Gabriel Mendoza
Ich vergaß, dass ich dich vergaß, ich, der ich nichts vergesse
Roman
Aus dem Spanischen von Lisa Grüneisen
FISCHER Digital
GABRIEL MENDOZA, geb. 1964 in Mexico City, gewann mehrere Preise für seine Kurzgeschichten. Sein erster Roman «Ich vergaß, dass ich dich vergaß ...» war Finalist sowohl für den Alfaguara-Romanpreis wie für den Premio Nadal.
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Nelson Caramelo Valdés, gerade 70 geworden, ein Kubaner, Rumba-Musiker von Beruf und ein strahlender (wenn auch aus der Mode gekommener) Star aus der großen Zeit des Salsa, muss in weniger als 36 Stunden sein legendäres Orchester zusammentrommeln, um in die letzte Schlacht gegen seinen großen Konkurrenten zu ziehen. Leider gibt es zwei Hindernisse: Er weiß nicht, wo sich seine Musiker zur Zeit aufhalten, und die Stadt, in der er sie sucht, ist keine andere als Mexico City.
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei FISCHER Digital
© 2018 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: buxdesign, München
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Impressum der Reprint Vorlage
ISBN dieser E-Book-Ausgabe: 978-3-10-562114-1
Für Lázaro und Leonardo.
Sie wissen, warum …
* Jeden Montag träumte Nelson Valdés von seinem Vater. Er träumte, dass er ihn an der Ecke Galiano/Neptuno traf, wo der Alte in der Ladenkneipe saß, weil es draußen zu heiß war. Er hatte seinen Panamahut auf der großen Theke aus poliertem Kaobaholz abgelegt und trank mit seinen besten Freunden, die gleichzeitig die besten Rumbamusiker von Havanna waren, Polar-Bier. Da saßen Pancho Quinto, Malanga, Andrea Barón, Pablo Angarica, die Brüder Aspirina, Mulense und Chano Pozo; sie waren in ein milchiges Licht getaucht und verströmten einen Geruch nach ranzigem Leder. Sie trommelten, sangen einen alten Guaguancó und wirkten glücklicher als zu Lebzeiten. An dieser Stelle merkte Valdés, dass es ein Traum war, und beschloss aufzuwachen, aber es gelang ihm nur, die Augen zu öffnen.
Immer noch schlafend begann Nelson die alte Rumba zu summen, die sein Vater in der Kneipe gesungen hatte: «Ich vergaß, dass ich dich vergaß, ich, der ich nichts vergesse.» Es war unglaublich. Er sang, während er aufstand, so treffsicher pinkelte, wie man es einem, der die Rumbarasseln schüttelte, nicht zugetraut hätte, und den Warmwasserhahn der Dusche aufdrehte. Er musste den Schlafgeruch wegwaschen, der an der Haut haftete wie ein ehrenrühriger Fleck. So riechen die Alten da drüben in Havanna, dachte er immer. Ein wunderbarer Text für einen Danzón. Draußen über der Stadt dämmerte es, wie jeden Montag.
Doch der heutige Montag war anders. Nelson Valdés war letzte Nacht sehr lange wach geblieben. Er hatte am eigenen Leibe erleben wollen, wie es sich anfühlt, wenn man siebzig wird. Denn heute – um damit nicht länger hinterm Berg zu halten – war sein siebzigster Geburtstag. Aber obwohl er die ganze Nacht dagesessen und darauf gewartet hatte, dass etwas passierte, spürte er keine Veränderung. Überhaupt nicht. Das Alter, was auch immer das war, kam nicht über Nacht.
Vor lauter Müdigkeit war er so im Tran, dass er erst richtig wach wurde, als er seine tägliche Rasur beendet hatte. Der Geist, der irgendwo zwischen den Sternen umhergeirrt war, kehrte nur mühsam in den Körper zurück. Gerade noch rechtzeitig. Es war der Moment, in dem er das Rasiermesser auf das Waschbecken legte. Mann o Mann, ein Wunder, dass er sich nicht die Kehle durchgeschnitten hatte.
Aus dem Spiegel begegnete ihm sein prüfender Blick.
«Jetzt bist du alt», sagte er sich, um etwas zu sagen. «Du kommst in das Alter der Illusionen; siebzig ist das Alter der puren Illusionen.»
Das Handtuch hing an der Wand über der Kloschüssel, wie immer. Vielmehr war es die Hälfte eines solchen – oder irgendeines ansehnlichen Handtuchs –, denn es reichte gerade aus, um eine Extremität auf einmal abzutrocknen. Nelson bemerkte den betrüblichen Zustand des Lappens, scherte sich aber nicht weiter darum. Der Eindruck, den der Traum von seinem Vater auf ihn gemacht hatte, hinderte ihn daran, diesen Morgen anständig zu begehen. Mist, dachte er. Ich hab wieder vergessen, Pipo zu sagen, dass ich nach Mexiko gegangen bin.
Seit fünfzig Jahren träumte er Montag für Montag von seinem Vater und wachte jedes Mal auf, wenn er ihm das von seiner Reise nach Mexiko erzählen wollte. Vielleicht sag ich’s ihm nächsten Montag, überlegte er. Dann fand er jedoch eine bessere Lösung: Oder ich werd’s ihm sagen, wenn ich sterbe. Ja.
Trotzdem plagten ihn Gewissensbisse wegen der fünfzigjährigen Verspätung. Er hätte an jenem Nachmittag, als er Havanna verließ, um bis heute nicht zurückzukehren, ausführlich mit seinem Vater über seine Reise nach Mexiko sprechen sollen. Leider war das nicht möglich gewesen, weil sein Vater ihn nie beachtet hatte, wenn er in der Kneipe Trommel spielte und mit seinen Freunden Bier trank. Und so hatte er nichts gesagt. Er hatte einfach den Koffer genommen und war an Bord des auslaufenden Schiffes gegangen. Im Traum spielte und trank sein Vater bis heute und wusste immer noch nicht, dass er nach Mexiko gegangen war. Und das war Scheiße.
Aber noch schlimmer war, dass die Erinnerung an den Tag, als er Kuba verlassen hatte, immer mehr verblasste. Sie hatte sich in einen entlegenen Winkel seines Gedächtnisses gestohlen. Wie sollte er im Traum zu seinem Vater finden, wenn ihm schon jener Tag in Vergessenheit geriet? Es war erschreckend. Die Erinnerungen waren unscharf. Er musste lange in ihnen kramen, und während er sie aufmerksam durchkämmte, um sie ein wenig mit Bildern auszuschmücken, fiel ihm auf, dass er seit mindestens zwanzig Jahren sein Meer nicht mehr gesehen hatte. Unfassbar. Er hatte ein paar Trips nach Acapulco gemacht, der Arbeit wegen, aber nichts Berauschendes. Diese ganze Zeit, das sagte sich so leicht, dachte er, aber fünfzig Jahre, ohne den Golf gesehen zu haben, die kubanische See, das grenzte an eine Gehässigkeit unseres Herrn, das konnte man nicht anders sagen …
Zum Glück durchflutete Lavendelduft das Bad, bevor er in Tränen ausbrach. Es war wie der Gong zur letzten Runde. Es kam ihm vor, als drängten ihn die Fäuste der Vergangenheit in die Seile der Melancholie, aber im letzten Augenblick vor dem Knock-out rissen ihn die Duftschwaden wundersamerweise aus seinen Betrachtungen.
