Joseph Conrad
Geschichten der Unrast und Sechs Erzählungen
Aus dem Englischen von Fritz Lorch
FISCHER E-Books
Joseph Conrad, geboren 1857, wuchs als Waise bei seinem Onkel in Krakau auf. 1874 ging er zunächst nach Frankreich, wurde 1886 britischer Staatsbürger und machte als Seemann seine Leidenschaft zum Beruf. Als er 1890 die Seefahrt aus gesundheitlichen Gründen aufgeben musste, verarbeitete er seine Reiseerlebnisse in seinen Erzählungen. ›Lord Jim‹ (1900) und ›Das Herz der Finsternis‹ (1902) gehören zu seinen berühmtesten Werken. Joseph Conrad starb 1924 in England.
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Der vorliegende erste Band Erzählungen von Joseph Conrad enthält eine Anzahl Geschichten, die dem deutschen Leser geraume Zeit nicht zugänglich waren. Die Veröffentlichung dieser nach Form und Inhalt gleich meisterhaften Prosastücke des Dichters ermöglicht die Wiederentdeckung eines wenig gekannten Teils seines Werks.
»Man weiß nicht, was man mehr bewundern soll: das großartige Sujet, den Aufbau, die Kühnheit eines so schwierigen Unternehmens, die Geduld im Durchführen der Erzählung, oder wie der Gegenstand verstanden und ausgeschöpft wird . ..« André Gide
»Still und vollendet, sehr keusch und sehr schön, so steigen diese Geschichten in der Erinnerung auf, wie in jenen heißen Sommernächten auf ihrem langsamen und feierlichen Weg zuerst ein Stern und dann noch einer hervortritt.« Virginia Woolf
»Geschichten der Unrast« erschien 1898 als drittes Buch Joseph Conrads und enthielt die Erzählungen »Karain«, »Die Idioten«, »Ein Vorposten des Frotschritts«, »Die Rückkehr« und »Die Lagune«.
1908 erschienen die »Sechs Erzählungen«: »Gaspar Ruiz«, »Der Spitzel«, »Das Untier«, »Ein Anarchist«, »Das Duell« und »Il Conte«.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Sammlung »Tales of Unrest« ist 1898, »A Set of Sic« 1908 erstmals in englischer Sprache erschienen.
© 1963 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Nicole Lange, Darmstadt
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ISBN 978-3-10-490851-9
Anmerkung des Verlags: Die vom Autor beibehaltene halb italienische, halb spanische Schreibung ist in dieser Ausgabe fortan korrigiert.
Die Sammlung ›Tales of Unrest‹ ist 1898, ›A Set of Sic‹ 1908 erstmals in englischer Sprache erschienen
Beschäft’ge stets die schwindlichten Gemüter
Mit fremdem Zwist …
Shakespeare
Von diesen fünf Erzählungen ist die letzte, ›Die Lagune‹, dem Entstehungsdatum nach die früheste. Sie ist die erste Kurzgeschichte, die ich je schrieb, und sie markiert sozusagen das Ende meiner ersten Phase, der malayischen, mit ihrer besonderen Thematik, ihren sprachlichen Suggestionen und Assoziationen. Empfangen in derselben Geistesverfassung, die auch ›Almayers Wahn‹ und ›Ein Ausgestoßener der Inseln‹ hervorbrachte, wird sie im selben Atemzug erzählt (das heißt, mit dem, was von Atem übrig war nach Beendigung des ›Ausgestoßenen‹), mit demselben Blick geschaut, mit derselben Methode wiedergegeben – sofern damals von Methode überhaupt die Rede sein konnte in meinem mir bewußt werdenden Verhältnis zu diesem neuen Abenteuer: dem Schreiben für den Druck. Ich bezweifle es sehr. Man tut zunächst seine Arbeit, und theoretisiert hernach darüber. Es ist eine erbauliche und vom Ich bestimmte Beschäftigung, niemandem zu Nutze, und sie führt so gut zu falschen Schlüssen wie zu richtigen.
Jeder kann sehen, daß, bildlich gesprochen, zwischen dem letzten Absatz von ›Ein Ausgestoßener‹ und dem ersten von ›Die Lagune‹ die Feder nicht gewechselt wurde. Auch im buchstäblichen Sinne nicht. Es war dieselbe Feder: eine gewöhnliche Stahlfeder. Da man mir einen gewissen Mangel an Empfindungsvermögen vorwirft, bin ich froh, sagen zu können, daß ich zumindest bei dieser einen Gelegenheit einem sentimentalen Impuls nachgab. Ich meinte, die Feder sei eine gute Feder gewesen, habe genug für mich getan, und darum steckte ich sie – als ein Memento, auf das ich später gerührten Sinnes blicken würde – in meine Westentasche. Dann tauchte sie an allen möglichen Orten wieder auf, zuunterst in kleinen Schubladen, in Pappschachteln zwischen Kragen- und Manschettenknöpfen, bis sie schließlich zu dauernder Ruhe in einer großen Holzschale gelangte, die Schlüssel, Siegellackstückchen, Bindfäden, zerrissene Kettchen, einige Knöpfe und ähnliches winziges Strandgut enthielt, wie es nun einmal aus dem Leben eines Menschen in solche Behältnisse gespült wird. Hin und wieder fiel mein Blick auf sie, und dann empfand ich stets ein deutliches Gefühl der Genugtuung, bis ich eines Tages zu meinem Schrecken gewahrte, daß dort zwei alte Federn lagen. Wie die andere Feder ihren Weg in diese Schale statt in den Kamin oder Papierkorb gefunden hatte, begriff ich nicht; aber da lagen die beiden nun, Seite an Seite, beide tintenverkrustet und nicht im mindesten voneinander zu unterscheiden. Es war niederschmetternd, doch da ich entschlossen war, mein Gefühl nicht zwischen zwei Federn zu teilen, und auch nicht Gefahr laufen wollte, eines gleichgültigen Fremden wegen sentimental zu werden, warf ich beide kurzerhand zum Fenster hinaus in ein Blumenbeet – eine durchaus poetische Grabstätte, denke ich, für die Hinterlassenschaften meiner eigenen Vergangenheit.
