsiedlung für unterprivilegierte Familien in Paterson; sie in einem Nobelviertel namens Mountain Lake in Wayne Township.
Sie lernten sich im Mountain Lake Golfclub kennen, den ihr Vater gegründet hatte und wo Dwight als Caddy arbeitete. Er stand auf der gesellschaftlichen Leiter mindestens zwei Sprossen unter ihr, aber er war bereit, eine höher zu steigen, wenn sie sich dazu durchringen konnte, eine tiefer zu steigen. Sie einigten sich auf ein Einfamilienhaus in einem gutbürgerlichen Wohnviertel von Wayne. Keine zwei Jahre nach ihrer Heirat war er nicht mehr auf dem Baseballfeld und sie nicht mehr auf dieser Welt.
Dwight behauptete, Cynthia wäre schon tot gewesen, als er am Dienstag abend kurz vor Mitternacht nach Hause gekommen war. Sein älterer Bruder Dexter war bei ihm, als er die Polizei anrief. Sie erklärten, sie wären zusammen in einer Kneipe gewesen. Zu Dwights Pech stellte sich heraus, daß Dexter allein in der Kneipe gewesen war.
Die Bullen hatten schnell mehrere Zeugen gefunden, die Dexter gesehen hatten. Danach gab Dexter bald zu, daß Dwight ihn angerufen und gebeten hatte, zu ihm zu kommen. Und als man ihm noch etwas härter auf den Zahn fühlte, gestand er, sie hätten das Haus verwüstet, um den Anschein eines Einbruchs zu erwecken.
Das Ganze war absolut dilettantisch.
Dem Coroner zufolge war Cynthia an der Wirkung eines schweren Schlags auf den Kopf gestorben. In einer Mülltonne auf dem Nachbargrundstück fanden die Bullen eine von Dwights Baseballtrophäen aus der Zeit, als er noch in der Jugendliga gespielt hatte. Sie wies weder Fingerabdrücke noch Blutspuren auf. Man brauchte kein Genie zu sein, um darauf zu kommen, daß sie gründlich abgewischt worden war.
Wenn die Polizei jemanden unter Mordverdacht festnimmt, sucht sie gleich nach einem Motiv. In Robinsons Fall fand sie ein durchaus überzeugendes: Zwei Wochen vor dem Mord hatte Cynthia ihrem Vater mitgeteilt, sie wolle sich scheiden lassen. Thomas Vreeland hatte ausgesagt, sie hätte vorgehabt, ihrem Mann dies am Abend des Mordes zu eröffnen.
Dann waren da die Zeugen.
Robinsons nächste Nachbarin, eine alte Dame namens Anna Paslawski, hörte Dwight und Cynthia am frühen Abend streiten. Gegen sieben, als sie auf dem Weg zur Kirche war, sah sie ihn wegfahren. Um zehn Uhr herum hörte sie ihn zurückkommen und ein paar Minuten später mit quietschenden Reifen wieder davonbrausen.
Alte Damen, die abends zur Kirche gehen, sind nicht immer die besten Zeugen. Männer, die aus Langeweile im Fenster liegen, sind oft nicht übel. Warren Shepherd gehörte zu dieser Sorte; er hatte sich um zehn Uhr abends die Zeit damit vertrieben, aus dem Fenster zu schauen.
Shepherd wohnte den Robinsons gegenüber. Er sah, wie Robinson etwas in Anna Paslawskis Mülltonne warf und dann in seinem Wagen, der am Bordstein hinter Shepherds geparkt war, davonfuhr. Als er abzischte, nahm er das linke Rücklicht von Shepherds Pontiac mit. Später stellten die Bullen fest, daß an Dwight Robinsons weißem Cadillac der rechte vordere Scheinwerfer eingeschlagen war.
