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Maren Graf (Hrsg.)

Padermorde

Weihnachtliche Kurzkrimis von der Pader

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Zum Buch

Tot an der Pader Es wird kalt im Paderborner Land. Eiskalt. Und das liegt nicht nur an der winterlichen Jahreszeit. Denn gleich mehrere Mörder ziehen durch die Stadt und machen der besinnlichen Gemütlichkeit den Gar aus. Statt Eiskristalle hagelt es Geschosse, die stille Nacht durchbricht ein Schrei und nicht nur der Festtagsbraten liegt tot auf dem Tisch. Mit Friede und Freude ist es endgültig vorbei. Dreizehn deutsche Krimiautoren stürzen sich in eine mörderische Adventszeit und sorgen mit ihren Kurzgeschichten für spannende Lesestunden um den Gefrierpunkt. Mal heiter, mal düster, mal bewegend erzählt, bekommen hier auch die Schatten abseits der Lichterketten eine Gestalt. Für alle, die in der winterlichen Gemütlichkeit auch den Nervenkitzel suchen.

Maren Graf wurde in Schleswig geboren und verbrachte ihre Kindheit an der Ostsee rund um Kiel. Seit 2011 unterrichtet sie Deutsch und Philosophie an einem Gymnasium und lebt mit ihrem Mann und drei Söhnen in ihrer neuen Heimat Paderborn. Neben ihrer Lehrtätigkeit schreibt sie vorwiegend Kurzgeschichten und Krimis.

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Todschreiber (2016)

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

3. Auflage 2019

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Zefram https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Paderborn_Weihnachtsmarkt.jpg

ISBN 978-3-8392-5822-4

Gedicht

Es läuten die Glocken vom Domturm hernieder

Sie warnen, sie schreien, sie bangen

Doch es ist zu spät, schon verstummen die Lieder

Die Padermorde … haben angefangen.

Inhalt

Zum Buch

Impressum

Gedicht

Inhalt

Vorwort

Gänseschmaus mit kleinen Fehlern

Onkel Thorsten

Ex und hopp

Wer andere in die Grube lockt

Auszeit

Ein mörderisches Krippenspiel

Haltloses Weiß

Du sollst nicht töten!

Der Tintenkiller

Die schwarze Köchin

Fleischeslust

Blaulicht am Dom

Paderborner Weihnachtswunder

Die Tatorte

Die Autoren

Lesen Sie weiter …

Lieblingsplätze aus der Region

Vorwort

Ich schaue auf die verschneiten Dächer der Stadt. Auf das Geflecht aus Straßen und Häusern dieses friedlichen Domstädtchens. Mit seinen sprudelnden Quellen und prachtvollen Bauten.

Menschen stehen plaudernd auf dem Markt zusammen und sitzen in den Korbstühlen ihrer Cafés. Jeder scheint jeden zu kennen. Es ist eine perfekte Idylle. Dort an der Pader.

Doch dann trübt etwas meinen Blick. Ich trete einen Schritt näher heran, betrachte das Gemälde genauer. Und plötzlich bemerke ich etwas. Einen Riss vielleicht. Ein wenig abgeblätterte Farbe am Rande der Leinwand.

Ich lege meinen Finger an die Stelle. Kratze mit dem Nagel etwas von der Oberfläche ab, die so schön glänzt. Und was dahinter zum Vorschein kommt, lässt alles gefrieren. Als hätte jemand die Zeit und das Gerede angehalten. Was bleibt, ist eine erschreckende Stille, die das Grauen nur noch deutlicher hervortreten lässt. Immer weiter frisst sich die Dunkelheit über das Bild, je mehr ich davon abtrage. Beschauliche Gassen werden eng und düster, freundliche Gesichter werfen bedrohliche Blicke, der Dom verschwindet in der Finsternis.

Ich ziehe den Finger zurück. Starre wieder auf die Dächer der Stadt. Das Netz aus Straßen und Häusern dieser mörderischen Stadt …

In dieser winterlichen Kurz-Krimi-Anthologie entführen Sie 13 deutsche Krimiautoren in die finstersten Ecken von Paderborn und zeigen Ihnen seine dunkelsten Seiten.

Ihre Mörder ziehen um bekannte Bauwerke, durch vertraute Viertel und in entlegene Winkel.

Aber an welchem Fenster steht der Mörder? In welcher Gasse lauert der Tod?

In dieser Sammlung können Sie nicht nur die Täter ermitteln, sondern auch die Schauplätze der Verbrechen enttarnen. Die Aufklärung zu diesen Tatort-Rätseln finden Sie im Nachspann des Buches.

