Marc Späni
Trümmlig
Kriminalroman
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Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2018
Lektorat: Christine Braun
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © portishead Fotolia.com
ISBN 978-3-8392-5860-6
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Das schweizerdeutsche Adjektiv »trümmlig« entspricht in etwa dem hochdeutschen »schwindlig«. Wird es einem trümmlig, dreht sich die Welt um einen, man verliert die Orientierung, im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. »Trümmlig« leitet sich vom veralteten Nomen »Trümmel« (m.) ab, das eine drehende Bewegung, einen (Wasser-)Wirbel, ein Durcheinander, einen Menschenaufruhr, aber auch Verwirrung, Betäubung, Schwindel oder einen Rauschzustand bezeichnet.
Du hast dir vorgenommen, dich nicht ständig nach Verfolgern umzusehen, nicht mehr ängstlich an den Wänden entlangzuschleichen, nicht mehr zusammenzuzucken, wenn dich jemand nur ansieht. Aber wenn du beim Nachhausekommen, nachdem du schon den Schlüssel ins Schloss gesteckt hast, aus dem Augenwinkel eine Gestalt wahrnimmst, einen Schatten über dir im Treppenhaus, dann sind die Instinkte schneller, Panik ergreift dich, du lässt die Tasche fallen und hältst dir schützend die Arme vors Gesicht.
Marcel. Ich habe ihn angefahren, ob er total bescheuert sei, mich so zu erschrecken. Er hat sich entschuldigt und vorsichtig gefragt, ob mit mir alles okay sei. Ich habe die Tasche aufgehoben, die Tür aufgeschlossen und trotzig genickt: »Ja, alles okay.«
Und eigentlich ist der Tag bis dahin auch ganz gut verlaufen: in der Klasse nur die üblichen Gehässigkeiten, keine Flyer mit der Aufschrift »Sabrina fickt mit jedem« und meiner Telefonnummer, keine neuen Fotomontagen von Porno-Models mit meinem Kopf, sogar meine Kleider lagen nach dem Sportunterricht noch vollständig in der Garderobe und waren nicht einmal mit Shampoo verschmiert.
Mama ist noch nicht zu Hause und Jan hat mich gefragt, ob ich ihm bei den Hausaufgaben helfe, und mich dabei mit diesem typischen Jan-Blick angesehen. Außerdem wollte er wissen, ob mit mir alles in Ordnung sei.
Ja, ist es. Wirklich. Weil ich mir vorgenommen habe, mich nicht mehr ständig fertigmachen zu lassen. Weil ich Léon von der ganzen Geschichte geschrieben habe und er daraufhin meinte, Jessica und ihre Gang hätten selbst ein Problem, wenn sie sich so fies verhielten. Dass sie mich als »hässliche Kröte« und »fettes Schwein« bezeichneten, zeige doch deutlich, dass sie nur eifersüchtig auf mein Gesicht und meinen Körper seien. Sie würden es sicher nie so weit bringen wie ich.
Ich sitze in meinem Zimmer auf dem Bett, gespannt, ob er wieder geschrieben hat. Ich zögere den Moment noch ein wenig hinaus. Zuerst scrolle ich auf dem Handy durch den Klassenchat, obwohl ich gar nicht sicher bin, ob ich wirklich sehen will, was sie über mich schreiben. Aber da ist nichts Schlimmes; die wirklich fiesen Sachen stehen wohl in der geschlossenen Gruppe »We hate S«.
Egal, ich lege das Handy weg und starte ganz feierlich den Computer. Léons Beiträge muss man sich auf einem großen Bildschirm ansehen – das ist echte Kunst! Marcel ist ein Engel, ohne ihn wäre ich nie auf diese Plattform gekommen, hätte keinen Account und somit auch Léon nie kennengelernt. Ich muss mich unbedingt wegen vorhin bei Marcel entschuldigen. Tatsächlich – Léon hat geschrieben und sogar eine ganze Menge Fotos hochgeladen. Ein Firmenauftrag, meint er, aber mir könne er die Bilder schon zeigen: total süße Fotos von Tierbabys, daneben kunstvoll beleuchtete südländische Landschaften irgendwo am Meer! Es muss schon cool sein, ein berühmter Fotograf zu sein, ein »Visual Artist«, wie er sich nennt, zu wichtigen Anlässen eingeladen zu werden, immer um VIPs herum und mit Topmodels zu arbeiten, in der Welt herumzureisen … Wenn Jessica und die andern von Léon wüssten, würden sie vor Neid platzen. Aber denen sage ich nichts. Sollen sie weiter ihre Hassbotschaften posten – Léon hatte mir schon auf mein erstes Foto hin geschrieben, dass er mich total bezaubernd finde. Eine natürliche Schönheit sei ich, meinte er …
Ich könnte mir noch stundenlang die schönen Bilder anschauen und ein paar Kommentare schreiben, aber Jan ruft, ob ich ihm jetzt endlich mit den Hausaufgaben helfe.