Aus dem Spiegel schaute ihm ein großer, korpulenter Schwarzer entgegen. Von der Brust abwärts, um den Nabel herum, verriet der Körper, dass er das beste Alter schon länger hinter sich hatte. Die weißen Strähnen, die sich an den üblichen Stellen kräuselten, machten ihm nicht so zu schaffen. Größeren Verdruss bereiteten ihm der schlaffe Bauch und die Falten, die das Gesicht zerfurchten (eine insbesondere mündete in eine bislang noch nicht entdeckte Warze). Es war, als hätte er sich hundert Jahre nicht mehr im Spiegel betrachtet. Ach, Caramelo, du müsstest noch ein ganzes Leben vor dir haben. Um so auszusehen, wie du eigentlich bist, müsstest du noch einmal von vorne beginnen …, sagte er sich.
Früher hatte er das nie erlebt, aber seit ein paar Monaten entdeckte er jeden Morgen, wenn er sich anschaute, eine andere Person mit seinem Namen und seinem Gesicht. So ging es früher oder später jedem, oder zumindest tröstete sich Nelson Valdés mit diesem Gedanken. Doch sein Blick erinnerte an eine zerknitterte Zeitung. Er fand nicht heraus, woran es lag, aber die Ähnlichkeit war da. Von einem Rumbastar war nichts übrig geblieben als ein wenig Lebensfreude. Von seinen Träumen vom Ruhm, von seinem Stolz hatte nichts überdauert. Vielleicht war er nie so berühmt gewesen. Das heißt so berühmt, wie er als junger Mann geträumt hatte, als alter Mann zu sein. Nichts. Nur ein aus dem Leim gegangener, rührseliger Schwarzer.
Da drang ein Klingeln aus dem Zimmer. Im Laufe der Jahrzehnte hatte sich sein Zeitgefühl geschärft. Wie ein Strumpf konnte sich die Zeit ausdehnen, während seine Lebensuhr mit einer Fehlerquote von wenigen Minuten ablief. Er brauchte keine Uhr, um genau zu wissen, wie spät es war. Er schätzte also, dass er noch so lange Zeit hatte, wie eine Merengue am Schultor dauerte, um sich anzuziehen und ans Telefon zu gehen. Das heißt: fast keine.
Aber das war kein Problem. In einer Wohnung wie der seinen, dachte der Schwarze, wo von dem Wohnzimmermobiliar nur zwei kleine Sofas und ein Tisch überdauert hatten, war es kein großer Aufwand, ans Telefon zu gehen.
Valdés lief splitterfasernackt durchs Zimmer. Geschmeidig wie ein altersschwacher Panther. Mit einer Hand kratzte er sich am Gemächt, mit der anderen hob er den Hörer ab.
«Ja?»
Es war für ihn.
«Am Apparat … Was für ein Wunder, du! Wie geht’s dir denn so, altes Haus? Ist ’ne Ewigkeit her, dass ich dich gesehen habe …»
Es war sein Agent. Ein komplettes Arschloch mit einem harmlosen Äußeren. Trotzdem wäre ihm das einzige Bier in der Wüste nicht gelegener gekommen als dieser Anruf.
Was er denn so mache, fragte der Typ durch den Telefonhörer. Dieser Riesenschwachkopf. Ich sitz hier und hol mir einen runter …
«Ach, nichts … Man schlägt sich so durch. Du weißt ja, es sind harte Zeiten, und wenn du dich so lange nicht meldest – Sag nur – Im Ernst!»
Es war Arbeit in Sicht. Vielleicht war die Welt doch kein Jammertal.
«Perfekt», antwortete er. «Man dankt, man dankt. Ich stehe in deiner Schuld. Versteh mich nicht falsch, aber … wie hoch ist denn die Gage? Sicher nicht unter zwanzigtausend …»
Natürlich war es weniger. Er biss nicht an. Valdés verlangte nur fünftausend und der Typ war nicht blöd.
«In Ordnung», willigte er ein. «Es reicht für den Ruhestand. Denn das ist der letzte Auftritt, hörst du? Kündige es so an. Als meinen großen Abschied. Wer das Vergnügen haben will, wird von jetzt an meine Platten kaufen müssen. Vielleicht verkaufen sie sich dann …»
Nelson tigerte durch den traurigen Abklatsch eines Zimmers, während er in den Hörer sprach. Na klar, kennst mich doch, versprochen, die Sache wird laufen wie geschmiert. Ich werd doch nicht mein Publikum enttäuschen. Und während er so redete, gingen ihm wie von selbst alle Nettigkeiten über die Zunge, die er sich als lebenslustiger junger Bursche angewöhnt hatte, der die Zähne zeigt, weil er weiß, wie weiß sie sind, alle lockeren, nonchalanten Scherze, alles, was einen gewissen Swing hatte – so bezeichnete er seinen gewitzten Charme.
Meine Güte, Nelson, sagte er zu sich. Du solltest Schauspieler werden.
Aber es gab einen Haken. Die guten Dinge in seinem Leben hatten immer einen Haken. Während Valdés weiter seinen Gedanken nachhing, ließ der Kerl am Telefon eine Geschichte vom Stapel, wie man sie der Mama auftischt, wenn man zu spät nach Hause kommt.
Nein, er fühlte sich absolut nicht gekränkt, weil er die Nacht seines Triumphs mit einer weiteren Band teilen musste. Es machte ihm auch nichts aus, dass er sich dem Taktstock seines ärgsten Feindes beugen sollte. Aber als Valdés den Namen Saturno Barón hörte, des meistgehassten Musikerganoven, des billigsten und zugleich bestdotierten Kleingeistes der Notenlinie, sah er sich plötzlich in einer Rolle, die ihm fremd war: der des unbekannten Soldaten. Es war ein von vornherein verlorener Kampf. Dass nun die entscheidende Schlacht eines fünfzigjährigen musikalischen Krieges ausgetragen werden sollte, zerriss ihm fast das Herz. Dieser Scheißkerl, dachte er. Er war alt, eingerostet und hatte kein Orchester, um sich ehrenvoll zu schlagen.
Doch diese tragischen Umstände waren nebensächlich, denn wenn die Welt ihn demütigte, packte Valdés der Stolz.
«Ist gut», sagte er in den Hörer. «Wenigstens lässt mich dieser Oberarsch zeigen, wer der Bessere ist. Aber hör gut zu: Ich werde nicht alleine spielen. Caramelo lässt sich nicht als Lückenbüßer vorführen. Kündige ein Begräbnis an; das Begräbnis des Jahrhunderts, dem Stenz werde ich’s nämlich mit der Batarrumba mal zeigen!»
Aus den Löchelchen im Hörer sah man ganz deutlich ein paar Zeichen der Bewunderung quellen. Es war wirklich ein Irrsinn. Soweit er sich erinnerte, hatte Nelson Valdés die Mitglieder seiner Band seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Mindestens zwei Jahrzehnte hatten sie nicht mal ein popliges Sonntagskonzert in einem Musikpavillon irgendwo im Park gegeben. Heute war nur noch die Erinnerung an das geblieben, was einmal – und das nicht selten – die heroische Sonora Batarrumba genannt worden war. Diese Kerle waren wie vom Erdboden verschluckt …
Aber er würde sie wieder zusammenbringen, egal wie. Jetzt war nicht der Moment, um klein beizugeben.