Ich wünsche Ihnen spannende Unterhaltung,

Ihre Maren Graf

Gänseschmaus mit kleinen Fehlern

Gisa Klönne

Margot, 19.17 Uhr

Also meine Schwiegertochter, ich weiß nicht. Dieses zerknitterte Baumwollhängerchen, das sie nun wieder anhat. Und diese strähnigen, schlecht gefärbten Haare. Und wie die immer tut. Als sei es eine Zumutung, hier zu Besuch zu sein, nein, schlimmer, als wolle ich ihren kostbaren Max-Moritz vergiften. Dabei habe ich mir mit dem Essen so große Mühe gegeben! Und gedeckt habe ich auch schön, weihnachtlich eben. Das gute Silber natürlich und die Tischdecke mit den Engeln. Die hat der Max-Moritz schon als Kind so geliebt. Aber für meine Schwiegertochter ist das alles ein Affront, die würde das Christfest wahrscheinlich am liebsten in irgendeiner primitiven Hütte verbringen, ohne Tannenbaum und Braten und Stil und vor allem ganz allein mit meinem Sohn. Für die ist eine liebende Mutter nichts anderes als eine Tyrannin. Dabei ist sie es ja, die den Max-Moritz herumkommandiert. Leise zwar und hinter meinem Rücken. Aber ich merke das trotzdem und will mir lieber gar nicht erst ausmalen, wie das zugeht, wenn ich nicht dabei bin. Gut für den Max-Moritz ist diese Ehe jedenfalls ganz sicher nicht. Blass und mager ist er seit der Hochzeit geworden. Unglücklich, da lasse ich nicht mit mir argumentieren. Eine Mutter fühlt doch, wie es um ihr eigen Fleisch und Blut bestellt ist! Der kann man nichts vormachen, die sieht mit dem Herzen.

*

Larissa, 19.31 Uhr

Der Maxe leidet, ganz geduckt hängt der über seinem Teller. Und dazu das Gewinsel der Wiener Sängerknaben in Endlosschleife und der blinkende, völlig mit Kitsch überladene Tannebaum und diese scheußlichen, glubschäugigen Engel überall, ganz fürchterlich. Aber natürlich wagt der Maxe es auch diesmal nicht, seiner verehrten, verwitweten, liebenden und immer nur wohlmeinenden Mama die Stirn zu bieten. Da quält er sich lieber die zweite Portion Gans in den Bauch und tut so, als schmecke ihm die noch so gut wie die erste. Zwei Gänseschlegel und dazu noch Rotkohl und Klöße und diese vor Fett nur so triefende Soße. Ich verstehe nicht, wie er es überhaupt schafft das herunterzukriegen. Nein, stimmt nicht, ich verstehe es doch: Jahrzehntelanges Training ist das. Aufessen als Liebesbeweis, immer brav schlucken, bis zum bitteren Ende.

*

Margot, 19.42 Uhr

Maxe nennt sie ihn. Nicht so viel von dem Fleisch, Maxe. Nimm lieber mehr von dem Rotkohl. Und bloß nicht zu viel von der Soße! Maxe – also bitte! Herablassend klingt das, völlig respektlos. Dabei ist der Name Max-Moritz so schön, wo es doch mit einem Brüderchen für ihn nicht geklappt hat. Aber gut, ich will ja keinen Streit, es ist nun mal Weihnachten, also halte ich mich zurück. Nur diese schöne polnische Hafermastgans, die muss weg, das ist mir doch wichtig. Tiefgefroren hab ich die gekauft, deshalb ist die schön zart, genauso wie die vom Metzger, wo ich früher gekauft habe, als der Herbert noch lebte. Aber jetzt – diese Preise, das kann ich mir von meiner kleinen Rente nicht leisten. Macht aber nichts, das Rezept ist noch das alte und die haben wirklich ganz ausgezeichnete Ware bei Aldi. Nicht bio, nicht öko, sondern ganz normal. Aber das habe ich den Kindern natürlich nicht verraten, wir wollen ja heute ganz friedlich sein. Ach, der Baum ist so schön und wenn wir so traulich zusammensitzen und essen, ist es doch recht harmonisch mit uns, selbst wenn meine Schwiegertochter an diesen grauslichen Körnerklumpen herumnagt, die sie mitgebracht hat, da gucke ich lieber gar nicht erst hin, sonst wird mir die Laune doch noch verdorben, und zum Nachtisch gibt es dann ja gleich noch Gebäck und den Stollen.