Aber die Geschichte blieb. Es war die erste, die in Druck ging, im Cornhill Magazine, mein erstes Erscheinen überhaupt in einer Publikation in Fortsetzungen; und ich habe schließlich noch erleben dürfen, diese Geschichte auf die amüsanteste Art von Mr. Max Beerbohm verspottet zu sehen in einem Band mit Parodien, betitelt ›Eine Weihnachtsgirlande‹, wo ich mich in bester Gesellschaft wiederfand. Ich war überaus befriedigt. Ich begann, mich für eine öffentliche Figur zu halten. Ich habe der ›Lagune‹ viel zu danken.
Mein nächster Versuch mit der Kurzgeschichte war ein Abschied – ich meine ein Abschied vom Malayischen Archipel. Ohne langes Besinnen, ohne Schmerz, ohne Frohlocken und beinahe ohne es zu merken, trat ich in die sehr andersgeartete Atmosphäre von ›Ein Vorposten des Fortschritts‹ ein. Ich fand zu einer anderen moralischen Haltung. Ich schien neue Reaktionen zu erfassen, neue Sinnzusammenhänge, ja neue Sprachrhythmen. Einen Moment lang glaubte ich, ein neuer Mensch geworden zu sein – eine höchst aufregende Illusion. Sie hing mir eine Weile an, monströs, halb Überzeugung, halb Hoffnung, was den Leib betraf, mit einem glitzernden Schweif aus Träumen und einem veränderlichen Kopf gleich einer Tonmaske. Erst später begriff ich, nichts könne mich, im Verein mit dem Rest der Menschheit, von der fatalen Beständigkeit meines Wesens befreien. Wir entkommen uns selber nicht.
›Ein Vorposten des Fortschritts‹ ist der leichtere Teil der Beute, die ich aus Zentralafrika forttrug, ›Das Herz der Finsternis‹ selbstverständlich der gewichtigere. Andere Menschen haben ganz und gar andere Dinge in Fülle dort gefunden, und ich bin der glücklichen Überzeugung, das, was ich von dort mitnahm, sei für niemanden sonst von Wert gewesen. Und es war auch wirklich nicht erheblich, dieses Plündergut. Säuberlich zusammengefaltet, ginge es bequem in eines Mannes Brusttasche. Was die Erzählung selbst anlangt, so ist sie in ihrem Gehalt wahr genug. Das ausgetüftelte Erfinden einer wirklich überzeugenden Lüge erfordert eine Gabe, die ich nicht besitze.
›Die Idioten‹ sind ein augenscheinlich derart entlehntes Werk, daß ich über sie hier nichts zu sagen vermag. Die Anregung zu ihnen war nicht geistiger sondern visueller Art: eben der Anblick dieser Idioten. Nach einem Zwischenraum zaudernden Tastens, der mit der Niederschrift von ›Der Nigger‹ endete, wandte ich mich meiner in zeitlicher Reihenfolge dritten Kurzgeschichte zu, der ersten in diesem Band – ›Karain: Eine Erinnerung‹.
›Karain‹, nach so vielen Jahren wiedergelesen, mutet mich an wie etwas von günstigem Standpunkt aus durch ein Fernglas Beschautes. In dieser Erzählung war ich nicht etwa zum Archipel zurückgekehrt, ich hatte nur noch einmal einen Blick auf ihn geworfen. Ich muß gestehen, ich war bewegt, gefesselt von dem Anblick aus der Ferne, und in diesem Gefesseltsein entging mir, daß das Motiv der Geschichte beinahe identisch ist mit dem von ›Die Lagune‹. Indessen, die Idee, die dahintersteht, ist eine andere; denkwürdig aber ist mir die Geschichte vor allem darum geworden, weil sie mein erster Beitrag zu Blackwood’s Magazine war und zur persönlichen Bekanntschaft mit Mr. William Blackwood führte, dessen zwar vorsichtige Anerkennung ich gleichwohl als echte empfand und demgemäß hochschätzte. ›Karain‹ wurde, einem plötzlichen Impuls folgend, begonnen, nur drei Tage, nachdem ich die letzte Zeile des ›Nigger‹ geschrieben hatte; und die Erinnerung an seine Schwierigkeiten vermischt sich mit dem Kummer über die unfertige ›Rückkehr‹, deren letzte Seiten ich mir gerade damals wieder vornahm – das einzige Mal in meinem Leben, daß ich versucht habe, sozusagen mit beiden Händen auf einmal zu schreiben.
Mein innerstes Gefühl sagt mir jetzt, ›Die Rückkehr‹ sei in der Tat mit der linken Hand geschrieben. Als ich die Geschichte kürzlich überlas, war mir, als sitze ich unter einem großen, teuren Regenschirm im lauten Geprassel eines Wolkenbruchs. Es war sehr quälend. In dem allgemeinen Getöse war indessen jeder einzelne Tropfen zu hören, wie er auf das feste, gespannte Seidendach schlug. Geistig machte mich die Lektüre dieser Erzählung für den Rest des Tages stumm, nicht vor Staunen, sondern vor beklommener Verwunderung. Ich will mich nicht respektlos über irgend etwas von mir Geschriebenes äußern. Psychologisch gab es ohne Zweifel gute Gründe für dieses Unterfangen; es war der Mühe wert, und sei’s nur, um zu zeigen, wessen ich fähig bin bei dieser Art Virtuosität. In diesem Zusammenhang soll erwähnt sein, wie verwundert ich über die Entdeckung war, daß ungeachtet alles analytischen Aufwandes, die Geschichte doch weitgehend aus physikalischen Eindrücken besteht; Eindrücken von Geräuschen und Bildern, von Bahnhöfen, Straßen, trabenden Pferden, Spiegelungen und so weiter – Eindrücken, gleichsam um ihrer selbst willen dargestellt und verbunden mit der sublimierten Schilderung einer gefälligen bürgerlichen Stadtwohnung, wobei sich denn doch wie von ungefähr ein unheimlicher Effekt ergibt. Im übrigen weckt jedes freundliche Wort über ›Die Rückkehr‹ (und solche Worte sind bisweilen geäußert worden) in mir lebhafteste Dankbarkeit, denn ich weiß, was mich die Niederschrift dieses Phantasiestückes an schierer Mühe, Verdruß und Enttäuschung gekostet hat.