Während der Autofahrt von der Kasernenstraße nach Affoltern, wo man die Leiche entdeckt hatte, musste Pascal Felber unweigerlich daran denken, dass er seine berufliche Existenz im Grunde genommen dieser Art von Leuten verdankte, die junge Frauen zu sich lockten, sie quälten, töteten und dann wie ein Stück Müll auf einer Großbaustelle entsorgten.
Der provisorische Autobahnzubringer war wie jeden Morgen heillos verstopft. Die Bauarbeiten für die neue Röhre durch den Gubrist waren in vollem Gange. In ein paar Jahren sollte der Berufsverkehr wieder ungehindert über die Westumfahrung fließen, jetzt sorgten die Arbeiten nur für zusätzliche Staus. Baumgartner versuchte, auf dem Pannenstreifen zu überholen, kam aber nicht durch. Felber schwieg und starrte auf die Blechlawine vor ihm und die riesigen Stützwände, die über eine Länge von sicher 100 Metern neben der linken Fahrbahn aufgezogen worden waren. Um die Straße Richtung Tunnel zu verbreitern, wurden täglich unzählige Kubikmeter Erde hin- und hergeschoben. Eigentlich ein idealer Ort, um eine Leiche verschwinden zu lassen. Was wohl auch gelungen wäre, hätte nicht einer der Baggerführer etwas bemerkt, das er zuerst vielleicht für ein Stück Abfall, für eine weggeworfene Schaufensterpuppe gehalten, dann jedoch festgestellt hatte, dass es ein Mensch war, eine junge Frau, fast noch ein Mädchen.
Baumgartner nahm die Baustellenausfahrt und parkierte den Wagen neben Baumaschinen, Lastwagen, Betonmischern und überdimensionierten Kabelrollen. Ein Streifen- und ein Krankenwagen sowie der Einsatzwagen des Kriminaltechnischen Einsatzdienstes standen auch schon da, eben fuhr das Pikett der Staatsanwaltschaft auf den Platz. Zwischen einem Stapel von Baucontainern, in einer Baugrube, aus der die obere Hälfte eines Baggers herausragte, sah man Leute geschäftig herumgehen, einige in Uniform, andere in weißen Sicherheitsanzügen.
»Haben Sie keine Gummistiefel?«, fragte Baumgartner, der jüngere Kollege des Ermittlungsleiters Pascal Felber, während er sich in ein Paar schwarzer kniehoher Stiefel zwängte, doch Felber war schon losgegangen. Es hatte in den letzten Tagen wieder einmal Unmengen geregnet, typisches Zürcher Spätsommerwetter, und Felber sank bis über die Knöchel im hellbraunen, kalten Schlamm ein.
Im Zentrum des Geschehens lag ein toter Mensch. Die Geschäftigkeit der Polizisten erschien Felber unpassend, ebenso wie das weiße Stoffzelt, das man über der Toten aufgespannt hatte, als handle es sich um einen archäologischen Fund – doch es gab keinen Rest einer römischen Wasserleitung oder die Grundmauern eines mittelalterlichen Hofes zu bestaunen. Im Zelt erwartete Felber der traurige Anblick einer toten jungen Frau.
Drei Personen warteten schon auf den Ermittlungsleiter. Einer von ihnen, ein bulliger Mann in Zivil, versperrte den Zelteingang und trat erst zur Seite, als Felber herangekommen war. Dani Pedrone war Ende 50 und damit rund zehn Jahre älter als Felber, kräftig gebaut, braungebrannt und wurde von einigen, wohl wegen seiner italienischen Abstammung, »Der Pate« genannt. Vorsichtig zog er die Zeltblache ein Stück zur Seite, um Felber einen Blick ins Innere zu gewähren. Baumgartner, der mittlerweile aufgeholt hatte, setzte zu einer ersten Frage an die Kollegen an, wurde von Pedrone aber mit einer Handbewegung zurückgehalten. Fragen später.
Felber trat ein und Pedrone ließ das Tuch hinter ihm zufallen. Der Ermittlungsleiter blickte auf die junge Frau hinunter, die vor ihm lag, als sei sie während eines Bades im Schlamm versteinert worden. Haut und Haare waren von einer braunen Schicht bedeckt, Farbe und Form des Kleides waren nur zu erahnen. Sie lag etwas zur Seite gedreht und zusammengekrümmt, als habe jemand sie an der Taille ein Stück zur Seite geschoben, wohl die große Baggerschaufel. Neben dem einen Fuß, der aus dem Lehm ragte, lag ein Schuh, einer dieser Ballerinas, wie sie auch Felbers 20-jährige Tochter Meret gern trug, und Felber wunderte sich, dass er im Innern so sauber geblieben war, man konnte sogar die Markenetikette lesen.
Nach einer Weile bückte er sich und schloss der jungen Frau die Augen. Die Leute von der Kriminaltechnik machten das nie – als ob es bei den Tatortfotos darauf ankäme! Durch die Zeltplane, die ihn an längst vergangene Campingausflüge mit seiner Familie erinnerte, drangen schmatzende Schritte im Matsch, das Murmeln der Polizisten und das Rauschen der Autobahn. Ein Jet dröhnte über den Himmel, Südanflug auf Kloten.