Saturno Barón wollte es so, er zwang ihn ja, sich im Kampf zu messen. Dieser Mistkerl kontrollierte die Musikergewerkschaft und bestimmte darüber, wer wo wann und wie lange spielte. Niemand, nicht mal eine Achtelnote, entging seiner Herrschaft. Es war irrwitzig, ihn herauszufordern, und noch irrwitziger war es, sein erfolgreiches Orchester wieder zusammenzutrommeln. Angesichts der Flut von Überlegungen und Sorgen, die sein Gehirn lahm legten, griff Caramelo auf ein Mittel zurück, das keinesfalls ehrenhaft war, das er aber perfekt beherrschte: Realitätsflucht.
Und er begann Blödsinn zu quasseln. Dummes Zeug. Er unterhielt sich über dies und jenes und dachte an etwas anderes, denn er wusste um seine Fähigkeit, zu plaudern und gleichzeitig seinen eigenen Gedanken nachzuhängen. Das hatte er von seiner Mima geerbt; sie hatte das immer gemacht. In diesem Moment zum Beispiel sinnierte er über den Unterschied zwischen sich und dem Negerjüngelchen von zwanzig Jahren, das an jenem Morgen in Veracruz angekommen war, als sämtliche Fische des Meeres tot den Strand pflasterten …
Nein, heute war er nicht mehr so unbekümmert, ein desmadroso, wie man hier in Mexiko sagte. Heute spielte er diese Heiterkeit, die früher natürlich gewesen war. Nun gut, er musste es tun, um nicht das Gesicht zu verlieren. Wie eben jetzt, wo ich diesem Volltrottel ein bisschen Schwachsinn auftischen muss, damit er lacht, damit er seinen Spaß hat und glaubt, dass ich immer noch der alte Caramelito bin, und der Blödmann mir das auch noch sagt: «He, Caramelo, du änderst dich auch nicht», tönte es aus dem Hörer. Ist das alles, was du zu sagen hast? Wer sich nicht ändert, das bist du, Schwachkopf, dachte er, während er sich verabschiedete:
«Gut, bis dann, pass auf dich auf. Ich seh dich am Dienstag – Was, morgen?», zögerte er.
Im Bruchteil von Sekunden wurde ihm klar, dass er sich ins Abseits manövriert hatte, und er überstürzte sich, bevor man ihm die rote Karte zeigte:
«He! Was ist denn? Merkst du nicht, dass dein Caramelito einen Witz macht, um zu sehen, ob du bei der Sache bist? … Na klar weiß ich, was heute für ein Tag ist. Morgen ist Dienstag, aber ich wollte dich verarschen … Bis dann …»
Und er legte auf. Die Unterhaltung noch weiter in die Länge zu ziehen hieße, dem Feind Waffen an die Hand zu geben. Er hielt es auch nicht für ratsam, sich zu sehr für die Gefälligkeit zu bedanken. «Man sagt nur einmal, dass die Kalebasse gut ist.» So lautete ein kubanisches Sprichwort. Außerdem soll deine Linke nicht wissen, was der andere in seiner Rechten hält – oder wie das Sprichwort hieß. Jahrelanger erbitterter Wettstreit mit dem Orchester von Saturno Barón hatte Valdés unter anderem gelehrt, sein Vertrauen zu dosieren.
Im Grunde war die Sonora dieses Barón nichts als eine Schrammelkapelle, dachte Caramelo, während er sich an der Leiste kratzte. Das einzig Gute an dem Saturno-Haufen war, dass sie trotz langer Jahre im Geschäft keinen vernünftigen Ton hinbekamen. Sie hatten überhaupt nichts drauf.
Aber Nelson Valdés war mittlerweile in einem Alter, wo man zu viel hinter sich hatte, um an hehre Ziele zu glauben oder in Ehren arm zu bleiben. In seinem Alter konnte man sich keine Sentimentalitäten leisten. Außerdem begab man sich durch übertriebene Dankbarkeit auf das Niveau einer Kakerlake hinab. Es war wirklich zum Heulen und Zähneknirschen, eine helfende Hand gereicht zu bekommen, wenn alles schwärzer aussah als eine Festgesellschaft in Guanabacoa. Während seiner fast legendären Karriere als Rumbamusiker hatte sich Valdés – Bescheidenheit beiseite – aus eigener Kraft mit seinen mitreißenden Trommelkünsten den Titel «Flatterhand» erworben. Bars, Nachtclubs mit großherzigen Öffnungszeiten, Radiosender, Ballsäle, Boleroserenaden und in schlechten Zeiten sogar Schänken wurden Zeugen, wie er sich mit dem Schweiß seiner Hände einen Namen machte. Er sah nicht ein, warum er jetzt nicht genießen sollte, was zu erreichen ihn so viele Schwielen gekostet hatte. Er war kein Blindgänger wie Saturno Barón, der sogar seinen Namen geändert hatte, um besser anzukommen, denn eigentlich hieß er Saturnino Barona. Er hinterging sein Publikum nicht mit pervertierter Musik wie sein Widersacher, der unter dem Vorwand, die Zuschauer wollten es so, immer farblosere und immer schlichtere Cumbias spielte. Das stank doch zum Himmel. Sie waren schlichtweg einfacher zu spielen – bei den grotesken Musikern, die er hatte. Sollte er sich doch mal an einem guten Danzón versuchen. Er hielt sich an die seichten Stücke, weil er bei richtiger Musik kalte Füße bekam …
Auf Mitleid ist Valdés wirklich nicht angewiesen. Er war wer, und er würde seinen Auftritt mit Würde hinter sich bringen. «Ich gehe alleine, auch wenn niemand eine gut gesungene Rumba hören will!», brüllte er. Aber es kam keine Antwort.
Was soll’s, sagte er sich. In dieser Wohnung antwortet schon lange keiner mehr.
Nachdem er den Hosenknopf geschlossen hatte, zog er den Reißverschluss so heftig hoch, dass er sich fast die Banane abgetrennt hätte. Der Verschluss war gefährlich. In den Talkumwolken, in die er sich täglich hüllte, schienen die Erinnerungen Gestalt anzunehmen und sich auf Valdés’ Bett niederzulassen, um ihn resigniert zu betrachten. Offensichtlich war er ein hoffnungsloser Fall. Selbstgewiss und so gemächlich, dass sich ein Galeerensträfling dabei ausgeruht hätte, begannen sie den Schwarzen mit einer Abfolge von Bildern zu geißeln: zuerst mit dem Bild der zweifarbigen Schuhe. Dann erschien der Anzug mit den hängenden Schulterpolstern, ein Kleidungsstück, das dank einer gefährlichen Nachbarschaft des Jackensaums zu den Knien mehr an eine Soutane denn an einen Anzug gemahnte. Zum Schluss tauchte die Krawatte auf, diese eidottergelbe Fliege. Der Koffer, die Hitze, das tausendfache Flimmern, das sich auf dem Wasser kräuselte.