J. C.
Wir kannten ihn in jenen unsicheren Zeiten, da wir zufrieden waren, unser Leben und unseren Besitz in Händen zu halten. Keiner von uns hat, glaube ich, jetzt noch irgendwelches Eigentum, und ich höre, daß viele fahrlässig ihr Leben eingebüßt haben; aber ich bin sicher, die wenigen, die überlebten, sind noch nicht so schwachsichtig, daß sie in der verblasenen Achtbarkeit ihrer Zeitungen die Meldungen über verschiedene Eingeborenenaufstände im östlichen Archipel überlesen haben. Der Sonnenschein leuchtet zwischen den Zeilen jener kurzen Absätze – der Sonnenschein und der Glanz des Meeres. Ein fremdländischer Name weckt Erinnerungen; die gedruckten Worte weben in die rauchige Atmosphäre des Heute jenen feinen durchdringenden Duft einer Landbrise, die durch das Sternenlicht vergangener Nächte haucht; ein Leuchtfeuer strahlt wie ein Edelstein auf dem hohen Vorsprung einer düsteren Klippe; große Bäume, die vorgeschobenen Posten riesiger Wälder, stehen wachsam und still über schlafenden Strecken offenen Wassers; eine weiße Brandungslinie donnert gegen einen leeren Strand; das seichte Wasser schäumt an den Riffen; und grüne Inseln, die in die Stille der Mittagsstunde ausgestreut sind, liegen auf der Fläche einer glänzenden See wie eine Handvoll Smaragde auf einem Stahlschild.
Da sind auch Gesichter – dunkle Gesichter, grausam und lächelnd; die offen verwegenen Gesichter barfüßiger Männer, die schwerbewaffnet und lautlos einherschreiten. Sie überschwemmten das ganze Deck unseres Schoners mit ihrer geschmückten und barbarischen Menge, mit den buntgemischten Farben karierter Sarongs, roter Turbane, weißer Jacken, Stickereien; mit dem Glanz von Schwertscheiden, goldenen Ringen, Amuletten, Armreifen, Speerspitzen und den juwelenbesetzten Griffen ihrer Waffen. Sie hatten eine selbstbewußte Haltung, entschlossene Augen, ein zurückhaltendes Benehmen; und uns ist, als hörten wir noch ihre leisen Stimmen, die von Kämpfen, Reisen und Entkommen sprachen; in aller Gemütsruhe prahlten, behaglich scherzten; manchmal in wohlerzogenem Geflüster ihren eigenen Heldenmut, unsere Freigebigkeit übertrieben; oder mit treusinniger Begeisterung die Tugenden ihres Herrschers rühmten. Wir erinnern uns der Gesichter, Augen, Stimmen, wir sehen den Glanz von Seide und Metall wieder vor uns; die murmelnde Bewegung der prächtigen, festlichen und kriegerischen Menge; und uns ist, als spürten wir die Berührung freundlicher brauner Hände, die nach einem kurzen Druck zurückgezogen werden, um auf einem ziselierten Schwertgriff liegenzubleiben. Es waren Karains Leute – eine ergebene Gefolgschaft. Sie hingen mit all ihrem Tun an seinen Lippen; sie lasen ihre Gedanken von seinen Augen ab; lässig murmelte er zu ihnen etwas von Leben und Tod, und sie nahmen seine Worte wie Gaben des Schicksals demütig hin. Sie alle waren freie Männer, und wenn sie mit ihm sprachen, sagten sie »Euer Sklave«. Ging er vorüber, verstummten alle Stimmen, als schreite er von der Stille behütet dahin; ehrfürchtiges Flüstern folgte ihm. Sie nannten ihn ihren Kriegshäuptling. Er war der Beherrscher dreier Dörfer auf einer schmalen Ebene; Herr eines unbedeutenden Fleckchens Erde – eines eroberten Fleckchens, das, geformt wie der junge Mond, unbeachtet zwischen Bergen und Meer lag. Vom Deck unseres Schoners aus, der in der Mitte der Bucht vor Anker lag, bezeichnete er, mit einem theatralischen Schwung seines Arms über die gezackten Umrisse der Berge hinfahrend, sein ganzes Reich; und die weitausholende Gebärde schien dessen Grenzen zurückzudrängen und es plötzlich zu etwas so Gewaltigem und Undeutlichem auszudehnen, daß es einen Augenblick lang den Eindruck machte, als werde es vom Himmel allein begrenzt. Und wirklich, wenn man sich diesen Ort ansah, der gegen das Meer abgeriegelt und vom Hinterland durch die steilen Berghänge getrennt war, konnte man sich nur schwer das Vorhandensein einer Nachbarschaft vorstellen. Der Ort war still, vollkommen, unbekannt und erfüllt von einem Leben, das verborgen weiterging und verstörend wirkte in seiner Einsamkeit – erfüllt von einem Leben, das seltsam bar alles desjenigen war, was Gedanken wecken, das Herz berühren, einen Hinweis auf die bedrohliche Abfolge der Tage hätte geben können. Es erschien uns als ein Land ohne Erinnerung, ohne Reue, ohne Hoffnung; ein Land, in welchem nichts den Anbruch der Nacht überlebte und in welchem jeder Sonnenaufgang gleich einem blendenden Akt einer gesonderten Schöpfung vom Abend und Morgen losgelöst war. Karain fuhr mit einer Handbewegung darüber hin. »Alles mein!« Er stieß seinen langen Stab auf das Deck auf; der Goldknauf blitzte wie ein niedergehender Stern; ein schweigsamer, alter Kerl in einer reichgestickten schwarzen Jacke, der dicht hinter ihm stand, folgte als einziger unter den Malaien der herrscherlichen Gebärde nicht mit den Augen. Er hob nicht einmal die Augenlider. Er neigte hinter seinem Herrn den Kopf und hielt, ohne sich zu rühren, ein langes Schwert in einer Silberscheide über seine rechte Schulter empor. Er stand pflichtgemäß dort, aber er tat es ohne Neugierde und schien erschöpft, nicht vom Alter, sondern vom Wissen um ein bedrückendes Geheimnis des Lebens. Karain, groß und stolz, hatte eine würdevolle Haltung und atmete ruhig. Es war unser erster Besuch, und wir blickten neugierig in die Runde.