Es war beruhigend zu wissen, daß Robinson ein geheimes Alibi hatte. Um seinetwillen konnte ich nur hoffen, daß es hieb- und stichfest war. Trotz der Informationen, die Mike O’Leary mir gegeben hatte, fiel es mir schwer, an die Unschuld seines Mandanten zu glauben.
Als ich mit der Lektüre fertig war, rief ich meinen Freund Nate Moore an. Ich wollte sehen, ob ich ihn nicht zu einer Fahrt nach New Jersey verlocken konnte.
Nate ist seit fünfzehn Jahren mehr oder weniger mein Geschäftspartner. Für ihn ist das Detektivspielen ein Hobby und eine Abwechslung. Hauptberuflich ist er Maler. Kunstmaler, nicht Anstreicher. Zum Glück ist er nicht von meinen Aufträgen abhängig; da müßte er nämlich des öfteren von Wasser und Brot leben. Und das wäre nichts für ihn.
Nate hat einen gesegneten Appetit. Er ist ein großer, kräftiger Mann, so ziemlich der stärkste Bursche, den ich kenne. Was für eine Hilfe er mir da in meinem Gewerbe sein kann, brauche ich Ihnen wohl nicht zu sagen.
Im vergangenen Sommer wurde Nate mir auch noch zum finanziellen Wohltäter. Zu meinem vierzigsten Geburtstag schenkte er mir ein Riesengemälde mit dem Titel »The Garden State«. Es zeigt einen großen grünen, scheußlichen Müllcontainer, aus dem ein einsamer Löwenzahn sprießt. Und an dem Löwenzahn tut sich ein Käfer von der Größe einer Taube gütlich.
Künstlerisch gesehen gehört das Werk nicht zu Nates besten. Aber die Wege der Kunstszene sind wie die Gottes und der Verbrecherwelt unerforschlich. Vorheriger Vereinbarung gemäß wurde »The Garden State« neben einigen Andy Warhols in einer Galerie im West Village ausgestellt. Am Tag nach der Eröffnung rief mich ein Sammler an und bot mir fünfzehntausend für den Schinken. Ich sagte, es wäre unverkäuflich. Worauf er zwanzigtausend bot.
Als ich Nate davon erzählte, kriegte er fast einen Anfall. »Mensch, bist du blöd? Verlang fünfundzwanzigtausend, und ich male dir noch mal das gleiche.«
Wir teilten uns den Erlös. Seitdem kann Nate sich vor Aufträgen kaum retten. Er ist der Mann der Stunde. Die Frauen reißen sich plötzlich um ihn, jede Talk-Show will ihn haben, er muß Vorträge halten und die Zeitschrift Rolling Stone will einen großen Bericht über ihn bringen.
Mein Freund nimmt den ganzen Rummel ziemlich gelassen hin. Trotz aller Hektik findet er die Zeit, samstags hin und wieder mit mir zum Trabrennen zu gehen.
»Wie war’s denn mit deinem Ex-Schwiegervater?« erkundigte er sich. »Hast du’s dir verkneifen können, ihm eine runterzuhauen?«
»O ja. Ich war sehr höflich. Ich hab’ mich sogar breitschlagen lassen, einen Auftrag für ihn zu übernehmen.«
»Na, das ist aber die Aussöhnung ein bißchen weit getrieben, meinst du nicht?«
Ich stimmte ihm zu. Mike O’Leary gehörte nicht zu den Leuten, an denen Nate einen Narren gefressen hatte.
»Aber es ist ein interessanter Fall«, erklärte ich. »Mikes Mandant ist Dwight Robinson.«
»Das ist wirklich interessant. Und Pech für Mr. Robinson. Wenn O’Leary ihn verteidigt, landet er wahrscheinlich auf dem elektrischen Stuhl und in der Gaskammer.«
»Ich könnte Hilfe gebrauchen, Nate. Hast du Lust auf ein bißchen harte Realität oder liefert dir deine derzeitige Freundin Hortense davon genug?«
»Ha, ha. Sehr witzig. Es wird dich freuen zu hören, daß Hortense zu ihrem Bildhauer in Queens zurückgekehrt ist. Da ich mich jedem Gedanken an den Eintritt in den heiligen Ehestand energisch widersetzt habe.«
Nate ist, wie Sie wahrscheinlich dieser Bemerkung entnommen haben, eingefleischter Junggeselle.
