Umschlag

Gabriela Kasperski war als Moderatorin im Radio- und TV-Bereich und als Theaterschauspielerin tätig. Heute lebt sie als Autorin mit ihrer Familie in Zürich und ist Dozentin für Synchronisation, Dialekte und Kreatives Schreiben.
http://www.gabrielakasperski.com

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

 

© 2018 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: iStockphoto.com/catetus
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Irène Kost, Biel/Bienne (CH)
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-403-2
Originalausgabe

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Für Franz

 

JULIET

Then have my lips the sin that they have took.

ROMEO

Sin from thy lips? O trespass sweetly urged!

Give me my sin again.

«Romeo and Juliet» von William Shakespeare
Akt 1, Szene 5

Jerusalem, 1986

Nours Finger schlossen sich um den feuchten Klumpen, ertasteten die Form, bis sich die Knochen abzeichneten, sich ausstreckten und winzigen Ästen gleich in ihre Hand hineinwuchsen. Ab und zu sah sie auf die Uhr. Ticktack, frassen die Sekunden die Zeit, dennoch war Nour erst zufrieden, als die Knie sich an den Bauch schmiegten. Noch einmal fuhr sie über die Konturen. The perfect child. Nachdem sie die Figur vorsichtig in den Ofen gelegt hatte und minutenlang davor verharrte, sah sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung.

«Yaron?» Sie trocknete die Hände ab. «Hat es geklappt?»

Reglos stand er da.

«Zeig ihn mir!»

Langsam zog ihr Freund den Pass aus seiner Jeans.

«Aliza Bloom?», fragte Nour. «Ein jüdischer Name?»

«Hast du was dagegen?»

«Ja. Einen Freund wie dich zu haben ist das eine, das hier …», sie deutete auf das Dokument, «… ist mein Todesurteil.»

«Nour.» Seine Stimme klang gepresst. «Geh nicht.»

«Du weisst, es muss sein.» Nour eilte zum Ofen. «Ich habe ein Geschenk für dich.» Ihre Augen suchten Yarons, während sie die gebrannte Figur in die Luft warf.

Im letzten Moment griff Yaron zu. Seine Hände zuckten vor Schmerz. «Bist du verrückt?»

Ein Ärmchen brach, zerschellte in winzige Stücke.

«Ich mache es heil», flüsterte Nour. «Aber dafür muss ich fahren.»

«Du mit deinem Scheisslondon. Wieso nicht Dänemark?»

«London ist mein Traum. Die Kunstschule …»

«Sie werden dich nicht nehmen ohne Geld.»

Nour griff in ihre Mappe. Den Brief hatte sie gut versteckt.

«Stipendien für ausländische Studenten sind möglich», las sie vor.

«Du bist keine ausländische Studentin.»

«Schon vergessen? Ich heisse Aliza Bloom, bin einundzwanzig, komme aus Boston, meine Familie ist arm, aber meine Zeugnisse sind die besten der Welt.»

«Wie willst du glaubwürdig Aliza Bloom sein? Du hast keine Ahnung von uns.»

Sie lachte auf. «Ich kenne alles, von den Babkas deiner Imma bis zu eurem verzerrten Landanspruch.»

«Es gehört uns. Das Land gehört uns.»

«Usurpatorisch.»

«Sagst ausgerechnet du! Der Anschlag letzte Woche ging auf euer Konto.»

Nour verkniff sich eine Antwort. Sie drehten sich im Kreis. Die Luft, die goldene, war verschmutzt. «Lass uns nicht streiten.»

Yaron sah zu Boden, das gekringelte Haar fiel ihm ins Gesicht. «Angenommen, es klappt, angenommen, die nehmen dich …»

«Dann kommst du nach. Und baust verdichtete Siedlungen. Es gibt einen Wettbewerb. Unter den Preisträgern der letzten Jahre waren einige Juden.»

Schock und Verwunderung spiegelten sich in seiner Miene. «Wie hast du das herausgefunden?»

«Das Telefon, neben dem Sekretariat. Auf Putzfrauen achten sie nicht. Ich habe mich hineingeschlichen, ich –»

Er unterbrach sie mit einer jähen Handbewegung.

«Wolltest du mich schlagen?», flüsterte sie.

Yaron entfuhr ein Schluchzer. «Du bist mein Leben.»

«Hier haben wir keine Chance.»

«Die Lage wird sich beruhigen.»

«Im Gegenteil.» Sie biss sich auf die Lippen. «… abgesehen davon, deine Eltern würden es niemals zulassen.»

«Meine Mutter ist offen.»

«Ist sie nicht. Sonst hättest du es ihr schon lange gesagt. Über drei Jahre! Deinen ganzen Militärdienst habe ich mitgemacht. Du traust dich nicht, weil du genau weisst, was passiert.»

«Wir brauchen ihr Geld nicht, wir schaffen es. Die Siedlungen baue ich hier, wir sind schliesslich das Land der Siedlungen.» Sein Lachen klang bitter. «Und du …»

«Meine Familie bringt mich um.»

«Bist du verrückt? Deine Mutter liebt dich.»

«Sie würde sich die Ohren zuhalten, während mein Vater und meine Brüder mich steinigen. Und falls ich es überlebe, schneiden mir deine Leute die Kehle durch.»

Yaron starrte sie an. Das breite Gesicht angespannt, der weiche Mund geöffnet, und dazu die lichtblauen Augen, die sie ans Meer erinnerten, das sie in ihrem Leben nie gesehen hatte.

Da wurde die Tür aufgerissen. Yarons Freund stand im Rahmen. «Leute, der Bus fährt gleich.»

Nour fühlte, wie ihr Herz sich verkrampfte. Schon war Yaron bei ihr. Ein Körper. Eine Seele.

Irgendwann glitt Nour aus seinen Armen, bückte sich, hob die winzigen Scherben auf. «Du bekommst sie wieder», flüsterte sie. Dann nahm sie ihren Koffer und die Umhängetasche aus Ziegenleder. Und ging.

Prolog

«Okay. Bye.» Henry More ärgerte sich über die Verbitterung in seiner Stimme. Bis zum Schluss hatte er durchgehalten, aber der Anblick von Dan und Beth im Türrahmen des Cottages raubte ihm den letzten Nerv. Das perfekte Paar. Wenn sie wüsste, was ihr Mann ihm eben vor den Latz geknallt hatte. Durch den Garten ging Henry an Dans Atelier vorbei, auf den Pond Square, wo die gusseisernen Leuchten erloschen waren. Ein Stromausfall? Vorsichtig überquerte Henry das unebene Kopfsteinpflaster, für Fahrräder und Frauen mit hohen Absätzen eine Qual. Beth allerdings trug flache Schuhe. Und war auch sonst hart im Nehmen. Andernfalls hätte sie es mit Dan niemals ausgehalten. In sich gekehrt als Privatmann, charismatisch in der Öffentlichkeit, der Woody Allen der Theaterautoren. Es brachte viele Zuschauer, aber für Henry nicht wirklich volle Taschen; politische Theaterstücke warfen kein Geld ab. Und nun, als das Blatt dabei war, sich zu wenden, als er endlich so was wie Morgenluft witterte, war Henry verraten worden. Ohne mit der Wimper zu zucken, hatte Dan ihm gesagt, dass er sich für das neue Projekt, seinen ersten Thriller, ab sofort und ausschliesslich von Noemi Harris betreuen lasse, der Literaturagentin. Sein, Henrys Anteil, war auf eine lausige Pauschale gedrückt worden. Eine jahrelange Zusammenarbeit, eine Freundschaft, mit einem Satz im Papierkorb entsorgt.