Die Bucht war wie ein bodenloser Abgrund grellen Lichts. Die kreisrunde Wasserfläche spiegelte einen leuchtenden Himmel wider, und die Ufer, die sie umgaben, bildeten einen düsteren Erdring, der in der Leere durchsichtigen Blaus schwamm. Purpurn und unfruchtbar hoben sich die Berge wuchtig vom Himmel ab: ihre Gipfel schienen in einem farbigen Zittern gleich dem aufsteigender Dämpfe zu entschweben; ihre Hänge waren von dem Grün schmaler Schluchten geädert; an ihrem Fuß lagen Reisfelder, Pisanghaine, gelbe Strandflächen. Ein Gießbach wand sich an ihnen hinab wie ein herabfallender Faden. Obstbaumgruppen bezeichneten die Dörfer; schlanke Palmen steckten ihre wiegenden Häupter über niedrigen Häusern zusammen; Dächer aus getrockneten Palmblättern schimmerten von fern wie Golddächer hinter Kolonnaden aus Baumstämmen hervor; Figuren schritten lebhaft und flüchtig vorüber; der Rauch der Feuer stand senkrecht über den Massen blühender Büsche; die Bambuszäune glitzerten, liefen in unterbrochenen Linien zwischen den Feldern hin. Ein jäher Ruf vom Ufer klang klagend aus der Ferne herüber und erstarb unvermutet, als wäre er vom Niederströmen des Sonnenlichts erstickt worden. Ein Windstoß warf für Augenblicke eine Dunkelheit über das glatte Wasser, berührte unsere Gesichter und wurde vergessen. Nichts regte sich. Die Sonne brannte in eine schattenlose Senke aus Farben und Stille nieder.
Es war die Bühne, auf der er, prächtig angetan für seine Rolle, einherstolzierte, unvergleichlich würdevoll und zu Bedeutung erhoben durch seine Macht, eine groteske Erwartung von irgend etwas Heroischem zu wecken – das Losbrechen einer Handlung oder eines Gesangs –, das sich über dem bebenden Ton des wundervollen Sonnenscheins zutragen würde. Er war geschmückt und verwirrend, denn man konnte sich nicht vorstellen, welche Tiefen schrecklicher Leere solch eine kunstvolle Fassade zu verbergen bestimmt war. Er war nicht maskiert – es war zu viel Leben in ihm, und eine Maske ist nur ein lebloses Ding; aber im wesentlichen bot er sich als ein Schauspieler dar, als ein menschliches Wesen in kriegerischer Verkleidung. Seine kleinsten Handlungen waren vorbedacht und unerwartet, seine Rede ernst, seine Sätze geheimnisvoll wie Andeutungen und verschlungen wie Arabesken. Er wurde mit einer feierlichen Ehrfurcht behandelt, die im unehrerbietigen Westen nur den Fürsten der Bühne gezollt wird, und er nahm die aufrichtige Huldigung mit einer gleichmäßigen Vornehmheit hin, der man nirgends sonst als im Rampenlicht und in der geballten Falschheit einer schreiend tragischen Situation begegnet. Es war fast unmöglich, sich darauf zu besinnen, wer er war – nur ein unbedeutender Häuptling eines angenehm abgelegenen Winkels von Mindanao, wo wir in relativer Sicherheit das Gesetz gegen den Feuerwaffen- und Munitionshandel mit den Eingeborenen übertreten konnten. Was geschehen würde, wenn eines der abwrackreifen spanischen Kanonenboote plötzlich zu einem Aufflackern aktiven Lebens erweckt werden sollte, bekümmerte uns nicht, sobald wir in der Bucht waren – so vollkommen schien sie außerhalb der Reichweite einer sich einmischenden Welt zu liegen; und überdies waren wir in jenen Tagen phantasievoll genug, um mit einer Art fröhlichen Gleichmuts jeder Chance entgegenzusehen, die wir haben mochten, weit ab von diplomatischen Einwänden in aller Stille aufgeknüpft zu werden. Was Karain anlangt, so konnte ihm nichts zustoßen, was nicht auch allen andern zustößt – Niederlage und Tod; aber er zeichnete sich dadurch aus, daß er erfüllt von der Illusion unvermeidlichen Erfolgs auftrat. Er wirkte zu tüchtig, zu notwendig dort an seinem Platz, zu unerläßlich für den Fortbestand seines Landes und Volkes, um von etwas Geringerem als einem Erdbeben vernichtet zu werden. Er faßte in sich seine Rasse zusammen, sein Land, die elementare Gewalt inbrünstigen Lebens, tropischer Natur. Er hatte deren strotzende Kraft, deren Faszination; und wie sie trug er die Keime der Gefahr in sich.