*

Larissa, 19.54 Uhr

Jetzt reden die tatsächlich immer noch über die Gans, und wie gut die doch wieder schmeckt, genauso wie früher! Also Margot redet und der Maxe, der lächelt und nickt und sagt höchstens mal hm oder mhmh. Wenn der mit mir allein ist, ist inzwischen ja alles gut und normal und die 30 Kilo Übergewicht haben wir schließlich auch wegbekommen. Aber sobald wir bei seiner Mutter sind, regrediert der unweigerlich wieder zu dem Muttersöhnchen, das er zu lange war. Sogar dieses hektisch SOS-blinkende Rentier auf dem Nachbarbungalow findet er lustig. Heißt das Regredieren, wenn jemand sich psychisch und vom Verhalten her in ein Kleinkind zurückverwandelt? Also jedenfalls passiert das mit dem Maxe, wenn wir hier zu Besuch sind. Dabei hat er mir geschworen, dass dieses Mal alles anders wird. Und ich hab ihm geglaubt, bin also doch wieder auf diese Alle-haben-sich-wahnsinnig-lieb-und-sind-froh-unter-Baum-Kacke reingefallen. Herzlichen Glückwunsch, Larissa, selber schuld! Weihnachten – irgendein Teufelchen in mir wünscht sich wohl tatsächlich immer noch, dass das wenigstens ein einziges Mal richtig schön ist. Liegt wohl an meiner Kindheit, die war auch nicht ganz ohne, obwohl meine Säufermutter zum Glück früh gestorben ist. Einen Vater hatte ich ja eh nicht, jedenfalls keinen, den ich kannte. War auch besser so.

*

Margot, 20.01 Uhr

Die Larissa hatte es früher ganz schwer, du weißt doch gar nicht, wie sie wirklich ist, Mutti, sagt der Max-Moritz immer. Ihr seht euch ja viel zu selten. Selten, ja, das kann man leider wirklich so sagen. Also Weihnachten natürlich schon. Und zu Ostern und zu meinem Geburtstag. Und zum Muttertag. Aber das ist ja alles ganz selbstverständlich und zählt eigentlich gar nicht, und die zwei Wochen im Sommer sind auch immer viel zu kurz. Kaum hat Max-Moritz den Gartenzaun neu gestrichen und alles gekerchert, ziehen sie wieder los. Dabei ist es so wunderbar ruhig bei uns, das würde meinem Jungen so guttun, das endlich mal wieder so richtig zu genießen. Und bis zu seinem Vater sind es von unserer Haustür zu Fuß nur zwei Minuten. Andererseits: So kurz sind die Besuche ja nun auch wieder nicht, dass ich mir inzwischen nicht doch ein recht deutliches Bild von meiner Schwiegertochter machen konnte. Und was ich da sehe, das stimmt mich sehr traurig.

*

Larissa, 20.07 Uhr

Wie der Maxe jetzt wieder guckt, richtig flehentlich. Wieso legt der nicht einfach Messer und Gabel beiseite? Weil es dann wieder ein Drama gibt, klar. Weil die zart besaitete Margot das nicht aushält, wenn ihr Junge ihr Essen verschmäht. Dabei hangelt die sich selbst von Diät zu Diät, die besteht aus nichts anderem als aus Knochen und Kontrollzwang, sag ich immer. Liebe geht durch den Magen – von wegen. Fettgefressene Männer, die ihr zu Füßen liegen, die sind das Lebensziel meiner Schwiegermutter. Wahrscheinlich, weil die zu apathisch sind, ihr zu widersprechen. Oder um überhaupt irgendetwas zu tun. Ein Wunder eigentlich, dass die überhaupt jemals Sex hatte mit ihrem Zwei-Zentner-Herbert. Aber muss ja wohl irgendwie gegangen sein, sonst wäre mein Maxe nicht da. Wahrscheinlich hat sie mit Viagra nachgeholfen, sie glaubt ja an Pillen, die denkt, damit kann sie alle manipulieren. Ein ganz schwaches Herz hätte der Maxe, behauptet sie. Und zu hohen Blutdruck. Als ich den kennenlernte, hat der tatsächlich andauernd Betablocker und Beruhigungstabletten geschluckt. Aber jetzt nicht mehr, dafür habe ich inzwischen gottlob gesorgt. Still und effizient, ohne mit ihm drüber zu sprechen, um ihn nicht noch unnötig zu belasten. Sorgen hat er ja auch so schon genug.