Felber blieb einige Minuten bei der Toten.
Er blinzelte, als er wieder ins gleißende Sonnenlicht trat, schüttelte den Kopf, als wolle er den schaurigen Anblick abschütteln, und wandte sich an die Wartenden. »Was wissen wir?«
»Ein Baggerfahrer hat sie gefunden«, begann einer der Streifenpolizisten, ein großer junger Mann mit einem langen, roten Gesicht und Backenbärtchen. »Er wird eben einvernommen.«
»Da wird nicht viel herauskommen«, murmelte Felber und blickte auf die Erdhaufen, Gruben und Regenpfützen, »wenn er sie nur gefunden hat.« Er kratzte sich den Dreitagebart. »Wissen wir, wer sie ist?«
Der Polizist reichte ihm einen Zettel, auf dem er den Namen notiert hatte. »Gestern Nacht vermisst gemeldet. 18 Jahre.«
Felber nickte stumm. »Wir benachrichtigen die Eltern erst, wenn wir ganz sicher sind.«
»Sie hatte einen Ausweis dabei«, präzisierte der Lange, »es besteht kein Zweifel.«
Felber nickte erneut. Dann wandte er sich an den Gerichtsmediziner, einen älteren Mann mit randloser Brille. »Und von deiner Seite?«
»Erwürgt, soweit ich sehen kann. Die anderen Verletzungen sind nach dem Tod eingetreten.«
»Die Baggerschaufel«, murmelte Felber, atmete tief ein und aus und fuhr sich mit der Hand über das kurz geschnittene graumelierte Haar.
»Mehr kann ich dir erst sagen, wenn wir die Leiche im Institut haben.«
Die Leiche, sagte er. Auch eine Strategie, um mit solchen Situationen klarzukommen. So zu tun, als handle es sich um eine Sache: eine Wasserleitung oder Tonscherben.
Vorläufig gab es nur wenig mehr Informationen. Der Todeszeitpunkt war wohl irgendwann am Vorabend, man hatte sie hier in einer Grube abgelegt und notdürftig mit Schlamm bedeckt. Die Stelle war von außen kaum einsehbar, auch kein Spazierweg führte daran vorbei, außerdem hatte es am Vorabend in Strömen geregnet, sodass weder mit Zeugen noch mit brauchbaren Reifen- und Fußspuren zu rechnen war. Die Kriminaltechniker durchkämmten momentan das Gelände wie Seuchenschutztruppen nach einem Chemieangriff, das gehörte zu ihrem Arbeitsauftrag, aber auch sie würden nichts Verwertbares finden.
»Das bringt nichts«, sagte Felber gequält in die Runde. »Wir sollten zuerst zur Familie fahren.« Er blickte in die Ferne. Hinter den Bäumen erhob sich eine lange Reihe von Wohnblöcken, wo in den letzten Jahrzehnten ein neues Wohnquartier entstanden war.
»Ich übernehme das«, sagte Dani Pedrone nach einer Weile, und als Felber ihn fragend ansah, zuckte er mit den Schultern. »Ich habe keine Kinder mehr in dem Alter.«
Felber nickte dankbar. »Nimm ein Care-Team mit. Und – mach es so kurz wie möglich, die haben genug zu verarbeiten.«
Pedrone winkte einen der Streifenpolizisten zu sich, und Felber und Baumgartner gingen zurück zum Wagen.
Auf der Rückfahrt begann Baumgartner ein paarmal, etwas zum neuen Fall und zu den nächsten Schritten und überhaupt zu diesen Schweinereien zu sagen, aber Felber antwortete nicht. Er blickte nach draußen. Die Menschen fuhren Fahrrad oder saßen auf den Terrassen der Cafés, von der Kornhausbrücke sprangen Jugendliche in die Limmat, die kleinen Läden an der Langstraße hatten ihre Auslagen rausgestellt, und Felber fragte sich, wie die Menschen so unbeschwert sein konnten, wo doch unweit von ihnen neben der Autobahn ein 18-jähriges Mädchen lag, das brutal von jemandem erwürgt und dann im Schlamm entsorgt worden war.
Das Klacken von metallbeschlagenen Polizeistiefeln hallte durch die Gänge der Hauptwache an der Kasernenstraße im Zentrum von Zürich. Daneben das leisere Klatschen von bloßen Füßen auf dem Steinboden. Felber hatte seine Hosenbeine bis unter die Knie hochgekrempelt und trug die völlig verschlammten Schuhe und Socken in einem Asservatensack in der Hand. Die wenigen Beamten und Sachbearbeiter, denen Baumgartner und Felber auf dem Weg zu ihrer Abteilung begegneten, warfen höchstens einen kurzen Blick auf den barfüßigen Ermittlungsleiter. Nur Tobias Hüglin, Felbers Ansprechpartner von der Staatsanwaltschaft, ein notorischer Spaßvogel, konnte sich eine Bemerkung nicht verkneifen.
