Ahmet Altan
Ich werde die Welt nie wieder sehen
Aus dem Türkischen von Ute Birgi-Knellessen
FISCHER E-Books
Ahmet Altan, geboren 1950 in Ankara, ist Journalist und Schriftsteller. 2007 gründete er die Zeitung »Taraf«. Kurz nach dem Putschversuch im Juli 2016 wurde er festgenommen, die »Taraf« verboten. Ihm wurde Zusammenarbeit mit Gülen und versuchter Umsturz vorgeworfen. Im Februar 2018, an dem Tag als Deniz Yücel nach 367 Tagen aus der Untersuchungshaft entlassen wurde, wurden Ahmet Altan und fünf weitere Journalistenkollegen, darunter sein Bruder Mehmet Altan, zu lebenslanger Haft verurteilt. Er kann keine Besucher empfangen, außer wöchentlichen überwachten Treffen mit engen Familienangehörigen und seinen Anwälten.
Ahmet Altan hat zehn Romane und mehrere Essaybände veröffentlicht. Sein Roman »Wie ein Schwertstreich« ist im Fischer Taschenbuch Verlag lieferbar.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
»Ich werde die Welt nie wieder sehen. Ich werde nie wieder den Himmel ohne den Rahmen sehen, den die Wände des Gefängnishofes bilden.«
Am 16. Februar 2018 wurde der große türkische Intellektuelle Ahmet Altan in der Türkei zu lebenslanger Haft verurteilt. Altan wird vorgeworfen, er habe in einer TV-Sendung am 14. Juli 2016 »unterschwellige Botschaften« über den Putschversuch verbreitet, der am Tag danach stattfand. Im Januar hatte das türkische Verfassungsgericht seine Freilassung angeordnet – ein Gericht in Istanbul blockierte den Beschluss jedoch. Altan ist einer der wichtigsten, mutigsten Journalisten der Türkei, und er hat mehrere historische Romane geschrieben, unter anderem über die Willkürherrschaft der Jungtürken Anfang des 20. Jahrhunderts. Diese Zeit erinnere ihn, sagte Altan im Gericht, an die Türkei heute.
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2018 Ahmet Altan
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2018 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-491020-8
Ich erwachte. Es klingelte an der Tür.
Ich sah herüber zu der elektronischen Uhr. Die Anzeige 05.42 blinkte und verlosch.
»Die Polizei«, dachte ich.
Wie alle Oppositionellen in meinem Land ging ich jede Nacht zu Bett in der Erwartung, dass im Morgengrauen an meiner Tür geläutet würde.
Ich wusste, dass sie kommen würden.
Nun waren sie gekommen.
Die Kleidung für den Polizeiüberfall und die Zeit danach hatte ich bereits parat:
Eine weite schwarze Leinenhose, die ohne Gürtel auskam, weil der Bund von innen mit einer Kordel zusammengehalten wurde; kurze, bis zu den Fußgelenken reichende schwarze Socken, bequeme Sportschuhe, ein leichtes baumwollenes T-Shirt und ein dunkles Hemd.
Ich zog meine »Überfallkleidung« an und ging zur Tür.
Durch den Spion sah ich nach draußen.
Auf dem Treppenabsatz standen Polizisten der Abteilung Terrorbekämpfung in ihren Westen, wie sie nur bei Razzien getragen werden und auf deren Brust in Großbuchstaben TEM (Terrorbekämpfung) zu lesen ist. Sie waren zu sechst.
Ich öffnete die Tür.
Sie kamen herein mit den Worten: »Es liegt ein Befehl zur Durchsuchung und Abführung in Untersuchungshaft vor.«
Die Wohnungstür ließen sie offen.
Die Polizisten teilten mir mit, dass auch für meinen Bruder Mehmet Altan ein Befehl zur Inhaftierung vorlag. Eine zweite Einsatztruppe warte vor seiner Tür, doch es würde nicht aufgemacht.
Ich fragte nach der Nummer der belagerten Wohnung; es stellte sich heraus, dass sie an der falschen Türe geklingelt hatten.
Ich rief Mehmet an und sagte:
»Wir haben Gäste, mach die Türe auf.«
Als ich das Handy zuklappte, streckte einer der Polizisten die Hand danach aus und sagte: »Das nehme ich mal mit.«
Dann verteilten sie sich in der Wohnung und begannen mit der Durchsuchung.