Sogar den Geruch brachte die Peitsche der Erinnerung zurück. Der ganze Hafen von Veracruz schien in der Erinnerung auf einem Sumpf zu treiben, der nach Hochlandkaffee und dem Achselschweiß karibischer Baseballspieler roch. Ein weiterer Schlag, und da waren die Sonne und das Knirschen seiner Schritte auf dem Boden. Alles, absolut alles, was er am Tag seiner Ankunft im Hafen vorgefunden hatte, wurde gegenwärtig. Was man nicht so alles erlebt, resümierte Caramelo. Er hatte gehofft, mit seiner Trommel die Neue Welt zu erobern, sobald er an Land gegangen war. Er musste lächeln: Für Almosen hatte er sich die Finger wund trommeln müssen, bevor er ohne alles auf der Straße saß. So war der Anzug, an den er sich – Gott hab ihn selig – mit Wehmut erinnerte, in Fetzen zerfallen. Eine echte Tragödie war das.
Dabei ging ihm das Gefühl von Sicherheit, das ihm Kleidung von klein auf vermittelt hatte, über alles. Seine Mima hatte ihn herausgeputzt wie ein Püppchen, ihn verhätschelt und getätschelt. «Ach, was sieht mein kleiner Liebling goldig aus mit seinen frisch gewaschenen Kleidchen, blütenweiß wie Kokosnussmark.» Und die Alte war glücklich, ihren kleinen Jungen fein zu machen, um der Barmherzigen Jungfrau von Cobre Früchte darzubringen, oder um ihn zur Trommelzeremonie für die Yoruba-Gottheiten mitzunehmen, oder wenn Blumen für den Herrn Martí niedergelegt wurden. Wenn die Mima dich sehen könnte, Nelson Valdés. Meine geliebte Mima …
Bevor er das unübertreffliche Orchester – so waren sie vor Jahren im Radio angekündigt worden – bei seinem triumphalen Abschied leitete, bevor er mit dem Pfeffer und dem Feuer der Sonora Batarrumba die Tanzfläche aus den Angeln hob, bevor er diesem Barón so richtig den Marsch blies, musste er mit der Frau seines Lebens ins Reine kommen. Valdés errötete, soweit ein Schwarzer erröten kann. Wenn seine Mutter aus der Ewigkeit zurückkäme, um mit liebevoller Entschiedenheit seine Sachen zu bügeln, wie sie es immer getan hatte – er wüsste nicht, was er ihr sagen sollte. Er besaß nicht einen halbwegs mittelmäßigen Anzug. Seine gesamte Garderobe, zwei Anzüge und drei Hemden, sah aus wie vom Zug überrollt. Als hätte man sie in eine Flasche gestopft. Zumindest ein ordentliches Hemd musste man sich doch kaufen. Konnte doch sein, dass ein wichtiger Freund ihm die Hand schüttelte, irgendein Politfuzzi, und dann sollte er sich nicht blamieren – was würde man über Kuba denken, wenn er beim Protokoll so danebenhaute. Nein, mein Junge, es ging nicht an, dass er seine Mima in Verruf brachte. Die Gute hatte sich so bemüht, einen feinen Kerl aus ihm zu machen, hinter dem die Mädchen her waren, um mit ihm auszugehen und ihn später zu heiraten. Am Ende nahm ihn der Impresario nicht ernst und zahlte nicht und Valdés nagte weiter am Hungertuch wie jeden Tag.
Ein bisschen freudlos beschloss er, die Krawatte zu Ende zu binden, und steckte die Münzen ein, die auf dem Nachttisch lagen. Der Vorschuss des Impresarios würde sicherlich reichen, um sich einen Anzug schneidern zu lassen. Während er zur Tür ging, vergewisserte er sich, ob alles in Ordnung war. Er würde erst nachts zurückkommen. Alles schien an seinem Platz zu sein. Nur ein paar Teller standen in der Spüle herum, und darüber kreisten einige Fliegen. Das war alles.
Nelson «Caramelo» Valdés hätte schon auf der Straße sein sollen, die hungrige Stadt vor Augen, als er zurückgehen musste, um zum zweiten Mal das Telefon abzunehmen:
«Ja? … Caramelo Valdés …»
Es gab immer einen Schwachkopf, der nichts Besseres zu tun hatte, als wildfremde Leute anzurufen. Da vertrödelte man seine Zeit am Telefon. Was sollte das?
«Zum Henker!», rief er und knallte den Hörer auf die Gabel.
Aber die Stimme hatte bekannt geklungen. Ein bisschen tuntig, aber nicht ganz unbekannt. Und zu allem Überfluss hatte er dieses Gedicht früher schon einmal gehört:
Wenn ich dich einmal sah,
erinnere ich mich nicht mehr.
Wenn ich dich einmal liebte,
so ist es lange her.
«Nicht zu fassen», lächelte Valdés. «Jetzt wird dieser warme Bruder romantisch.» Doch das Fenster der Vergangenheit klappte blitzschnell auf und zu, ohne dass Caramelo hindurchsehen konnte. Merkwürdig. Wer seine Nummer wählte, kannte ihn. Zugegeben, er stand im Telefonbuch, aber das Gedicht …
Aber er machte sich keine weiteren Gedanken. Hoy como ayer von Benny Moré pfeifend, schloss er die Tür und ging ins Treppenhaus, während er sich fragte, warum Gott den alten Benny so früh zum Musizieren in den Himmel geholt hatte.
Während sich das Gitter des Aufzugs schloss, fiel ihm etwas eminent Wichtiges ein: Man konnte nicht ohne den Segen des Königs Changó aus dem Haus gehen. Er zog sein Amulett mit der kleinen silbernen Doppelaxt aus der Tasche, damit der Herr des Blitzes und des Wollbaums ihn schütze. Mit den Worten «Cábbio Sile Changó» führte er es über den Kopf, berührte dreimal den Boden und küsste das blanke Metall. Es war, als fiele eine Last von ihm. Dann ging er fröhlich und zuversichtlich auf die Avenida hinaus.
* An jenem Samstag am Golf war der Strand morgens mit toten Fischen übersät, und letztlich wusste niemand das Phänomen genau zu erklären. Als die Fischer in den frühen Morgenstunden aufs Meer hinausfahren wollten, lagen Brassen, Stöcker, Lotsenfische, Thunfische, Seezungen und der eine oder andere Hai im Sand und schnappten feige nach Luft; ihnen allen fehlte der Mut, sich dem Augenblick der Wahrheit zu stellen.
Zwei Stunden später, im ersten Tageslicht, versammelte sich der ganze Hafen auf der Mole und stellte fest, dass nicht ein einziger lebender Fisch zu entdecken war. Mehr noch: Es war überhaupt keiner zu entdecken, denn die Fischer hatten beschlossen, den Lieferservice zu nutzen, und sich, statt aufs Meer hinauszufahren, darauf beschränkt, nur solche Exemplare am Strand aufzusammeln, die von Gewicht und Färbung her ideal waren für den Verkauf an die Konservenfabrik.
Eine dicke Frau, die sich zu dem Haufen gesellte, bot einen möglichen Schlüssel zur Aufklärung des Ereignisses: «Es ist die Hitze», behauptete sie. «Nachts kommen sie raus, um frische Luft zu schnappen, und dann können die Ärmsten nicht mehr zurück.»