Schwer atmend wischte Henry sich den Schweiss von der Stirn. Waren da nicht Schritte gewesen? Schreckhaft war er geworden auf seine alten Tage und fett. Zu viel Schokolade, zu viel Ei, Speck und Ale. Als er in die Strasse zum Friedhof einbog, brummte sein Handy. Die Harris. Schon wieder. Galle kam ihm hoch, so scharf, dass er stehen bleiben musste. Ganz deutlich hörte er nun die Schritte und drehte sich um. Aber da war nichts, alles lag verlassen da, der Waterlow Park war geschlossen. Erst jetzt bemerkte Henry den steigenden Nebel. Nebel im Sommer? Unwillkürlich tastete er nach dem Stick. Den durfte er unter keinen Umständen verlieren, verkörperte er doch sein letztes Stück Macht; ein tägliches Update des Manuskripts, das er der Harris persönlich vorbeibringen musste, denn Dan war mit seinem Schreibcomputer nicht online, eine exzentrische Schwäche, die er sich leisten konnte.

«Aber der Text muss bei uns in der Agentur gespeichert werden», darauf hatte die Harris bestanden. Ein Laut entwich Henry. Weisst du was, du Hyäne? Zuerst geh ich eine Runde ins Pub. Sie würde explodieren vor Wut.

Der Nebel hatte ihn erreicht und hüllte ihn ein. Henry lief nun so schnell wie möglich. Bis er strauchelte. War er falsch abgebogen und im Highgate Friedhof gelandet? Er stand ganz ruhig. Hörte nur seinen eigenen Atem. Und das feine Nieseln. In diesem Moment spürte er den Schlag. Genau wie in Dans Roman, schoss es ihm durch den Kopf, bevor er das Bewusstsein verlor.

Dawn

Sweet evenings come and go, love,

They came and went of yore:

This evening of our life, love,

Shall go and come no more.

Aus «Sweet Endings come and go, love»
von George Eliot

1

Vor dem Eingang des Zürcher Schauspielhauses stand eine riesige Menschenschlange. Werner Meier verschmähte den ordentlichen Veloparkplatz und stellte sein Rad zu den anderen, die sich um einen Laternenpfahl drängten, bevor er die Strasse bei Rot überquerte. Solche kleinen Vergehen, die er sich an seinem Arbeitsort Uster niemals erlaubt hätte, bereiteten ihm normalerweise grosses Vergnügen, nun jedoch vermochten sie seine Laune kaum zu heben. Seine Freundin Zita hatte nämlich keinen Babysitter mehr gefunden. Sogar Lilo Lienert, Waldbachs Kräuterhexe und die Schnyder-Meier’sche Ersatzoma, hatte abgesagt.

Nachdem Meier und Zita den Frust über das geplatzte Date mit einem gemeinsamen Whisky aus der rot-weissen Herz-Tasse hinuntergespült hatten, einigten sie sich darauf, dass Zita alleine losziehen würde, denn sie hatte die Tickets für die Lesung organisiert, weil sie den Autor Dan Weisz so toll fand. Meier hingegen war es ziemlich egal, was sie unternahmen – Hauptsache, es gab hinterher ein Bier und eine Bratwurst beim «Sternen-Grill». Diesen Verlust hatte Meier locker weggesteckt, bei der Aussicht auf einen gemütlichen Sofa-Abend. Ihre beiden Söhne, ohne Mittagsschlaf und müde gekämpft von der Spielplatzrallye, würden bald ins Bett gehen, und dann würde er sich die Fernsehübertragung der Oper «Norma» anschauen. Was für ein unerwartetes Feierabend-Glück! Doch der kleine Theo hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht, indem er sich schlichtweg weigerte, seine Mama gehen zu lassen. Mit eisernen Fäustlein hatte er sich an Zitas blauen Regenmantel geklammert und mit der ganzen Kraft seiner neunmonatigen Lungen geschrien, als ob sein Papa ein Kalbschlächter wäre.

«Dann musst du gehen, Commissario», hatte Zita schliesslich gesagt und die Lederstiefel wieder ausgezogen. «Unter einer Bedingung: Ich will ein Selfie von dir und Dan Weisz. Ohne musst du gar nicht heimkommen.»

Im Foyer war die Stimmung erwartungsvoll. Meier erspähte eine Dame mit Gehhilfe, die ihren Begleiter auf einen lebensgrossen Foto-Karton von Dan Weisz aufmerksam machte. «Er schreibt wie ein Gott und sieht himmlisch aus. Da werden meine Knie schwach.»

Eilig ging Meier weiter, diese Details würde er sich ersparen. An einem Fernsehteam vorbei, das die Stadtpräsidentin interviewte, liess er sich in Richtung Treppe treiben. Er erkannte den nervigen Radiomoderator, dessen Namen er sich nie merken konnte, ins Gespräch vertieft mit der ehemaligen Wetterfee ScarLett Hammer, die als Moderatorin angekündigt war; beide drückten eine Schachtel an sich. Erst jetzt bemerkte Meier, dass der jungen Verkäuferin gerade die letzten Exemplare aus den Händen gerissen wurden.

«Was ist denn da drin?», fragte er.

«Nichts. Das ist für die Bücher, aber die werden erst nach der Lesung verteilt. Alles noch streng geheim.»

Lächerlich, das Brimborium um einen Thriller-Schreiberling. Aber Meier verkniff sich den Kommentar. «Können Sie mir sagen, ob der Autor diese Schuhschachteln da auch signieren wird?»

Die Frau zuckte die Achseln. «Das wüssten alle gern. Wenn ich Sie wäre, würde ich reingehen.»

Tatsächlich, das Foyer war plötzlich ganz leer. Meier war froh, dass er am Rand sass. Etwas weiter vorne zwängte sich der bekannte Anwalt Robert Lange durch die Reihe. Nicht zu fassen, wer da heute alles hier ist … Und alles nur wegen eines Buchs?

Als das Licht im Zuschauerraum ausging, warf Meier einen Blick nach oben. Schon als Kind hatten ihn die Scheinwerfer fasziniert und die Leute, die sie hin- und herschoben. Etwas Geheimnisvolles hing in der Luft – bis der Vorhang sich hob und Dan Weisz unter Applaus die Bühne betrat, das dunkelblonde Haar zur Seite gekämmt, in Turnschuhen, Jeans und einem hellblauen Hemd. Sein einziges Zugeständnis an eine gewisse Seriosität war die Lesebrille mit Rand. Weisz nahm die Vorschusslorbeeren lächelnd entgegen und trat zu dem kleinen Tisch in der Bühnenmitte. Und dann begann er aus seinem ersten Thriller «The Berlin Kladov Connection» zu lesen.

Meier verstand nur die Hälfte, sein Englisch war beschämend schlecht für den Partner einer anglistischen Psychologie-Doktorandin. Aber es spielte keine Rolle. Weisz las, man konnte es nicht anders sagen, phantastisch. Meier wähnte sich in den Strassen Berlins, sah Backsteinmauern vor sich und Kopfsteinpflaster und liess sich einlullen von Sätzen, so klar formuliert wie Pfarrer Kellers Sonntagspredigt. Bis ein Knall ertönte. Meiers Verstand hatte den Pistolenschuss bereits registriert, während seine Augen noch erstaunt nach vorne blickten. Weisz war zusammengebrochen. Über den Tisch breitete sich eine Blutlache aus. Die Schauspielerin im Abendkleid, die für die deutsche Übersetzung zuständig war, stand im Scheinwerferlicht, so erstarrt wie das Publikum.