Die Morgendämmerung zog herauf.
Hinter den Hügeln hervorbrechende Sonnenstrahlen zeichneten lila, rote und fliederfarbene Wellenbewegungen in den Himmel, dessen helle Färbung an ein weißes Rosenblatt denken ließ.
Ein friedlicher Septembermorgen brach an, der nichts von den Vorgängen in meiner Wohnung ahnte.
Während die Polizisten meine Wohnung durchsuchten, setzte ich Teewasser auf.
»Mögen Sie auch einen Tee?«, fragte ich sie.
Sie sagten, dass sie keinen wollten.
Die Stimme meines Vaters nachahmend, fügte ich hinzu:
»Dies ist keine Bestechung. Sie können ruhig einen Tee annehmen.«
Vor genau fünfundvierzig Jahren waren sie in unsere Wohnung, auch zur Zeit der Morgendämmerung, eingefallen. Damals hatten sie meinen Vater mitgenommen.
Der hatte die Polizisten gefragt, ob sie gern einen Kaffee trinken würden, und nach ihrer ablehnenden Antwort lachend hinzugefügt: »Sie können ihn ruhig trinken, dies ist keine Bestechung.«
Was ich gerade erlebte, war kein Déjà-vu.
Es war die Wiederholung einer stets gleichen Realität.
Weil dieses Land sich in seiner Geschichte sehr langsam bewegt, kann die Zeit nicht vorankommen; sie dreht sich um, schaut zurück und wiederholt ihre eigene Vergangenheit.
Nach fünfundvierzig Jahren war die Zeit zu jenem Morgen zurückgekehrt.
Im Laufe dieses fünfundvierzig Jahre währenden Morgens war mein Vater gestorben und ich war älter geworden, doch in Sachen Polizeiüberfall und Morgendämmerung hatte sich nichts geändert.
Vor der offenstehenden Wohnungstür erschien mein Bruder Mehmet mit seinem Lächeln, das jeden Morgen meine Zuversicht stärkte. Er war von Polizisten umringt.
Wir verabschiedeten uns voneinander.
Sie führten Mehmet ab.
Ich goss mir einen Tee ein, füllte eine Schale mit Müsli und Milch. Dann setzte ich mich in einen Sessel, trank meinen Tee, aß mein Müsli und wartete darauf, dass die Polizisten mit ihrer Durchsuchung fertig würden.
Es war still in der Wohnung.
Außer den Geräuschen, welche die suchenden Polizisten beim Verrücken der Möbel verursachten, war nichts zu vernehmen.
Mindestens zwanzig Jahre alte Computer, die zu entsorgen ich nicht übers Herz brachte, weil ich an ihnen etliche meiner Romane verfasst hatte, seit Jahren angehäufte aus der Mode gekommene Disketten sowie den Laptop, mit dem ich zurzeit arbeitete, alles stopften sie in solide Kunststoffsäcke.
»Gehen wir«, hieß es dann.
Ich nahm meine Tasche, in die ich außer Wäsche zum Wechseln noch ein paar Bücher gesteckt hatte.
Wir verließen die Wohnung und stiegen in das vor der Haustür wartende zivile Polizeiauto ein.
Ich setzte mich und nahm meine Tasche auf den Schoß.
Die Autotüren gingen zu.
Die Toten, so heißt es, wissen nicht, dass sie gestorben sind.
In der islamischen Mythologie gibt es die Vorstellung, dass der bestattete Leichnam sich erheben und nach Hause zurückkehren möchte, sobald die Trauergemeinde sich von seinem Grab entfernt hat. Erst wenn er beim Versuch aufzustehen mit dem Kopf an den Sargdeckel stößt, begreift er, dass er gestorben ist.
Als die Autotüren zugingen, stieß auch mein Kopf an den Sargdeckel.
Ich konnte die Türen dieses Autos nicht öffnen und ich konnte nicht aussteigen.
Ich konnte nicht nach Hause zurückkehren.