*

Margot, 20.11 Uhr

Natürlich geht mich das nichts an, was die Kinder so treiben und der Max-Moritz ist ja nun auch schon 52, also alt genug, für sich selbst zu entscheiden. Ich dringe ja auch gar nicht in ihn, ich war immer schon sehr zurückhaltend, das ist meine Natur. Aber musste es wirklich ausgerechnet eine blutjunge Verkäuferin aus einem Ökokombinat sein? 24 Jahre Altersunterschied – in so einer Beziehung geht es doch nicht um Liebe. Mag schon sein, dass ich ein bisschen konservativ bin, aber ich bin nicht blöd, und man liest ja auch immer diese unappetitlichen Geschichten in der Zeitung. Diese emanzipierten Frauen heute, die sind alle eiskalt und berechnend und agieren mit fürchterlichen Tricks, gerade wenn ein Mann so weichherzig ist wie mein Max-Moritz. Aber meine Warnungen lässt er ja nicht gelten. Da wird er sogar richtig wütend und laut. Wie früher, wenn ich gezwungen war, seine Laken zu kontrollieren. Hoffentlich nimmt er wenigstens noch seine Medizin.

*

Larissa, 20.15 Uhr

Ich hab mir das ehrlich viel schöner vorgestellt, damals, als ich in diese Familie eingeheiratet habe. Lässt sich ja auch erstmal ganz schnuckelig an hier: Alles still, alles grün, überall nur diese schnuckeligen kleinen Fußwege zwischen schnuckeligen kleinen Häuschen und Zäunen und Hecken und Gärten. Ich dachte, das ist total klasse, so ein bisschen Spießigkeit und heile Welt im Hintergrund, mit Mutter und Vater und Eigenheim und Garten und der Maxe ist so ein ganz Lieber und Treuer. Ist er ja auch, aber ich hab halt nicht mit dem plötzlichen Herztod von Schwiegerpapa Herbert gerechnet, und vor allem nicht mit seiner Mutter. Leichtsinnig war das von mir, total naiv. Richtig reingefallen bin ich da, bloß weil ich immer dachte, schlimmer als mit meiner könnte es gar nicht werden.

*

Margot, 20.17 Uhr

Hörig ist der Max-Moritz dieser Larissa geworden. Ja, so drastisch muss man das leider sagen. Wie der sie dauernd anschaut, mit so glänzenden Augen. Wie ein Kind vor der Bescherung oder ein Hundchen, das um ein Leckerli bettelt. Aber dass die ihm was Schönes zu bieten hat, daran glaube ich nicht. Nichts als Zwietracht hat sie gesät, seitdem sie in unser Leben kam, aber was sollte man auch erwarten, sie stammt ja wohl aus einer völlig zerrütteten Familie. Zuerst dachte ich noch, gerade deshalb würde sie sich bemühen, sich bei uns einzufügen, weil sie es bei uns doch so gut getroffen hat. Ordentlich und sauber und verlässlich einander zugewandt, so sind wir schließlich immer gewesen. Aber von wegen Dankbarkeit – weit gefehlt. Ständig mäkelt sie an allem herum, vor allem an mir. Der arme Max-Moritz, ich habe mich ja prinzipiell schon für ihn gefreut, dass er eine Frau gefunden hat, ein Mutterherz ist ja groß. Aber musste es wirklich diese Larissa sein?

*

Larissa, 20.20 Uhr

Irgendwas muss ich jetzt wirklich tun, um den Maxe zu erlösen. Die wird ihm sonst gleich noch ein drittes Stück Gans aufnötigen, da bin ich sicher. Aber wenn der noch mehr isst, wird er später im Bett wieder Bauchkrämpfe kriegen und ist zu überhaupt gar nichts mehr zu gebrauchen, dabei sind die Voraussetzungen für einen tröstlichen Ausklang dieses Abends ohnehin schon deprimierend genug. Denn natürlich schlafen wir nachher wieder unter den Indianerpostern und den Regalen mit den Teddybären im Kinderzimmer. Ich in seinem schmalen Jungenbett mit der Feuerwehrbettwäsche, das bei jeder Bewegung ganz schauderhaft quietscht, er auf dem Fußboden, wo seine Mutter widerwillig eine Luftmatratze mit Decken ausgestattet hat. Für mich natürlich, nicht für ihren kostbaren Liebling Max-Moritz, und ganz sicher nicht, um darauf in einer eher nicht jugendfreien Art und Weise zu verkehren. Und weil ja Weihnachten ist, tun wir auch diesmal so, als ob wir uns an diese Schlafordnung halten, und tauschen die Plätze erst, wenn wir allein sind. Und dann dieses ewige Warten auf den Moment, in dem die liebe Margot nicht mehr vor unserer Tür auf- und abschleicht … Albern ist das natürlich, total kindisch, aber Maxe besteht darauf, da lässt der nicht mit sich reden. Was lohnt der Streit, Hauptsache ist doch, dass wir dann endlich allein sind, sagt er, und dass wir uns lieben. Lieben – ha! Letztes Jahr nach dem großen Gänsefressen, als ich dachte, jetzt kommen wir endlich zur Sache, da wurde ihm schlecht und er hing stundenlang über dem Klo und kotzte, und ich musste ihm kalte Kompressen reichen und ihn trösten. Das ist einfach nicht fair, aber ich hab das natürlich trotzdem gemacht, was blieb mir auch übrig. Ach, ich weiß auch nicht, aber manchmal glaub ich schon: Wenn der Maxe mich nicht getroffen hätte, würde der heute vielleicht schon gar nicht mehr leben.