In der Stille ertönte eine kindliche Stimme: «Ist das echt?»

Eine Schrecksekunde, dann setzten Reaktionen ein, vereinzelte Schreie. Ein Mann mit Lederkoffer eilte nach vorn. War das der Bühnenarzt? Meier registrierte die Moderatorin ScarLett Hammer, die aus der Seitenkulisse stürzte, das wachsende Murmeln im Zuschauerraum, die gezückten Handys. Da wurde es dunkel. Was war los? Ein Anschlag?

Aus den Lautsprechern erklang Weisz’ Stimme. «Dear public, I am honoured, that you are so deeply involved into my story. But it is, after all, merely a story. Mental delusion. I apologize for any inconvenience. Enjoy my book!»

Die Schweinwerfer flammten auf, und Weisz stand wieder da, als ob nichts gewesen wäre. ScarLett Hammer und der Arzt waren verschwunden, die Schauspielerin wischte lächelnd die Kunstfarbe weg. Meier war platt. Weisz’ Name hatte sich auf ewig in sein Gedächtnis gebrannt, und den Begriff «Mental Delusion» verstand Meier nun, ohne bei Zita nachfragen zu müssen. Sie waren alle einer Sinnestäuschung auf den Leim gekrochen, und so charmant Weisz sich dafür beim Publikum entschuldigt hatte, so brutal war sie gewesen.

Ein Junge, vermutlich derselbe wie eben, schrie: «Ich hab’s gewusst. Das Blut hatte ich auch für meine Halloween-Party.»

Die Glocke gongte zur Pause, und im Saal brodelte es, Dan Weisz hatte auch den letzten Skeptiker in seinen Bann gezogen.

***

Matt knallte den Typen ab, das Maschinengewehr im Anschlag. Peng, peng.

«Achtung!», rief Kazu.

«Chill mal, was machst du da?», donnerte es aus dem Headset. Teamkollege Thunderboy, der irgendwo in der Welt auf einer ähnlichen Couch sass wie Matt und Kazu im Luftschutzkeller in Egg, war sauer.

«Fresse, Mann!»

Durch die Dunkelheit stürmte Matts Figur weiter, alles voll im Griff.

«Dicker, wir killen dich», tönte es in sein anderes Ohr.

Aber Matt war das egal, er preschte voran, ahnte die Schüsse, bevor sie ausgelöst wurden. Zwei, drei Sprünge, eine Salve nach rechts, die Feinde taumelten in Zehnerreihen. Volle Punktzahl. Geil! Er klatschte sich mit Kazu ab.

Dieser grinste. «Echt smooth. Ich brauch ’ne Pause.»

Matt winkte ab. Sicher würde er keine Pause machen, voll geflasht, wie er war.

«Matt, wir essen», erklang die Stimme seiner Mam von oben.

Nervig. Schon wollte Matt sich die Kopfhörer wieder über die Ohren ziehen, als Kazu intervenierte. «Ich hab Hunger, Mann!»

Essen? Was für eine idiotische Idee, wenn Matt gerade einen Lauf hatte.

«Es riecht chillig.»

«Dann geh doch.»

«Matt, ich sag’s nicht noch mal!», schrie es von oben.

Kazu boxte ihn in die Schulter. «Komm, sonst flippt sie aus.»

«Wieso bist du hier, wegen meiner Alten oder wegen mir?», explodierte Matt.

«Easy, Mann, spinnst du?»

Matt zuckte zusammen. Wusste selbst nicht, warum er so aggressiv war. «Sorry.»

«Dann bleib ich halt», murmelte Kazu.

Matt mied den Blick seines Freundes und startete das nächste Game.

«Schau dir das an», sagte Kazu nach einer Weile und hielt Matt sein Handy unter die Nase. «Cooles Video.»

Ein Typ in Jeans und Hemd sass auf einer grossen Bühne. Ein Knall ertönte. Der Mann brach zusammen. Blut glitzerte.

«Haben die den umgemäht?», fragte Matt.

Der YouTube-Film zeigte das geschockte Gesicht einer Oma; Nicky Pedrazzini, den hibbeligen Moderator; im Off hörte man Schreie, entsetzte Ausrufe. Dann kam der Typ in Jeans aus der Kulisse. «… Mental delusion. Enjoy my book.»

«Krass», flüsterte Matt. «Der Freak hat’s echt drauf. Wer ist das?»

«So ein jüdischer Thriller-Dude. Macht Theaterzeugs, mit Echtblut und so was.»

«Voll geil.» Matt war immer faszinierter. «Das wär was für uns.»

«Wieso?»

«Die Aufnahmeprüfung für die Kunsthochschule, Blödmann.»

«Du redest von nichts anderem, Bro. Aber ich weiss nicht, wie wir das brauchen könnten.»

Aufgeregt hopste Matt herum, für einen Moment seine Coolness vergessend. «Was ist Fake und was echt? Wer sagt, wann ein Fake fake ist? Und ist ein echter Fake echt?»

Kazu war verwirrt. «Klingt voll hobbyphilosophisch.»

«So was finden die geil.»

«Sorry, das Thema ist ‹Sein und Schein› … die meinen Schiller und Fuck ju Göhte vier.»

Matt sprang auf, das Game hatte er total vergessen. «Wir machen es so wie der Theater-Dude.»

«Matthias, wenn du jetzt nicht kommst …», schrie Matts Mutter, «… nehm ich dir dein Handy weg. Bis Weihnachten!»

Kazu ging nach oben, während Matt mit einem Filzstift die ganze Kellerwand vollschrieb. Die Kunsthochschule war sein Traum. Damit man reinkam, musste man ein Superprojekt einreichen. Seit Monaten dachten er und Kazu darüber nach. Und zum allerersten Mal hatte Matt eine brauchbare Idee.

***

«Komm, Finn, spielen wir Memory.»

Aber Finn wollte nicht. Und Zita Schnyder verstand ihren älteren Sohn nur zu gut. Sie war überhaupt nicht der Spielertyp. Wieso also sollten ihre Kinder das mögen? Dass Finn ihr das Holzteil an den Kopf warf, fand sie doch etwas übertrieben.

«Hei, spinnst du?»

Das wiederum fand Theo, der auf einer Decke sass und interessiert zuschaute, äusserst lustig.

Zita bückte sich. «Finn, wenn du nicht sofort aufhörst, dann …»

Ja, was denn? Kein Abendessen, kein Fernsehen, keine Gute-Nacht-Geschichte? Zita seufzte. Hatte sie sich nicht geschworen, diese blöden Sprüche nie von sich zu geben? Und jetzt schaffte sie nicht mal einen Tag, ohne ständig zu verhandeln – ein einziger Debattierclub, diese Familie.

«Mama, ich will ‹Coco› sehen.» Fordernd zeigte Finn auf die grosse Wohnzimmeruhr und schickte ein letztes Holzstück hinterher.

Zita machte einen Ausfallschritt und verfiel in einen Tanz in Richtung Küche. Auf der Stelle vergass Finn seine Mediensucht und tapste begeistert mit, während Theo kriechend folgte – seit er der Milch entwachsen war, fühlte er sich offensichtlich als Teil des Teams und nicht mehr wie ein Ausserirdischer. Zita verklopfte ein Ei in Milch, liess Butter zerlaufen und schnitt Brot. Als die letzte Scheibe in der Pfanne brutzelte, klingelte das Handy.