Nie mehr sollte ich die Frau, die ich liebte, küssen, meine Kinder umarmen, mich mit meinen Freunden treffen, in den Straßen herumlaufen können. Ein Arbeitszimmer, eine Maschine, an der ich schreiben könnte, eine Bibliothek gäbe es nicht mehr für mich; einem Violinkonzert zu lauschen, auf Reisen zu gehen, Buchläden zu durchstöbern oder Brot vom Bäcker zu holen sollte mir nicht mehr möglich sein; nie mehr würde ich das Meer sehen, einen Baum betrachten, den Duft der Blumen, des Rasens, des Regens und der Erde einatmen können; ins Kino zu gehen, noch einmal Spiegeleier mit Knoblauchwurst zu verspeisen, ein Glas Wein oder einen Drink zu mir zu nehmen, in einem Fischrestaurant meine Bestellung aufzugeben, auch das sollte es für mich nicht mehr geben; ich könnte niemanden mehr anrufen, und auch mich könnte niemand am Telefon erreichen, niemals mehr könnte ich selbst eine Tür öffnen und niemals mehr in einem Zimmer mit Vorhängen aufwachen.
Sogar mein Name würde sich ändern.
Ahmet Altan würde ausgelöscht, fortan der in offiziellen Dokumenten aufgeführte Name Ahmet Hüsrev Altan verwendet werden.
Wenn ich nach meinem Namen gefragt würde, müsste ich »Ahmet Hüsrev Altan« sagen, und wenn die Frage meiner Adresse galt, würde ich mit einer Zellennummer antworten.
Von nun an würden andere entscheiden, was ich zu tun hätte, wo ich mich aufhalten und wo ich schlafen sollte, wann ich aufstehen müsste und was mein Name sein sollte.
Ich würde unentwegt Befehle empfangen.
»Bleib stehen!«, »Geh los!«, »Komm herein!«, »Arme hoch!«, »Schuhe ausziehen!«, »Sei still!«
Das Polizeiauto fuhr sehr schnell.
Die Straßen waren menschenleer.
Es war der erste Tag einer zwölftägigen Reihe von Feiertagen. Die meisten Bewohner der Stadt, darunter auch der Staatsanwalt, der unsere Abführung veranlasst hatte, waren in Urlaub gefahren.
Der Polizist neben mir steckte sich eine Zigarette an.
Kurz darauf hielt er mir das Päckchen hin.
Ich schüttelte den Kopf und lehnte lächelnd ab:
»Ich rauche nur, wenn ich nervös bin.«
Während ich hilflos im Auto saß, unfähig eine Tür zu öffnen, mit einer Zukunft, über die ich selbst nicht mehr bestimmen konnte, und sogar mit einem neuen Namen und gerade in einen armseligen in einem Spinnennetz zappelnden Käfer verwandelt wurde, hatte ich mir einen solchen Satz, der diese Realität missachtete, ja, sich darüber lustig machte und einen ungeheuren Abstand zwischen mir und dieser Realität schaffte, nicht etwa ausgedacht. In keinem versteckten Winkel meines Bewusstseins hatte ich mich zu einem derartigen Satz entschlossen.
Es war, als ob ein »Jemand« in mir, den ich zwar nicht genau als »ich« empfand, der aber doch wohl ein Teil von mir war, da er mit meinem Mund und meiner Stimme sprach, im Polizeiwagen unterwegs zu einer Zelle mit Eisengittern verlauten ließ, dass er nur rauche, wenn er nervös sei.
Dieser eine Satz veränderte plötzlich alles.
So wie ein in die Luft geworfenes Samuraischwert einen Seidenschal mit einem Streich in zwei Teile trennt, wurde die Realität mit diesem Satz zweigeteilt.
Eine Seite dieser Realität bestand aus einem Körper aus Fleisch, Knochen, Blut, Muskeln und Nerven, der in einer Zange gefangen war; auf der anderen Seite jedoch befand sich ein Bewusstsein, das sich mit allem, was diesem Körper zustieß, abfand, das darüber spotten konnte, das alles, was es erlebte und noch erleben würde, mit Abstand betrachtete und von einem tiefen Glauben an seine Unverletzlichkeit beseelt war.
Wie Julius Caesar, der während seiner Belagerung der Burg von Alesia erfuhr, dass ein großes Heer zur Unterstützung der Belagerten im Anmarsch war, und daraufhin unverzüglich zwei miteinander verbundene Festungsmauern um die Zitadelle herum errichten ließ, wodurch die Belagerten nicht heraus und das heranrückende Heer nicht hinein konnten, hatte ich mit einem einzigen Satz zwei Festungsmauern errichtet. Mit ihnen verhinderte ich, dass die Bedrohungen des Lebens in mich hineindrangen, dass tief in meinem Bewusstsein versteckte Befürchtungen nach draußen gelangten und dass diese beiden Kräfte gemeinsam mich in Angst und Schrecken versetzten und vernichteten.
