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Reimer Boy Eilers

Nieren für St. Pauli





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Nieren für St. Pauli

Reimer Boy Eilers

 

Copyright: © Reimer Boy Eilers – publiziert von

telegonos-publishing

Covergestaltung: Kutscherdesign (unter Verwendung einer Fotografie des Autors)

www.telegonos.de (Haftungsausschluss und Verlagsadresse auf der website)

Kontakt zum Autor:

http://www.telegonos.de/aboutReimerEilers.htm

 

Professor Dr. Markus von Bedell engagiert Yakub Edel Singer, um Schulden einzutreiben. Denny Ip, Sponsor des Asia-Seemannsheims im Hamburger Hafen, mal Wohltäter, mal Untäter in Exportgeschäften mit China, hat sich von dem Doktor eine Leber transplantieren lassen. Leider hat er vergessen, die Rechnung dafür zu bezahlen.

Bernie Festeburg, ein alter Skatkumpel des Privaten Ermittlers und mittlerweile Hartz IV-Empfänger, kann das Elend der Welt nicht mehr ertragen. Nicht um seine eigene Wohlfahrt geht es ihm, sondern er will sechs chinesische Seeleute retten. Die sitzen im Silbersack auf St. Pauli und wollen in Hamburg je eine ihrer gesunden Nieren verkaufen. Als Festeburg anruft und dringend um Yakub Singers Hilfe bittet, kann dieser wieder mal nicht Nein sagen

Qiang Wu ist ein Meister des Qigong und ein Vertrauter von Denny Ip. Was hat es zu bedeuten, dass Qiang Wu im Silbersack auftaucht? Auf alle Fälle jede Menge Ärger. Erst schlitzt er Singer die Nase auf, ganz in Chinatown-Manier, weil der Detektiv die falschen Fragen stellt. Dann stirbt Bernie Festeburg an einem Nierenstich.

Aber ist Qiang Wu der große Schurke im Hintergrund? Sicherlich nicht, denn nur allzu bald wird auch er ein Opfer. Welche Rolle spielt der reiche Professor von Bedell in diesem Stück? Der Detektiv kann das Fragen einfach nicht lassen. Und dann steht Singer vor einer großen Gefahr. Das Transplantationsgeschäft ist zu lukrativ, als dass gewisse Kreise sich stören lassen würden.

Dumm gelaufen, kann man nur sagen, denn eigentlich muss Singer sich um seinen Graupapageien kümmern. Er muss mit dem Tierschützer Hähnchen Wang Agent, einem taffen Burschen mit roter Hahnenkammfrisur, einen Diskurs über Kantische Ethik führen. Und er muss unbedingt Hanbao kennenlernen. Hanbao, das ist Hamburgs bunte chinesische Welt. Der Name ist Programm für die Zukunft der Hansestadt und bedeutet Burg der Chinesen. Nur, damit ihr das mal wisst, ihr Chinaburger und ASTRA-Trinker. Und da nicht für!

 

I’ve never kissed a bear
And never kissed a goon
But I can shake a chicken
In the middle of the room

(Elvis Presley in dem Film “Loving you”, 1957.
Neueinspielung Paul McCartney 1999)

Ich küsste keinen Bär‘n
Und nie ein Streichquartett
Doch ich schieb gern ein Hühnchen
Mit dem Tanzbein auf‘s Parkett

(Lieblingssong von HWA aka Hähnchen Wang Agent aka Werner Wang)

 

Pulp Fiction und Bütten
ham‘ wir durchlitten.
YES
Yakub Edel Singer, Privater Ermittler

 

Für Hilde, Eibo und Sven, die ich stets um Rat fragen kann.

Dank auch an Dominik Großefeld, den Wirt des Silbersacks, der es mit gutem Humor aufnahm, dass ich einige Szenen in seiner Lokalität spielen lasse. Der Silbersack ist ein schönes Stück altes St. Pauli, eine wunderbare Kiez-Kneipe und überdies ein feines Etablissement, in dem noch niemals etwas Unrechtes geschehen ist. Sollte dieses Buch gelegentlich einen anderen Eindruck erwecken, ist das allein der kriminellen Fantasie des Autors zuzuschreiben.

 

1 Ein Bentley als Taxi

 

Es mag sympathische Schurken und es mag sogar umgängliche Killer geben. Bamir zählte nicht zu ihnen. Ich hätte ahnen sollen, dass mir nur allzu bald ein Bursche seines Schlages über den Weg laufen würde, denn die Geschichte begann viel zu luxuriös in einem Bentley Mulsanne. So etwas geht bei mir noch jedes Mal schief. Zwischen der Fahrt mit dem Oberklasseschlitten und meiner ersten Begegnung mit Bamir lagen achtzig Minuten. Das darf man einen engen zeitlichen Zusammenhang nennen. Der Name des Killers war albanischer Herkunft und bedeutete „tue Gutes“. Es war ein Hohn, und ein Freund von mir musste dran glauben. Doch am Ende war Bamir nicht einmal der schlimmste Schurke.

Von Bedells Chauffeur dagegen war harmlos, aber nicht gerade umgänglich. Er warf mir so einen Blick aus dunklen Augenschlitzen zu, während ich es mir in seinem Bentley bequem machte. Ich nahm es ihm nicht übel. Er war nun mal Chinese, steckte in einem feinen dunkelgrauen Maßanzug, eine dunkelgraue Chauffeursmütze auf dem Kopf, und hatte dunkle Schlitzaugen. Ich sagte: „Ja, freut mich gleichfalls, dass Sie mich abholen. Ihnen auch einen guten Tag!“

Okay, es sollte nur ein netter Versuch sein. Er ging nicht darauf ein, sondern murmelte etwas auf Chinesisch. Wahrscheinlich probierte er eine dieser höflichen Verwünschungen aus dem Reich der Mitte, wie: Mögest du in interessanten Zeiten leben!

Die Zeiten waren durchaus danach, jedenfalls für mein Gefühl. Der Arbeitgeber des Chauffeurs hatte es sehr dringlich gemacht, und so hatte ich improvisieren müssen. Ich hatte ihm gesagt, bitte, der Wagen solle mich dann einfach vor Annabellas Erotikshop auflesen.

Dort würde ich an der Bordsteinkante warten. (Wie eine Bordsteinschwalbe, huch ... ein Spruch. Das letzte Mal hatte Nora Noritz ihn gebracht, nach sieben Martinis rund um den Hans-Albers-Platz. Bestimmt gehörte er zu jener Kategorie von Sprüchen, die für Brüllwitze nach sieben Drinks reserviert war. Und man sollte ihn nicht auf einem niedrigeren Level bringen.) Was Besseres war mir auf die Schnelle nicht eingefallen.