«Shit!»

«Mama … du darfst nicht fluchen!», schrie Finn, der mit seinen knapp drei Jahren schon über einen hochgerüsteten Wortschatz verfügte.

Zita bedeutete ihm, den Mund zu halten, und bemühte sich zu verstehen, wer am Sonntagabend etwas von ihr wollte.

Eski. Ihre beste Freundin. «Hei, wie geht’s im Land von Milch und Käse?»

«Super. Und selber? Den Brexit überwunden?», knirschte Zita und versuchte, Finn davon abzuhalten, nach dem Pfannenstiel zu greifen.

«Es kann nur besser werden. CNN kommentiert gerade die letzte Hillary-Trump-Debatte, wir könnten skype-schauen.»

Das hatten sie früher oft gemacht. «Sorry, bin am Kochen.»

Zita, das Handy unters Kinn geklemmt, nahm die Pfanne vom Herd und deckte den Tisch. «Also sag, Eski, was willst du?»

«Ich ruf an wegen der Gender-Reihe.»

Eski, Architektin in London, war in einen Thinktank zu Genderfragen hineingerutscht. Nun hatte sie für das nächste Semester eine internationale Ringvorlesung geplant, und Zita sollte dabei sein. Am Freitag hatte sie mit ihrer Professorin darüber verhandelt und versprochen, Eski das Resultat mitzuteilen.

«Ich habe gute Neuigkeiten. Alles bewilligt», sagte sie und grinste.

Die Begeisterung am anderen Ende sprengte fast das Gerät. Bis Eski ihren Ausbruch mit einem Einfall krönte. «Aber dann musst du morgen zum Podium kommen. Keine Ausrede mehr!»

Seit Wochen drängte Eski, Zita solle für die Kick-off-Veranstaltung nach London fliegen. Und Zita wollte nichts lieber als das. Aber jedes Mal wenn sie das Thema bei Meier zur Sprache bringen wollte, kam etwas dazwischen: Finns ausgeschlagener Zahn, Theos Mamasucht, Meiers Panik, nachts mit den Kindern allein zu sein.

«Sag mal, bist du sicher, dass bei dir alles okay ist? Da ist ein wahnsinniger Lärm», unterbrach Eski ihre Gedanken.

«Die Jungs spielen mit den Armen Rittern, anstatt sie zu essen.»

«Tyrannen», schimpfte Eski. «Wieso sind die noch auf?»

Zita nahm Finn das heisse Brot aus den Fingern. «Nachtmenschen.»

«Meine Tochter ist seit Stunden im Reich der Schlafelfen.»

«Warte mal.» Zita holte das Tablet vom Küchenregal und tippte einen YouTube-Link an. Die Kakofonie der Brüder brach abrupt ab, als Cocos Erkennungsmelodie losdudelte. Aufatmend zog Zita die Balkontür hinter sich zu und klaubte die Zigarettenpackung aus einem Blumentopf, während Eski schweres Geschütz auffuhr.

«Du lernst die Referentin aus Angola kennen, eine Powerfrau.»

«Ich kann nicht einfach an einem Montag nach London fliegen. Es wird schon schwierig genug, dem Commissario die Vorlesungsreihe zu verklickern. Geschweige denn meine erhöhten Stellenprozente.»

«Willst du eine Berufsfrau mit Familie sein oder eine Glucke? Du lässt ihm die ganze Zeit den Vorrang, im Bann seiner verwaschenen blauen Augen, der antiquierten Lederjacke und seiner Musikerfinger.»

«Halt die Klappe, Eski. Wenn ich eine Ganztags-Nanny hätte, könnte ich auch grosse Töne spucken.»

«Blöde Ausrede. Du kommst morgen nach London.»

***

Robert Lange liess sich Wasser über die Handgelenke laufen, eine Wohltat nach der Hitze im Zuschauerraum. Er wäre gar nicht gekommen, wenn Noemi sich nicht gemeldet hätte. «Dan ist in Zürich. Er will euch alle sehen», hatte sie geschrieben. Noemi Harris, die alte Schlange.

Robert hielt die Hände in den Trockner, das laute Geräusch nervte ihn. Dennoch war ihm jede Verzögerung recht, er erwog sogar, heimzugehen; seine Freundin hatte ihn angetextet, dass sie ihn vermisse. Aber nie im Leben würde er sich das Treffen mit Mia Kramer entgehen lassen. Sie war zu spät gekommen, genau wie früher, ein rotes Kleid hatte unter dem Mantel hervorgeblitzt, die Haare waren aufgesteckt, an den Füssen trug sie klobige Schuhe. Wie ein Blitz war sie ihm eingefahren. Wann hatte er zum letzten Mal so gefühlt? «Wish You Were Here» von Pink Floyd, ihr Kopf an seiner Schulter, im Mund der Geschmack von Tabak ohne Filter.

Robert sah in den Spiegel: das Gesicht bleich, die Stirn in Falten, der Bart düster. Nicht gerade überzeugend. Da öffnete sich die Tür. Dan Weisz.

«Saustall», murmelte er, trat zum Waschbecken, legte ein geheftetes Manuskript auf den Beckenrand und hielt die Finger in den Wasserstrahl, er hatte sich offenbar geschnitten.

Bevor Robert sich abwenden konnte, begegnete ihm Dans Blick im Spiegel.

«Robert?»

«Erstaunlich, dass du mich erkennst nach so vielen Jahren», sagte Robert und verfluchte den Klang seiner Stimme, der im Gegensatz stand zu den förmlichen Worten.

«Ich bin Autor.» Dan lächelte und schien vollkommen entspannt. «Ich speichere die Ausstrahlung von Menschen.»

«Dein Deutsch ist ausgezeichnet. Du bräuchtest keine Übersetzerin.» Robert spürte, wie ihm der Schweiss ausbrach.

«Englisch bin ich überzeugender.»

«Ein guter Gag eben, Mental Delusion – Sinnestäuschung.»

«Hast du es geglaubt?»

«Es war überraschend.»

«Auch das Noemis Idee. Und es funktioniert. Schon jetzt habe ich mit dem Buch mehr verdient als mit all meinen Stücken zusammen.»

Dan trocknete sich die Hände an einem Papiertuch. Entweder ich geh raus, dachte Robert, oder ich kotze ihm gleich vor die Füsse. «Was an deiner Geschichte ist authentisch?», fragte er unvermittelt, als Dan schon bei der Türe war.

«Es ist Fiktion. Ein Roman.»

«Sebastian Lippert hat etwas gepostet.» Robert griff zu seinem Handy, suchte nach dem Literatur-Blog und las eine Stelle vor: «Die Spannung verflacht wie ein Nordseestrand, und der zurückbleibende Schlick besteht aus pseudo-originellen Begrifflichkeiten, die in ein seichtes Ende sickern.» Er blickte vom Display zu Dan, der immer noch dasselbe Lächeln auf den Lippen hatte, unberührt von den rüden Worten. «Ich habe mich gewundert … Wieso hat Lippert deinen Text? Es hiess, dass absolut niemand vor Mitternacht darüber berichten wird.»

«Ein Fehler.»

«Die Weisz-Leaks?»

«Klingt gut.»

«Lippert ist kein Freund von dir.»

«Er hat nichts verstanden.»

«Ich fände es nicht sehr klug, wenn es Ähnlichkeiten mit lebenden Personen gäbe», sagte Robert und hielt sich am Türpfosten fest. «In deinem Thriller, meine ich.»

