Lisa Brandstätter wurde 1972 in Bad Reichenhall geboren und ist mit Clemens Wenger verheiratet. Sie ist niedergelassene Internistin und schreibt seit ihrem Medizinstudium Krimis, die in der oberbayerischen Region spielen. Mit ihrem Mann lebt sie in Berchtesgaden und beschäftigt sich auch mit der Geschichte des Berchtesgadener Landes.
Clemens Wenger wurde 1970 in Salzburg geboren und ist von Haus aus Volkskundler. Seine Leidenschaft für das Schreiben entwickelte er über die Beschäftigung mit dem regionalen Brauchtum, das er in Lokalzeitungen in Form von Geschichten aufbereitet. In seinen Kriminalgeschichten transportiert er die Kultur seiner Heimat.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2018 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: shutterstock.com/Melanie Hobson
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Susanne Bartel
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-410-0
Originalausgabe
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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Literaturagentur Drews, Augsburg.
Einer muss den Bluthund machen!
Ich scheue die Verantwortung nicht!
Gustav Noske zum Spartakusaufstand von 1919
Es musste sein. Es würde nicht schön werden, natürlich nicht. Aber manche Dinge mussten einfach sein. Und irgendjemand musste sie tun. Judas hatte Jesus verraten, weil einer es tun musste, weil der Heilsplan es notwendig machte. Judas hatte gelitten. Aber er hatte es getan, hatte die Aufgabe erfüllt, die ihm zugedacht war. War dafür zum Verräter geworden.
Nein, es war nicht schön. Es tat weh. Allen. Und es würde auch weiterhin wehtun. Wenn auch nicht im physischen Sinn. Der Junge würde keine Schmerzen haben, dafür war gesorgt. Denn darum ging es nicht, um Schmerzen. Nicht einmal um Bestrafung. Es ging um anderes, um Größeres: um Regeln, um Grundsätze, um das Leben.
Diese ganze aus den Fugen geratene Ordnung musste wiederhergestellt werden. Und einer musste es tun. Auch wenn es nicht schön war.
Also nicht jammern.
Nicht zögern.
Es musste sein.
Schon wieder abends. Warum konnten Leichen nie am Nachmittag gefunden werden? Zur normalen Arbeitszeit? Aber nein, immer erst um neun Uhr oder besser noch mitten in der Nacht.
Und ausgerechnet heute! Laura hatte Zahnweh, und Tobias schrieb morgen eine Mathearbeit. Übersetzt hieß das: Laura mit Ibuprofen versorgen und Ivo bitten, herüberzukommen und ein Auge auf die beiden vernachlässigten Kinder zu haben, während Mama Ermordete gucken ging. Ivo machte so was. Ivo hatte Zucker zu Hause, wenn ihrer aus war, er hatte Zitronenschale und Maisstärke und immer ein funktionierendes Bügeleisen. Und Ivo sittete Kinder. Außerdem liebten Laura und Tobi ihn. Glück gehabt, wenigstens mit dem Mann von gegenüber.
»Ich bin in zwei Stunden zurück«, sagte Lilly und deckte Laura zum ungefähr zehnten Mal an diesem Abend wieder zu. »Meine arme Süße. Das Zahnweh ist gleich weg, du wirst schon sehen. Und Ivo ist ja hier.«
Es war immer das gleiche Jonglieren. Aber sie wollte es so. Meistens zumindest. Lieber kam sie allein zurecht mit ihren zwei Kindern als mit einem Mann, der sich sowieso nie zuständig fühlte. Heute Abend schon gar nicht. Heute hatte David Konzert. Und danach hatte er eine ruhige Wohnung – ohne Kinder. Eine Wohnung, die er höchstens ab und zu mit irgend so einem pflegeleichten Mäuschen teilte, das er spätestens nach dem Frühstück wieder abservieren konnte. Kinder waren nur noch gelegentlich sein Job, und die Ex-Frau mit ihrer Vollzeitstelle ging ihn gar nichts mehr an. Die böse Ex-Frau, die ihn zum Teufel geschickt hatte.
»Laura nervt«, ließ sich Tobias vernehmen. »Kann die nicht endlich aufhören zu heulen?«
»Laura tut der Zahn weh«, hörte sie Ivo sagen. »Aber jetzt kommt gleich der Zahnmagier und zaubert die Schmerzen weg.«
Lilly hatte schon ihre Jacke angezogen und schnürte sich gerade die Schuhe zu. Matschfeste. Wieder ein Toter auf der Wiese, hatte Martin ihr am Telefon gesagt, wie schon vor drei Tagen. Nur habe er dieses Mal einen anonymen Anruf erhalten. Sie solle doch bitte gleich losfahren, er würde sich auch sofort auf den Weg machen.