Natürlich hatte es bei einigen Leuten aus dem Viertel Aufsehen erregt, dass ich in den Mulsanne, brandneu und schwarz wie der Tod, eingestiegen war. Aufsehen konnte ich gar nicht gebrauchen, denn Diskretion war in meinem Geschäft schon die halbe Miete. Seit der Besitzer des Wagens, Professor Dr. von Bedell, auch einige Kiezgrößen behandelt hatte, waren seine Praxis und sein Autokennzeichen auf St. Pauli ein Begriff. Aber das konnte ich jetzt nicht ändern. Also musste ich das Geschwätz der Tagediebe im Rückspiegel hinnehmen.

Im Fond des Bentleys war es dagegen still. Vielleicht sollte ich dem feinen Steuermann dieses automobilen Traums für sein Muffeln sogar dankbar sein. Auf die Weise konnte ich mich für den Rest der Fahrt mit meinen laufenden Angelegenheiten beschäftigen. Denn es ging mir keineswegs so mau wie gewissen Kollegen im Ermittlergewerbe, die in ihren Büros sitzen und der Dinge harren, bis sie der nächste Job oder die nächste Blondine erlöst. Auch ohne Professor von Bedells Anruf hätte ich mehr als genug um die Ohren gehabt.

Und das nicht nur dienstlich. Seit Tagen trug ich ein schlechtes Gewissen mit mir herum, weil ich zum wiederholten Mal einen Krankenbesuch hinausschob. Eine gute alte Bekannte von mir, schon gut, niemand anderes als Nora, machte einen Entzug in Ochsenzoll. Es stimmt, sie war nicht alt an Jahren und gelegentlich war sie auch schon mehr als eine Bekannte für mich gewesen - was es dann gewissensmäßig nicht besser machte. Ich hätte ihr in den unvermeidlichen Tiefs, die so ein Entzug mit sich brachte, Beistand leisten sollen. Einfach da sein und leise Bravo dazu sagen, dass sie auf eine unwahrscheinliche Reihe von Cocktails verzichtete. Es war keine Entschuldigung, dass ich Nora schon ein paar Mal durch ihre Tiefs begleitet hatte, ohne dass ein darauf folgendes Hoch von Dauer gewesen wäre. Es gibt wohl nichts Traurigeres, als dem Geschmack von Limetten und Machandelbeeren zu verfallen und über einem Gimlet abzustürzen. Besonders tragisch, weil es der Sturz von einem Gipfel der Kulinarik ist.

Ich tastete nach der Innentasche meiner Jacke, zog fix den Briefumschlag hervor, den HWA mir gestern auf den Schreibtisch gelegt hatte, und riss den Umschlag auf. Werner Wang benutzte ein frühlingsgrünes Notizpapier, in der Kopfzeile fand sich hinter dem Namenskürzel der Zusatz: Kryptozoologe und Kleintierhelfer. In Laufe der Zeit hatte ich es mir abgewöhnt, nach einer gängigen Definition für diese schicke Berufsbezeichnung zu suchen, geschweige denn, dass ich eine finden würde.. Es war nicht notwendig, die ganze Welt in Schubkästchen zu packen. Auf meiner Visitenkarte stand beispiels-weise Yakub Edel Singer – YES. Private Ermittlungen. Und darüber wollte ich auch mit niemandem debattieren.

Nicht allein HWAs Notizpapier war grün, sondern auch sein Outfit mit der Anmutung einer Ranger-Kleidung, ganz freundlich ausgedrückt. Er wahrte diesen sehr speziellen Stil selbst bei harmlosen häuslichen Einsätzen, wenn er bloß ein paar Stunden auf meinen Papageien aufpassen sollte, und saß dann in meinem Wohnzimmer in einer Mischung aus Spezialtruppenkluft und Kampflumpen. Der einzige andere Farbton waren dabei die braunen Boots und der braune Lederhut, der ihm meistens im Nacken hing. Na, und dann auch die roten Haare. Das grüne Memo lautete: „Januarspende bitte für das Tierheim in der Hagenbeckstraße. Lieber Yakub, Sie werden einen angemessenen Betrag ansetzen.“

Sicher, das würde ich. Wie ein Autist saß ich im Fond des dicken Wagens, nickte und steckte den Umschlag samt Inhalt wieder ein. Langsam kannte ich rund um die schöne Hansestadt Hamburg alle gemeinnützigen Vereine, die sich dem Tierschutz verschrieben hatten. Denn HWAs Engagement auf diesem Sektor war beeindruckend. Bei besseren Manieren, sprich reiner christlicher Gewaltfreiheit gegenüber armen Sündern, hätte ich ihn einen Franziskusjünger genannt.

Dann waren wir da. Der Bentley kam zu einem sanften Halt. Die Ruhe und die Geborgenheit auf dem Rücksitz waren dahin. Das war ein tiefes Durchatmen wert. Ich bedankte mich bei dem Herrschaftsfahrer, und er sagte tatsächlich: „Keine Ursache.“

Als ich an der Klingelanlage nach dem richtigen Knopf suchte, hörte ich in meinem Rücken die Reifen quietschen. Ich verbuchte das unter der Rubrik Triebabfuhr. Ob ich damit richtig lag, das wusste allein der Düwel. Meine Mutter hatte mir beigebracht, dass der Stärkere nachgibt. Ich war einen Kopf größer als von Bedells Chauffeur, hatte die eindeutig größere Reichweite und nahm ihm nichts übel. An seinen Schläfen, unterhalb der Mütze, hatten sich die ersten grauen Haare gezeigt, während das Alter in meinem dicken Blondschopf einstweilen noch mit schüchterner Hand regierte. Allerdings guckte ich im Spiegel schon genauer hin als früher.

Im exklusiven 12. Stock öffnete die Dame vom Empfang, kaum dass ich den Summer betätigt hatte. Hinter ihr an der Wand hing ein Lichtkunstwerk, blaue Neonröhren, die zärtlich eine Leber, Herz und Niere nachzeichneten. Dazu eine süße kleine Schnippelschere. Die Organe saßen wie Vögellein auf einer Leine, Leber und Niere dabei allerdings kopfüber. Das war wohl ein künstlicher Zustand, den die Kunden hier voller Empathie wahrnahmen.

