Uta-Maria Heim
Toskanisches Feuer
Kriminalroman
Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:
Toskanische Beichte (2017), Feierabend (2011), Totenkuss (2010),
Wespennest (2009), Das Rattenprinzip (2008), Totschweigen (2007),
Dreckskind (2006)
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2018
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung: Julia Franze
E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © MangAllyPop@ER/Fotolia.com
ISBN 978-3-8392-5858-3
Für Pauline
Im Bösen verliert der Mensch sich selbst bei dem tragischen Versuch, sich der Last seines Menschseins zu entledigen.
Erich Fromm, Die Seele des Menschen1
Mit der Risikofreude schwinden die Gründe zu leben.
Unsichtbares Komitee, Jetzt2
Alles war schwarz. Er konnte absolut nichts sehen. Er befühlte seine Hände, zählte zum zigtausendsten Mal seine Finger. Es waren zehn. Fünf Finger an der linken, fünf an der rechten Hand. Seine Hände waren schweißig kalt. Die Nägel waren gewachsen, sie mussten gewachsen sein, zwei waren abgebrochen. Sobald er ans Licht kam, würde er um eine Feile bitten. Das war aber Quatsch, weil er womöglich nie wieder hier rauskam. So weit durfte er nur nicht denken. Das hatte er geübt, bloß es nutzte ihm nun nichts. Es war heiß, es stank, und er musste pissen. Er lag da wie ein Embryo, er schwitzte und kriegte kaum noch Luft. Bald würde er ersticken. Sämtliche Glieder taten ihm weh. Es gab keine Stelle am Körper, die nicht schmerzte. Der Rücken stach. Das rechte Bein krampfte. Sein Bauch zog sich zusammen. Der Nacken schwoll an. Sein Kopf pochte. Er hatte die Orientierung verloren. Und das Zeitgefühl. Der Boden unter ihm schwankte und vibrierte. Ein sanftes Bollern mischte sich mit einem spitzen Hämmern. Er nahm nicht an, dass das noch die Straße war. Vermutlich waren sie längst auf einer Fähre. Sie fuhren in ein fremdes Land, in dem die Sonne schien. Sie hatten ihm nicht gesagt, wohin die Reise ging. Und wie viele Stunden, Tage und Nächte sie dauern würde. Er konnte nicht einmal darauf vertrauen, dass sie ihn nicht verrecken ließen. Sie hatten keine Erfahrung mit Gefangenen, und er war der jüngste der Truppe. Er war Sportler. Niemand wusste, dass er bis spät in seine Jugend hinein Asthma gehabt hatte. Es war nicht mehr nachzuweisen. Vielleicht trauten sie ihm weit mehr zu, als er aushalten konnte.
Längst spürte er keine Hoffnung mehr. Und auch keine Angst. Der Gedanke an den Tod wich einer Benommenheit, die ihn einlullte. Vielleicht war er einige Male bewusstlos gewesen. Wahrscheinlich hatte er aber einfach nur geschlafen. Geträumt hatte er nichts. Sie hatten ihn nicht misshandelt. So weit waren sie nicht gegangen. Sie hatten keinerlei Ahnung von Gewalt. Das war das größte Problem bei der Sache.
Er musste, verdammt noch mal, pissen. Er tastete blind um sich. Irgendwo gab es eine leere Sprudelflasche. Er musste sie finden. Er würde hineinpinkeln und seinen Urin trinken. Das würde ihn einige Stunden lang vor dem Ertrinken retten. Vor dem Verdursten. Er war halb besinnungslos vor Durst. Er fand die richtigen Wörter nicht mehr, aber dafür die Flasche. Er öffnete den Reißverschluss seiner Jeans. Er nestelte am Schritt und schob seinen Schwanz vor die Öffnung. Der Deckel ging auf. Es wurde gleißend hell.
»Was, zum Teufel, treibst du da?«
Die Stimme der Chefin. Sie war nah wie nie, und sie klang empört. Vermutlich glaubte sie, er onanierte. Schlagartig kam er zu sich. Er wandte sich um. Blinzelte ins Neonlicht. Schloss die brennenden Augen. Drehte das Gesicht weg. Verbarg es im Ellenbogen. Krümmte sich wie ein Wurm. Schob seinen Schwanz zurück in den Eingriff. Nässte leicht ein, spannte den Muskel an, lockerte ihn wieder und ließ dann einfach laufen.
»Du machst dir in die Hose, du Jungspund von einem Amtsarsch?« Die Chefin brüllte. »Scheißsoftie. Mit dir ist einfach nichts anzufangen.«
Sie waren immer noch in der Werkstatt. Das Rütteln wurde abgestellt, das Nichts schwang aus und kam zur Ruhe. Der Audi war keinen Meter gefahren. Die graue Limousine stand auf einer Art Wagenheber, sie hatte sich keinen Zentimeter bewegt.
»Wie lang war ich jetzt hier drin?« Er war heiser und räusperte sich. Er hustete.