»Ich arbeite mit dem Kopf, nicht mit den Schuhen«, murmelte Felber und ging mit Baumgartner weiter zum Treppenhaus.
Auf einer Klappleiter stand der Haustechniker mit seiner getönten Brille und ersetzte eine Neonröhre.
Pamela Galtzidis, die das Sekretariat der Ermittlungsgruppe »Leib/Leben« führte, saß hinter ihrem Schreibtisch wie ein menschgewordenes Venusbild: aufrecht, schlank, mit großen, dunklen Augen und markanten Wangenknochen, das schwarz gewellte Haar locker hochgebunden. Sie zog die Brauen hoch und schüttelte schelmisch den Kopf, als sie ihren Chef hereinkommen sah. »Soll ich Ihnen die putzen?«
»Auf keinen Fall!«, antwortete Felber und umklammerte den Plastiksack.
Sie lächelte, wobei sie eine Reihe perlweißer Zähne zeigte. »Wenigstens ein paar frische Socken?«
»Haben Sie denn einen Vorrat?«
Sie nickte und entschwebte in Richtung Vorratsraum, während Felber sich in sein Büro zurückzog und damit begann, die Ermittlungen im neuen Mordfall zu organisieren. Und das bedeutete zuerst einmal viel Büroarbeit: Koordinierung der Ressourcen, Erstellung von Personal- und Einsatzplänen, ersten Leitlinien und Pendenzenlisten, Absprachen mit der Medienabteilung, der Leitung der Ermittlungsabteilung und der Staatsanwaltschaft, Anforderung von Protokollen der Stadtpolizei, die als erste vor Ort gewesen war.
Und irgendwie musste er es schaffen, Hüglin möglichst auf Distanz zu halten. Jedes Team hatte einen direkten Partner in der Staatsanwaltschaft, der die Ermittlungen aus juristischer Sicht absegnete und gewöhnlich auch an den Dienstrapporten teilnahm. Felbers Team war zurzeit dieser Tobias Hüglin zugewiesen, ein fähiger Jurist zwar, doch Felber konnte ihn nicht ausstehen. Nicht weil er unfreundlich gewesen wäre, wie etwa der notorisch mürrische Haustechniker, im Gegenteil: Er war einer dieser immer fröhlichen, zwanghaft jovialen Typen, die schon morgens um 7.30 Uhr lustig sein wollten, die keinen Satz von sich geben konnten, ohne noch einen schlechten Witz hinterherzuschicken und darüber laut zu lachen. Felber fand ihn unausstehlich. Deshalb suchte er immer neue Strategien, die Kommunikation mit Hüglin aufs Allernötigste zu beschränken oder, noch besser, komplett zu vermeiden. Für die erste Sitzung würde er allerdings kaum darum herumkommen, ihn aufzubieten, wollte er Ärger mit der Dienstchefin, seiner direkten Vorgesetzten, umgehen.
Irgendwann rief Dani Pedrone an. Er hatte die Eltern der Ermordeten informiert. Ja, es war schrecklich gewesen. Wie immer. Ihre Tochter habe sich erst vor wenigen Wochen von ihrem Freund getrennt, und der habe das offensichtlich nicht gut aufgenommen. Die Eltern meinten, er sei aufdringlich geworden. Ja, aufdringlich. Sie hätten den Jungen bereits im Wagen und brächten ihn zur Einvernahme. Und ja, er sei volljährig.
Felber blickte durch das Fenster auf den begrasten Kasernenplatz mit dem kubischen Betonbau, in dem hinter dicken Fenstergittern die Untersuchungsgefangenen auf ihren Prozess warteten.
War es das also schon gewesen? – Ein verletzter junger Mann war ausgerastet und hatte seine Freundin umgebracht? Kontrollverlust, Affekttat, so banal? – So banal war es häufig. Die Verbindung zwischen Täter und Opfer musste kaum je durch langwierige Ermittlungsarbeit oder detektivisches Gespür aufgedeckt werden. Auch dass das Mordmotiv sich in einem Gewirr anderer Beweggründe von scheinbar Unbeteiligten und Nebenfiguren verbarg, kam eigentlich nur in Kriminalromanen vor. Echte Polizeiarbeit war – banal. Im Grunde gab es zwei Typen von Mördern: auf der einen Seite Psychopathen, die sich wahllos ihre Opfer suchten wie der Wahnsinnige, der in den 90er-Jahren auf dem Bucheggplatz, einem der wichtigsten Verkehrsknotenpunkte Zürichs, mit einem Gewehrschuss einen Autolenker im fahrenden Wagen getötet hatte und nie gefasst wurde. Oder der junge Mann, der am Tag seiner Entlassung aus der Rekrutenschule mit der Armeewaffe in Höngg eine junge Frau erschoss, die er noch nie gesehen hatte. Ohne Grund.