Leider schenkte niemand ihrem Kommentar sonderliche Beachtung, und die Dame ging den Damm hinunter davon, ohne sich dazu herabzulassen, ihre Theorie genauer zu erläutern. Auf dem Arm trug sie mehrere Liter Schweiß in Form eines Kindes.
An der Hafeneinfahrt dösten im Schatten einer Bodega die Stauer. Friedlich fluchten sie vor sich hin und kratzten sich die fette Wampe. Die Sonne brannte mit erster Kraft und brutzelte sie samt Kleidern und allem gut durch, ohne dass sich einer die Mühe gemacht hätte, aufzustehen, um seine Haut vor der sengenden Hitze in Schutz zu bringen. Es war zwecklos. Der gemeine Volkssinn war zu dem Schluss gekommen, dass auf dem ganzen verschissenen Ankerplatz kein Platz zu finden war, der weniger brütend gewesen wäre. Mit vor Trägheit schweren Augen suchten die Stauer von Zeit zu Zeit nachlässig den Horizont ab. Zum Glück war keine Arbeit in Sicht. Nicht einmal dem Meer war danach, Wellen zu schlagen.
Da kam von See her ein Rauschen, eingehüllt in den Geruch nach Salz, Möwen, altem Fisch und fauligem Obst.
«Das Schiff aus Havanna ist da», verkündete einer der Daliegenden.
«Welches?», fragte ein anderer.
«Die Andrea Mazzaroni.»
«Woher weißt du das?»
«Weil die Reina Cristina dienstags kommt.»
«Dann ist heute Samstag?»
«Weiß der Geier …»
Es war wie beim Besuch von armen Verwandten: Die Begeisterung hielt sich in Grenzen. Niemand rührte sich. In der Gruppe herrschte jener selige Frieden, den ein Erzbischof beim Schlürfen seiner abendlichen Schokolade empfindet. Sich über den Schnurrbart streichend, den Hut auf halbmast, urteilte ein anderer Stauer, es sei so heiß, dass das Schiff aussehe wie ein Messer, das Käse schneidet.
«Scheiße … und es ist erst April», war die Antwort.
Tatsächlich: Die Stahlschaluppe steuerte mühsam auf die Küste zu, glitt langsam wie ein Reptil in den Hafen und schob sich mit der Breitseite an die Mole. Eine Sirene heulte auf, als der Dampfer – fast wie eine Eisenbahn – zum Stillstand kam.
Nun wiederholten die Stauer ihr jahrhundertealtes Ritual. Jemand sagte der Form halber: «Jetzt hat’s angelegt», worauf ein anderer mit der üblichen Formel der Gruppe antwortete: «Gefickt ist der Letzte.» Aber keiner bekam den ganzen Satz zu hören. Das Wort Letzte blieb verwirrt in der Luft hängen, weil es kein offenes Ohr fand. Sämtliche Stauer sprangen auf wie die Hasen und rannten, sich mit den Bäuchen anrempelnd, die zwei Häuserblocks von der Bodega zur Mole hinunter, wo das Schiff aus Havanna festmachte.
Die Mole war im Belagerungszustand. Ein Bataillon schmutziger Jungs, drei Jaranabands in bunten Bauernkitteln und die ganze Bruderschaft der im Hafen akkreditierten tropischen Nutten schickten sich an, die Passagiere zu empfangen. Sicher waren es Kubaner. Cubanito, Chico, imitierte die schwarze Chela die karibische Aussprache. Die schrägen Töne der Jaranaspieler tänzelten über die Dächer in die Stadt, während die Mole dank der Kleider der Bordsteinschwälbchen zu explodieren schien. In ihrem Sonntagsputz leuchteten sie wie die Papageien. Feuerrot mit grünen Blümchen der Rock; knallgelb mit dunkelvioletten Streifen die Bluse; tief ausgeschnittenes Dekolleté, das – bloß nichts frech zur Schau stellen – ein bisschen von der Dunkelheit der Brustwarze blitzen ließ. Junge, das hält kein Schwanz aus, ich schwör’s dir, versichert die schwitzende Chencha. Es kommt nur darauf an, die Ware ganz beiläufig zu präsentieren, dann muss man die Kunden verscheuchen wie Fliegen, sobald sie von Bord gehen.
Ein junger Schwarzer, groß und kräftig, kam in einem papageiengrünen Anzug die Gangway hinunter. Er war nach der neuesten Mode gekleidet: breites, spitz zulaufendes Revers, Schulterpolster, Schlaghose und zweifarbige Schuhe. Anscheinend erkannten die Jaraneros den Musiker in ihm oder den Antillenbewohner, er würde es nie erfahren, jedenfalls warf ihm jemand ein «Auf geht’s, Kamerad!» zu, als er die Pier betrat. Dann schmetterten sie los: «Es sei mir verziehen, mir ist nicht zum Scherzen, Havanna ist Wahnsinn, ich meins von Herzen. Aber der Papst meint – tut mir Leid, dass ich’s sagen muss – zum Teufel mit Havanna, das einzig Wahre ist Veracruz …»
Und los ging der Tanz. An Deck der Santander erschien das berühmte Septeto Oriental von Juanito Quincaya. Anscheinend fühlten die kubanischen Musiker sich angesprochen. Zum Klang von Voy pa ti packten sie Trommeln und Gitarren aus, um den Jaranaspielern Kontra zu geben. Die Rumbakugeln schüttelten sich wie ein Hund, der Flöhe hat; die Bongotrommel hüpfte wie ein Platzregen auf Wellblech; auf der Brücke rekelte sich die goldene Schlange einer karibischen Flöte zwischen Sonne und Palmen. Die Luft rund um das Spektakel flirrte. Und dahinter das Meer. «Mit diesem Lied», sangen die Kubaner, «geb ich Compay Segundo Recht … Mit diesem Lied», wiederholten sie, «geb ich Compay Segundo Recht: Kuba und Mexiko, die sind beide nicht schlecht …»
In dem ganzen Hexentanz machten sich die Barmädchen daran, ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen. Sie packten hier und dort an ein Beutelchen oder tätschelten einem soeben angekommenen Jüngling über die Hinterbacke. «Na, mein Schatz, wie wär’s mit uns beiden?», lockte die schlüpfrige Chonita. Selbst achtbare Herren schlugen sich um eine aus der Schiffskantine gestohlene Kiste Gin, während die halbseidenen Damen unter dem Ansturm einer Horde von Einheimischen schwankten. Offensichtlich wollten die Ortsansässigen auch ihren Spaß haben oder sie zumindest betatschen. Und dann begann der Schwof mitten auf der Mole. Die einen heulten, weil sie jemand erwartete, und die anderen betranken sich, weil sie keiner erwartete.
«Soll ich Ihren Koffer tragen, Señor?», fragte ein kleiner Junge.
Der Schwarze wandte sich um und sah sich einem vor Schmutz starrenden Gesicht gegenüber. Einem Gesicht, dem man nichts abschlagen konnte.
«Nein, nein, mein Junge, aber begleite mich trotzdem, ich kenne mich hier nicht aus», antwortete er.
Dann schulterte er die Trommel und packte den Koffergriff.