Bei vielen aufeinanderfolgenden Besuchen gelangten wir zu einer eingehenden Kenntnis seiner Bühne – des purpurnen Halbkreises der Berge, der schlanken Bäume, die über den Häusern lehnten, des gelben Strandes, des flatternden Grüns der schattigen Schluchten. All das war von der rohen Buntheit, der beinahe übertriebenen Stimmigkeit, der verdächtigen Unbeweglichkeit einer gemalten Szenerie; und es umrahmte so wirkungsvoll die vollendete Darbietung seiner erstaunlichen Prätentionen, daß der Rest der Welt für immer von diesem prächtigen Schauspiel ausgeschlossen zu sein schien. Es war, als hätte die Erde sich weitergedreht und diesen Krümel ihrer Oberfläche allein im Raum zurückgelassen. Er wirkte restlos abgesondert von allem außer dem Sonnenschein, und selbst der schien für ihn allein gemacht zu sein. Einmal, als ich ihn fragte, was auf der anderen Seite der Berge sei, antwortete er mit vielsagendem Lächeln: »Freunde und Feinde – viele Feinde; warum sollte ich auch sonst Ihre Gewehre und Ihr Pulver kaufen?« So war er immer – vollkommen seine Rolle beherrschend, treulich den Geheimnissen und Gewißheiten seiner Umgebung Rechnung tragend. »Freunde und Feinde« – sonst nichts. Das war unfaßbar und weit. Die Erde hatte sich wahrhaftig unter seinem Land weitergedreht, und er mit seiner Handvoll Menschen stand umgeben von einem schweigenden Aufruhr widerstreitender Schatten da. Natürlich drang kein Laut von außen herein. »Freunde und Feinde!« Er hätte hinzufügen mögen: »und Erinnerungen«, zumindest was ihn selber betraf; aber er versäumte damals, auf diesen Punkt zu sprechen zu kommen. Allerdings kam es später dazu; aber es geschah nach der Tagesvorstellung – in den Kulissen sozusagen und mit gelöschten Lichtern. Bis dahin füllte er die Bühne mit seiner barbarischen Vornehmheit aus. Vor ungefähr zehn Jahren hatte er sein Volk – eine zusammengewürfelte Schar schweifender Bugis – bei der Eroberung der Bucht angeführt, und jetzt hatten sie unter seiner erlauchten Obhut die Vergangenheit restlos vergessen und jede Sorge um die Zukunft abgetan. Er gab ihnen mit der gleichen Gelassenheit in Haltung und Stimme Wissen, Rat, Lohn, Strafe, Leben oder Tod. Er verstand sich auf die Bewässerung und das Kriegshandwerk – auf die Eigenschaften von Waffen und die Kunst des Bootebaus. Er konnte sein Herz verbergen; er hatte mehr Ausdauer, konnte länger schwimmen und besser sein Kanu steuern als jeder andere seines Volkes; er konnte genauer schießen und gerissener unterhandeln als jeder andere seiner Rasse, der mir begegnet ist. Er war ein Abenteurer des Meeres, ein Ausgestoßener, ein Herrscher – und mein sehr guter Freund. Ich wünsche ihm einen raschen Tod in einem regelrechten Kampf, einen Tod im hellen Sonnenschein; denn er hat die Reue und Macht kennengelernt, und niemand kann vom Leben mehr verlangen. Tag für Tag erschien er vor uns – unvergleichlich treu dem Trug der Bühne, und bei Sonnenuntergang senkte sich die Nacht schnell auf ihn herab, gleich einem fallenden Vorhang. Die säumenden Berge wurden zu schwarzen Schatten, die hoch in einen klaren Himmel aufragten; über ihnen glich das glitzernde Gewirr der Sterne einem wahnwitzigen Getümmel, das unter einer Handbewegung erstarrt ist; Geräusche verstummten, Männer schliefen, Gestalten verschwanden – und die Wirklichkeit des Universums allein blieb bestehen – ein wunderbares Ding aus Dunkelheit und Glimmerschein.
Aber des Nachts geschah es, daß er offen sprach, die Anforderungen seiner Bühne vergaß. Bei Tag mußten die Angelegenheiten in vollem Staat erörtert werden. Anfangs standen zwischen ihm und mir sein eigenes Gepränge, mein schäbiger Verdacht und die theatralische Landschaft, die durch die reglose Unwahrscheinlichkeit ihrer Konturen und Farben die Wirklichkeit unseres Lebens störte. Seine Gefolgsleute umdrängten ihn; die breiten Spitzen ihrer Lanzen bildeten eine gezackte Gloriole aus Eisenpunkten über seinem Kopf, und mit dem Glanz der Seidenstoffe, dem Blitzen der Waffen, dem aufgeregten und ehrfürchtigen Summen eifriger Stimmen riegelten sie ihn gegen die Menschheit ab. Vor Sonnenuntergang beurlaubte er sich mit großem Zeremoniell und entfernte sich sitzend unter einem roten Schirm und begleitet von zwei Dutzend Booten. All die Paddel blitzten und tauchten mit einem einzigen mächtigen Aufklatschen ins Wasser, das in dem gewaltigen Amphitheater der Berghänge laut widerhallte. Ein breiter Streifen glitzernden Schaums lief hinter der Flottille her. Die Kanus wirkten sehr schwarz in dem weißen Gezisch des Wassers; turbanbedeckte Häupter schwangen vor und zurück; eine Menge Arme in Rot und Gelb hoben und senkten sich in einer einzigen Bewegung; die Lanzenträger im Bug des Kanus hatten bunte Sarongs und glänzende Schultern wie Bronzestatuen; die raunenden Strophen des Liedes der Paddler endeten jeweils in einem klagenden Ruf. Sie wurden kleiner in der Entfernung; das Lied verklang; unter den langen Schatten der westlichen Berge schwärmten sie ans Ufer. Das Sonnenlicht verweilte auf den purpurnen Graten, und wir konnten sehen, wie er den Weg zu seiner Palisade anführte: eine stämmige Figur mit unbedecktem Kopf, die einem zurückbleibenden cortège weit vorauseilte und dabei einen Ebenholzstab schwang, der länger als sie selbst war. Die Dunkelheit verdichtete sich rasch; Fackeln flammten unregelmäßig auf, wanderten hinter Buschwerk dahin; ein oder zwei lange Hochrufe verhallten in der Stille des Abends; und schließlich breitete die Nacht ihren weichen Schleier über die Küste, die Lichter und die Stimmen aus.