»Das heißt doch, daß wir nach New Jersey müssen«, sagte er.
»Natürlich. Gleich am Montag morgen.«
»Was hab’ ich in New Jersey zu suchen?« Nate läßt sich gern bitten.
»Na, diesem hübschen Staat hast du immerhin deine Berühmtheit zu verdanken.«
»Und weiter?«
»Ich lade dich zum Mittagessen ein.«
»Das ist schon überzeugender. Laß mich mal in meinem Kalender nachschauen.«
Bis zum Ausbruch seines plötzlichen Ruhms im vergangenen Jahr wußte Nate kaum je das Datum. Jetzt hat er gleich zwei Terminkalender; einen auf seinem Schreibtisch und einen kleinen, den er immer bei sich trägt.
»Ich bin die ganze Woche frei außer Mittwoch«, sagte er. »Da muß ich zu den Aufnahmen für Joe Franklin.«
Das war eine regionale Talk-Show, die seit mindestens fünfundzwanzig Jahren lief. Offiziell hieß sie »Straße der Erinnerung« und präsentierte dem Publikum ehemalige Berühmtheiten, deren Glanz trübe geworden war, und Unbekannte, die allenfalls zu bescheidenem Ruhm bestimmt waren.
»Was ist denn los? Ist dein Stern schon im Sinken?«
»Blödsinn. Das war immer mein Traum. Einmal bei Joe Franklin. Sag mal, stammt Robinsons Frau nicht aus einem Ort namens Mountain Lake?«
»Doch. Warum?«
»Weil ich gerade eine Einladung bekommen habe, da am Memorial Day, am 30. Mai, an einem Golfturnier teilzunehmen, zu dem nur berühmte Leute geladen sind.«
So klein ist die Welt. »Kommt Joe Franklin auch?«
»Keine Ahnung. Aber ich werd’ ihn fragen.«
Nieselregen empfing uns in New Jersey, als wir gegen den Strom des morgendlichen Berufsverkehrs über die George-Washington-Brücke fuhren. Nates wegen waren wir mit Verspätung weggekommen. Er hatte eine Kühltasche mitgenommen und mußte unbedingt noch Eis und Bier besorgen, ehe wir die Stadt verließen. Die Vorstellung, daß ihm das Bier ausgehen könnte, ist höchst beängstigend für ihn.
»Nur für den Fall«, erklärte er, als er sich in meinen Corvair zwängte.
»Wir fahren doch höchstens fünfundvierzig Minuten«, versetzte ich. »Und Bier kannst du da drüben an jeder Ecke kaufen.«
»Tatsächlich? Und was ist, wenn diese alte Rostlaube plötzlich stehenbleibt? Dann dauert’s womöglich Tage, ehe man uns findet.«
Ganz unberechtigt war der Einwand nicht. Der Corvair hatte zwar erst fünfzigtausend Meilen auf dem Tacho, aber ich fuhr ihn seit elf Jahren. Wenn er Mucken machen sollte, würde ich mir wahrscheinlich ein neues Auto kaufen müssen. Einer, der sich auf dem Gebiet auskennt, hatte mir gesagt, daß es kaum noch Ersatzteile gibt. Und das war 1967 gewesen.