«Lies ihn, dann weisst du es.»

Robert spürte, wie sich der Nebel in seinem Kopf lichtete. «Du kannst dir dein Buch sonst wohin stecken. Von uns erfährst du nichts. Nicht auf diese Art», zischte er.

Dans Gesicht wurde hart, zum ersten Mal zeigte er eine adäquate Regung. «Ich will wissen, was mit Aliza passiert ist.»

Da wurde die Tür aufgerissen. «Da sind Sie ja, Herr Weisz, Gott sei Dank!» Der Inspizient rang die Hände. «Können Sie kommen, bitte, ScarLett Hammer ist schon auf der Bühne für das Interview.»

Auf der Stelle verwandelte sich Dan wieder in den erfolgreichen und dennoch bescheiden gebliebenen Autor. «Alles klar, Herr Posac.» Er nickte Robert zu. «Wir sehen uns.»

«In Nickys Bar?»

«Nein. Noemi sagt euch, wo.»

«Vergiss dein Manuskript nicht.» Mit einer Kopfbewegung deutete Robert auf das Waschbecken. «Oder kannst du alles auswendig?»

***

«Shit.» Beanie Barras starrte in den Spiegel. Die Afrokrause, nebst den Lippen das einzige Erbe ihres GI-Vaters, sah aus wie ein überdimensionierter Helm. Nala Dibango, ihre Coiffeuse und Freundin, gerade auf dem Rückflug von den Ferien in Ghana, würde sich kaputtlachen. «Nie ohne Badekappe ins Chlorwasser, mon Chouchou.»

Aber Beanie hatte es einfach nicht lassen können, als sie eben das grosse Becken ganz für sich allein gehabt hatte. Wie sie es liebte, wenn sie, erschöpft von zwei Kilometern Powerschwimmen, auf dem Rücken trieb. Einen Moment das Gefühl haben, lange Haare wären möglich, eine glatte Mähne, die ihr bis über den Rücken reichte. Wütend riss Beanie mit dem Kamm an den verklebten Spitzen, Beton war weich dagegen. So konnte sie unmöglich aufkreuzen zu ihrem ersten Arbeitseinsatz als Sachbearbeiterin Leib und Leben bei der Kripo Zürich. Beanie sprühte eine halbe Tonne Ouchless Detangler auf. Null Wirkung. Abschneiden war auch keine Option. Dann halt den nächsten freien Termin bei Nala buchen, den Schal umbinden und darauf hoffen, dass keiner der neuen Kollegen sie so sehen würde. Am Sonntagabend sei die Dienststelle unterbesetzt, hatte ihr der Typ von der Zentrale versichert, als er sie bestellt hatte, weil für die Vernehmung einer jungen Diebin, die den Opferstock des Grossmünsters geknackt hatte, eine Frau zugegen sein müsse und die dafür zuständige Kollegin anderweitig verplant sei. Ein letztes Mal zog Beanie den Schal zurecht und griff zu ihrem Spinat-Smoothie. Nachdem ihr neuer Chef, Hauptabteilungsleiter Nussbaum, beim Einstellungsgespräch bereits die Combat-Hose kritisch gemustert hatte, dürfte ihm der neongrüne Schal nicht gefallen, weder ihm noch den neuen Kollegen. Ist die eine Konvertierte? Müssen wir in der Kantine koscher einführen?, hörte Beanie im Geist das Gefeixe.

Bis zum Hauptgebäude an der Kasernenstrasse waren es keine fünf Minuten. Beanie freute sich nicht besonders auf ihren neuen Job, viel lieber wäre sie bei ihrer Ex-Feindin ScarLett Hammer und deren Online-Portal Invest-News eingestiegen. Raus aus der Testosteronwelt, rein in die weibliche Faktenschmiede. Aber ScarLett konnte nicht viel zahlen. Und Beanie hatte Verpflichtungen. Ihre Mutter sass in einem teuren Heim in Deutschland. Drogendemenz. Sie würde nie mehr rauskommen. Der einzige Mensch, den sie auf der Welt hatte, war Beanie. Sie besuchte ihre Mutter zwar nie, zu bitter waren ihre Gefühle, dennoch würde sie sie nicht einfach verrecken lassen. Darum hatte Beanie den Polizeijob angenommen. Mehr Arbeit, mehr Lohn. Und vor allem Karrieremöglichkeiten. Wenn sie top wäre. Mehr als top.

Draussen nahm Beanie einen letzten Schluck, steckte den Becher in den Rucksack und schulterte ihr Bike. Das Training der letzten Monate machte sich bemerkbar. «Eine Kampfmaschine», hatte Andi gemurmelt, bevor er sich in ihr versenkt hatte. Ihr alter Kumpel Andi von der IT-Abteilung der Kantonspolizei Zürich Oberland. Niemand wusste, dass sie ab und zu das Bett teilten.

Da brummte eine Nachricht. ScarLett Hammer. Hatte ein Selfie von sich und Dan Weisz gepostet. Neid packte Beanie. Sie stand auf harte Thriller, und die Werbung für Dan Weisz’ Werk war ziemlich nice. «Bring mir ein Exemplar mit», textete sie zurück. Dann schwang sie sich auf das Bike und sprintete durch die Novembernacht. Der Himmel war düster, voller Wolken. Ob die Wetter-App recht behielt? Das Update hatte Schnee vorausgesagt.

***

Nachdem die Pause zu Ende war, sass Meier im Zuschauerraum und harrte der Dinge. Der Saal lag im Halbdunkel, nur der Lesetisch vorne am Bühnenrand war erleuchtet. Einmal ging die alte Dame mit Gehhilfe schnaubend hinaus, ein anderes Mal huschte ein Mann in hellrotem Pullunder vorbei, sonst tat sich nichts. Wenn die Warterei zur Inszenierung gehörte, wurde die Geduld des Publikums und ganz besonders seine eigene strapaziert. Er stand auf, um sich an den Sitzenden vorbeizuquetschen, das kühle Bier und die Bratwurst vom «Sternen-Grill» bereits vor dem inneren Auge. Der Wand entlang tastete er sich zum Ausgang. Als er möglichst unauffällig die Tür aufmachen wollte, wurde diese aufgerissen. Vor ihm stand der Pullunder-Mann, wenige Haare, eine rundliche Brille, sanfte Augen im angespannten Gesicht. «Sind Sie der Arzt?», fragte er flüsternd.

«Ich bin von der Polizei.»

Die Wirkung seiner Worte – Meier war früher öfter als Musiker aufgetreten und hatte durchaus Sinn für eine gute Inszenierung – war unglaublich. Der Mann zerrte ihn förmlich nach draussen.

«Wer hat Sie denn gerufen? Wir wollten doch erst die Sanität…», stammelte er und zog Meier durchs Foyer. «Kommen Sie.»

Meier war zu verblüfft, um sich zu wehren. Der Anblick, der sich ihm gleich darauf in der Männertoilette bot, war brutal. Dan Weisz lag auf dem Rücken, die Arme ausgebreitet, das Gesicht zerschunden und aufgeschwollen. Eine Blutlache neben dem Körper glänzte im Licht des Deckenstrahlers.

Schtärnesiech, war das echt?

Bevor Meier sich bücken konnte, wurde die Tür erneut aufgerissen, und eine zierliche graublonde Frau stürmte herein. Carina Marfurt vom Spital Uster – Meier kannte sie aus einem früheren Fall.