»Keine acht Stunden. Noch nicht einmal einen Arbeitstag. Und du willst dich austauschen lassen? Keine Geisel macht so schnell schlapp.«
Sie trug immer noch das fliederfarbene Kostüm mit dem Pepitamuster. Und die dunkelrote Kostümbluse. Sie sah damit aus wie ein Transvestit, aber kein Mitarbeiter hatte den Mut, es ihr zu sagen. Es waren die Klamotten, die sie gekauft hatte, als sie beschloss, Karriere zu machen. Das war vor sieben Jahren gewesen, am Tag der sogenannten Baader-Befreiung, am 14. Mai 1970. Die Geburtsstunde der Roten Armee Fraktion, zwei Wochen vor Beginn der Fußball-Weltmeisterschaft in Mexiko. Von da an wollte sie ganz nach oben. Sie hatte das selber so geäußert, wenn auch in anderen Worten. Sie wollte Verantwortung übernehmen, etwas tun. Sie wollte zurückschlagen.
Während Andreas Baader bei einer Ausführung aus der Justizvollzugsanstalt Tegel mit Waffengewalt befreit wurde, unter anderem von Ulrike Meinhof, wurde Willy Brandt beim SPD-Bundesparteitag in Saarbrücken mit überragender Mehrheit als Parteivorsitzender wiedergewählt. Er konnte sich somit extrem gut an das Datum erinnern, an dem sich die Chefin für den Job bewarb, den sie seither erledigte. Denn er hatte an dem Tag, einem Donnerstag, seinen 21. Geburtstag gefeiert. Er war volljährig geworden. Seine Mutter hatte eine Schwarzwälder Kirschtorte gebacken und der Vater gab ihm 500 Mark. Er hatte gerade keine Freundin, seine Clique bröckelte, und er kam beim Karate nicht weiter, aber er bestand endlich sein Abitur und sollte eigentlich zur Bundeswehr. Untauglich. Nicht Asthma. Plattfüße. Immerhin. Dinge, die ihn später nicht behindern konnten. Sein Vater war bei der Militärseelsorge. Er ergab sich. Beschloss, nicht zu kneifen und irgendwie in den Staatsdienst zu gehen.
Aus dem Autoradio quoll »Das hat die Welt noch nicht geseh’n« von Ricky Shayne: »Das hat die Welt noch nicht geseh’n, / mir sind die and’ren Mädchen gleich. / Dabei war ich mal in der Liebe / so wie der Hecht im Karpfenteich.« Nachdem die Kaufhausbrandstifter Andreas Baader, Gudrun Ensslin und andere aus der Haft entlassen worden waren, bis über die Revision ihrer Urteile entschieden wurde, war der Schlager im Juli 1969 vier Wochen lang in den deutschen Charts platziert gewesen. Er hörte erst jetzt, dass er lief, aber es hatte ihn natürlich unbewusst an das Ende seiner Jugend erinnert.
»Wir können weitermachen«, sagte er. »Alles roger. Ihr habt doch Schiss gekriegt und aufgegeben. Ich kann noch.«
»Gut!«, bellte die Chefin. »Raus hier. Da, an die Wand.«
Er krauchte aus dem Kofferraum und taumelte an die Werkstattmauer. Er hielt sich kaum auf den Füßen. Er schwankte. Mit beiden Händen stützte er sich am Beton ab.
»Name?«
»Hach. Trost, Gernot.«
»Geboren?«
»14. – hmm – Juli 1949 in S… Schiltach im Schwarzwald.«
»Eltern?«
»Gerlinde Trost, geborene Allgaier, aus Tennenbronn. Solanus Trost, Bauer.«
»Ausbildung, Beruf?«
»Soziologiestudium in Freiburg, umgesattelt auf Lehramt, Politik und Geschichte, Referendariat am Gymnasium Schramberg. Mitglied einer K-Gruppe, Berufsverbot.«
»Welcher K-Gruppe?«
»Muss ich das sagen?«
»Was spricht dagegen?«
»Ich möchte niemand mit hineinziehen.«
»Also gut. Maoisten?«
»Nein, Trotzkisten.«
»Kontakte zur RAF?«
»Keine.«
»Motivation, hier einzuspringen?«
»Christliches Elternhaus. Katholisch. Mein Vater ist der Industrielle Franziskus Trost, Präzisionsdrehteile. Meine Mutter Annemarie arbeitet ehrenamtlich in der Kirchengemeinde. Ich habe drei Geschwister: Sepp ist der Älteste, mir nach folgen Matthes und Magda. Mein Großvater hieß Ignatz Trost. Er galt als schizophren. Seine zweite Frau kämpfte für das Wahlrecht. Sie starben beide für das, was sie waren. Grafeneck. Dachau. Noch Fragen?«
»Himmelherrgott Sackzement, was für ein Scheißdreck. Was hat das, verflucht, mit Gerlinde und Solanus zu tun?«
»Mist. Das waren die Großeltern.« Er sah zu Boden. Er würde seinen Klarnamen nie vergessen. Niemals würde er seine Legende lernen. Er konnte das einfach nicht.
»Eben. Und Ignatz war dein Großonkel. Merk dir das endlich.«
»Ich bin halt noch nicht recht firm.«
»Okay«, sagte sie und gab ihm eine Flasche Sprudel. Und eine Dose Bier. Ihre Stimme schlug um. Sie wurde mild, fast zärtlich. Die Chefin lächelte, und ihr herbes Gesicht wurde beinahe hübsch. »Trink das. Und dann geh duschen, zieh dich um. Wir treffen uns in einer halben Stunde im Beratungszimmer.«