Nachdem sie den Zoll passiert hatten, liefen sie durch die Straßen, die zur Mole führten. Ein paar der Bordsteinschwalben verabschiedeten sich allmählich von dem Fest und schlugen schäkernd den Weg zu den Hafenhotels ein. «Na wunderbar», dachte der Schwarze, «kein Unterschied zu sehen.» Was für eine Ernüchterung. Er war an dem gleichen Ort gelandet, den er verlassen hatte. Hätte man ihn in Havanna mit verbundenen Augen entführt und ihn hier an irgendeiner Ecke ausgesetzt, dann hätte er beim Öffnen der Augen das Gefühl gehabt, seine Heimatstadt keine Sekunde verlassen zu haben. Über das Spinngewebe der Straßen vor ihm spannte sich ein Firmament aus Wäsche, die auf den Wäscheleinen trocknete; Frauen unterhielten sich schreiend von einem Balkon zum anderen; Geranien erblühten und verwelkten zehn Meter über dem Meeresboden, ohne jemals die Erde zu berühren. Der Junge pries die Vorzüge der Stadt, als wollte er sie verkaufen. Er gab sich größte Mühe, jeden Zweifel an seiner Fähigkeit als Touristenführer zu zerstreuen. Er wusste sich sein Trinkgeld wirklich zu verdienen. Ein letztes Gefolge von Hürchen zog vorbei, seine Opfer vom Schiff hinter sich herschleifend, und dann hatte der Schwarze Zeit, stehen zu bleiben, um die Obstverkäufer auf dem gegenüberliegenden Trottoir zu beobachten. Es war bemerkenswert: Sie hackten die Früchte und taten sie in eine Papiertüte; sie träufelten Limone darüber und bestreuten sie mit Salz und einem roten Pulver. Die Leute hier essen das Obst wie einen Salat, mit einer Wahnsinnsvorbereitung, dachte der Schwarze.
«Kennst du ein billiges Hotel hier in der Gegend?»
Der Junge sah ihn listig an und ging weiter.
«Zu wie viel wollen Sie’s?», gab er zurück.
«Was?»
«Wie viel Sie für das Zimmer bezahlen wollen», murrte der Junge.
An seinem herablassenden Ton merkte der Schwarze, dass er älter war, als er aussah. Anscheinend machte er gerade dieses Alter durch, in dem alle anderen größere Blödmänner sind als man selbst.
«Keine Ahnung. Ich habe nicht viel Geld», erwiderte er. «Sag du mir, wie viel ein billiges Hotel hier in der Stadt so ungefähr kostet.»
Als er den Satz beendet hatte, blieb der Junge stehen und sah sich suchend in der Straße um. Anscheinend hielt er die Bordsteinkante für den geeigneten Platz, denn er setzte sich hin und zog dabei die Beine an den Körper. In dieser Haltung wirkte er kindlicher, als er es offenbar war. Mit einem «Setzen Sie sich» forderte er den Schwarzen auf, Trommel und Koffer abzustellen und auf der Herdplatte aus Beton dahinzuschmelzen. Als sie es sich bequem gemacht hatten, begann der Junge altklug:
«Schauen Sie, Señor: Hier im Hafen wird Sie jedes Hotel, auch wenn man Ihnen einen sehr guten Preis macht, so zehn Pesos die Nacht kosten. Plus Essen, dann kommen Sie auf fünf Pesos am Tag. Das heißt … Das sind so fünfzehn Pesos pro Tag.»
«Fünfunddreißig Dollar zu vier fünfundachtzig sind … Mal sehen … Fünf mal vier zwanzig und acht mal zwei sechzehn …», überschlug der Schwarze im Kopf. Wie gut, dass seine Mima darauf bestanden hatte, dass er zumindest die Grundschule besuchte. «Ich habe ungefähr hundertsiebzig mexikanische Pesos.» Genug zum Leben für acht bis zehn Tage, in denen er Arbeit finden wollte.
«Aber meine Mama», fuhr der Junge fort, «sagt immer, wenn ich im Hafen einen Auswärtigen treffe wie Sie, soll ich ihm sagen, dass sie ihm ein Zimmer vermietet und ihn verköstigt fast wie im Hotel und dass sie nicht mehr als sieben Pesos am Tag für alles nimmt. Das kostet Sie dann die Hälfte. Was meinen Sie? Außerdem sagt sie, dass sie weiß, wie man das Hündchen von hinten macht und den Schwenker und das Löffelchen und das mümmelnde Kaninchen. Wenn Sie wollen, bringe ich Sie hin.»
Verblüfft fragte der Schwarze, was denn das mit den Hündchen von hinten bedeute, aber der Junge antwortete, keine Ahnung, seine Mama habe ihm aufgetragen, das Sprüchlein so zu sagen. «Na was soll’s, gehen wir zu deiner Mama», war die Antwort, und sie standen vom Gehsteig auf, wobei ein Stück Hinterbacke kleben blieb wie Kaugummi. Unterwegs piesackten ihn Zweifel, aber er nahm an, dass es sich bei dem Schwenker um ein exotisches Gericht handelte.
«Und wie heißt du?»
«Ramón Corona», erklärte der Junge. «Gerufen werde ich Moncho.»
«In Kuba würdest du Mongo heißen», sinnierte der Schwarze.
Bei dem Gedanken daran stieg Wehmut in ihm auf. Aber der Name war ein guter erster Schritt. Er begann den Jungen kennen zu lernen. Dieser trug ein gestreiftes Hemd und eine durchlöcherte, geflickte Hose. Der Dreck an den Ellenbogen stand dem Schlamm auf den zerfledderten Schuhen in nichts nach. Wasser hat er in letzter Zeit nicht gesehen, sagte sich der Schwarze. Aber der Junge wirkt weder heimtückisch noch unredlich. Er hat freundliche Augen. Der Name war der Schlüssel zu den Menschen, so wie die Augen das Fenster zur Seele waren. Er erinnerte sich an einen Bolero, den ein Kamerad aus seinem Viertel komponiert hatte:
In der Glut deiner boshaften Augen
sehe ich die Treulosigkeit deiner Seele,
Susandra.
Herrlich! Es tat nichts zur Sache, dass die fragliche Dame Florentina hieß und nicht Susandra. Die Poesie kennt keine Grenzen. Dieser Kerl komponierte fabelhafte Boleros. Schade, dass er nach wie vor hinter einer Ladentheke in Los Sitios stand. Der Arme hatte nichts Halbes und nichts Ganzes.
Durch eine breite Avenue, die in der Sonne briet, gelangten sie vom Stadtzentrum zu den umliegenden Wohnvierteln. Schläfrige Villen mit großen Gärten und Palmen und Autos in den Garagen sahen zu, wie sie davongingen. Ab und zu landeten in einem Durcheinander aus Federn und Purzelbäumen einige Raben im Futternapf des Bordsteins, wahrten dabei aber wie ausgediente Luftfahrtveteranen ihre Würde.