*

Margot, 20.23 Uhr

Da, na bitte. Sie bevormundet ihn! Legt ihre Hand mit den scheußlich abgekauten Nägeln auf die seine, kaum dass er die Gabel auf dem Tellerrand ablegt. Natürlich nicht aus Zärtlichkeit, sondern ausschließlich um ihn daran zu hindern, sich noch ein Stück Gans auf den Teller zu heben. Das Essen ist überhaupt so ein Thema, das mir zeigt, welch verheerenden Einfluss sie auf meinen Max-Moritz ausübt. Bio muss neuerdings alles sein, auch für ihn, sogar seine Kleidung, dabei standen ihm die schönen Hemden, die ich ihm immer kaufte, so gut. Aber nein, das ist vorbei. Hundert Prozent bio und öko und freilaufend und gentechnikfrei und was weiß der Himmel noch alles muss nun alles sein, und Fleischesser rangieren in den Augen meiner Schwiegertochter ungefähr auf der gleichen moralischen Stufe wie Massenmörder, wenn nicht noch tiefer. Tier-KZs seien die Ställe und Käfige, schreit sie, sobald ich es wage zu widersprechen. Terror ist das. Biofaschismus! Schreit die mir doch letztes Jahr glatt ins Gesicht, ich hätte Max-Moritz’ Vater auf dem Gewissen, zu viele Fette und Kohlehydrate und Zucker hätte ich dem verabreicht. Bloß weil dem Max-Moritz ein bisschen unwohl war. Dabei lag das bestimmt nicht an meinem Essen, sondern wenn überhaupt an dem ganzen Stress, den Larissa immer verbreitet. Der ist eben sensibel, das hält der nicht gut aus. Und mein Herbert, der hatte einfach ein schwaches Herz.

*

Larissa, 20.24 Uhr

Wenn dieser Weihnachtsbraten nun wenigstens keine mit Antibiotika vollgepumpte Foltermastgans wäre! Aber von wegen. Ich hab mir gleich gedacht, dass was nicht stimmen kann, wenn die Margot direkt bei der Begrüßung was von bio schwadroniert, also hab ich ein bisschen nachgeforscht. Draußen im gelben Sack hat sie die Verpackung versteckt, nicht im Küchenabfall. Hat wohl ernsthaft geglaubt, da finde ich die nicht. Nur weil der Maxe mich so inständig angefleht hat, habe ich das bislang noch nicht erwähnt. Aber jetzt ist damit Schluss, wenn der Maxe nicht sofort aufhört zu essen, dann war’s das mit dem Familienfrieden, das schwöre ich. Weihnachten hin oder her, das ist mir dann egal. Dann kann ich wirklich für nichts mehr garantieren, da können die Kirchglocken draußen von mir aus Sturm bimmeln oder Stille Nacht schlagen, alle drei Strophen, das würde nichts ändern, dann …

*

Margot, 20.24 Uhr

Das mit dem Übergewicht von dem Herbert war ja schon so ein Thema. Selbst unser Hausarzt hat das gesagt. Aber eine Diät ist doch unwürdig für einen gestandenen Mann. Und wenn es dem Herbert doch nun mal so schmeckte? Es war doch meine Pflicht, für meinen Ehemann zu sorgen, und ich hab das sehr gern getan, und er hat sich niemals beschwert. Und jetzt auf dem Friedhof, da hat er es auch gut. Und ganz in unserer Nähe. Ach, das war schön früher, wenn wir zu dritt um den Tisch saßen, so ganz unter uns, ich und meine Männer. Und wenn dann noch Weihnachten war und der Tannenbaum leuchtete und bei Meiers das Rentier! Auch der Max-Moritz war ja früher ein sehr guter Esser. Und jetzt? Ewig kaut er nun schon auf dem Rotkohl herum, statt noch ein Stück Gans zu nehmen, nur um dieser ordinären Bioladen-Kassiererin zu gefallen. Nicht einmal Abitur hat die, keinerlei Manieren. Das tut mir schon weh.