 

 

„Herr Singer, willkommen! Herr Professor Dr. von Bedell erwartet Sie bereits.“

Ein überaus netter Gegensatz, registrierte ich. Der Empfang im Himmel hätte weiß Gott nicht zuvorkommender ausfallen können, wenn ich im eigenen Bentley herkutschiert wäre. Was verschaffte mir demnach die Aufmerksamkeit? War heute so wenig Andrang in Dr. von Bedells Sprechstunde? Oder stand bloß mal wieder eine Scheidung an? Quick and dirty? Was wusste man schon als Kassenpatient über die Götter in Weiß? Ich hängte meine Fleecejacke an die Garderobe neben dem Wartezimmer und stopfte die schwarze Wollmütze in einen Ärmel. Mit oder ohne Chauffeur – dieser Januar war verdammt kalt in Hamburg. Die neue Uhr an meinem Handgelenk vibrierte. Ich schaute auf das Display. Die Tageszeit war Nebensache, aber die Smartwatch war der Empfänger für den ZMK. Ich las die SMS: „50 gr Macadam.“

Nach meiner Visite bei Professor von Bedell würde ich also Nüsse kaufen müssen. Ja, und zwar mal wieder vom Allerfeinsten - Macadamia-Nüsse. Ohne das leckere Futter brauchte ich mich erst gar nicht zu Hause blicken zu lassen. Dort wartete dann mein Pflegling, der sensible und anspruchsvolle afrikanische Graupapagei, auf mich. Natürlich hatte ich mir Zé Piranha - so der werte Name - nicht freiwillig aufgebürdet. So unvernünftig war nicht einmal ich. Sein früheres Herrchen war tot, und die Kumpel aus unserer gemeinsamen Skatrunde hatten mir das Tierchen dreist mit List und Tücke angehängt. Das Leben kann hart sein, gerade unter Freunden.

Bei meinem taffen Alltag, beruflich bedingt, war das pures Gift. Ich war ja kaum zu Hause. Eine der Maßnahmen, die ich ergriffen hatte, um es mir mit Zé Piranha nicht zu verderben, sondern die Situation für uns beide einigermaßen lebbar zu machen, war die Anschaffung von Zé Piranhas magischem Käfig. Wir fanden auf der Stelle eine Abkürzung und nannten das gute Teil ZMK. Ein Wunderwerk der Fernüberwachung, reichlich ausgestattet mit den verschiedensten Sensoren, die es mir erlaubten, über Zé Piranhas Wohlbefinden und seine akuten Bedürfnisse - Schlafen, Essen, Trinken, Reden, Musik hören - jederzeit im Bilde zu sein.

Fehlte noch etwas zum Wohlbefinden? Weibchen hatte er nicht drauf. Hmm ... Allerdings hatte der ZMK auch keinen Sensor dafür.

Die Smartwatch verband sich mit meinem Smartphone und dem modernen Papageienkäfig.. Zé Piranha, der intelligente Vogel (vielleicht sollte ich ihn Smartvogel nennen), hatte augenblicks begriffen, welche Sensoren in seinem magischen Käfig mit welchem Futterwunsch verknüpft waren. Auch den Alarmknopf kannte er - doch den hatte ich abgestellt. Bingo. Wenn ich behaupte, dass Zé Piranha cool mit seinem Käfig spielte wie ein jugendlicher Hacker mit seinem Computer, also wirklich, dann ist das nur leicht übertrieben.

 

 

 

 

2 Unser kleiner chinesischer Heiliger

 

Die Tür zu von Bedells Wartezimmer ging auf, und eine hübsche superblonde Sprechstundenhilfe begleitete einen armen Mann zum Ausgang. Er trug eine fleckige blaue Steppjacke, dazu eine Kappe mit Ohrenschützern und hatte eine bandagierte Hand. Und er reichte der Sprechstundenhilfe auf ihren High Heels knapp bis zur Schulter. Ich nickte ihm zu. „Gute Besserung!“

Er schaute mich erst verständnislos an, aber dann lächelte er höflich, legte die gesunde Hand und den verarzteten Patscher vor die Brust und machte eine Verbeugung. Ich tat es ihm gleich, Höflichkeit ist stets angebracht. Noch so ein Knabe mit Schlitzaugen, guck mal an. Als die Praxistür hinter ihm zufiel, wandte ich mich wieder an die Empfangsdame. „Sah nicht aus wie einer Ihrer üblichen Patienten.“

„Tatsächlich? Nun, das war wohl kaum zu übersehen.“ Ihr Lächeln kam sehr ironisch daher. Eigentlich war ich mir sicher, dass Personal am Empfang so nicht lächeln durfte. Sie straffte die Schultern, reckte sich ein wenig hinter dem Tresen und sagte mit einer gut gerührten Mischung aus Mitgefühl, Stolz und Bescheidenheit: „Der letzte Patient für heute, Herr Singer. Unser braver Seemann aus Singapur, Moses Ping. Sie sollten wissen, dass Professor von Bedell ihn kostenlos behandelt. Sonst müsste der arme Kerl in Hamburg alles bar bezahlen.“

„Bravo!“, sagte ich. „Perfekt wie Sie das rüber bringen. Was machen Sie nach Feierabend? Sie sollten was fürs Ehrenamt tun und dem Roten Kreuz Ihre Stimme für eine Kampagne leihen.“

Sie hielt jetzt wieder ihre Manieren auf Kurs, überhörte meinen Kommentar und drückte auf einen der Knöpfe an ihrem Schaltpult.

Professor Dr. Markus von Bedell saß aufrecht hinter seinem Schreibtisch in einem Bürostuhl mit viel blitzendem Chrom und jetschwarzem Leder. Sein weißer Kittel war gestärkt und makellos. Er stand auf und schüttelte mir überschwänglich die Hand.

Ein Hauch von Birkenhaarwasser stieg mir in die Nase. Ich sagte: „Muten Sie Ihrem Chauffeur lieber nicht so viel zu. Es ging ihm doch stark gegen den Strich, mich im tiefsten St. Pauli abzuholen.“

Von Bedell lächelte wie ein Schönheitschirurg, der einem unglücklichen Kunden ein neues Lächeln verkaufen wollte. „Ist diese Praxis nicht auch ein Teil vom Kiez? Sie liegt zwar knapp jenseits der Grenze in Altona. Aber ich habe sicherlich keine Berührungsängste, was meine Patienten betrifft, Club-Musiker, müde und malade Tafeltänzerinnen, hyperaktive Immobilieninvestoren. Leckere frische Nierchen für eine Puffmutti ... Bitte setzen Sie sich doch, lieber Herr Singer.“ Er selber senkte sich wieder in das Chrom-Leder-Teil.