Der Schwarze beobachtete jede Kleinigkeit mit unverhohlener Neugier. Es wunderte ihn überhaupt nicht, dass diese Gegend haargenau so aussah wie der Vedado in Havanna. Erst nach einigem Umsehen stieß er auf den ersten Unterschied: Zwei Stunden in Mexiko, und immer noch kein Schwarzer weit und breit. Nicht ein Krauskopf war auf der Bildfläche zu sehen. Haufenweise Tupumayo-Indianer, ja, aber kein Schwarzer. Ein Land ohne Schwarze. Der Traum der weißen Kubaner. Da begann ihm zu dämmern, was sich als schlimmste Klippe seiner Reise entpuppen konnte: Er bewegte sich in einem fremden Dschungel, und zu allem Übel war da keiner der Seinen, den man um Hilfe bitten konnte.
Mit diesen Überlegungen trottete der Schwarze willenlos auf dem Pflaster vor sich hin. Er war so in seine Gedanken vertieft, dass er nicht merkte, dass er zwei oder drei Schritte auf die Fahrbahn geriet. Das Heulen eines Motors ließ ihn aufschrecken, und im gleichen Moment streifte ihn ein rotes Blech und verschaffte ihm eine Vorstellung davon, wie es einem Torero erging, wenn er vom Stier auf die Hörner genommen wurde. Jemand brüllte: «He, du blöder Neger, geh zur Seite!», während die Hupe des Kabrioletts dröhnte und eine Bande von schnieken Clark Gables in lautes Gelächter ausbrach.
«Fickt euch ins Knie!», entgegnete der Schwarze.
Es war ganz normal. In Havanna brach man mit allen und jedem einen Streit vom Zaun und mit ein paar deftigen Flüchen war alles erledigt. Kein Thema. Aber scheinbar lagen die Dinge hier anders, denn der Chevrolet – war es ein Chevrolet? – hielt ein paar Meter weiter an und die Typen sprangen auf die Straße. Ihre Absichten standen ihnen ins Gesicht geschrieben. Einer war mit einer Stange bewaffnet. Dem Schwarzen blieb gerade Zeit, die Trommel abzustellen und sich zu vergewissern, dass der Junge sich hinter einer Hecke in Sicherheit brachte. Als der erste Mexikaner angerannt kam, wurde er erwartungsgemäß mit einem Fausthieb ausgeknockt. Der Kerl kippte um, als wäre ihm nach einem Nickerchen auf dem Trottoir. Das war das Mindeste, was man von einem Schwarzen erwarten konnte, der sein Leben lang mächtig auf die Trommel gehauen hatte. Nur leider waren die aus dem Chevrolet zu sechst. Noch zwei weitere holten sich ihre Medizin ab. Mucksmäuschenstill blieben sie auf dem Gehsteig liegen. Aber dann begann der Schwarze müde zu werden und den Überblick über die Schläge zu verlieren, die er austeilte und einsteckte. Wie ein Blatt im Herbst sank er zu Boden, und seine Verteidigung beschränkte sich darauf, zu strampeln wie ein sterbender Krebs. Aber man soll die Hoffnung nie aufgeben. Bevor ihn die Dunkelheit umfing, sah er die Stange, die gerade auf seinen Kopf herabsauste, und er fragte sich ohne jeglichen Schmerz, was wohl seine Mima in dem Augenblick machte, in dem er sterben würde.
Doch durch eine dieser unbegreiflichen Wendungen, die das Leben manchmal nimmt, erreichte die Stange nicht ihr Ziel. Der Schwarze erfuhr nie, woher der ungeheure Schrei kam, ein Kampfgebrüll, das die Welt erstarren ließ. Im Nebel der Schläge tauchte ein weiterer Schwarzer auf. Na so was, dachte der erste. Der Neuankömmling machte einen Satz und stürzte sich, einen Stock schwingend, ins Gewühl. Es war ein großer, kräftiger Mann, bekleidet mit einem Anzug, der noch schwärzer war als der Hagel von Stockhieben, den er laut lachend auf die Kerle aus dem Chevrolet herniedergehen ließ. Sein Können war eines Mandinga-Kriegers würdig. Der Stock zischte auf und nieder, und der Mann schien zum Rhythmus einer unsichtbaren Trommel auf dem Schlachtfeld zu tanzen. Bevor er eine kleine Auszeit nahm, konnte der Schwarze noch sehen, dass der andere den mit der Stange entwaffnete und die Übrigen in die Flucht schlug, ohne dass der strahlend weiße Hut oder die riesige Zigarre, die er rauchte, verrutscht wäre …
Als sich die Dunkelheit lichtete, holte ihn die Stimme des Jungen wieder auf die Erde zurück. Er schien weit weg. Mayito? … Mingo? … Ach ja, Moncho! Er versuchte sich aufzurichten, während der Junge ihm eine Standpauke hielt, sind Sie verrückt, Señor, was fällt Ihnen ein, sechs blöde Pinsel zu beschimpfen. Und dazu noch sechs steinreiche Pinsel, die so feige waren, dass sie nicht Mann gegen Mann angetreten sind. Das hat mir noch gefehlt, dachte der Schwarze, dass dieser Rotzlöffel mir die Leviten liest. Mühsam rappelte er sich auf und klopfte seinen Anzug aus. Offenbar hatte das Jackett den Umständen nicht standgehalten – es war am Ärmel zerrissen. Der Junge und er standen alleine auf dem Schauplatz des versuchten Verbrechens.
«Wo ist er hin?»
«Wer?»
«Na wer schon?», erwiderte der Schwarze. «Der Kerl, der mir geholfen hat, diesen Memmen die Eier abzureißen.»
«Welcher Kerl?», fragte der Kleine.
«Willst du mir erzählen, dass du den Schwarzen nicht gesehen hast? … Der diese Leute mit dem Stock verdroschen hat? Mensch, Junge, erinnere dich!»
«Welcher Schwarze? Meine Güte, Señor, die haben Sie noch dusseliger gemacht, als Sie schon waren.»
«Jetzt hör aber auf! Ich hab doch einen Schwarzen gesehen!»
Aber der Junge blieb hartnäckig bei seiner Meinung. Er hatte lediglich gesehen, wie die Typen mit eingezogenem Schwanz abgehauen waren. Während der Schwarze bewusstlos dalag, sammelten sie die Gefallenen auf, sprangen ins Auto und dachten dabei nicht einmal an die Stange, die noch auf der Straße lag. Trotz der Eile hatte der Junge ihnen am Gesicht angesehen, dass sie sich vor Angst in die Hosen schissen. Als hätten sie Satan leibhaftig gesehen.
Wo gibt’s denn so was, sagte sich der Schwarze und konnte nicht verhindern, dass ihm das Herz in die Hose sank. Auf einmal war ihm klar, dass es zwecklos war, nach dem Schwarzen mit dem Stock zu fragen. Er würde ihn nicht finden. Zu diesem Zeitpunkt würde er schon seinem Chef Meldung machen, der ihn hergeschickt hatte, um ihn zu retten, damit irgendein Funktionär dort droben oder dort drunten seinen nächsten Schachzug machen konnte.
«Ist es noch weit bis zu dir nach Hause?»
Er fühlte sich so schlapp wie ein Punchingball nach dem Training. Ein Königreich für ein Bett …
«Nur noch zwanzig Blöcke», antwortete Moncho.
«Sollen wir nicht lieber ein Taxi nehmen? Ich zahle.»