«Um Himmels willen!» Die Ärztin streifte ihren Mantel mit dem grünen Blattmuster ab und tastete nach Dan Weisz’ Puls. «Dan, hörst du mich?»

«Er spricht nur Englisch», stammelte der Pullunder-Mann.

Carina Marfurt holte Luft, als ob sie etwas entgegnen wollte. «Dan, please, can you hear me?» Und zu Meier: «Rufen Sie Ihre Kollegen.»

Erst jetzt drang Meier ins Bewusstsein, was hier passierte: Kein Theater, das hier war das Leben. Meier aktivierte sein Handy. Was ging am schnellsten? Die Kantonspolizei Zürich Oberland war nicht zuständig, er war hier als Privatperson. Die Einsatzzentrale am Sonntagabend? Zu langwierig. Hauptabteilungsleiter Nussbaum oder die verrückte Beanie Barras, seine ehemalige Assistentin, die seit Neuestem da arbeitete?

«Dan Weisz wollte nur kurz zur Toilette zurück, er hatte da was vergessen», brach es aus dem schwitzenden Pullunder-Mann hervor, der mit aufgerissenen Augen Carina Marfurts Handgriffe verfolgte. «Keine Ahnung, warum er nicht die für die Künstler benutzte.»

«Wer sind Sie?», fragte Meier.

«Elmar Posac, der Inspizient.»

«Herr Meier, helfen Sie!» Carina Marfurt deutete auf den Schal, während sie mit der Herzmassage begann.

Meier drückte das Tuch auf die Wunde und das Handy ans Ohr.

«Ich hab ihn.» Carina Marfurt atmete auf. «Puls schwach, aber regelmässig.»

«Wurde er angeschossen?»

«Stichwunden im Lungen- und Milzbereich, wie es aussieht.»

«Und es ist sicher kein Werbegag, Herr Posac?»

«Wir machen viel im Theater, aber irgendwo sind Grenzen», flüsterte Posac. «Wird er überleben?»

«Ich weiss es nicht», sagte Carina Marfurt. «Er sieht körperlich fit aus, und die Verletzung ist vermutlich nicht tödlich. Aber er verliert viel Blut.»

Meier blickte sich um. Der Raum wirkte so, wie eine Toilette nach der Pause eben aussah: der Abfalleimer voll Papier, das Waschbecken benutzt, Schlieren auf dem Boden. Und daneben der Blutfleck.

«Kann es ein Terroranschlag sein?», fragte Carina Marfurt, «Weisz ist Jude.»

Wieso sagt sie Weisz?, dachte Meier. Eben hat sie ihn beim Vornamen genannt.

***

«Lump! Mögen deine Kinder gelähmt sein, und möge es keine Rollstühle mehr geben!», zischte die alte Dame, nachdem Sebastian Lippert beim Schauspielhaus-Seiteneingang am Zeltweg in sie hineingeprallt war.

«Entschuldigung», murmelte er.

Die Alte wetterte weiter, während sie sich auf die Gehhilfe stützte, die Sebastian wieder aufgestellt hatte. «Ochor.»

Hatte sie ihn gerade Arschloch genannt?

«Ja, Bubele. Es ziemt sich nicht, eine alte Mamme umzuschmeissen. Über den Schreck muss ich eins rojchern.»

Lauf weg, dröhnte es in Sebastians Kopf. Niemand darf dich hier sehen. Aber gegen die Alte hatte er keine Chance, nachdem sie die Kippa unter seiner Kapuze erspäht hatte, zählte sie ihn zu ihrer Mischpoche. Er musste ihr Feuer geben und sich anhören, dass der Abend mit Dan Weisz zu viel gewesen sei für sie. Sie erzählte von einem Schuss, von Blut, von einer Auferstehung der Toten. Nun habe sie Herzflattern, und das Buch sei nicht mal ausgeteilt worden. Dabei sei sie nur deswegen hier. Bis Mitternacht müsse sie noch ausharren. Wenn Dan Weisz dann noch lebe. Friede sei mit ihm, Schalom.

Während sie sprach, jagten sich die Bilder in Sebastians Kopf. Wie er zu Hause weggegangen war, viel zu früh für seine Verabredung in Nickys Bar. Wie er magisch angezogen das Schauspielhaus erreicht und den Seiteneingang benutzt hatte, um in den menschenleeren Flur bei den Toiletten zu huschen. Wie er den Plan gefasst hatte, von einer Loge aus den zweiten Teil der Lesung anzusehen. Wie er losgestürmt war, einem Idioten nur knapp ausweichen konnte und sich in die Toilette geflüchtet hatte, wo er auf Dan Weisz gestossen war. Das zerschlagene Gesicht fiel ihm ein, das Blut, der Geruch nach Exkrementen. Wie es ihn rückwärts hinauskatapultiert hatte, bis seine Flucht gestoppt worden war von der alten Dame, die Weisz’ Auftritt immer noch in glühenden Farben beschrieb und in Sebastian die Hoffnung weckte, dass das Schreckliche, was er gesehen hatte, Teil der Inszenierung war. Oder ein böser Traum. Auf jeden Fall nicht wirklich und sicher keine Bedrohung für ihn.

Einige Minuten später, die Alte war mit einem Lehitra’ot, einem auf Wiedersehen, wieder im Foyer verschwunden, betrat Sebastian die Bar, wider sein besseres Wissen. Geh heim, den ganzen Abend zu Hause, das wird dein Alibi sein. Aber da war diese säuselnde Stimme. Die Alte ist meschugge, keine brauchbare Zeugin. Er war unauffällig gekleidet, hatte die Kapuze in die Stirn gezogen, kaum etwas gesagt. Und hier in Nickys Bar, die wie immer ziemlich voll war, sass er in der Ecke, an einem Bier nippend, unauffällig. Und was ist, wenn Weisz tot ist? Ach wo, der ist hart im Nehmen. Und er, Sebastian, musste einfach seine Information bekommen. So viel hatte er dafür riskiert, da würde er sicher nicht kurz vor dem Ziel aufgeben.

Die Zeit verging. Wenn die Zuschauer gleich hereinströmten, musste er weg sein. Sebastian kontrollierte das Handy. Wie lange wartete er schon? Seine Quelle war zu spät. Und dabei hatte man ihm zusätzliche Informationen versprochen, brisantes Material. Nun sass er da, durchgeschüttelt und gerührt, wie bestellt und nicht abgeholt.

«Wollen Sie noch ein Bier?», fragte die Servierfrau und räumte das halb volle Glas ab. Dass er sie anblaffte, liess sie ungerührt. Kommentarlos stellte sie das Glas wieder hin.

«Halt!», hielt er sie zurück. «Bringen Sie mir einen Schnaps.»

Während sie die Bestellung holte, checkte Sebastian sein Handy erneut. Keine Nachricht. Was, wenn auch der Stick eine Täuschung gewesen war? Zum ersten Mal, seit er das Ding im Briefkasten gefunden hatte, verspürte er Angst.

Da kam die Servierfrau zurück. «Quittenschnaps. Auf Empfehlung des Hauses.»

Abwartend blieb sie neben Sebastian stehen. Quitte! Ausgerechnet. Er stand auf, warf eine Zehnernote hin und ging hinaus.

***

Meier kletterte auf einen roten Plüschsessel am Rand des Zuschauerraums und versuchte, sich einen Überblick zu verschaffen.

«Gehen Sie und machen Sie das Foyer bereit. Wir brauchen Platz für Hunderte von Menschen», flüsterte er dem Inspizienten zu.