Wieder einmal begriff ich, dass bei der Begegnung mit Tatsachen, die unser Leben völlig aus der Bahn werfen können, diese uns nur in ihrem Strudel mitzureißen vermögen, wenn wir uns so verhalten, wie sie es erwarten, wenn wir uns ohne Widerstand ergeben.
Als jemand, der in die schmutzigen aufgetürmten Wellen solcher »Realität« hineingestoßen wurde, kann ich mir erlauben festzustellen, dass es sich bei deren Opfern durchweg um »vernünftige« Menschen handelt, die glauben, dass sie ihr Verhalten den Umständen anpassen müssen.
Für alles, was uns in unserem Leben an bedrohlichen Situationen und gefährlichen Realitäten passieren kann, erwartet man von uns bestimmte Kommentare und Verhaltensweisen. Wenn wir uns diesen Schablonen widersetzen und Unerwartetes tun und sagen, sind es genau diese Realitäten, die aus dem Lot geraten und an den aufmüpfigen Wellenbrechern unseres Bewusstseins zerschellen. Und wir erhalten dadurch die Macht und das Vertrauen, uns aus den Trümmern dieser Realität eine neue Wirklichkeit zu schaffen.
Es kommt also darauf an, dieses unerwartete Verhalten zu zeigen und Dinge zu sagen, mit denen niemand rechnet.
Wenn wir das zustande bringen und damit die auf unseren Körper gerichtete Lanze der Lächerlichkeit preisgeben, dann können wir wie der junge Leutnant in Puschkins Erzählung »Der Schuss« im Angesicht der auf uns gerichteten Pistole in aller Ruhe die Kirschen essen, die wir in unsere Mütze gefüllt hatten, oder uns wie Borges verhalten und einem auf dunkler Straße plötzlich vor uns auftauchenden Dieb auf seine Drohung »Dein Leben oder dein Geld!« seelenruhig mit »Mein Leben!« antworten.
Eine grenzenlose Macht können wir so erlangen.
Ich weiß bis heute nicht, aus welcher geheimnisvollen Quelle dieser Satz hervorgekommen war, der meine Auffassung von allem, was ich erlebt hatte und noch erleben würde, veränderte.
Was ich weiß, ist, dass in mir ein »Jemand« versteckt ist, der in einem Polizeiwagen sitzen und sagen kann, dass er nur raucht, wenn er »nervös« ist. Dieser »Jemand« ist, so glaube ich, aus vielen verschiedenen Stimmen, Lächeln, Sätzen, Absätzen und Schmerzen entstanden.
Hätte ich nicht gesehen, wie mein Vater lächelte, als er vor fünfundvierzig Jahren in einem Polizeiauto davonfuhr, und hätte ich nicht von ihm gehört, wie der Botschafter Karthagos seine Hand ins Feuer hielt, als man ihm mit der Folter drohte; hätte ich mich nicht daran erinnert, wie Seneca seine Freunde tröstete, während er auf Neros Befehl hin in einer mit heißem Wasser gefüllten Wanne sitzend seine Pulsadern durchtrennte, und hätte ich nicht die Worte gelesen, die der erst sechsundzwanzigjährige Saint-Just in seinem letzten, in der Nacht vor seiner Hinrichtung verfassten Brief geschrieben hatte, nämlich »Die Bedingungen sind hart nur für jene, die darauf beharren, nicht zu sterben«, oder die Aussage des Epiktet: »Auch wenn unsere Körper versklavt werden, kann unser Bewusstsein frei bleiben«; und wenn ich nicht davon gelesen hätte, dass Boethius sein wichtigstes Buch in der Todeszelle verfasst hatte, dann hätte ich mich in jenem Polizeiauto vor den mich bedrängenden Realitäten fürchten können und nicht die Kraft in mir gefunden, mich über diese lustig zu machen und sie dadurch zu zerschmettern. Ganz sicher hätte ich nicht mit einem aus meinem Innersten aufsteigenden heimlichen Gelächter jenen einen Satz aussprechen können, sondern mich kleinlaut den Bedingungen untergeordnet.