»In einer halben Stunde schläft sie!«, rief Lilly Ivo vom Gang aus noch zu. »Ich habe mein Handy dabei, für alle Fälle. Und danke! Ganz, ganz vielen Dank!«
Warum muss Martin ausgerechnet mich anrufen?, dachte sie, während sie den Wagen durch die Dunkelheit lenkte. Eigentlich sollten die Kollegen so einen anonymen Anruf erst einmal überprüfen. Er wusste genau, dass sie zwei kleine Kinder hatte. Betonung auf »klein«.
Hinter ihr hupte es. Richtig, die Ampel war längst wieder auf Grün umgesprungen.
Aber Martin war niemand, der über so etwas lange nachdachte. Wahrscheinlich hatte ihn die Nachricht vom Toten auf der Wiese in einer seiner endlosen Kochaktionen gestört, das Essen war halb fertig, Linda sauer, weil sie jetzt erstens selbst zu Ende kochen und dann auch noch zweitens allein essen musste. Gut. Es war okay, dass Martin sie angerufen hatte. Er hatte es auch nicht leicht. In gewisser Weise. Und sie gehörte nun mal zur Kriminalpolizei.
Sie müssten so schnell wie möglich zum alten Grenzübergang am Dürrnberg fahren, hatte Martin etwas außer Atem erklärt, er habe einen Anruf erhalten: ein Toter auf dem Feld. Genaueres wisse er auch nicht.
Ihr Handy in der Halterung spielte »Westerland« von den Ärzten: »Ich will wieder an die Nordsee …« Ivo hatte vorhin versprochen, sie in zehn Minuten noch mal anzurufen und ihr den aktuellen Stand durchzugeben.
Dem zufolge war Tobias immer noch sauer, und Laura heulte nach wie vor, das Zahnweh war noch nicht besser geworden. Aber Ivo hatte die Situation im Griff, wie er ihr versicherte. »Ich bin ja auch gleich wieder zurück«, sagte sie, aber Ivo lachte und erwiderte, ihr »gleich« kenne er schon.
Tatsächlich. Im Schein ihrer Taschenlampe zeichnete sich etwas auf dem Feld ab. Ein Körper, gut drei Meter von der Straße entfernt. Als sie langsam näher heranging, stellte sie fest, dass er mitten in einer Pfütze lag. Sie hatte es geahnt. Wie die Frau vor drei Tagen, und mit der waren sie bisher noch kaum einen Schritt weitergekommen in ihren Ermittlungen. Lilly ging neben dem Körper in die Hocke. Ein ähnliches Bild wie beim letzten Leichenfund, soweit sie das im Licht der Taschenlampe erkennen konnte: verschlissene Kleidung, die Haare klebten am Kopf, aber bei dem Wetter und bei dem Untergrund, auf dem der Mann lag, hieß zumindest Letzteres nicht viel. Vielleicht auch erwürgt? Wie die Frau. So weit waren sie bei ihr immerhin schon gekommen, Todesursache: Erwürgen. Ansonsten: keine Spuren am Tatort, keine Fasern, keine Fußabdrücke, kein hingeworfener Zigarettenstummel. Nichts. Bisher war die Suche nach einem oder mehreren möglichen Tätern durchweg frustrierend gewesen. Und dieser hier? Es blieb abzuwarten, was der Arzt sagen würde. Arzt, ging es Lilly auf einmal durch den Kopf. Kollegen – oder Menschen ganz allgemein. Außer ihr war schlicht niemand hier. Und erst recht kein Arzt oder gar das Team von der Spurensicherung. Wo zum Teufel …?
In dem Moment tauchten am Ende des Wegs die Scheinwerfer eines Autos auf. Kurz darauf stand Kriminalkommissar Martin Obermüller neben ihr. »Scheißregen«, begrüßte er sie.