*

Larissa, 20.25 Uhr

Der Maxe hat mich verstanden, halleluja, hurra! Ich kann das Tranchiermesser wieder auf die Platte legen. Ganz unmerklich hat er mir gerade zugenickt. Das nächste Stück Gans wird er ablehnen, komme, was wolle. Mein Maxe, ach, ich bin stolz auf ihn. Es gibt also doch noch ein Weihnachtswunder. Ich selbst bin ja sowieso schon satt, diese Dinkelbratlinge sind ganz schön mächtig und mit Rotkohl und Klößen schmecken die wirklich gut. Ein bisschen trocken vielleicht, aber Margots Soße ist 100 Prozent Fleischsaft, auf dem weißliche Fettaugen schwimmen, einfach widerlich. Fleischessen soll ja sogar impotent machen und dumm, fast so wie Alkohol, irgendwo habe ich das mal gelesen. Ich weiß nicht mehr wo, aber wenn ich mir meine Schwiegermutter so angucke, dann glaube ich das sofort. Also, dass die dumm ist, meine ich. Zum Glück ist der Maxe ja doch ganz anders, und ein Braten pro Jahr wird sein Hirn nicht gleich lahmlegen. Zumal ihn Margots Beruhigungstabletten jetzt nicht mehr so zunebeln. Richtig aufgeblüht ist der, seitdem er nur noch Smarties schluckt, auch im Bett kommt der jetzt allmählich in Fahrt, ganz ohne Viagra. Gut, in den Smarties ist Zucker, der ist auch nicht gesund, aber bei Weitem das kleinere Übel. Einen Tod muss man halt sterben, heißt es doch immer. Jetzt ist der Wein schon leer, mal sehen, ob die gute Margot uns noch eine Flasche spendiert. Oder einen Schnaps, so zum Verdauen? Zwei Stunden noch, höchstens, bis wir uns zurückziehen können, die überstehen wir nun wohl auch noch. Und morgen fahren wir wieder heim oder spätestens übermorgen, und nächstes Jahr feiern wir allein, das schwöre ich.

*

Margot, 20.26 Uhr

Wie rührend Max-Moritz’ Blick jetzt den meinen sucht, der will noch ein Stück Gans, das sehe ich. Ich zwinkere ihm zu. Er ist noch nicht satt, er ist nur zu rücksichtsvoll und sagt das nicht laut, er will einfach niemandes Gefühle verletzen, selbst die seiner missgünstigen Ehefrau nicht. Ach, mein Max-Moritz. Er war halt schon immer ganz besonders sensibel. Andere Mütter wären mit so einem Jungen vielleicht überfordert gewesen, aber ich nicht, wirklich niemals. Ich habe immer gesagt, dass wir das schaffen, und nichts geht schließlich über ein intaktes Familienleben. Und es hat ja geklappt, gut erzogen ist er, immer höflich, auch mit mir hat er niemals ernsthaft gestritten. Aber dafür gab es ja auch keinerlei Anlass. Gegenüber dieser Larissa hingegen, da wünsche ich ihm schon manchmal etwas mehr Mumm. Den Wein hat die mehr oder weniger alleine getrunken. Und wie die ihn jetzt wieder anschmachtet und betatscht und die Brüste vorstreckt …

So geht das nun wirklich nicht, nicht heute, am Weihnachtag. So viel Autorität habe ich in meinem eigenen Haus ja nun doch noch, dass mein einziger Sohn nicht verhungern muss. Insofern ist es doch ein Glück, dass meine Schwiegertochter nur Körner isst und dass ich mich zurückhalte, weil ich auf meine Linie achte. Also Glück für den Max-Moritz, denn da liegt noch ein ganz prächtiges Stück Gänsebrust, das wird ihm schmecken, da bin ich ganz sicher!

*

Larissa, 20.27 Uhr

»NEIN, MAXE, NEIN!«

Meine Stimme ist schrill, völlig hysterisch, aber was soll ich machen? Der Maxe kann doch nicht einfach weiterfressen, noch eine Gänsebrust nach den zwei riesigen Schlegeln. Das kann doch nicht wahr sein, der muss jetzt was sagen, der hat mir doch gerade noch zugenickt, das hab ich mir nicht eingebildet. Er will das doch gar nicht, der mag gar kein Fleisch. Der muss sich jetzt wehren. Jetzt! SOFORT!