Elmar Posac verwarf die Hände und rannte davon. Eben war Dan Weisz mit der Ambulanz weggebracht worden, nun musste Meier eine Entscheidung treffen. Terroranschlag oder eine persönliche Attacke? Diese Frage stand im Raum. Je nachdem bedeutete das Plan A oder Plan B. Sofortige Evakuation oder das Spiel so lange wie möglich weiterziehen, um sich Zeit zu verschaffen? Im Zuschauerraum summte es. Die Leute diskutierten animiert, immer noch im Bann von Weisz’ Auftritt. Die gute Stimmung wird gleich vorbei sein, wenn ich denen verkünde, dass wir abbrechen müssen. Die Notausgänge waren zwar gekennzeichnet, aber die Sitzreihen standen eng, die Luft war dick, eine Massenpanik wäre eine Katastrophe. Was, wenn Dan Weisz’ Angreifer noch hier war? Die Ärztin hatte von einer Stichwunde geredet. Eine Messerattacke auf die Zuschauer? Ein Tatort mit Hunderten von Menschen? Immer schneller flogen Meiers Augen übers Publikum. Er sah die Stadtpräsidentin und ihre Partnerin, sah, wie Robert Lange den Blick einer Frau im roten Kleid suchte, beobachtete, wie der Radiomoderator auf seinem Handy herumtippte.

«Bitte lassen Sie Ihre Telefone ausgeschaltet», brüllte er unvermittelt.

Sofort wurde es ganz still. Alle sahen zu Meier.

«Auch wenn es schwerfällt, mehr als eine Sekunde offline zu sein, wir sind hier in einem Live-Spektakel.»

Einige Leute reagierten mit Flüstern.

«Mein Name ist Werner Meier, ich bin von der Kantonspolizei.» Er hielt seinen Ausweis in die Luft. «Wir mussten Dan Weisz vorübergehend festnehmen.»

Sofort erstarrten alle. Dem Radiomoderator fielen fast die Augen aus dem Kopf. Mist, dachte Meier, Plan A wäre besser gewesen. Aber nun gab es kein Zurück. «So viele Bücher, wie Weisz innert Stunden verkauft hat, das kann nicht mit rechten Dingen zugehen», fuhr er fort, im Reden ein Szenario erfindend. «Alarmstufe Rot. Der Buchstaben-Verführer. Internationaler Warnruf. Ein Autor stiehlt Leser.»

Die Leute sahen sich an. Bauerntheater, stand in ihren Gesichtern geschrieben.

«Die Untersuchung läuft auf Hochtouren. Wir hoffen, dass Dan Weisz nach dem Verhör wieder zu Ihnen stösst.»

Nun erklangen einige Lacher. Die Vorstellung geht weiter, Plan B begann zu funktionieren. Meier wischte sich den Schweiss von der Stirn, mit einem seiner blütenweissen Stofftaschentücher, die Zita immer zum Lachen brachten. Zita! Sternlein, er musste ihr sagen, dass es später würde.

«ScarLett Hammer wird Ihnen exklusive Passagen vortragen. Aus dem Buch, das Sie um Mitternacht alle geschenkt bekommen.» Damit sprang Meier vom Stuhl, während die Moderatorin an die Rampe trat und das Licht heruntergefahren wurde. Meier gab dem Beleuchter das Daumen-hoch-Zeichen. Die Leute so lange wie möglich im Theatersaal festhalten, dieser Plan konnte nur mit Hilfe der Mitarbeiter umgesetzt werden. Und mit ScarLett Hammer, deren Stimme kein bisschen zitterte. Sie ist einfach ein Ass, dachte Meier. Ganz anders als die Schauspielerin im Abendkleid, die zusammengebrochen war.

Aufatmend ging Meier nach draussen ins Foyer. «Herr Posac! Verkleben Sie Weisz’ Garderobe und die Toilette», rief er dem Inspizienten zu, schnappte sich selbst eine Rolle und rannte zum Eingang, vorbei an Dan Weisz’ umgekipptem Standfoto und der Verkäuferin.

«Können Sie die Bücher organisieren?», fragte Meier über die Schulter. «Ich habe den Leuten ein Gratisexemplar versprochen.»

Sie winkte ab. «Die Lieferung hat Verspätung. Es schneit, der Lastwagenchauffeur hat gerade angerufen.»

«Vollbringen Sie Wunder.»

«Sie, ich habe ein Date», unterbrach ein Einlassjunge.

«Absagen», sagte Meier. «Und keinen Grund nennen.»

Der Junge machte grosse Augen.

«Wenn ich höre, dass etwas über die Vorgänge hier rausgeht, sind Sie dran», fletschte Meier, noch ruppiger als eben.

«Geil», sagte der Junge unbeeindruckt. «Ist ja wie im Thriller.»

Nein, das hier war echt. Dan Weisz’ Gesicht fiel Meier ein, seine eiskalten Hände … aber bevor er den Jungen zusammenstauchen konnte, wurde die Eingangstür aufgerissen, und Beanie Barras stand da, in ihrem üblichen Blazer und der Tarnmusterhose. So entsetzlich der Kleidungsstil der blutjungen Polizistin war, Meier verspürte ein absurdes Gefühl von Heimat.

Er begrüsste sie knapp, aber warm. «Das ist ein Tatort, Barras, mit Hunderten möglicher Zeugen. Der Inspizient hat gesagt, Weisz sei gut gelaunt gewesen, habe einen Cranberrysaft getrunken, es gab keine Anzeichen von Stress. Fünf Minuten später war er zusammengeprügelt und abgestochen.»

«Ich informiere die Spezialeinheit», sagte Barras, während sie gleichzeitig auf ihr Handy eintippte.

Meier nickte. «Wir frieren die Situation ein und sichern die Ausgänge.»

«Sollen wir evakuieren?»

Mit dem Vorschlag hatte Meier gerechnet. «Wir warten.»

«Sind Sie verrückt? Wir können das Publikum doch nicht einfach sitzen lassen.»

Sie wäre also für Plan A gewesen. «So lange wie möglich. Noch denken sie, es wäre Teil der Inszenierung.» Meier überging Barras’ Protest. «Sässe der Täter im Zuschauerraum, hätte er längst reagiert. Wenn er irgendwo im Gebäude ist, haben wir eine Chance, ihn zu erwischen. Wenn nicht, erhalten wir hoffentlich so viele Hinweise, dass wir das bald tun können.» Er blieb stehen. «Sagen Sie, Barras, sind Sie konvertiert? Warum tragen Sie eigentlich ein grünes Kopftuch?»

2

«Sorry, Schatz, dauert länger, ein Drama ist dazwischengekommen.» Zita starrte auf die SMS. Ein Drama? Sie klickte Meiers Kontakt an, wurde aber auf die Voicemail umgeleitet. Wütend riss sie ein paar Kinderpyjamas von der Wäscheleine. Sie hatten einen Deal: Zita die Kita, Meier die Wäsche. Eben hatte die Nachbarin von oben geklingelt und Zita überfreundlich darauf hingewiesen, dass sie gleich dran sei und die Wäsche um Punkt zweiundzwanzig Uhr, also in fünf Minuten, abgehängt sein müsse. Zita war gerade dabei, der Frau mitzuteilen, dass sie sich den Waschplan sonst wohin stecken solle, als sie im Geist Meiers Stimme hörte: Waschküchen sind Kriegsgebiet. Wir sind die Neuen, sie hat Terrain zu verteidigen. Da heisst es, weisse Flagge zu zeigen.