Die Wand hinter seinem Schreibtisch zierte ein weiteres Lichtkunstwerk. Es handelte sich um schmale, knapp fingerdicke Neonröhren, die den Umriss eines Menschen wiedergaben, und zwar ungefähr in Lebensgröße. Die Figur war nach der bekannten Darstellung von Leonardo da Vinci gestaltet, gereckte Arme, gespreizte Beine, und leuchtete in einem matten Giftgrün. Innerhalb der Figur, so etwa auf Bauchhöhe, brannten drei kleine Gebilde aus roten Röhren. Selbst ich als Laie erkannte darin unschwer Leber und Nieren.

Ich konnte das Menetekel an der Wand ganz unbefangen betrachten, ebenso wie ich mir die Ausführungen des Arztes nüchtern anhörte, denn ich war kein Patient. Ich sagte: „Nun gut. Was kann ich für Sie tun, um diesen speziellen Service zu rechtfertigen?“

Professor von Bedell beugte sich weit über den Schreibtisch und schob dabei ein Blatt Papier in meine Richtung. Dann hoben sich seine Finger in Richtung Schläfe und glätteten eine Strähne über dem Ohr. Sein Haar war dunkelbraun, wellig und glänzend und sehr voll für einen Fünfzigjährigen. Erwartungsvoll schaute er mich an. Dann sagte er: „Dies ist eine unbezahlte Rechnung. Neun Monate alt! Das darf man skandalös nennen, Kiez hin, Kiez her. Finden Sie nicht?“

Ich warf einen kurzen Blick darauf und nickte.

Von Bedell klopfte mit seinen Chirurgenfingern auf die Acrylglasplatte. „Finden Sie Denny Ip! Und nehmen Sie ihm Fünfzigtausend Euro ab. Nein warten Sie, Fünfundfünfzigtausend, mit Zinsen. Die Fünftausend wären dann Ihr Honorar, wenn es Ihnen genehm ist. Sofort bar ar auf die Hand. Keine Quittung, keine Steuer.“

„Warum schreiben Sie keine Mahnung? Starten ein kleines Gerichtsverfahren? Das kostet Sie fast gar nichts.“

Diesmal hatte von Bedell ein anderes Lächeln drauf. Ein Unverkäufliches. Er stand auf und machte einen Schritt auf das schwarz glänzende Sideboard zu, das auf seiner rechten Seite die Wand zierte, etwa kopfhoch, mit ungewöhnlich tiefen Fächern. Oben drauf stand ein Bonsai. Von Bedell öffnete einen Humidor, entnahm ihm einen Brummer von Zigarre und setzte sich wieder. Er drehte das dicke Ding zwischen den Fingern, roch daran, und dann machte er etwas Verblüffendes, jedenfalls für einen Mitteleuropäer. Statt einen Schneider zu benutzen, biss er die Spitze ab. Es sah aus wie die Geste eines Mafiosi in einem B-Movie.

„Ich darf hier drinnen nicht rauchen.“ Er sah mich an und seufzte. Achtlos legte er die Zigarre neben die Lackschale, in der ein dicker goldener Füllfederhalter und ein Tuschpinsel für Kalligrafie lagen. Das abgebissene Stückchen beförderte er in den Aschenbecher. „Also dann zurück zu Ihrem Vorschlag. Denny Ip und der Rechtsstaat? Tun Sie nicht naiv, Herr Singer. Kein Gerichtsvollzieher der Welt wird ihn finden, wenn er es nicht will. Zur Zeit hat er nicht mal eine ladefähige Adresse.“

„Nicht ladefähig, tatsächlich? Was ist denn mit seinem Büro? Drüben im kalten Hafen, das Asia-Seemannsheim. Das herzliche SOS für die verirrten maritimen Seelen aus China und Südostasien? Hat das Büro Ihnen nicht grade einen Patienten vorbei geschickt? Sah so aus.“

„Denny Ips Sozialstation." Von Bedell klang bitter. „Unser kleiner chinesischer Heiliger, was?“

„Ja, das ist er wohl.“

„Quatsch mit Soße, Herr Singer. Also, bei allem Respekt. Ich habe ihm eine Leber transplantiert.“

„Okay“, gab ich zu, „hab davon gehört. Das musste einmal so kommen.“

Von Bedell nickte sachlich. „Sie kennen den chinesischen Trinkspruch: Ganbei! - Trockenes Glas! - Gemeint ist: Auf ex! Die reinsten Kampftrinker. Ständig Maotai-Schnaps. Jetzt schuldet er mir fünfzig Riesen, wie man so schön auf dem Kiez sagt.“

Ich räusperte mich und zupfte nachdenklich an meinem Ohrläppchen. „Denny Ip hatte wahrhaftig keine Krankenversicherung?“

„Hängt wohl mit seinem Anspruch als heiliger Mann zusammen. Meinte wohl, es bringe ihm Unglück, sich ganz irdisch zu versichern.“

Ich sagte: „Eine Leber würde ich nur gegen Vorkasse transplantieren. Man weiß doch nie, was anschließend auf einen zukommt. Immerhin ist die Leber der Sitz der Gefühle.“

Von Bedell schaute mich mit großen Augen an. „Sie haben Recht, Herr Singer. Verflixt noch mal! Genau wie damals bei der Angelegenheit mit meiner Frau. Ich sollte Sie wirklich rechtzeitiger konsultieren. Du meine Güte, früher war Denny Ip ein so hilfsbereiter und rundum gemütvoller Kerl. Setzte sich durch im Hafen und blieb dabei von umwerfender Liebenswürdigkeit. Also, wer denkt demnach an so was? Mit der neuen Leber ist er völlig verändert, knallhart, ein echter Schurke.“

Ich nickte. „Ja, solche Lebern gibt es wohl.“

Von Bedell grabschte nach seiner Zigarre. „Gottlob habe ich hier oben einen Balkon. Muss mal austreten. Würden Sie glauben, dass ich hier schon gemütlich mit Denny Ip eine Havanna verdrückt habe? Ich hätte Konfuzius studieren sollen, bevor ich jemanden wie Denny Ip unter mein Messer nehme. Lesen Sie Konfuzius, Herr Singer? Sie sollten es tun. Hören Sie nur: Wer nicht an die Zukunft denkt, wird bald Sorgen haben. - Also, mein Bester, ich höre dann von Ihnen!“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

3 Es geht um Leben und Tod

 

Dann war ich wieder auf der Straße. Mit Auftrag, ohne Chauffeur, mit Wollmütze über den Ohren. Für einen Moment hatte ich das Bild der Sprechstundenhilfe vor Augen. Sie hatte haargenau den gleichen Blondton wie ich, entzückend.