*

Margot, 20.28 Uhr

Er freut sich, na also. Mein guter Junge. Wie er strahlt und die Gabel ins Fleisch spießt. Ich hab’s ja gewusst, ein schönes Essen, das ist, was er wirklich braucht, halleluja, und von draußen die Glocken, aber die Larissa, die …

*

Larissa, 20.28 Uhr

Das ist so frustrierend! Der duckt sich tatsächlich nur brav über den Teller und säbelt drauf los. Der frisst sich noch zu Tode, genau wie der Herbert. Aber das lass ich nicht zu, das darf nicht passieren, den wird Margot hier nicht auch noch beerdigen und postum mit ihren Kitschengeln traktieren. Ich brauche ihn doch und er mich noch mehr. Allein schon, um ihn vor seiner Mutter zu beschützen! Dieser Blick von ihr jetzt, so ganz komisch flackernd …

*

Margot, 20.28 Uhr

Die will ihm sein Fleisch wegnehmen, die gönnt ihm das nicht! Aber da bin ich vor, das lass ich nicht zu, nicht an meiner Tafel!

*

Larissa, 20.29 Uhr

Das darf doch nicht wahr sein! Jetzt droht die mir mit der Vorlegegabel! Wo ist das Tranchiermesser? Ich muss mich doch wehren, ich muss mich verteidigen, mich und meinen Maxe, jetzt, sofort, ein für alle Mal! Ich greife nach der Geflügelschere. Sofort schwingt die Margot die Vorlegegabel höher. Die will wirklich handgreiflich werden, und das am Weihnachtstisch, aber das lässt mein Maxe nicht zu, da legt er doch sein Besteck auf die Seite, um ein Machtwort zu sprechen. Mein Maxe, ach!

*

Margot, 20.29 Uhr

Er will noch Soße, sagt er! Na also, ich wusste es, er ist noch nicht satt! Da blieb der Larissa der Mund offen stehen. Da kippt die fast um. Natürlich bekommt er noch Soße, mein Junge, ganz frisch aus der Mikrowelle, dann ist die schön warm und duftet so gut. Dieser Hass in den Augen meiner Schwiegertochter, dieser Fanatismus. Die wollte mich gerade wirklich … Aber das ist nun vorbei, ein für alle Mal. Mutter und Sohn sind eben doch die natürlichere Einheit, und der Max-Moritz sieht das genauso, mein lieber Junge, mein …

*

Larissa, 20.29 Uhr

Wieso rennt denn der Maxe auf einmal wie ein Berserker zur Margot in die Küche? Der wird sie doch nicht etwa …, bloß weil ich immer sage, dass besser seine Mutter hätte sterben sollen, und nicht der Herbert, und dass er sich wirklich von ihr befreien muss … Das war doch nur so dahingesagt, das hab ich doch gar nicht ernst gemeint, ich bin schließlich Pazifistin und der Maxe auch und außerdem ist doch Heiligabend. Aber irgendwie hat der Maxe mich wohl falsch verstanden, denn die Margot, die kreischt wie am Spieß und ist jetzt auf einmal still, richtig unheimlich ist das, und nun kommt der Maxe wieder ins Wohnzimmer, mit riesigen Schritten, und er lächelt so seltsam und ist ganz voller Blut, und er schreit was von Frieden und in Ruhe essen und er schwingt das Tranchiermesser und – »NEIN, MAXE, NEI…«

Onkel Thorsten

Maren Graf

Das Scharren von Füßen kriecht über den Steinboden zwischen den Stühlen. Leute flüstern. Beides zusammen klingt ein bisschen nach kleinen Tierchen, die umher huschen und an den alten Mauern kratzen.

Es riecht seltsam in der kleinen Halle. Nicht nach den Blumenkränzen, die überall verteilt liegen. Sondern irgendwie nach Staub und alten Sachen. Ein bisschen wie bei Oma Hedi, die eine Reihe vor uns sitzt. Vielleicht ist es ja ihr schwarzer, dicker Mantel, der so muffelig riecht?

Ich will mich ein Stückchen vorlehnen und daran riechen, als Mama mir ihre Hand auf den Oberschenkel legt und sanft den Kopf schüttelt.

»Bleib bitte sitzen«, raunt sie und schiebt mich wieder zurück auf meinen Platz.