Lilly richtete sich auf. »Möglicherweise ist auch er erwürgt worden«, sagte sie und wischte sich eine Locke aus dem Gesicht, »wie die Bettlerin vor drei Tagen. Wo sind eigentlich die anderen?«
»Kommen nicht.«
»Spinnen die?«
Martin schüttelte den Kopf. »Ich habe nur dich informiert.«
»Hä?«
»Und einen Anruf habe ich auch nie erhalten, wenn du verstehst.«
»Spinnst du jetzt völlig?«
»Lilly, hör zu: Der Anruf ging nicht allgemein bei uns in der Polizei ein, sondern auf meinem Handy. Das Ganze klang nach einer computergenerierten Stimme, mechanisch. Und ich weigere mich schlicht, auf irgendwelche Spinner zu reagieren. Es gibt keinen neuen Mord, ergo haben wir auch keinen Fall, alles klar? Ich hab da nämlich so eine Idee.«
Lilly seufzte innerlich. Martin und Ideen. Der Kreativste war er normalerweise nicht. Ein guter Handwerker, arbeitete sauber, präzise. Und ein guter Kollege. Aber dass er vor Einfällen sprühte, hatte sie noch nie erlebt.
Martin trat zu dem Mann in der Pfütze, kam aber offenbar nicht einmal auf die Idee, sich zu ihm hinunterzubeugen und ihn näher in Augenschein zu nehmen.
»Wir haben doch genug zu tun«, meinte er stattdessen. »Ich jedenfalls. Alle naselang verlegt irgendein Kurgast seine Sachen, und wer kann dann die Diebstahlmeldungen bearbeiten? Und dann noch diese Verrückte, die täglich von ihrem Mann vergiftet wird …«
»Meinst du Minna?«, fragte Lilly, und Martin nickte. Minna war »Stammkundin«, und irgendwie mochte Lilly sie sogar. Selbst wenn die ganze Gegend von Berchtesgaden bis Traunstein im Dornröschenschlaf lag, auf Minna war Verlass.
Aber Martin war mit seinem Lamento noch nicht fertig: »… überhaupt diese ganzen ständigen Ermittlungen und der ganze Stress …«, hörte Lilly ihn sagen und fragte sich, was um alles in der Welt er eigentlich unter »Stress« verstand. »Wenn du mich fragst«, Martin unterbrach seine Tirade abrupt und legte eine Pause ein, die vermutlich eindrucksvoll sein sollte, Lilly aber bloß neuen Blödsinn befürchten ließ, »ist das hier nämlich eigentlich Österreich. Also schon fast.«
Na, wer sagte es denn, der nächste Blödsinn! »Malen sie seit Neuestem die Grenze aufs Feld?«, gab Lilly zurück. »Woher willst du wissen, wo in dem Matsch Bayern aufhört und Salzburg anfängt?«
Aber Martin ließ sich nicht beirren. »Ich bin mir so gut wie sicher, dass das Haus da drüben«, er deutete auf einen Bauernhof, in dessen einem Fenster ein schwaches Licht leuchtete, »schon zum Bezirk Hallein gehört.«
»Und deshalb hast du keinen außer mir an…?« Was für ein absurder Plan! Aber andererseits … Lilly ließ den Strahl ihrer Taschenlampe über das Feld schweifen. »Ja, da drüben …«, sagte sie gedehnt.
»Also, da drüben sicher.« Martin klang sehr überzeugt. »Und wenn wir … Ich meine, nur so ein, zwei Meter …«
»Dann lieber gleich drei, um wirklich auf der sicheren Seite zu sein«, spann Lilly die Idee weiter.
»Ich habe wirklich einen Haufen Arbeit mit den Kurgästen, und du bist ja auch nicht gerade unterbeschäftigt, da in Traunstein«, erklärte Martin. Wenn er je Bedenken gehabt hatte, schienen die jetzt endgültig verflogen. »Und dann noch Minna alle paar Wochen. Die da in Salzburg, die haben doch viel mehr Leute.«
Und kein Kind, das morgen zum Zahnarzt muss, ergänzte Lilly in Gedanken. Vielleicht war das alles doch gar nicht so absurd.
»Los!«, hörte sie Martin in ihre Überlegungen hinein sagen. »Der Huber da drüben schafft das schon.« Er reichte ihr ein paar Einweghandschuhe.
Sieh mal an, Martin hatte mitgedacht! »Hmmm.« Aber eigentlich hatte er ja recht. Und Lilly hatte Sigmund Huber, nein, halt, Major Sigmund Huber von der Salzburger Kripo, bei den wenigen Malen, die sie bisher mit ihm zu tun gehabt hatte, ohnehin nicht leiden können. Arroganter, erzkonservativer Sack, für den nur eins schlimmer war als eine Frau bei der Polizei: eine Frau aus Hamburg bei der Bayerischen Polizei. Geschieden, mit zwei kleinen Kindern. Folglich alleinerziehend. Und genau in dieses Super-GAU-Raster fiel Lilly. Außerdem war Huber zugereister Wiener, und den Wiener Dialekt fand sie ziemlich widerlich. Anders als das Bayerisch hier in Reichenhall und Umgebung, das war ja sogar ganz hübsch.