Von Bedell schätzte meine Arbeit, seit ich ihm bei seiner letzten Scheidung geholfen hatte. Ich war nicht stolz darauf. Jedenfalls hatte er sein Vermögen weitgehend behalten dürfen. Der Liebhaber seiner Frau war zu jung und zu billig gewesen. Es hatte dem Richter erkennbar missfallen, allzu viel Geld an solche Leute zu verschwenden. Dagegen hatte ich von Bedells junge Geliebte aus den Akten herausgehalten und gut versteckt. Denn von Bedells Ex hatte ebenfalls einen Schnüffler angeheuert. Pech für den Kolllegen. Die praktische Seite des Versteckenspielens hatte Denny Ip besorgt. Er war echt ein Meister in dieser Kunst.

Bei Gelegenheit sollte ich dann außerdem mal die Quellen herausfinden, weshalb von Bedell eigentlich dermaßen reich war. Vielleicht konnte ich da zur Abwechslung was von ihm lernen. Er wirtschaftete schließlich gegen jede bekannte Lehrbuchweisheit. Alle Studien, die ich als Laie dazu gelesen hatte, besagten, dass Sparsamkeit der wichtigste Faktor sei, um ein Millionenvermögen sei eigen zu nennen.

Die smarten Schlips-und-Kragen-Jungs aus der Unternehmensberatung von Arthur Anderson hatten das zu einer Lebensregel verarbeitet. Kein drittes Haus, keine zweite Frau, kein erstes Boot.

Ich hatte keinen Schimmer, wie viele Häuser Markus von Bedell besaß. Jedenfalls mehr als zwei. Bei den Ehefrauen waren es Nummer vier oder fünf. Außerdem behandelte er arme Seeleute aus der Dritten Welt. Davon konnte er nicht einmal die Erste-Hilfe-Frau am Empfang bezahlen. Und im City-Sportboothafen unten am Vorsetzen lag sein Motorkreuzer. Runde fünfzig Fuß, vollklimatisiert, bordeigene Süßwasser-Aufbereitungsanlage, falls von Bedell mal von Hamburg nach New York kreuzen wollte. Letzteres nur so als schicke Möglichkeit. Unser guter und begüteter Arzt war kein echter Salzwasser-Skipper, jedenfalls wie ich das einschätzte.

 

Das Handy klingelte. Bernie Festeburg war dran. „Wie geht es Zé Piranha?“

„Gut.“

Ich war einsilbig, und das hatte seinen Grund. Denn Bernie Festeburg war ein Kumpel aus der Skatrunde, die mich mit dem Papageien reingelegt hatte. Es war doch klar, dass Bernie nur nach Zé Piranha fragte, um mein schlechtes Gewissen anzusprechen. Wenn er sich dermaßen sorgte, warum, in aller Welt, hatte er Zé Piranha nicht zu sich genommen? Stattdessen brachte er meine Freundschaftsdienste auf Touren.

Bernie machte ungerührt weiter. „Hütet Hawa bei dir zu Hause ein? Zé Piranha sollte niemals allein sein. Das könnte sein Ende bedeuten. Du hast mir doch versprochen, dass du dich kümmerst.“

„Und das geschieht auch. Lass gut sein, Bernie! Da sind Hawa, der magische Käfig und ich. Zusammen sind wir ein starkes Team. Möchtest du dazustoßen? Durch deine Fragerei geht es Zé Piranha jedenfalls keinen Deut besser.“

„Das war jetzt unfair, Yakub. Nee, echt, das‘scha sowas von daneben. Ich sorge mich einfach um den kleinen Zé Piranha. Ein Seelchen von einem Tier. Aber das unmittelbare Gegenüber is‘ was anners. Also Zé Piranhas physische Präsenz, verstehst du? Ein Hammer. Die würde ich nämlich nicht lange überleben. Einhüten ist für mich komplett unmöglich, dem Herrn sei’s geklagt und drauf geschissen. Ehrlich, mein Immunsystem ist dem Vogelstaub schutzlos ausgeliefert.“

„Ach nee, wie traurig. Und zugleich wie praktisch eingerichtet ist doch diese Welt ...“

„Ja, traurig isses. Dat weißt du ja, wie leicht Menschen eine Allergie gegen Vogelstaub ausbilden können! Überaus easy, sach ich mal ... Eine gewisse Sensibilität ist natürlich Voraussetzung. Insofern hassu nichts zu befürchten, mein Gutster. Aber jetzt spring mal über deinen mordsbreiten Schatten und denke an mich, paletti?“

„Wieso denn das? Sollte ich nicht eben noch an Zé Piranha denken?“

„Oh, Yakub, dreh mir nicht die Worte im Munde um. Der Vogelstaub besteht aus einem brisanten Gemisch. Bah, würg!, ...das fügt sich geradewegs zu einem Kaleidoskop des Ekels. Da haben wir unendliche Hautschuppen, Hornkrümel, invasive Federfibern, eingetrocknete Exkrete und pulverisierten Kot. Noch einmal deutlich gesagt, also für Begriffsstutzige: Diese Bestandteile killen mir mein Immunsystem. Dagegen ist kein Kraut gewachsen. Das Gemisch ist für Leute wie mich der ultimative Rachenputzer. Echt gemein, dass du mich zwingst so ausführlich zu werden. Mir bleibt die Luft weg! Auf diesem Vogelstaub gedeihen Ungeheuer wie Kryptokokkose, Histoplasmose, Ornithose, Psittakose, Salmonellose, also um Gotteswillen! Allein beim Reden schnürt es mir wieder den Hals zu. Aahhh ...“

„Also Histoplasmose nicht“, sagte ich. „Das ist jetzt eine deiner typischen Übertreibungen.“

„Wieso? Aahhh ...“

„Deine Histoplasmose hast du dir bei einer Fledermaus geholt. Geht sonst gar nicht.“

„Hör mal, wie blöd ist das jetzt? Ich habe doch überhaupt keine Histoplasmose.“

„Also, bitte, was willst du denn? Kerngesund, was? Warum lässt du das Schwafeln nicht endlich bleiben, alter Jammerlappen.“

„Was hast du da grade gesagt? Ich meine, wer entblößt sich gern auf diese Weise? Hee hee, eyh, Alter? Wenn ich nicht absolut dringend deine Unterstützung bräuchte, würde ich glatt auflegen.“

„Gib dir einen Ruck, und tue es trotzdem. Ist ganz einfach. Ich hab etwas furchtbar Eiliges zu erledigen.“

„Nein, Sekunde, warte mal, Alter! Vergiss den ganzen Zé Piranhakram. Darum geht’s mir doch gar nicht. Wir müssen uns unbedingt treffen. Und zwar im Silbersack. Ist superwichtig, Yakub, jetzt sofort. Hörst du? Quasi stante pede.“

„Hör du zu, Bernie, ich habe grade einen Fünfzigtausend-Euronen-Auftrag zu erledigen.“

„Nun komm, Alter, mach halblang! So dicke Dinger kann man immer verschieben. Bitte! Es geht bei dem Treffen um Leben und Tod ...“ Jetzt waren die Dämme gebrochen, er schnaufte und keuchte in heller Aufregung.