Doch ein »Jemand« in mir, der sich, wie ich annehme, aus den lichten Schatten all jener großartigen Toten zusammensetzt, hatte gesprochen und damit erreicht, dass alles, was ich erlebte, verändert war.
Die Realität hat mich nicht packen können.
Ich habe die Realität gepackt.
Entspannt stellte ich meine Tasche auf dem Boden des durch erhellte Straßen rasenden Polizeiautos ab und lehnte mich zurück.
Beim Polizeipräsidium angekommen, fuhr das Auto durch ein breites Tor in das Gebäude hinein, dann rollte es eine sich abwärts windende Fahrbahn hinab. Das Licht nahm ab; je weiter wir uns abwärts bewegten, desto dunkler wurde es. An einer Kurve hielt das Auto an.
Wir stiegen aus und gingen durch eine Tür.
Wir waren auf einem großen Areal angelangt. Dies war eine nach Stein, Schweiß und Feuchtigkeit riechende Unterwelt, in der schmutzig-gelbe, an einen Wald aus gefrorenem Schwefelmetall erinnernde Mauern die Eintretenden der Erdoberfläche entrissen und von der die »oben« wandelnden Menschen nichts ahnten.
Im monotonen grellen Licht nackter Glühbirnen trug jeder die wächserne Starrheit des Todes im Gesicht.
Polizisten in Zivil warteten darauf, die der Welt Entrissenen zu empfangen.
Ein langer Korridor führte weiter ins Innere.
Vor den Wänden stapelten sich Taschen und Plastiktüten. Sie erinnerten an Habseligkeiten von Unglücklichen im Meer Verschollenen, wie sie ans Ufer gespült werden.
Die Polizisten nahmen mir meine Schnürsenkel, meine Uhr, meinen Personalausweis und die Kordel ab, die meine Hose in der Taille zusammenhielt.
Mit jeder ihrer Handlungen und jedem ihrer Worte trennten sie uns in dieser lichtlosen Tiefe von der Welt der Lebenden – so wie man eine faulige Stelle oder einen wurmigen Stiel aus einer Frucht herausschneidet.
Mit meinen schnürsenkellosen Schuhen über den Boden schlurfend, folgte ich einem Polizisten durch den Korridor ins Innere.
Der Polizist schloss eine Tür auf. Wir betraten einen sehr engen Korridor, dessen stickige Hitze den Menschen wie die Klaue eines wilden Tieres packte.
Zellen mit schweren Eisengittern davor waren in diesem Korridor aneinandergereiht. Sie waren zum Bersten gefüllt mit Menschen, die am Boden lagen. Mit ihren ungepflegten Bärten, müden Augen, nackten Füßen und verschwitzten Körpern schienen sie die ihre persönlichen Eigenheiten ausmachenden Grenzen aufgegeben zu haben, sie waren zu einem riesigen beweglichen Fleischklumpen verschmolzen.
Neugierige und beunruhigte Augen sahen mich an.
Der Polizist steckte mich in eine der Zellen und schloss die Tür ab.
Wie die anderen zog ich meine Schuhe aus und legte mich hin. Einen Platz zum Stehen gab es in dieser niedrigen mit Menschen überfüllten Zelle nicht.
In wenigen Stunden hatte ich eine zeitliche Entfernung von fünfhundert Jahren zurückgelegt und war in den Verliesen der mittelalterlichen Inquisition angekommen.
Ich lächelte dem Polizisten zu, der vor meiner Zelle stand und mich beobachtete.
Von außen betrachtet, war ich der weißbärtige alte Ahmet Hüsrev Altan, der in einem dunklen stickigen Käfig mit Eisengittern eingeschlossen war.
Doch das war die Realität derer, die mich dort gefangen hielten.
Ich habe diese Realität umgekehrt.
Ich war der Leutnant, der seelenruhig Kirschen aus seiner Mütze isst, während die Pistole seines Gegners auf ihn gerichtet ist. Ich war Borges, der dem Dieb mit »mein Leben« antwortet, als dieser ihn vor die Wahl »Dein Leben oder dein Geld!« stellt. Und ich war Caesar, der die Festungsmauern von Alesia errichten ließ.
Denn ich rauchte nur, wenn ich »nervös« war.