»Wir müssten uns allerdings ein bisschen beeilen«, sagte Martin, »ehe doch noch jemand vorbeikommt.«
»Und du bist sicher, dass man das nicht sieht?« Eine Kriminalkommissarin, die Spuren verwischte, so ganz in Ordnung war das ja nicht. Wobei sie sie eigentlich nicht verwischte, sondern schlicht ruinierte. Und damit die Aufklärung eines Mordes vereitelte. Und ausgerechnet sie war Hauptkommissarin bei der Hamburger Kripo gewesen. Großstadt, nicht bayerische Kleinstadt. War. In einer anderen Zeit. Einer Zeit vor David, vor dem Umzug in den Süden.
»Jetzt pack halt mit an!« Martin hatte sich schon gebückt und griff dem Mann unter die Arme, als Lilly innehielt.
Im Licht ihrer Taschenlampe hatte etwas am Ärmel des Toten aufgeblitzt. Sie bückte sich und nahm das Etwas in die Hand. Ein kleines Medaillon aus Silber, das gleiche wie …
»Mist!«, entfuhr es ihr. »Da geht’s um mehr als einen Nachbarschaftsstreit.« »Revierstreit« wäre wohl passender gewesen, die Kleidung des Mannes war so zerschlissen wie die eines Bettlers. War er jemandem in die Quere gekommen?
Lilly hielt Martin das Medaillon hin. »Bei der Obdachlosen lag doch auch so ein Ding. Bei der aus Salzburg, die auf dem Kapuzinerberg beim Kloster gefunden wurde. Guck mal«, sie drehte die kleine Scheibe so, dass das Licht ihrer Lampe auf eine Gravur am Rand fiel. »Das ist irgendein Zeichen, aber um das Motiv zu erkennen, ist es zu zerkratzt.«
»Das klären die von drüben«, erwiderte Martin und fasste den Mann erneut unter den Armen. »Leg das Ding zurück.«
»Mit meinen Fingerabdrücken drauf? Sonst noch was?« Lilly steckte das Medaillon in ihre Jackentasche. »Das müssen die Salzburger jetzt ohne hinbekommen.« Was sie da tat, war ganz und gar nicht in Ordnung, amtswidrig sogar, wenn man es genau nahm. Doch sie konnte nicht anders, als schadenfroh zu grinsen. »Blöd aber auch für Huber!«
Lauras Zahnweh war dank des Schmerzmittels abgeklungen, sodass sie schlief. Tobi war noch wach, aber um ihren Sohn machte Lilly sich wenig Sorgen, auch nicht, wenn morgen eine Mathearbeit anstand. Sie bot Ivo noch einen Kaffee an, aber der wollte ins Bett. Er müsse am nächsten Morgen um sechs nach München fahren.
»Ach du liebe Güte. Hättest du doch ein Wort gesagt«, meinte Lilly.
»Und?«, erwiderte Ivo und lächelte. »Wen hättest du dann in der Eile aus dem Hut gezaubert?«
Er hatte ja recht. »Dann ein doppeltes Danke für heute Abend.« Lilly umarmte ihn kurz. Nur nicht die eine Sekunde zu lang! Sie war sich nicht sicher, ob Ivo tatsächlich nur aus Hilfsbereitschaft immer wieder einsprang. Seit sie vor zwei Jahren in das Haus gezogen war, war er Single, und sie hatte keine Ahnung, wie freiwillig der Zustand war. Ivo war einer von den Lieben. Sogar von den ganz Lieben. Nur eben nicht mehr.
Lilly konnte nicht schlafen.