Auch Mama hat heute eine schwarze Jacke an. Und ein schwarzes Kleid. So wie alle Leute, die nach und nach durch die große weiße Holztür kommen. Es ist fast wie auf einer Karnevalsfete. Von schwarzen Hexen oder Vampiren. Einige haben sogar blutige Augen und sind ganz blass geschminkt. Nur Mama nicht. Sie hat bloß ihren Mund rot angemalt, wie sie es immer tut, wenn sie sich schick macht.

Gerade kommen meine beiden Tanten herein und gehen ganz eng zusammen durch den Gang in der Mitte. Tante Karin trägt einen dunklen Anzug wie von einem Mann und den Arm von Tante Sabine, die bei jedem Schritt auf ihre Füße schaut. Erst als sie vorne ankommen, hebt sich der komische Hut, der auf ihrem Kopf sitzt, und nimmt den Schatten von ihrem Gesicht.

»Morgen gehen wir auf Onkel Thorstens Beerdigung«, hatte Mama gestern Abend zu mir gesagt und sich noch zu mir ans Bett gesetzt. »Damit wir uns von ihm verabschieden können.«

»Wo geht Onkel Thorsten denn hin?«, hatte ich wissen wollen.

Mama hatte die Lippen zusammengekniffen und dann etwas schief gelächelt.

»Zum lieben Gott, mein Schatz«, hatte sie gesagt und mir über die Stirn gestrichen.

»Und was macht er da?«

Sie hatte eine ganze Weile nachgedacht, als wüsste sie es auch nicht so genau, und dann gemeint, er würde beten.

Beten.

Auch ich bete vor dem Schlafengehen immer, und bestimmt würden wir hier in der Kapelle gleich ganz viel beten. Das ist in Kirchen so. Aber dass die Leute beten, wenn sie bei Gott sind, das hatte ich noch nicht gewusst.

»Wofür betet Onkel Thorsten eigentlich, Mama?«, frage ich jetzt neben ihr.

Mama bohrt ihren Blick in die gefalteten Hände in ihrem Schoß, starrt auf die verschränkten Daumen.

»Für Vergebung und Gnade«, höre ich es aus der Reihe vor uns raunen, worauf Mamas Kopf mit einem Ruck nach oben schnellt.

»Mutti!«, zischt sie und reißt ihre gefalteten Hände auseinander, um sie dann in ihren Taschen zu vergraben.

Tante Sabine steht immer noch vorne vor dem Sarg und starrt das dunkle Holz an. Ihre Augen sind zu Schlitzen zusammengekniffen, und auch Tante Karin macht irgendwie ein finsteres Gesicht. Aber es passt zu den ganzen düsteren Gestalten und der seltsamen Stimmung, die sich einem hier an den Körper presst. Gruselig. Angespannt.

Es würde mich nicht wundern, wenn tatsächlich ein Vampir aus dem Sarg gestürzt käme und dann ein großer Kampf ausbrechen würde. Die Vampire würden sich gegenseitig ihre Zähne zeigen, sich anfauchen und sich mit ihren spitzen Fingernägeln ins Fleisch ritzen. Hexen würden ihre Hände emporreißen, schwarze Mäntel durch die Halle toben. Überall Blitze und Chaos.

Die bedrohliche Vorstellung verflüchtigt sich mit einem Mal, als meine beiden Tanten sich abwenden und sich neben Oma in die erste Reihe setzen. Gleichzeitig schieben sich meine beiden Cousinen Lea und Hannah in unsere Reihe. Daneben setzt sich Onkel Robert und streicht der kleinen Lea tätschelnd über den Kopf. Sie ist ja noch viel zu klein, um zu verstehen, dass in dem Sarg da vorne ihr Papa liegt. Bestimmt weiß sie auch gar nicht, was tot eigentlich heißt und dass der Thorsten jetzt beim lieben Gott betet.

Aber meine andere Cousine Hannah ist schon zwei Jahre älter als ich und kennt sich aus. Sie hat mir schon oft was erklärt. Zum Beispiel, dass wenn man einen Herzinfarkt hat, sich das Herz wie eine Faust zusammenzieht und nicht mehr weiterarbeitet. Deshalb kann dann das Blut nicht mehr durch den Körper fließen. Und ohne fließendes Blut stirbt man. So war das auch bei Onkel Thorsten. Herz zusammengepresst. Blut geschockt. Stillstand. Tot.

Das passiert eigentlich nur, wenn man krank ist. Oder alt. Oder beides.

»War Onkel Thorsten krank, Mama?«, frage ich, weil mir gerade auffällt, dass mein Onkel noch gar nicht so furchtbar alt war.