«Eine einzige Erpresserei», stänkerte Zita vor sich hin, als sie weitere Wäschestücke in den Plastikkorb fegte, der noch vom letzten Mal halb voll war. So hatte sie sich das nicht vorgestellt. Sie hatte geglaubt, dass das Leben nach dem Umzug vom Land in die Stadt einfacher würde, dass die blosse Präsenz von Bibliotheken, Kinos und Cafés zur Lösung ihrer familiären Probleme beitragen würde.

«Wieso brauchen so kleine Kinder so viel mehr Kleider als ein grosser Meier», murmelte Zita. Da brummte ihr Handy. Babyalarm? Es war Eski. London am Abend, der Blick von ihrer Wohnung in Hampstead, das Lichtermeer der Stadt. «Komm. Sonst schickt deine Chefin irgendeine Kollegin.»

Zita schluckte. Noch eine Nachricht. Wenn sie mir wieder so ein Bild schickt, kündige ich ihr die Freundschaft. «Im Gegenzug musst du ihm was bieten. Ein guter Deal ist die halbe Miete.» Angehängt war eine Tonaufnahme vom Hochzeitsmarsch, falsch gepfiffen zwar, aber unverkennbar. Zita musste grinsen. Niemand kannte sie so gut wie ihre Freundin. Als sich damals der kleine Theo ankündigte, den Zita eigentlich schon verloren geglaubt hatte, hatte sie sich geschworen, voll und ganz für die Kinder da zu sein. Sie hatte ihre Assistenz verlängert, ihre Doktorarbeit verschoben, passte ihre Zeiten Meiers an, sie organisierte, machte und tat, verbog und verdrehte sich … vielleicht hatte Eski recht. Es war Zeit für eine Veränderung. Plötzlich fühlte Zita einen Energieschub. London gegen Heirat. Warum eigentlich nicht? Beladen mit zwei Wäschekörben ging sie an der Nachbarin vorbei, die mit spitzen Fingern auf ihre Uhr deutete.

«Sie können das Schlachtfeld übernehmen, ich muss einen Flug bestätigen.»

***

«Ja, ja, Mam, schlaf gut», sagte Matt abwesend, feuerte eine Salve, mähte einen Gegner nieder, Maschinengewehr und Granate jonglierend, bis ihm Kazu das Laptop vor die Nase hielt. «Schau mal, ein neuer Post, diesmal mit Kommentar. Der Ton ist megaschlecht.»

«Zeig.»

Über dem Video vom Theater-Dude mit dem Kunstblut brabbelte eine heisere Stimme, dass Dan Weisz verhaftet sei, aber niemand wisse, ob in seinem Roman oder in Wirklichkeit.

Kazu deutete auf die Klicks. «Interessiert keinen.»

Matt drückte auf Replay, sah sich das Video noch mal an. «Viel zu umständlich. Show, don’t tell. Oberstes Gebot.»

«Was genau willst du zeigen, Mann?» Kazu schien langsam müde.

«Wenn man den falschen Schein zum Strahlen bringt, wird es echt sein.»

«Hast du eben schon gesagt.»

«Nein –», wollte Matt erklären, aber Kazu unterbrach ihn.

«Ist zu kompliziert gedacht. Versteht niemand. Du hast tausend Ideen, aber keine einzige funktioniert. Schau mal deine Wand an.» Kazu deutete auf die Kritzeleien. «Wir hirnen seit Monaten … in drei Wochen ist Anmeldeschluss.»

Fuck. Normalerweise war Kazu die Ruhe in Person, wenn er so redete, war er wirklich sauer. Aber Matt brauchte Kazu. Ohne ihn würde er es nicht schaffen. «Warte.» Matt klickte den Post erneut an, während Kazu nach dem Controller griff.

«Ich übernehme. Sonst verlieren wir das Game.»

«Nein, zwanzig Likes. Es zieht an.»

Kazu winkte ab. «Sorry, Mann, ich habe echt keine Lust mehr.» Er drückte auf den Controller. «Lass mich gamen, Thunderboy killt uns sonst.»

Matt überlegte, und plötzlich war sie da: die Idee. Wozu war er, Matt, der beste Stimmenimitator der Welt. Das konnte er nämlich, das müsste seine Mam mal sehen. Dafür brauchte er keine Scheissmathe und kein Kackdeutsch. Matt zog Kazu das Headset vom Kopf und brüllte ins Mikro: «Sorry, Leute, wir müssen Schluss machen.» Schon hatte er die Playstation ausgemacht.

«Was soll das? Ich war am Gewinnen», protestierte Kazu.

«Wir vertonen das File. Mit einer IS-Botschaft.»

«Ich mach doch kein IS-Video.»

«Das gibt Klicks. Wir rütteln auf: Glaubt keinen Bildern, keinen Mundbewegungen, keinen Stimmen. Lest nur News aus gesicherten Quellen. Bezahlt für gute Infos.» Matt hatte sich ins Feuer geredet.

Kazu war bleich geworden. «Bist du verrückt? Die werden uns erwischen, bevor wir deine Superbotschaft posten können.»

***

«Meier, warten Sie.»

Beanie Barras war zusammen mit ihrem alten Chef auf dem Weg zum Hintereingang, nachdem sie den Tatort so gut wie möglich gesichert hatten, als eine News bei ihr einschlug. «Gestern wurde auf einem Lokalradio-Sender eine Literatur-Blog-Kritik von Dan Weisz’ Thriller erwähnt, obwohl das Manuskript unter Verschluss gehalten wurde. Der Moderator sitzt im Publikum. Nicky Pedrazzini.»

«Danke», murmelte Meier grimmig.

«Wofür?»

«Dass Sie seinen Namen kennen.»

Beanie grinste, ihr alter Chef und sein Namensgedächtnis!

«Ein Werbegag?», fragte er. «Die Kritik, meine ich.»

«Vielleicht. Würde zum Fake-Video von Weisz’ Erschiessung auf der Bühne passen. Das wurde bei YouTube gepostet und generiert steigende Klicks.»

«Und dabei habe ich Handys verboten», sagte Meier. «Woher wissen Sie das, Barras?»

«Von Andi.»

«IT-Andi?», fragte Meier. «Mein Angestellter?»

«Ich kenn die neuen Kollegen in Zürich noch nicht, da war es einfacher.»

Meier blieb stehen. «Die werden es nicht mögen, wenn Sie die Infos woanders ziehen.»

«Offiziell ist morgen mein erster Tag. Ich war nur da wegen einer nicht geplanten Einvernahme. Eigentlich hätte ich gleich Feierabend.»

Meier nickte. «Ich sässe auch gerne auf meinem Sofa, um mir die Übertragung von ‹Norma› anzusehen.»

«Noch nie was von Streaming gehört?»

«Heissen Sie Zita?», fragte Meier spitz. «Ich mag feste Termine.»

Vom Heimplatz her kam ein graues Dienstfahrzeug um die Ecke geschossen. Beanie fühlte Adrenalin.

«War die Kritik gut?», fragte Meier plötzlich. «Auf dem Literatur-Blog, war sie gut?»

«Ein Verriss. Unterirdisch.»

Das Fahrzeug hielt an.

Meier packte sie am Arm. «Schnappen Sie sich diesen Moderator, Barras. Er sitzt nah bei der Bühne. Er hat das Video bei YouTube hochgeladen, wetten?»

«Geht nicht.» Beanie zeigte in Richtung der neuen Kollegen. «Ich muss das Team briefen.»

«Ich sage, dass Sie einen ersten Hinweis verfolgen.»