Der Tote lag jetzt in Hallein. In Österreich. Allerdings waren die Kollegen drüben nicht bescheuert, schon gar nicht Sigmund Huber. Der konnte sich denken, wer da heute Abend keine Lust gehabt hatte, den zweiten Mörder innerhalb von wenigen Tagen zu ermitteln. Wo sie noch nicht mal den ersten hatten. Denn natürlich wusste er von dem Mord an der Obdachlosen, davon ging Lilly aus, zumal sie bereits Kontakt zu einem seiner Kollegen aufgenommen hatte. Ohnehin, einer wie Huber wusste das. Wahrscheinlich würde er um Punkt neun Uhr morgen früh bei ihr anrufen. »Engelchen, das haben Sie sich aber hübsch ausgedacht.« »Engelchen« war tabu, auch das wusste er. Darum sagte er es ja. Lilly als Vorname war schon eine Zumutung, aber Lilly Engel! Und dazu blonde Locken! Wer sich richtig mit ihr anlegen wollte, sagte: »Lilly, mein blondes Engelchen.« Und Sigmund Scheißmacho wollte sich richtig mit ihr anlegen, garantiert. Alleinerziehende berufstätige Frauen waren für den drei rote Tücher auf einmal. Und Norddeutsche konnte er schon gar nicht ab. Bei ihrem letzten Telefonat vor einem halben Jahr hatte er sich mit Seitenhieben auf die »Piefkes« nicht eben zurückgehalten. Und erst recht mochte er keine Hamburger Kommissarinnen, die nach der verpfuschten Ehe mit einem österreichischen Orchestermusiker die Bayerische Polizei infiltrierten.
Saftsack!
Andererseits, wenn ihr der wirklich draufkam … Ein Disziplinarverfahren war da noch das Harmloseste. Ach was, der konnte das gar nicht herausbekommen. Schließlich hatte irgendjemand den Toten dort auf das Feld gelegt und hätte ihn auch genauso gut zwei Meter weiter deponieren können. Und bis zum Morgen würde der Regen alle Spuren aufgeweicht haben, die vielleicht noch etwas über den ursprünglichen Auffindungsort des Mannes hätten verraten können. Vorausgesetzt, es schöpfte überhaupt jemand Verdacht und suchte danach. Auf dem Feld war der Mann sowieso nicht ermordet worden, davon ging sie aus, so wie er dort gelegen hatte. Jemand hatte ihn umgebracht, dann auf dem Feld entsorgt und schließlich bei Martin angerufen. Mit Sicherheit von einem Prepaid-Handy aus. Der Mann sollte gefunden werden. Damit …? Das Bild des Ermordeten tauchte vor ihr auf. Jung war er gewesen, das hatte sie auch im Licht der Taschenlampe sehen können. Jung und arm. Sehr arm. Wahrscheinlich hatte auch er auf der Straße gelebt. Wie die Frau.
Sie hatte zu den Obdachlosen in Salzburg gehört, die auf dem Kapuzinerberg oberhalb der Altstadt hausten. Auch sie war ermordet worden. Und dann von jemandem nach Bayern verfrachtet worden. Wie Müll, den man entsorgt. Aber warum? Warum hatte man die Frau nicht in Salzburg gelassen? Warum hatte man sie überhaupt umgebracht?
Lilly kannte die alten Wehrtürme und ihre unterkunftslosen Bewohner oberhalb der Salzburger Altstadt zwar nicht, aber hatte ab und zu in der Zeitung von ihnen gelesen. Die Obdachlosen lebten dort wie in einer Parallelgesellschaft. Sie taten niemandem etwas, blieben meist unter sich und störten nicht einmal das adrette Stadtbild. Gut, diese Frau war in gewisser Weise eine Ausnahme gewesen, hatte immer nahe dem Kloster von Sankt Peter herumgelungert. Aber gestört hatte sie anscheinend auch dort niemanden.
Und nun der Mann, eher noch ein Junge. Zehn Jahre älter als Tobias, höchstens. Vielleicht auch nur acht. Lilly sah Tobi vor sich, die braunen Haare, die in alle Richtungen abstanden, wenn er vom Spielen kam, die ewig schmutzigen Hosen, der ernste Ausdruck in seinem Gesicht, wenn er seine Hausaugaben machte. »Stör mich jetzt nicht, Mama«, erklärte er ihr, wenn sie es wagte, währenddessen in sein Zimmer zu kommen. Und der Junge dort auf dem Feld? Abgeschoben von einer alleinerziehenden Polizistin und ihrem Kollegen, der keine Lust auf noch mehr Arbeit hatte. Sollten sich doch andere darum kümmern. Sigmund Huber zum Beispiel.