Auf der anderen Seite und in den häufigeren Fällen stammte der Mörder aus dem nächsten Umfeld des Opfers. Die schlimmsten Verletzungen und Kränkungen ereigneten sich in der Familie oder in einer sehr engen Freundschaft. Nicht selten stand der Mörder noch neben dem Toten, wenn die Polizei eintraf, völlig schockiert über das Geschehene, hatte vielleicht sogar selber angerufen. Kein Mensch, der nicht unter einer schweren psychischen Störung litt, tötete einfach so, aus Berechnung. Da musste eine Situation eskaliert sein, ein Wort hatte das andere gegeben, mit der Waffe wollte man nur ein wenig Druck machen, niemand hatte es letzten Endes gewollt.
War auch dieser Fall ein Mord aus Kränkung, verschmähter Liebe? Vielleicht hatte er um sie kämpfen wollen, sie hatte ihn ausgelacht, und schon gehen die Affekte durch, ein Moment der Rage, und der Mensch, den man eigentlich liebt, liegt vor einem. Tot. Man kann das nicht einfach abhaken, es ist etwas, was niemals hätte passieren dürfen, etwas von einer Unumkehrbarkeit, wie sie brutaler nicht sein könnte. Man verscharrt den Körper schnell irgendwo, verkriecht sich, versucht klarzukommen, womit nicht klarzukommen ist, und ist letzten Endes sogar froh, wenn man von der Polizei abgeholt wird und man das Unfassbare jemandem anvertrauen kann.
Die Arbeit von Kriminalpolizei und Staatsanwaltschaft besteht in solchen Fällen darin, nachträglich das Geschehene und seine Hintergründe aufzuarbeiten, zuhanden von hilflosen Gerichten und sensationsgierigen Medien. Das Geschehene selbst ist nicht rückgängig zu machen, die Toten werden bestattet und die Familien müssen mit ihrer Trauer klarkommen.
Florian Dennler, der zwei Stunden später im Verhörraum saß, gehörte definitiv weder zur einen noch zur anderen Gruppe. Schon während Felber durch das verspiegelte Glas zuschaute, wie Melanie Keller die Personalien aufnahm und sich die ganze Vorgeschichte schildern ließ, musste er sich eingestehen, dass er mit seiner ersten These ganz falsch gelegen hatte. Melanie Keller nahm den Jungen recht hart ran, ganz »Bad Cop«, wie Felber seine jüngere Kollegin manchmal insgeheim nannte. Der junge Mann mit den langen Gliedern und den fahrigen Bewegungen war über die Maßen nervös, zeigte sich abwechselnd schockiert, verwirrt und angesichts der kleinen, aber kräftigen Polizistin mit dem strengen Blick auch verängstigt. Gleichzeitig war er äußerst höflich und kooperativ und entschuldigte sich alle Naselang für dies oder das. Felber entschied nach einigen Minuten, dass Keller nicht die richtige Person war, um näher an Florian Dennler heranzukommen. Als sie eine erste Runde abgeschlossen hatte, in der sie den jungen Mann über die Beziehung zur Toten, sein Verhalten in den letzten Tagen und sein Alibi befragt hatte, übernahm Felber.
Er schob Dennler einen Becher Wasser hin, stellte sich vor und musterte sein Gegenüber zunächst eine ganze Zeit lang. Der junge Mann hatte auffallend helle blaue Augen, mit denen er den Ermittler fast Hilfe suchend ansah. Allerdings hielt er Felbers Blick nur einen Augenblick stand, dann schaute er weg. Er spielte mit dem Ärmel seines Kapuzenpullis, trommelte mit langen, bleichen Fingern auf den Tisch, drehte dann wieder fast ruckartig den Kopf, starrte immer neue Punkte an der nackten Wand des Verhörraums an, ja, es schien, als führte sein Körper ein Eigenleben, das er vergeblich zu kontrollieren versuchte.
»Sie sind sehr nervös«, stellte Felber nach einer Weile fest.
Dennler fuhr sich durch die gelockten Haare. »Das ist nur … normalerweise geht es schon … nur in Stresssituationen …« Er sprach schnell und abgehackt und seine Stimme klang heiser.
»Nehmen Sie Medikamente?«, fragte Felber.
»Ja … also, das heißt, wenn ich weiß, dass ich etwas … eine Prüfung habe … ich dosiere es selber. Aber heute …«
Felber hob fragend die Augenbrauen.
»Nun ja, die Polizisten haben mich zu Hause abgeholt, ich hatte keine Zeit …« Mit der einen Hand zog er die Finger der anderen Hand nach hinten und ließ sie dann nacheinander auf die Tischplatte trommeln.
»Schon gut«, sagte Felber ruhig und blätterte in seinen Notizen. »Gestern Abend waren Sie also zu Hause.«
»Ja, ich …« Mit dem Zeigefinger versuchte er vergeblich, einen Schweißfleck vom Tisch zu wischen, der wohl durch sein Fingertrommeln entstanden war.