Wegen einiger Baustellen waren wir etwas länger unterwegs, als ich geschätzt hatte, und kamen erst um Viertel nach zehn in Paterson an. Es gibt wahrscheinlich üblere Unterkünfte als das Bezirksgefängnis dort, aber auf Anhieb fiel mir nichts Schlimmeres ein. Nach allem, was Mike O’Leary mir berichtet hatte, würde es für die nächsten Monate Dwight Robinsons Zuhause sein. Man hatte seine Kaution auf fünfhunderttausend Dollar festgesetzt. Selbst wenn es Mike gelingen sollte, sie zu drücken, worum er sich bemühte, würde es schwierig sein, die zehn Prozent des festgesetzten Betrags aufzubringen, die hinterlegt werden mußten, um ihn aus dem Knast zu holen.
»Ich glaub’, das ist der Laden, wo Mike Bloomfield im letzten Sommer saß«, bemerkte Nate, während wir die schmutzige Backsteintreppe hinaufstiegen.
»Wer ist das?«
»Hast du nie von ihm gehört? Er leitete eine Band mit Namen Electric Flag und wurde hier in der Gegend mit Drogen erwischt.« Nate war stolz auf seinen Kontakt zur Welt der Jugend. Das ließ ihn vergessen, daß er in zwei Jahren fünfzig werden würde.
»Bist du für solchen Kram nicht ein bißchen alt?«
»So kann man’s sehen. Ich seh’s so, daß ich zu früh geboren wurde.«
Wir mußten es uns gefallen lassen, daß zwei bullige Wärter, denen ihre Arbeit offensichtlich Spaß machte, uns durchsuchten. Nate, der’s nicht mag, wenn ihm einer zu nahe kommt, war stocksauer.
»Kommt der Proktologe auch noch?« fragte er.
Der Mann, der ihn durchsuchte, hielt inne und starrte ihn verständnislos an. »Soll das komisch sein?«
Nate zuckte die Achseln. »Das müssen schon Sie mir sagen.«
»Hä?« der Wärter wandte sich ratsuchend seinem Kollegen zu, aber der hatte die Bemerkung offensichtlich auch nicht verstanden.
»Laß sie rein. Sie sind sauber«, sagte der Mann, der mich durchsucht hatte, und winkte einem dritten sauertöpfischen Kerl, der uns durch einen langen tristen Korridor in einen kleinen tristen Raum führte, wo Mike O’Leary und Dwight Robinson warteten.
Ich hatte in den Zeitungen Bilder von Robinson gesehen, aber sie wurden seiner imposanten Physis nicht gerecht. Er war nur knapp drei Zentimeter größer und vielleicht vier Kilo schwerer als ich mit meinen eins fünfundachtzig und neunzig Kilo Lebendgewicht, aber er wirkte wesentlich größer und kompakter. Vielleicht lag es an den Muskelpaketen, die sich unter den Ärmeln seines T-Shirts abzeichneten. Das kantige Gesicht mit den großen, forschenden Augen wirkte kalt und mißtrauisch.
Nachdem Mike uns miteinander bekannt gemacht hatte, setzten wir uns Robinson gegenüber an einen Aluminiumtisch, auf dem ein schmutziger Plastikaschenbecher stand. Daneben lag ein Taschenbuch von George Jackson mit dem Titel Soledad Brother. Offenbar hatte Robinson beschlossen, sich in die Welt der Bücher zu flüchten. Weit vorgedrungen war er allerdings noch nicht; dem Einmerker nach höchstens bis Seite 10. Mike blieb mit verschränkten Armen in der Ecke des kleinen Raumes stehen. Er grinste wie immer, aber ich wußte, daß er längst nicht so redseliger Stimmung war wie am Freitag zuvor, als wir zusammen gegessen hatten. Doch das würde sich ändern – nach dem Mittagessen.
»Renzler und Nate können Ihnen eine große Hilfe sein, Dwight«, erklärte er mit einem väterlichen Unterton in der Stimme. »Wenn sie rauskriegen können, wer Cynthia getötet hat, läßt sich der Fall schnell erledigen. Ich dachte mir, es könnte nicht schaden, wenn sie Sie persönlich kennenlernen, ehe sie mit ihren Nachforschungen anfangen.«