Immerhin der, dachte Lilly fast ein bisschen erleichtert und drehte sich zum zigsten Mal von der einen auf die andere Seite. Huber war zwar ein blöder Mistkerl, aber wann immer sie mit ihm zu tun gehabt hatte, war er verdammt kompetent aufgetreten. Er würde wissen, wie man in so einem Fall vorgehen musste. Sie hatte Gerüchte gehört, wonach er vorher in Wien ein ziemlich guter Ermittler gewesen war. Eigentlich erstaunlich, dass er dann ins viel unbedeutendere Salzburg gewechselt war. Und ich, nahm sich Lilly vor, als sie merkte, dass sie endlich doch noch müde wurde, ich werde Huber, wenn er mich morgen anruft, meine Mitarbeit anbieten. Grenzüberschreitend sozusagen, blöder Mistkerl hin oder her. Sie war es dem Jungen mit den verklebten Haaren schuldig. Und der unbekannten Frau.
Huber war schlecht gelaunt. Es war nicht so, dass er jeden Tag schlecht gelaunt war – Gott bewahre! Nicht jeden. Aber heute Morgen war er es. Der einzig genießbare Kaffee, den man in diesem Provinznest kaufen konnte, war ihm ausgegangen, die Butter war tiefgefroren, und beim Bäcker direkt um die Ecke hatte heute früh ein großes Schild »Wir sind im Urlaub« im Fenster geklebt. Als wäre ihnen das erst gestern Abend plötzlich eingefallen. So etwas musste man doch ankündigen! Und diese Lilly Engel konnte sich auch auf etwas gefasst machen. Er zückte sein Handy und wählte ihre Nummer: »Haserl Reichenhall«. Blick auf die Zeit oben rechts im Display: Es war fünf Uhr siebenunddreißig.
Zumindest gab es Tankstellen in dieser Kleinstadt, und die hatten um die Zeit sogar schon geöffnet. Service auf Provinziell sozusagen. Nun gut, das Kaffeeproblem war wenigstens halbwegs gelöst.
»Hallo?«
»Grüß Gott, Frau Hallo, hier Huber. Jetzt raten S’ einmal, wo ich gerade stehe.« Im Tankstellenshop an einem immerhin leidlich sauberen Stehtisch. Aber das musste sie ja nicht wissen.
»Wer ist da?«
»Hier spricht Sigmund Huber! Sind wir noch ein bisserl müde von gestern Abend, hm?«
Zum Teufel! Musste die Verkäuferin ausgerechnet jetzt ihren dummen Kaffeeautomaten einschalten? Aber Lilly Engel schien den Krach überhaupt nicht zu bemerken. Stattdessen kam nur ein lahmes »Was?« durch den Telefonhörer. Gut für ihn.
»Machen Sie sich erst einmal einen Kaffee, Engelchen. Ich rufe in«, Blick aufs Display: fünf Uhr achtunddreißig, »zweiundzwanzig Minuten noch einmal an.« Bis dahin dürfte er es auch auf den Dürrnberg geschafft haben.
»Was?«
Er legte auf. Wie konnte man nur so auf der Leitung stehen? Nur weil es vielleicht ein kleines bisschen früh war. Okay, Lilly Engel war hübsch und ehrlich gesagt auch alles andere als dumm, soweit er das von seinen bisherigen Begegnungen mit ihr sagen konnte. Aber das von gestern Abend ging gar nicht! Die Leiche war jetzt garantiert völlig verdreht. Um das zu wissen, musste er sich nicht einmal am Tatort umschauen. Wo hatte sie früher noch mal gearbeitet? Bei der Kripo in Hamburg? So viel Dilettantismus hätte er nicht mal den Norddeutschen zugetraut.
Überhaupt, von der Kripo Hamburg zur Kripo Traunstein – das war zwar geografisch-landschaftlich ein Aufstieg, aber von einer Millionenstadt in die Provinz …? Soweit es ihm der Tratsch zugetragen hatte, war sie wegen eines Mannes hierhergekommen. Und inzwischen auch schon wieder geschieden. Na ja, es war ja nicht sein Problem, wenn Frau Ich-brauche-keinen-Mann aus der Großstadt in die Pampa zog. Er trank seinen Espresso aus und machte sich auf den Weg zum Auto.
Immer noch dieser Regen. Nasse Tatorte waren lästig. Überhaupt war das Ganze hier höchst lästig. Kein ordentlicher Kaffee, dafür ein Mordopfer. Das zweite innerhalb kurzer Zeit, wenn er richtig informiert war. Das erste hatte er bisher großzügig den bayerischen Kollegen überlassen, dort war die Frau schließlich gefunden worden. Nun also noch ein Toter, und dieses Mal hatte die Kollegin von drüben offenbar keine Lust, sich noch mehr zwischen Ermittlungen und Legoburgen zu zerteilen. Er lenkte den Wagen über die Bundesstraße in Richtung Hallein.