„Wessen Tod?“, fragte ich.

„Aahhh ... aahhh ...“

Vielleicht hatte Bernie recht mit seiner Ansicht über Großaufträge, doch vor allem konnte ich ihm seine Bitte grad nicht abschlagen. Das Gejammer schnitt wie mit Messern in mein Gemüt. Ich hatte schon länger den Verdacht, dass die Runde der Skatbrüder mich voll durchschaute. An meinem Grips konnte es jedenfalls nicht liegen, wenn ich ständig verlor. Dennoch half mir diese ganze coole Reflexion nicht weiter, um Bernie stracks dahin zu schicken, wo der Pfeffer wächst. Wozu waren Freunde da? Du liebes Lieschen, ich durfte Bernie nicht hängen lassen. Also lenkte ich meine Schritte um in Richtung Silbersackstraße.

Unterwegs sollte ich sicherlich noch zwei, drei Worte über HWA aka Hähnchen Wang Agent verlieren. (HWA, sprich Hawa, falls das jemand wissen will.) Er war also Zé Piranhas Tagesmutter. Die Bezeichnung trifft es recht gut, obwohl sie keiner Nachfrage standhalten könnte. Jedenfalls habe ich keine bessere gefunden. Genauer wäre es gewesen, HWA als die Stundenmutter auszugeben. Doch der Begriff ist nicht nur ungebräuchlich, er weckt auch unerwünschte Assoziationen an Stundenhotels, schließlich sind wir hier auf St. Pauli. Jedenfalls kam HWA stundenweise und bei Bedarf zu Zé Piranha. Weder hatte ich genügend tiefe Taschen, um mir öfter eine regelrechte Papageien-Vollzeitbetreuung leisten zu können, noch war HWA willens, seinen Hauptberuf als Kryptozoologe aufzugeben.

Übrigens hätte „Tagesvater“ auch eine falsche Fährte gelegt. Denn Hähnchen Wang Agent war ein Monsieur sans Queue, seit ihn ein Ziegenbock im Ellerbeker Streichelzoo auf die Hörner genommen hatte, und das peinlicherweise an seinen privatesten Körperteilen. Zwar war sein starker Optimismus ungebrochen, dass sich die Sache wieder zurecht wachsen würde. Doch hatte er feststellen müssen, dass er seit seinem Unglück eine lokale Berühmtheit geworden war und enormen Schlag bei Frauen hatte. Das gab ihm schwer zu denken und zögerte seine virile Instandsetzung vermutlich um Einiges hinaus. Man hörte ja dauernd Stories darüber, wie die Psychosomatik so arbeitete ... Die schärfsten Weiber auf dem Kiez luden HWA über Nacht zum Essen ein. Und an jeder zweiten Ecke wurde er abgeküsst. Einige Dominas, normalerweise mit Leder und Peitsche im Geschäft, boten an, ihn zu pudern und zu wickeln. Kostenlos, versteht sich ...

Aber davon ab, sag ich, und vom Luxusessen wieder näher zur Alltagskost. Werner Wang aka Hähnchen Wang Agent war ein kleiner, dabei unglaublich zäher Bursche und von den meisten Leuten unterschätzt, aber nicht von mir. Seine Frisur wurde allgemein als Irokesenschnitt identifiziert und belächelt, weil die Betrachter zu wissen meinten, dass sein Träger sich mit dem aufgestellten, knallrot gefärbten Scheitelhaar zwei, drei Zentimeter Größe dazu erschummeln wollte, genauso wie mit den Absätzen seiner Boots. Tatsächlich trug HWA einen Hahnenkamm. Genauer charakterisiert, war es ein ausgewachsener Kampfhahnenkamm.

Und die Boots? Wer HWA ernst nahm, so wie ich, für den war sein spezieller Hahnentritt keine wirkliche Überraschung. An seinen Absätzen konnte er einen stählernen Sporen ausfahren. Kampfhahn eben, soviel dazu, und seine Brust zierte ein Antivogelscheuchen-T-Shirt, was das schlichte Ranger-Outfit toppte. Doch HWA hatte es beileibe nicht nur mit Vögeln, nein, so eng dachte er nicht. Aktuell waren es die Besitzer ausgesetzter und verlassener Hunde, die auf die harte Tour lernten, was die Marke HWA bedeutete.

 

 

4 Schlimmer als ein chinesischer Fluch


„Komm jetzt zu Potte, Bernie“, sagte ich. Es lag beileibe nicht an dem Ort, wenn ich mich heute nicht entspannte. Nur zu gern saß ich an anderen Tagen im Silbersack. Es war der Zeitpunkt, der nicht passte.

Bernie Festeburg sagte mit einem falschen Ton in der Stimme: „Mach ich doch, mach ich. Sekunde, hör zu, Alter. Is‘ne kurze Freihafenstory. Gleich Hals über Kopf von mir rausgehau‘n. Brauchs‘su gar keine Geduld für ...“ Er räusperte sich, spülte den verengten Rachen mit Bier. „Eins, zwei, drei: Polizei! - Lächeln! - Dein Spruch, Yakub! - Pass auf. Jetzt kommt’s. Ich springe voll rein ins Geschehen wie mit ‘ner Arschbombe vom Zehner. Der Zöllner im Hamburger Freihafen zählt die Pässe nach, die eine Gruppe von deutschen, ex-jugoslawischen und chinesischen Seeleuten ihm in die Hand gedrückt hatte. Es sind acht. Er schaut in den Minibus und checkt die Gesichter. Es bleibt bei sieben. Er nimmt aufs Geratewohl einen chinesischen Pass vom Stapel und hebt ihn fragend in die Höhe. Bingo! Die Mannschaft im Bus schüttelt unisono den Kopf. Sie steigen aus und versammeln sich hinter dem Wagen. Der Fahrer öffnet die Heckklappe und dann einen Sarg. ‚Acht‘, sagt er mit einem linkischen Lächeln. - ‚Moment‘, sagt der Zöllner. Er tritt einen Schritt zurück und tastet dabei nach der Pistole. ‚Nema Problema‘, sagt der Fahrer. Er hält sein Lächeln. ‚Wir haben Pass und Passierschein.‘ - Na, was meinst du dazu, Yakub?“

Ich machte den Mund auf und holte Luft. Bernie Festeburg hob rasch die Hand gegen voreilige Kommentare. Seine Frage war rein rhetorischer Natur gewesen. „Siehst du, Yakub, kurz wie‘n Lendenschurz, die Geschichte. Aber stinkt wie ein Austernfurz. Pass auf: Die Trauergesellschaft war auf dem Weg nach Ohlsdorf, um den Inhaber des achten Passes dort zu begraben.“ Bernie seufzte zufrieden und ölte die Kehle mit einem weiteren Schluck.