Dann, gerade als wir daran dachten, uns zur Ruhe zu begeben, rief die Wache des Schoners ein Kanu an, dessen Paddelgeplätscher durch die sternenhelle Düsternis der Bucht näherkam; eine Stimme pflegte leise zu antworten, und unser Eingeborenen-Bootsmann streckte seinen Kopf zum offenen Oberlicht herein und meldete uns ohne Überraschung: »Dieser Rajah kommen. Er jetzt hier.« Karain erschien geräuschlos in der Tür der kleinen Kajüte. Er war die Schlichtheit selbst; ganz in Weiß; mit verhülltem Kopfe; als Waffe nur einen Kris mit einem einfachen Büffelhorngriff, den er höflich in den Falten seines Sarongs verbarg, ehe er über die Schwelle trat. Das Gesicht des alten Schwertträgers, das verhärmte und kummervolle Gesicht, welches so von Runzeln übersät war, daß es durch die Maschen eines feinen, dunklen Netzes zu blicken schien, konnte man dicht über seiner Schulter sehen. Karain bewegte sich nie ohne diesen Begleiter, der dicht hinter ihm stand oder hockte. Er hatte eine Abneigung gegen einen freien Raum hinter sich. Es war mehr als bloße Abneigung – es kam einer Furcht gleich, einer nervösen Besorgnis um das, was dort vor sich gehen mochte, wo er nicht seine Augen hatte. Diese Furcht war angesichts der offenkundigen und ungestümen Treue, die ihn umgab, ganz und gar unverständlich. Er befand sich allein inmitten hingebungsvoller Menschen; er war sicher vor nachbarlichen Ränken, vor brüderlicher Ruhmsucht; und doch hat uns mehr als einer unserer Besucher versichert, ihr Herrscher könne nicht ertragen, allein zu sein. Sie sagten: »Sogar wenn er ißt oder schläft, ist in seiner Nähe immer einer auf Wache, der Kraft und Waffen hat.« Es war tatsächlich immer jemand in seiner Nähe, wenn unsere Gewährsleute auch keine Ahnung von der Kraft und den Waffen dieses Wächters hatten, die beide unbestimmt und schrecklich waren. Wir erfuhren es, doch erst später, als wir die Geschichte gehört hatten. Unterdessen beobachteten wir, daß auch bei den wichtigsten Unterredungen Karain oftmals auffuhr, die Besprechung unterbrach und in einer jähen Bewegung seinen Arm nach hinten ausstreckte, um sich zu vergewissern, daß der alte Kerl zur Stelle war. Der alte Kerl war immer zur Stelle, undurchdringlich und verdrossen. Er teilte sein Mahl mit ihm, seinen Schlaf und seine Gedanken; er kannte seine Pläne, bewachte seine Geheimnisse; gleichmütig stand er hinter seines Herrn Erregtheit und murmelte, ohne sich zu rühren, über dessen Kopf in beruhigendem Tonfall irgendwelche Worte, die schwer zu verstehen waren.
Nur an Bord des Schoners, umgeben von weißen Gesichtern, von unvertrauten Bildern und Geräuschen, schien Karain den sonderbaren Verfolgungswahn zu vergessen, der sich wie ein schwarzer Faden durch das gewaltige Gepränge seines öffentlichen Lebens zog. Des Nachts behandelten wir ihn frei und ungezwungen – gerade daß wir ihm nicht auf die Schulter klopften, denn es gibt Freiheiten, die man sich einem Malaien gegenüber nicht herausnehmen darf. Er sagte selber einmal, daß er bei solchen Gelegenheiten nur ein Privatmann sei, der komme, um sich mit anderen Herren zu unterhalten, die, wie er annahm, von nicht minder vornehmer Abkunft als er selber waren. Ich glaube, er hielt uns bis zum letzten Augenblick für Abgesandte der Regierung, für geheimnisvoll-amtliche Personen, die durch ihren illegalen Handel irgendwelche dunklen Pläne hoher Staatskunst förderten. Unser Leugnen und unsere Proteste waren fruchtlos. Er lächelte nur mit zurückhaltender Höflichkeit und erkundigte sich nach der Königin. Jeder Besuch begann mit dieser Erkundigung; er konnte gar nicht genug Einzelheiten erfahren, er war fasziniert von dem Träger eines Szepters, dessen Schatten sich von Westen her über die Erde und über die Meere erstreckte und weit über seine eigene Handbreit eroberten Boden hinausreichte. Er stellte immer neue Fragen; er konnte nie genug über die Monarchin erfahren, von der er mit Staunen und ritterlicher Ehrerbietung sprach – mit einer Art zärtlicher Scheu! Später, als wir erfuhren, daß er der Sohn einer Frau war, die während vieler Jahre einen kleinen Bugisstaat regiert hatte, vermuteten wir, daß sich ihm die Erinnerung an seine Mutter (von der er mit großer Begeisterung sprach) irgendwie mit dem Bild vermengte, das er sich von der fernen Königin zu machen versuchte, die er groß, unbesiegbar, fromm und glücklich nannte. Wir mußten schließlich Einzelheiten erfinden, um seinen Wissensdurst zu befriedigen; und unsere Königstreue muß entschuldigt werden, denn wir versuchten, sie seinem hehren und strahlenden Ideal anzupassen. Wir plauderten. Die Nacht glitt über uns weg, über den stillen Schoner, über das schlafende Land und über das ruhelose Meer, das gegen die Riffe vor der Bucht donnerte. Seine Paddler, zwei verläßliche Männer, schliefen in dem Kanu unter unserer Jakobsleiter. Der alte Vertraute, der von seinen Pflichten beurlaubt war, dämmerte auf seinen Fersen hockend dahin, den