»Ihre Eltern bestätigen das«, murmelte Felber, mehr für sich selbst. Dann blickte er dem jungen Mann in die blauen Augen. »Warum, denken Sie, haben die Eltern Ihrer Exfreundin ausgesagt, Sie seien in den letzten Tagen aufdringlich gewesen?« Er versuchte, so ruhig wie möglich zu sprechen.
Florian Dennler zog erneut seine Finger nach hinten, als wären sie aus Gummi. »Nun ja … Ich habe versucht mit ihr zu reden, ans Handy ging sie ja nicht, und zu Hause waren nur ihre Eltern … und da habe ich einmal vor ihrem Haus auf sie gewartet, aber der Vater hat mich dann weggejagt …«
»Weggejagt?«
»Ja, nein … ich meine, er hat einfach gemeint, ich solle gehen … und … Ich wollte halt einfach wissen, warum sie so plötzlich Schluss gemacht hatte, von einem Tag auf den anderen …«
»Hat sie Ihnen nicht gesagt, warum?«
Dennler drehte den Kopf zum Fenster und ruckartig wieder zurück, blickte zur Decke und dann wieder auf Felbers Hals. »Ich habe ja nicht mit ihr reden können. Nur einige Kolleginnen von ihrer Bude haben etwas gesagt von einem Fotografen. Modefotos … so etwas.«
Felber machte sich eine Notiz. »Wissen Sie, wer das sein könnte?«
Der junge Mann fuhr sich erneut durch die Haare. »Nein, nur so eine Internet-Bekanntschaft … ja … das haben sie gesagt, ein Typ, ein Fotograf … den sie über das Internet datet.«
»Kennen Sie seinen Namen?«
Er schüttelte den Kopf. »Die haben mir nicht mehr gesagt. Sie … sie haben sie richtiggehend vor mir – abgeschirmt. Und jetzt –« Mitten im Satz hielt der junge Mann inne, dann vergrub er plötzlich seinen Krauskopf in den Armen, und nach einigen Sekunden hörte Felber ein leises Wimmern. Dennlers Schultern hoben und senkten sich spastisch.
Felber ließ ihn gewähren und starrte an die leere Wand. Wie er diese fensterlosen Räume hasste, mit diesem Kunstlicht, das die Augen beleidigte und nach wenigen Minuten Kopfschmerzen verursachte.
Nach einiger Zeit beruhigte sich Dennler von selbst, rieb sich die Tränen aus dem Gesicht und fuhr sich durch die Haare.
»Geht’s?«, fragte Felber und reichte ihm ein Taschentuch, in das sich Dennler kräftig schnäuzte.
»Soll ich jemanden holen?«, fragte Felber vorsichtig.
»Nein, es geht schon …«, schniefte Dennler, »entschuldigen Sie. Wir … wir können schon weitermachen.« Wieder zog er die Finger seiner Hand nach hinten, dass Felber befürchtete, sie müssten brechen.
»Wir brauchen die Namen der Personen, mit denen Sie über diesen Fotografen gesprochen haben.« Er schob ihm seinen Block und einen Kugelschreiber mit dem Logo der Kantonsverwaltung über den Tisch. Florian Dennler schrieb sie ihm mit zitternden Fingern auf das oberste Blatt, das ihm ständig am verschwitzten Handballen kleben blieb. Dann machten sie weiter.
Im Verlauf des Verhörs kam nichts Neues heraus. Mit dem Mord hatte Dennler mit Bestimmtheit nichts zu tun, davon war Felber überzeugt. Als er nach einer halben Stunde aufstand und meinte, das sei es gewesen, schaute ihn der Junge entgeistert an. »Muss ich nicht …?«
»Halten Sie sich einfach zur Verfügung«, erklärte Felber. »Bleiben Sie telefonisch erreichbar und verreisen Sie nicht. Soll ein Kollege Sie nach Hause fahren?« Er hatte Angst, der junge Mann könnte erneut zusammenbrechen, aber Florian Dennler schüttelte energisch den Kopf, gab Felber eine verschwitzte Hand, verabschiedete sich umständlich und mit mehreren Entschuldigungen und ging mit schlaksigen Schritten auf den Flur, wo ein Beamter wartete, um ihn nach draußen zu führen.
Im Rapportraum analysierte die Ermittlungsgruppe das Verhör mit Florian Dennler: Felber, Dani Pedrone, Melanie Keller und Oliver Sun saßen um den großen Tisch, nur Baumgartner fehlte.
»Was ist euer Eindruck?«, begann Felber eine erste Fragerunde.
»Mir ist fast schwindlig geworden«, meinte Pedrone.
Allen war zunächst Dennlers Nervosität aufgefallen. Sun hatte sogar während der Sichtung mehrmals mit einem Taschentuch die Tischplatte abgewischt, als hätten sich Dennlers Schweißflecke bereits auf den Rapportraum ausgebreitet. Der Asiate litt, da war sich Felber sicher, an einem Reinlichkeitszwang, der wohl in seinen Genen lag, auch wenn er im Thurgau aufgewachsen war.