„Verstehe“, sagte ich, „es geht um Leben und Tod. Da hast du nicht einfach gelogen. Aber die Dringlichkeit, die hast du dir glatt aus den Fingern gesogen, du Schweinebacke.“ Ich war so sauer, man hätte eine ganze Batterie von Kaffeeautomaten mit mir ent-kalken können.

„Yakub, bitte ...“ Bernie hatte schon wieder Atembeschwerden. „Hör zu, gleich auf den Punkt. Kurz wie‘n Treppensturz, das Ende. Der Schiffsarzt hatte einen Totenschein ausgestellt: Herzversagen. Weg mit Schaden. Aber dem Zöllner genügte das nicht. So kam der werte Tote ins Institut für Rechtsmedizin in Eppendorf. Dort stellte man sich sehr bald die Frage, wer, wo und warum dem Seemann vor Kurzem eine Niere entfernt hatte? Verstehst du, Yakub?“

„Was gibt es daran zu verstehen, Mann?“

„Pass auf, kurz wie dein Schniedelwutz. Das war vor zwei Jahren. So kam die Sache ins Rollen. Und vorhin hat sie sich fürchterlich zugespitzt.“

Das blieb eine pure Behauptung. Und deshalb war es saublöd, dass ich nach dem Spaziergang durch die Kälte an diesem Holztisch saß und mit Bernie Prolo-Flaschenbier trank, St. Pauli Astra mit dem großen roten Herzen auf dem Label. Aber das eigentlich Merkwürdige an der Situation waren die vielen Chinesen, die einen ganzen Tisch auf der gegenüberliegenden Seite der Kneipe besetzt hielten und das gleiche Bier tranken. Ei, ei, ganbei, es war doch völlig unwahrscheinlich, dass ich in meinem Heimatrevier bei Schritt und Tritt auf Söhne aus dem Reich der Mitte stieß. Schließlich hieß meine Heimat nicht Hongkong, sondern Hamburg.

Bevor ich dazu kam, eine Bemerkung fallen zu lassen, schüttelte Bernie den Kopf. Er war meinem Blick gefolgt und erriet meine Gedanken. „Hast du einen Schimmer, wie die Chinesen Hamburg nennen?“

„Hambulg? Oder Humbug?“

„Ey, alter Klugmeier! Hättest du dir echt sparen können. Die meisten Söhne aus dem Reich der Mitte sagen Hanbao. Und solche Pappnasen wie du lachen darüber. Aber Hanbao ist nun mal kein niedlicher Aussprachefehler. Und erst recht kein Humbug. Es bedeutete echt so viel wie ‚Burg der Chinesen‘. Tja, wenn das kein Programm ist ...“

Ich schwieg und ließ ihm neidlos den Punkt. Leider guckte Bernie nicht selbstzufrieden drein, sondern setzte gleich wieder diese bedrückte Miene auf. Er wedelte mit der Bierflasche und kippte den Hals in Richtung Chinesentisch. Mein Skatbruder hatte sich einen Vollbart wachsen lassen, und ich registrierte mit einer gewissen Besorgnis, dass er nicht sonderlich gepflegt war. Der braune Flaschenhals verharrte in seiner Lage. „Ich wollte, dass du sie siehst. Nichts auf der Naht, keine Zukunft. Die Nachtseite des geilen chinesischen Wirtschaftswunders. Für gewöhnlich unsichtbar. Aber doch Menschen mit einem schlagenden Herzen, mit Eltern, Frauen, Kindern. Menschen, die gebraucht und geliebt werden. Arme Leute, die sich selber verkaufen.“

„Hallo, geht es auch ’ne Nummer kleiner als das komplette Weltelend? Ich seh‘ sie ja volle Kante,, die Unsichtbaren. Wo kommen sie her? Und wo wollen sie jetzt hin?“

„Kommen grade vom Kenyatta Airport in Nairobi“, sagte Bernie Festeburg und nahm jetzt einen großen Schluck aus der Flasche. Er rülpste leise und machte auf vertraulich. „Für Kenia kriegst du als Chinese jederzeit ein Visum, ganz legal. Am Airport gehst du in den 5. Stock zum Essen. Da setzt du dich an einen bestimmten Tisch, wo, das zeigt dir bereits diskret dein Fremdenführer. Wenn du fertig bist mit dem Menue, nimmst du deinen Pass mit dem neuen Visum, das unter der Serviette liegt. Ein legales Visum wohlgemerkt. Es geht bei diesen Schachzügen nur darum, den Hintergrund des Fremdenführers und die Wege der Chinesen zu verschleiern. Und zwar für alle beteiligten Parteien. Ja dann, auf geht’s, Richtung Hanbao.“

„Direkt in den Silbersack“, sagte ich.

„Unsinn, das ist nur ein weiterer Schlenker.“

„Überhaupt unmöglich“, sagte ich, „ein armer Chinese und in der Lounge vom Kenyatta Airport. Woher soll der das Geld zum Essen haben?“

„Er verkauft eine Niere. Als Zugabe gibt es ein Visum, ein Ticket nach Hamburg und ein Essen in der Transit Lounge. Allerdings läuft das nur, weil es sozusagen eine Express-Lieferung ist. Sonst reist die Niere meistens als Seemann mit dem Schiff von Hongkong an.“

„Woher willst du das wissen?“, beharrte ich. „Falls du Recht hast, und ich sage nur, falls, dürfte der Handel geheimer sein als das Originalrezept für Pekingente. An solche Infos kommst du nie im Leben. Ginge höchstens noch als Vertrauensperson unten im Seemannsheim. Selbst dort würde es nicht mehr als ein Gerücht bleiben. Und du bist da unten nicht einmal länger an Bord. Denny Ip hat dich gefeuert.“

„Vielleicht grade deswegen. Vielleicht hatte ich bereits zu viele Informationen. Mal kurz an die Möglichkeit gedacht?“

„Ich will gar nicht erst daran denken. Bernie, du bist arbeitslos. Stutz dir den Bart, wenn du das nächste Mal zu einem Vorstellungsgespräch gehst. Oder hängst du vorsätzlich ab? Du hast nichts auf dem Konto. Du hast derzeit nicht einmal eine Freundin, die dir was spendieren könnte. Gütiger Gott, du verlangst doch wohl nicht, dass ich dir zuliebe einen Auftrag für lau erledige?“

„Nicht ich verlange das von dir, Yakub. Sondern die Aufgabe hat dich quasi selbst gesucht. Dein Schicksal, verstehst du? Diese interessanten Zeiten sind für dich bestimmt!“

Er setzte ein schiefes Grinsen auf, griff nach der Flasche und prostete mir zu. Dann legte er den Kopf in den Nacken und nahm einen viel zu großen Schluck. Ich kannte diese Geste, regelmäßig hielt er die Flasche dabei in der linken Hand, und dann war nicht zu übersehen, dass ihm ein Finger fehlte. Der Anblick erinnerte mich jedes Mal an eins der großen Rätsel meiner Kindheit: Donald Duck und die große Disney-Familie lebten in einer vierfingrigen Welt.