Der Junge gestand, dass er den Weg nach Hause nur zu Fuß fand, nicht mit dem Auto. Er war noch nie mit einem gefahren. Sein Geheimnis gab ihm eine Blöße, die den Schwarzen trotz seines Zustands zwang, zwanzig Blöcke zu bewältigen, um Monchos Vertrauen nicht zu missbrauchen. Dem Jungen schien das klar zu sein. Im Gegenzug zeigte er sich sichtlich besorgt. Kommen Sie, sagte er, meine Mutter wird Sie pflegen, und streckte ihm eine Hand hin, die ihm den Trost gab, den er so sehr brauchte.
Noch war die Menschheit nicht verloren. Fast fügte er sich gern darein, das Kreuz seiner Trommel auf sich zu nehmen. Das Instrument geschultert, marschierte er los, aber drei Straßen weiter kam die Wahrheit ans Licht: Das hier war schlimmer als die drei biblischen Kreuzfälle. Ihn durchzuckte plötzlich ein stechender Schmerz. Als er sich vom Boden aufgerappelt hatte, hatte er ihn nicht bemerkt. Er sagte es dem Jungen, und Moncho antwortete, so sei das nun mal. Anfangs, wenn man in Rage war, taten die Schläge nicht weh. Aber wenn man sich dann wieder beruhigte, war man fix und fertig. Ihm ging das dauernd so. Zusammen mit seinen Kumpels aus dem Viertel lieferte er sich manchmal die eine oder andere Keilerei, um zu entscheiden, wer die unerschrockenere Bande war. Das Schlimme war, dass die Zipperlein anfingen, wenn man zu Hause war. Manchmal hatte er nicht mehr die Kraft, aus dem Bett aufzustehen …
Das «Traktat über Methoden des kindlichen Kämpfens im Viertel Matabejuco» dauerte sechzehn Häuserblocks. Es bestand aus einer detaillierten Aufzählung von Taktik und Strategie, Kicktritten und Nasenstübern, Steinwürfen und Bissen, die Moncho so beredsam ausführte wie Demosthenes, wenn er in Fahrt geriet. Jenseits von gut und böse, jenseits seiner malträtierten Knochen und der erbarmungslos brennenden Sonne stieg dem Schwarzen der Geruch von gebackenem Ei in die Nase. Der Duft war der Markstein zwischen Straßenpflaster und Elend, es roch nach einem Hauch von Erlösung. Ach verflixt noch mal, malte sich der Schwarze aus, der fast umkam vor Hunger. Ein kleines Steak, lieber Gott, ein einziges nur, mit Bratkartöffelchen und feiner Soße obendrauf. Mach doch dieses kleine Wunder für mich, bitte …
Sie kamen in eine Gegend mit Hütten aus Schilfrohr und Palmblättern. Genau wie in Havanna trennte eine Straße die Reichen von den Armen der Hafenstadt. Langsam ließ der Schwarze seinen Blick über die Ansiedlung wandern. In der brütenden Hitze lag sie in die Senke geduckt wie ein Schlangennest. Moncho flitzte zu einer Hütte, in der Pedro Infante aus dem Radio schmetterte. Er kehrte in Begleitung einer dicken Frau im Nachthemd zurück. Gott hatte dieser Frau das bezauberndste Gesicht geschenkt, das der Schwarze in seinem verdammten Leben gesehen hatte, oder wenigstens kam es ihm nach der Prügelei und der ganzen Sonne so vor.
Bei seinem Anblick schlug die Dicke die Hände zusammen und rief: «Ach, Señor, wie sehen Sie denn aus!» Ihr Tonfall verunsicherte den Schwarzen. Er hätte nicht gedacht, dass er so schlimm aussah. Die Frau nahm ihm sofort den Koffer ab und schob ihn ins Haus, um sich um ihn zu kümmern. Der Junge erzählte im Mamborhythmus, was vorgefallen war, während seine Mutter immer nur sagte: «Nicht zu fassen, Señor, nicht dass Sie jetzt denken, dass alle Leute hier so schäbig sind; bloß glauben die Reichen, dass die Stadt ihnen gehört. Aber keine Sorge, Sie sind bald wieder gesund.» Und mit fast liebevoller Sorgfalt strich sie ihm mit der angefeuchteten Schürze über Augenbrauen und Stirn.
Aus nahe liegenden Gründen befiel den Schwarzen eine wohlige Müdigkeit, als er sich hinsetzte. Den ganzen Tag hatte er die verflixte Trommel geschleppt, die endlich so freundlich war, still und unversehrt auf dem Boden zu liegen. Er hatte an die vierzig Häuserblocks unter die Füße genommen und dann noch ordentlich Keile von den Milchbärten aus dem Chevrolet bezogen. Kurzum, kein Dinosaurier hätte auch nur die zweite Runde eines solchen Tages durchgestanden.
Das immer lauter werdende Zirpen der Grillen kündigte den Abend an. Noch eine Minute, und ich krieg einen Sonnenstich, dachte der Schwarze. Gnädig entschwand der Tag. In der Ferne hörte man die Wellen gegen den Strand schlagen, und alle Gerüche des Meeres drangen in die Hütte. Da erst fiel ihm auf, wie arm Moncho und seine Mama waren. Ein Tisch, der aussah wie nach einem Schiffbruch zusammengezimmert, ein paar Stühle, die man in einem Waisenhaus zurückgewiesen hätte, ein Altar für die Jungfrau von Irgendwas und zwei Klappbetten gaben Zeugnis von ihrer Not. Unverhohlene Armut und sonst nichts. Der Schwarze flehte zum zweiten Mal den Himmel an, es möge zumindest ein Brot da sein, das man sich einverleiben könnte. Nicht mehr lange, und der Hunger würde ihm den Gnadenstoß versetzen. Aber in Anbetracht der Lage um Essen zu bitten, wurde zu einer zu kniffligen Angelegenheit.
«Verzeihen Sie», wagte er sich vor, «aber dieses …»
Die Frau sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an.
«Hätten Sie nicht vielleicht zufällig irgendein … wie soll ich sagen … irgendein Häppchen hier, das Sie mir verkaufen könnten … Schauen Sie, ich geb’s ungern zu, aber ich habe seit heute Morgen nichts mehr in den Magen gekriegt und …»
«Ach ja, natürlich, entschuldigen Sie bitte», antwortete die Frau.
Der Schwarze atmete wieder durch. Zum Glück hatte sich alles auf einen Schlag gelöst. Ein paar Meter vom Tisch entfernt über den Holzofen gebeugt, erklärte die Dicke, dass sie ihm etwas warm mache. Sie habe nur für Moncho und sich selbst gekocht, aber es würde auch für drei reichen. «Das ist schief gelaufen», dachte der Schwarze und schämte sich. Er hatte Essen verlangt und es doch nicht verlangt. Hätte er doch den Mund gehalten!
«Entschuldigung, dass ich Ihnen nichts angeboten habe», erklärte die Frau, «aber seit ich alleine lebe, ist mir nicht nach Gesellschaft zumute. Und weil mich niemand besuchen kommt, vergesse ich, höflich zu sein …»
«Kein Problem», flüsterte der Schwarze und verstummte. Er verstand nicht die Bohne. Aber der Ton der Frau kam ihm übertrieben höflich vor. Wozu sich entschuldigen? Schließlich hatte sie keinerlei Verpflichtung ihm gegenüber.
Gleichgültig gingst du an mir vorüber