Über Dennlers Rolle im Mordfall waren sie sich uneinig. Felber hatte seine Auffassung geäußert, dass Dennler nicht der Täter sei. Pedrone stimmte ihm mit Vorbehalt zu, Melanie Keller meinte, man müsste ihn einfach etwas härter in die Mangel nehmen, und Sun blieb unbewegt wie eine Buddha-Statue und sagte nichts.
»Also, was machen wir mit ihm?«, fragte Pedrone nach einer Weile.
»Vorerst nichts«, meinte Felber und drehte eine Runde im Büro. »Was mich mehr interessiert, ist diese Internet-Bekanntschaft.«
Pedrone nickte. »Ein Typ ködert junge Mädchen, indem er sich als Fotograf ausgibt und ihnen Shootings anbietet.«
»Kein Mensch fällt doch auf so was rein«, erwiderte Keller.
Felber zuckte mit den Schultern. »Sie war 18, ich kenne das – auf jeden Fall kontaktieren wir die Freundinnen, denen sie offenbar etwas von ihrer Bekanntschaft erzählt hat. Und wir brauchen ihren Computer und alle Daten von den Servern.«
»Etwas für die Abteilung ›Cybercrime‹?«, fragte Pedrone.
»Cybercrime?« Felber überlegte eine Weile und schüttelte dann den Kopf. »Er hat sie erwürgt; es ist kein Cyberverbrechen. Aber wir brauchen Unterstützung.«
Ein Telefonat später war eine Streife unterwegs zu den Eltern des Opfers. Die Leute vom Care-Team waren noch vor Ort und natürlich wenig begeistert, dass in dieser heiklen Phase schon wieder Beamte das Haus stürmten, um das Zimmer der Tochter auseinanderzunehmen.
Nach einem zweiten Anruf wurde Felbers Team von der Kommandoabteilung 2 ein IT-Spezialist versprochen. Er würde sich gleichentags noch mit dem Computer befassen und morgen beim Dienstrapport erste Erkenntnisse präsentieren.
Es war fast 20 Uhr, als Felber müde die Frohburgstraße bis zum gelb-weiß gestrichenen Eckhaus am Hadlaubsteig hochging. Im Treppenhaus waren leise Beats mit viel Bass zu hören, sie kamen eindeutig aus Felbers Wohnung, was darauf schließen ließ, dass Linus zu Hause war. Er musste seinen Sohn wieder mal ermahnen, die Musik etwas leiser zu drehen. Die alte Frau Glättli hatte sich erst neulich wieder beschwert, das heißt, sie hatte Felber zur Seite genommen, geflüstert, als handle es sich um etwas höchst Peinliches, und dabei jeden zweiten Satz mit den Worten »Sie als Polizist …« eingeleitet.
Linus war in seinem Zimmer und werkelte an irgendeinem Soundprogramm herum. Er war 22, Physik-Student und verbrachte einen großen Teil seiner Zeit damit, mit E-Gitarre, Keyboard und Computern experimentelle Musik zu machen, die er bisweilen in irgendwelchen muffigen Kellerräumen vor Studienkollegen zum Besten gab.
Felber blieb im Türrahmen stehen.
»Coole Schuhe«, meinte Linus und blickte grinsend auf Felbers bunte Turnschuhe, die unter seiner verdreckten Anzugshose hervorstachen. Felber hatte das Paar in einer alten Sporttasche im Büro gefunden. Im Vorjahr hatte er sich vorgenommen, über Mittag joggen zu gehen, hatte sich dann aber kein einziges Mal dazu aufraffen können.
»Sorry, dass es so spät geworden ist«, entschuldigte er sich. »Ein neuer Fall.«
»Kein Problem, ich war eh noch mit der Praktikumsgruppe im Institut.«
»Hast du schon was gegessen?«
»Nein. – Müsste aber noch was im Kühlschrank sein.«
Felbers Blick streifte die Umzugskartons, die sich vor dem Zimmer nebenan stapelten. »Am Wochenende erledigen wir das mal, ja?«
Linus legte den Kopfhörer hin und drehte sich zu seinem Vater. »Hast du dir jetzt überlegt, ob wir das mit dem Musikraum machen?«
Felber zögerte. »Ich muss mir das noch durch den Kopf gehen lassen …«
Es ging um Merets Zimmer. Sie war vor zwei Wochen ausgezogen und Linus hatte sofort die Idee geäußert, das frei gewordene Zimmer als Musikraum zu nutzen. Felber hatte noch keine Zeit gehabt, sich darüber Gedanken zu machen, aber irgendetwas mussten sie tun, das war ihm klar. In Linus’ kleinem Zimmer hatte sich in den letzten Jahren so viel Equipment angesammelt, dass bald kein Platz mehr für sein Bett bleiben würde. Außerdem war es kaum gesund, inmitten des ganzen Elektrosmogs zu schlafen.