Bernie hatte andere Sorgen. Er traute mir und meinem gerade vorherbestimmten Schicksal nicht hundertprozentig über den Weg und setzte nach: „Im Übrigen wäre ich schrecklich enttäuscht von dir, wenn du diesen armen Schweinen nicht hilfst. Ganz bestimmt könnte ich unter solchen rohen Umständen keine einzige Runde Skat mehr mit dir spielen.“

Au Backe, war das eine Drohung. Schlimmer als ein alter chinesischer Fluch. Und dazu Bernies Heldengefasel. Überhaupt nichts war für mich bestimmt, keine Interessen, nix außer von Bedells Fünfzigtausend-Euro-Auftrag. Dazu das fette Honorar in bar, wohlgemerkt und danke auch dafür. Ich schickte einen langen Blick durch die Kneipe. Da saßen also zwölf Nieren an einem Tisch im Silbersack. Und bald sollten es nur noch sechs sein?

„Du musst das verhindern“, drängte mein Skatbruder.

„Ich habe grad was Wichtiges zu erledigen. Schon vergessen? Geh doch zur Polizei.“

„Was würde dann geschehen, sag’s mir? Die sechs Leutchen würden festgenommen und als unerwünschte Ausländer abgeschoben werden. Und die Hintermänner? Fehlanzeige. Die sechs würden schweigen wie das Grab. Schon bald würde Ersatz nach Hamburg kommen. Eine frische Ladung Nieren, und alles wäre wie zuvor. Du weißt das genau.“

„Warum der Silbersack?“

„Das hat noch so ‘ne Ader von früher. Gingen die armen Sailors immer hin. Und ist preiswert geblieben. Überall sonst würden sie auffallen. Nur auf St. Pauli laufen sie so mit. Bis in den letzten Krieg hinein gab es hier aufm Kiez die einzige Chinatown in Deutschland. Erst Adolf hat das platt gemacht. Adolf war die Schweinebacke, nicht ich.“

Ich fasste mir zart und flüchtig an die Nase. Was mein Bernie da von sich gab, gefiel mir gar nicht. Chinatown, das Wort erinnerte mich an den Hollywoodstreifen von Polanski. Hundertpro die Szene, wo dem Detektiv seine Nase ein bisschen aufgeschlitzt wird. Nur damit er nicht vergisst, dass er sich aus der Sache raushalten soll.

„Sperr mal deine Lauscher auf, Bernie. Bei den vielen Chinamännern solltest du dich zu allererst an Konfuzius halten. Liest du Konfuzius? Der Edle fordert sich selbst. Der Gemeine fordert vom Andern. Na –wie gibt das zu denken?“

Doch Bernie Festeburg saß mir im Nacken und ließ nicht ab. Er redete einfach weiter. „Letzten Sommer habe ich mit Denny Ip über meinen Verdacht gesprochen. Dass da ein Ring aus Schleusern und Verkäufern existiert. Wären es Frauen gewesen, hätte ich auf käuflichen Sex getippt. Aber bei Männern, was die Kumpel an der Kaikante so Seeleute nannten, da kam mir dann bald Organhandel in den Sinn. Und was machte der gute Denny? Hat er was unternommen? Ja, hat er! Er hat mir einen Tritt verpasst. Verstehst du, neuerdings geht er brutal zur Sache. Seit er die neue Leber hat...“

„Hör auf!“, unterbrach ich ihn. „Das ist doch nur ein Aberglaube.“

„Ist ein Fakt. Die Leber ist ein echter Fakt. Und ist ein Fass voller Gefühle. Wenn du das Fass aufmachst, das ist doch ein Wahnsinn. Und der Kerl dort am Nebentisch ist der Aufpasser.“ Bernie hustete, Speichel oder ein Schluck Restbier lief ihm aus dem Mundwinkel in den Bart. Erregt wühlte er in seinem Kinnkraut.

Ich bemühte mich, das zu ignorieren und mehr das gewisse Große und Ganze des Silbersacks zu überblicken. Ich blieb mit meiner Aufmerksamkeit bei einem Mann hängen, der einen langen roten Schnurrbart trug, dazu lange fettige Haare, die in merkwürdigem Kontrast zu seinem Bart schwarz waren. Das Gebiss war ungepflegt und er sprach mit balkanischem Akzent, als der Mann ein neues Bier bestellte. Seine Augen wirkten wie geschorene Tennisbälle, stumpf und kahl, wie bei einem Menschen, der keine Zweifel hatte, weil er sich keine Mühe machte nachzudenken. Über die rechte Wange lief eine Narbe, ein dünner weißer Schnitt wie von einer Messerstecherei, und verschwand in seinem Bart.

Er trug Jeans, ein dickes kariertes kanadisches Holzfällerhemd und eine Lammfellweste. Jeweils auf seinen Ring- und Mittelfingern hatte er Tätowierungen, was sie zeigten, konnte ich über die Tische hinweg nicht erkennen. Entweder Tod oder Hass, jedenfalls hatten die deutschen Freaks das für gewöhnlich dort tätowiert. Er sah aus, als ob er einen VW-Bus durch den Hafen kutschieren könnte. Vielleicht sogar bis zum Balkan, Autoput, Istanbul, Seidenstraße, bis Peking. Aber er war nicht der Fremdenführer. Ich schaute mich im Raum um. Sie würden nicht ohne ein richtiges Kindermädchen in der Stadt sein.

Dann hatte ich noch einen Gedanken, der gar nicht komisch war, du Schande. Vielleicht waren die Tätowierungen auf den Fingern des Mannes etwas sehr Ähnliches wie bei gewissen anderen Leuten die Kerben auf einem Colt.