Die Kinder blieben meistens auf der Strecke, bei Ehedramen im Allgemeinen und bei Alleinerzieherinnen erst recht. Er dachte an seine eigene Mutter. Und an seine älteste Schwester. Gerade fünfzehn war Sophie gewesen, als sie ihm und ihren zwei kleineren Schwestern das Frühstück hatte machen müssen. Jeden Morgen stand sie dafür um sechs Uhr auf. Und warum? Weil seine Mutter in ihr Allerheiligstes ging. Als Sozialarbeiterin in den Kinderhort. Nun ja, wenigstens die Kinder dort waren betreut worden.
Andererseits, was hatte sie denn für eine Wahl gehabt? Und er und seine Schwestern hatten das doch hinbekommen, hatten es sogar gut gehabt. Besser als die Kinder aus den »bildungsfernen Schichten«, deren Rotznasen ihre Mutter jeden Tag geputzt hatte, weil das bei denen zu Hause keiner schaffte. Bildungsfern … so konnte man das natürlich auch nennen.
Er wollte lieber gar nicht wissen, wie viel diese Karriere-Kommissarin ihren Kindern wegnahm durch ihre idiotische Vorstellung von Selbstverwirklichung. Warum blieben Frauen heute nicht einfach bei den Männern, mit denen sie Kinder gezeugt hatten? Wieder dachte er an seine Mutter. Die war nicht groß gefragt worden. Sein Vater hatte nämlich eines Tages erkannt, dass eine jüngere Frau deutliche Vorzüge bot. Zuzüglich zu Jugend und Kleidergröße sechsunddreißig waren da noch eine perfekt designte Wohnung in einer der angesagtesten Lagen Wiens gewesen. Und keine vier dauerquengelnden Kinder. Vor allem die nicht. Leicht hatte es seine Mutter nicht gehabt.
Er bog ab Richtung Dürrnberg. Lilly Engel und ihr Ex? Hatten die denn überhaupt kein Verantwortungsgefühl? Wenn er selbst Kinder hätte … Aber er hatte ja keine. Keine Kinder, keine Frau. Höchstens den einen oder anderen One-Night-Stand. Lausig irgendwie. Nicht das Richtige. Um das Frauenproblem müsste er sich auch dringend kümmern. Wenn er mal dazu käme, wenn die ihm nicht dauernd irgendwelche Leichen auf die Wiese legen würden.
Huber blickte über das Feld. Wie er vermutet hatte: Das hatten Obermüller und Engel garantiert nach Augenmaß erledigt. Dilettantisch eben! Und das in Zeiten von GPS. Wie rückständig waren die eigentlich in ihrem netten kleinen Kurort?
Er hockte sich noch einmal hin, betrachtete den Toten genau von allen Seiten. Dann kontrollierte er die Zeit: sechs Uhr. Die zweiundzwanzig Minuten waren um. Sicherheitshalber ging er ein paar Meter weg von der Leiche und den Kriminaltechnikern, die damit beschäftigt waren, den Ort auf Spuren zu untersuchen, und tat so, als hinge er wichtigen Überlegungen nach. Das folgende Gespräch brauchten die Kollegen nicht unbedingt mitzuhören.
»Hallo?« Das war wieder ihre Stimme, dieses Mal ein bisschen ausgeschlafener.
»Sind Sie jetzt wach?«
»Sagen Sie mal, Huber, spinnen Sie?«
»Engelchen, ich sag einmal so: Spinnen Sie? Und zwar komplett?«
»Was?«
»Die Leiche liegt genau auf der Grenze, Sie Supertalent!«
»Ich ruf gleich zurück.«
Sie hatte aufgelegt. Sie hatte aufgelegt! Unfassbar. Huber blickte auf seine rechte Armbanduhr. Von jetzt an hatte sie noch maximal dreiundfünfzig Sekunden. Dann würde er das mit Obermüller klären. Lilly Engel war zwar unzweifelhaft die Fähigere von den beiden, aber wenn sie sich weiterhin so idiotisch aufführte, hatte er keine Wahl.
Genau dreiundzwanzig Sekunden später spielte sein Handy »Hamburg, meine Perle«, nicht jedermanns Sache, das Lied, aber so wusste er wenigstens, ohne hinzusehen, wer anrief. Engel hatte sich ja schnell wieder gefasst.
»Na, haben wir den Schock überstanden, Goldlöckchen?«
»Wo sind Sie eigentlich, Huber?«
Treffer! »Goldlöckchen« war genial, sie klang inzwischen richtig wütend.