»Wäre doch cool, wenn wir ein gemeinsames Musikzimmer hätten«, insistierte Linus. »Du könntest endlich wieder mal deine Gitarre aus dem Keller holen.«
Felber lächelte etwas gezwungen und fühlte sich an eine längst vergangene Zeit erinnert, als er einem kleinen Linus das Blockflötenspiel beizubringen versuchte, weil kein Musiklehrer den verhaltensauffälligen Jungen länger als ein paar Wochen in seinem Unterricht behalten wollte. »Ja, vielleicht …«
»Das sagst du seit Jahren.«
»Ich überleg’s mir. Ehrlich.«
Vom Küchenfenster aus sah Felber, wie sein Nachbar vom gegenüberliegenden Haus, der gleichzeitig Hauswart von Felbers Liegenschaft war, mit seiner dunkelhäutigen Tochter zurückkam, Arm in Arm wie ein Liebespaar. Sie verschwanden in seiner Parterrewohnung, aus deren Fenster es bläulich leuchtete. Er handelte mit Zierfischen, und Felber fragte sich manchmal, ob bei ihm alles mit rechten Dingen zuging, in Bezug auf die Fische und auf die Tochter. Seine afrikanische Frau hatte Felber schon seit Jahren nicht mehr gesehen.
Während er einen Salat zubereitete, kam Linus in die Küche. »Du, am Wochenende machen wir ein kleines Fest, ein paar Kollegen und ich.«
»Am Freitag sind wir bei Meret«, unterbrach ihn Felber, »zur Wohnungseinweihung.«
»Ja, ich weiß«, seufzte Linus.
Felber wusste, dass Linus Merets älterem Freund, mit dem sie gerade zusammengezogen war, wenig abgewinnen konnte.
»Das Fest machen wir am Samstag«, präzisierte Linus. »Ein paar Studienkollegen. Könnten wir vielleicht hier …?«
»Draußen?«, unterbrach ihn Felber und stellte sich vor, wie eine Horde Studenten auf der Terrasse Lärm machte und sich im Gemeinschaftsgarten der Liegenschaft breitmachte. Er dachte an Frau Glättli. »Ich weiß nicht …«
»Du bist doch mit Sara weg!«
»Du bist ja bestens informiert.« Felber wusste, ohne seinen Sohn anzusehen, was der für ein Gesicht machte. »Grins nicht so«, sagte er mit gespieltem Ernst.
»Was?«, fragte Linus mit ebenso gespielter Empörung. »Ich habe nicht gefragt, was da läuft.«
»Da läuft auch nichts«, grummelte Felber und schnippelte weiter am Salat.
Eine Weile blieben beide still. Dann fragte Felber: »Wollt ihr nicht lieber rauf zum Irchelpark oder auf die Altherr-Terrasse?«
»Das ganze Zeug dort raufschleppen?«
»Ich kann euch die Sachen ja rauffahren.«
Linus überlegte kurz. »Okay, ja, das wäre cool. Aber wenn es regnet?«
Felber seufzte. »Dann kommt ihr halt her. Aber bleibt leise. Frau Glättli …«
»… würde bestimmt die Polizei rufen«, beendete Linus den Satz.
Dann saßen sie am kleinen Esstisch, und Felber fragte sich, wie sie das früher gemacht hatten, als sie noch zu viert waren.
»Heini Kaiser von unten hat mir neulich gesagt, dass er mit dem Gedanken spielt, ins Altersheim zu ziehen«, sagte er nach einer Weile.
»Ah ja?«, fragte Linus mit vollem Mund.
»Ich habe ihm gesagt, er solle mich doch vormerken. Ich könnte in die untere Wohnung umziehen.« Kaisers Wohnung war um zwei Zimmer kleiner und hatte einen hübschen kleinen Sitzplatz über der Garageneinfahrt.
Linus legte das Besteck ab und schaute Felber fragend an. »Heißt das, du wirfst mich raus?«
Felber machte eine beschwichtigende Handbewegung, wobei er etwas Salatsauce über den Tisch spritzte. »Nein, du musst nicht ausziehen. Aber irgendwann, wenn du mal mit dem Studium fertig bist …«
»Wärst du lieber allein?« Eine dieser typischen direkten Fragen, mit denen Linus schon früher Familie und Lehrpersonen in den Wahnsinn treiben konnte.
»Nein«, sagte Felber mit Nachdruck, »ich lebe gern mit dir zusammen. Nur, so cool auch eine Vater-Sohn-WG ist, auf längere Sicht …«
Linus grinste plötzlich und zeigte mit der Gabel auf Felber: »Du willst mit Sara zusammenziehen!«
»Nein … Wie kommst du denn darauf? Ich meinte nur, irgendwann musst du doch auch auf eigenen Füßen stehen.«
»Ja, klar«, sagte Linus und aß weiter. Damit war das Thema für ihn erledigt.
»Ich hätte übrigens einen anderen Vorschlag«, sagte Felber nach einer Weile und wischte sich mit der Serviette den Mund ab.
»Hm?«
»Wegen des Zimmers.«