Rücken gegen die Tür zum Decksaufgang gelehnt; und Karain saß breit in dem hölzernen Lehnstuhl des Schiffes unter dem leichten Schwanken der Kajütslampe, eine Zigarre zwischen den dunklen Fingern und ein Glas Limonade vor sich. Ihn belustigte das Sprudeln, doch ließ er nach ein, zwei Schluck das Getränk schal werden und bat mit einer höflichen Geste seiner Hand um eine neue Flasche. Er dezimierte unseren kleinen Vorrat an Limonade, doch wir mißgönnten sie ihm nicht; denn wenn er einmal begann, dann sprach er gut. Er mußte zu seiner Zeit ein großer Bugis-Dandy gewesen sein, denn auch damals noch (und als wir ihn kennenlernten, war er schon nicht mehr jung) war seine Erscheinung von tadelloser Eleganz, und er färbte sich sein Haar hellbraun. Die ruhige Würde seiner Haltung verwandelte den schlechtbeleuchteten Kajütsraum des Schoners in einen Audienzsaal. Er redete von interinsularer Politik mit ironischer und melancholischer Gewitztheit. Er war viel gereist, hatte nicht wenig durchgestanden, intrigiert, gekämpft. Er kannte Eingeborenen-Höfe, europäische Siedlungen, die Wälder, das Meer und hatte, wie er selber sagte, zu seiner Zeit mit vielen großen Leuten gesprochen. Er unterhielt sich gern mit mir, weil ich einige dieser Leute kannte: er schien der Meinung zu sein, daß ich ihn verstand, und er nahm mit edler Selbstüberzeugung an, daß zumindest ich beurteilen könne, wieviel größer er selber sei. Doch zog er es vor, von seinem Heimatland zu erzählen – einem kleinen Bugisstaat auf der Insel Celebes. Ich hatte das Land vor einiger Zeit besucht, und er erkundigte sich eifrig nach den Neuigkeiten. Wenn Männernamen in der Unterhaltung auftauchten, pflegte er zu sagen: »Als Knaben schwammen wir miteinander um die Wette«; oder: »Wir jagten zusammen Hirsche – er konnte so gut mit Schlinge und Speer umgehen wie ich.« Dann und wann rollte er unruhig seine großen, träumerischen Augen; er runzelte die Stirn oder lächelte, oder er wurde nachdenklich, starrte schweigend vor sich hin und nickte eine Weile mit dem Kopf in Gedanken an ein schmerzliches Bild aus der Vergangenheit.
Seine Mutter war die Beherrscherin eines kleinen, halbunabhängigen Staates am äußersten Ende des Golfes von Boni gewesen. Er sprach mit Stolz von ihr. Sie hatte sich in Angelegenheiten des Staates wie des Herzens sehr entschlossen gezeigt. Nach dem Tod ihres ersten Gemahls heiratete sie, ohne sich von der ungestümen Opposition der Häuptlinge einschüchtern zu lassen, einen reichen Handelsmann, einen Korinchi, der nicht von Familie war. Karain war der Sohn aus dieser zweiten Ehe, aber diese unglückliche Abstammung hatte offensichtlich nichts mit seinem Exil zu tun. Er sagte nichts über dessen Grund, obwohl ihm einmal mit einem Seufzer die Worte entschlüpften: »Ah! mein Land wird die Last meines Körpers nicht mehr spüren.« Aber er teilte bereitwillig die Geschichte seiner Wanderungen mit und erzählte uns alles von der Eroberung der Bucht. Auf das Volk jenseits der Berge anspielend, pflegte er mit einer lässigen Handbewegung leise zu murmeln: »Sie kletterten einmal über die Berge, um mit uns zu kämpfen, aber diejenigen, die mit dem Leben davonkamen, kehrten nie wieder zurück.« Er sann eine Weile nach und lächelte in sich hinein. »Sehr wenige kamen mit dem Leben davon«, fügte er schließlich mit stolzer Gelassenheit hinzu. Er hegte die Erinnerung an seine Erfolge; er hatte ein überschwengliches Bedürfnis nach hochgesteckten Zielen; wenn er sprach, war sein Aussehen kriegerisch, ritterlich, erhebend. Kein Wunder, daß das Volk ihn verehrte. Wir sahen ihn einmal am hellen Tage zwischen den Häusern der Siedlung dahinschreiten. An den Türen der Hütten drehten sich die Frauen in Gruppen nach ihm um, trillerten leise und blickten ihm mit glänzenden Augen nach; bewaffnete Männer traten unterwürfig und aufrecht aus dem Weg; andere näherten sich von der Seite und bückten sich, um ihn demütig anzusprechen; eine alte Frau streckte einen mageren Arm in weitem Gewand nach ihm aus – »Gesegnet sei Euer Haupt!« rief sie aus ihrer dunklen Türöffnung herüber; ein Mann mit feurigen Augen hob sein schweißüberströmtes Gesicht und eine Brust, die zwei Narben aufwies, über den niedrigen Zaun einer Pisangpflanzung und brüllte ihm keuchend nach: »Gott schenke unserm Herrn den Sieg!« Karain ging schnell und mit festem, weitausgreifendem Schritt seines Weges; er erwiderte die Grüße von rechts und links mit kurzen, durchdringenden Blicken. Kinder rannten zwischen den Häusern vor ihm her, spähten ängstlich um die Ecken; Knaben hielten hinter den Büschen dahingleitend mit ihm Schritt, und ihre Augen blitzten durch das dunkle Laub. Der alte Schwertträger mit der silbernen Scheide über der Schulter schlurfte gebeugten Hauptes, die Augen auf den Boden geheftet, eilig hinter ihm her. Und inmitten großer Bewegung schritten sie schnell und in Gedanken versunken dahin, wie zwei Männer, die durch eine große Öde hasten.
In seiner Ratshalle wurde er von dem feierlichen Ernst bewaffneter Häuptlinge umgeben, während in zwei langen Reihen alte Familienoberhäupter, angetan mit Baumwollgewändern, auf ihren Fersen hockten und ihre untätigen Arme über die Knie hängen ließen. Der Duft blühender Hecken drang unter das Strohdach, das von vier glatten Säulen getragen wurde, von denen eine jede das Leben einer geradegewachsenen jungen Palme gekostet hatte. Die Sonne ging unter. Im offenen Hof traten Bittsteller durch das Tor, die gefalteten Hände über den geneigten Kopf erhoben, auch wenn sie noch weit entfernt waren, und sich im hellen Strom des Sonnenlichts tief verbeugend. Junge Mädchen saßen mit Blumen im Schoß unter den weit ausladenden Zweigen eines großen Baums. Der blaue Rauch von Holzfeuern breitete sich in einer durchsichtigen Dunstwolke über den hochgiebeligen Dächern von Häusern aus, die glänzende Wände aus geflochtenem Schilf und ringsherum unter den tief herabgezogenen Dachtraufen rohe Holzsäulen hatten. Im Schatten waltete er des Richteramtes; vom erhöhten Sitz aus gab er Befehle, Rat, Verweis. Dann und wann wurde das Summen der Zustimmung lauter, und müßige Lanzenträger, die gelangweilt an den Säulen lehnten und zu den Mädchen hinübersahen, wandten langsam ihre Köpfe. Keinem Menschen ist der Schutz von so viel Ehrerbietung, Vertrauen und Scheu zuteil geworden. Doch zuweilen konnte es geschehen, daß er sich vorbeugte und auf einen fernen Klang des Widerspruchs zu lauschen schien – so, als erwarte er irgendeine leise Stimme, den Hall leiser Schritte; oder er hob sich halb aus seinem Sessel, als sei er vertraulich an der Schulter berührt worden. Er blickte sich furchtsam um; sein betagter Gefolgsmann flüsterte ihm unhörbar etwas ins Ohr; die Häuptlinge wandten schweigend die Blicke ab, denn der alte Magier, der Mann, der den Gespenstern gebot und böse Geister gegen die Feinde ins Feld führte, sprach leise zu ihrem Herrscher. Rings um das kurze Schweigen des offenen Platzes rauschten sacht die Bäume; das leise Lachen der Mädchen, die mit Blumen spielten, erhob sich in den klaren Kaskaden fröhlicher Stimmen. An der Spitze der aufgerichteten Lanzenschäfte bewegten sich die langen Büschel gefärbten Roßhaars rot und duftig im Wind; und jenseits der flammenden Hecken floß ein klarer, schneller Bach, den Blicken entzogen, unter den hängenden Gräsern der Ufer mit lautem Rauschen leidenschaftlich und doch sanft dahin.
Nach Sonnenuntergang konnte man weit hinter den Feldern und über der Bucht Bündel von Fackeln sehen, die unter dem hohen Dach der Ratshalle brannten. Blakende rote Flammen schwankten auf hohen Haltern, und der feurige Schein spielte über Gesichter, blieb auf glatten Palmstämmen liegen, entfachte ein helles Gefunkel auf den Rändern der Metallteller, die auf feinen Bodenmatten standen. Dieser dunkle Abenteurer verstand wie ein König zu tafeln. Kleine Gruppen von Männern hockten in dichtgedrängten Kreisen um hölzerne Schüsseln; braune Hände bewegten sich über schneeigen Reisbergen. Auf einer rohen Lagerstatt abgesondert von den andern sitzend, stützte er sich gesenkten Hauptes auf einen Ellenbogen; und vor ihm improvisierte ein Knabe mit hoher Stimme einen Gesang, der seine Tugend und Weisheit pries. Der Sänger schwankte hin und her und rollte irr die Augen; alte Frauen humpelten mit Schüsseln umher, und auf dem Boden hockende Männer hoben den Kopf und lauschten ernst dem Lied, ohne im Essen innezuhalten. Der Triumphgesang bebte durch die Nacht, und die Strophen rollten trauervoll und leidenschaftlich aus wie die Gedanken eines Einsiedlers. Er gebot dem Sänger mit einer Handbewegung Einhalt: »Genug!« In der Ferne schrie eine Eule, frohlockend in der Lust der tiefen Düsternis des Laubes; über ihm rannten Eidechsen durch das Attapstroh und stießen leise Rufe aus; die trockenen Blätter des Daches raschelten, das Stimmengewirr wurde plötzlich lauter. Nach einem überraschten Blick in die Runde, gleich dem eines Mannes, der sich plötzlich einer drohenden Gefahr bewußt wird, warf er sich zurück und nahm unter dem gesenkten Blick des alten Magiers mit weitaufgerissenen Augen den dünnen Faden seines Traumes auf. Sie beobachteten seine Stimmungen; das anschwellende Brausen der lebhaften Unterhaltungen sank wie eine Welle auf einem sanft abfallenden Ufer in sich zusammen. Der Häuptling ist schwermütig. Und über dem sich verbreitenden Geflüster der gesenkten Stimmen war nur das leise Geklirr der Waffen zu hören, ein einzelnes lauter gesprochenes Wort, deutlich und verloren, oder der schwere Klang eines großen Messingtabletts.