»Überspringen wir diesen Teil. Wo zum Geier ist das Medaillon?«
Das war jetzt gut! Eins zu null für ihn. Ihr Schweigen sprach für blankes Entsetzen.
»Lilly, noch da?«
»Ich … Wir …«
»Sie und Obermüller wollten uns gestern die Leiche in unser Gebiet legen, richtig? Und beim Schleppen hat einer von Ihnen dem Toten ein Medaillon abgenommen.«
»Woher …?«
»Weil ich ihn vorher selbst zu euch rübergelegt habe, darum! Und weil da das Medaillon noch an seinem Platz war!«
»Aber sicher wirst du mit Laura zum Zahnarzt gehen«, erklärte Lilly David am Telefon. »Sie hat seit gestern Abend Schmerzen, und der Zahnarzt muss sich das anschauen.« Und ich muss diesen Mist mit Huber ausbügeln, dachte sie. Spätestens seit seinem Anruf vorhin war ihr klar, dass sie selbst heute Morgen anderes zu tun hatte, als sich mit ihrer Tochter in eine Zahnarztpraxis zu setzen und zu warten, bis sie dazwischengeschoben wurden.
»Hör mal, Lilly …« David seufzte vernehmbar, sodass sie durchs Telefon den abschätzigen Blick sehen konnte, mit dem ihr Ex-Mann ihr immer wieder das Gefühl gab, einer der dämlichsten Menschen zu sein, die ihm je untergekommen waren. »Dir ist das vielleicht nicht so ganz klar, aber ich habe heute Morgen Probe. Orchesterprobe, verstehst du? Mit anderen Worten: keine Zeit.«
»Zum Vögeln hattest du damals auch Zeit«, gab sie zurück und sah sich um. Tobias und Laura waren beide nicht zu sehen, zum Glück. »Und ruf sicherheitshalber vorher in der Praxis an, ich glaube, montags ist immer nur bis mittags jemand da. Und klär auch bitte noch mal, ob die deutsche Chipkarte bei euch geht.«
»Ich werde keineswegs heute mit Laura …«
Aber Lilly hörte sich das nicht mehr an. »Mach’s gut.«
Eine Dreiviertelstunde später parkte sie ihr Auto auf dem gebührenpflichtigen Parkplatz in der Nähe des Orchesterhauses in Salzburg. »Beeil dich!«, rief sie Laura zu.
Mit der Kindergartentasche ihrer Tochter in der einen und Laura an der anderen Hand ging sie auf den verglasten Eingang des Gebäudes zu. Natürlich war es nicht richtig, die arme Laura wie einen Ball zwischen Mama und Papa hin- und herzuwerfen. Andererseits, warum hatte immer nur sie ein schlechtes Gewissen? David kannte solche Gefühle nicht, die Arbeit ging für ihn vor. Grundsätzlich.
Wenn sie ehrlich war, brachte ihr die ganze Aktion hier überhaupt keinen Zeitgewinn, wahrscheinlich brauchte sie länger für die Hin- und Rückfahrt, als sie mit Laura im Wartezimmer eines Zahnarztes in Reichenhall gesessen hätte. Aber es ging schließlich ums Prinzip. Außerdem konnte sich jetzt David Gedanken darüber machen, wie er mit Laura den restlichen Tag verbringen würde, sollte sie nachher nicht in den Kindergarten gehen können. Und wenn sie konnte, dann würde er sie nach Reichenhall zurückfahren. Auch nicht schlecht. Lilly grinste.
Die Musiker waren noch beim Stimmen, das hörte sie schon durch die geschlossene Tür des Probenraums. Hoffentlich war David überhaupt schon da. Aber die Sorge war unbegründet, dahinten stand er.
»Lauf zu Papa«, forderte sie Laura auf und umarmte sie zum Abschied fest. »Und gib ihm den hier«, sie drückte ihrer Tochter einen Zettel in die Hand. »Ruf mich bitte an«, stand dort, »und sag mir, was der Zahnarzt gemacht hat. Wenn Laura mag, kann sie nachher in den Kindergarten gehen, falls nicht, hole ich sie am Abend bei dir ab.«
Das war zwar nicht ganz das, was sie sich unter einem kultivierten Umgang mit dem Vater ihrer Kinder vorstellte, aber anders verstand er es einfach nicht.
Sie fuhr die Nonntaler Hauptstraße bis kurz vor der Kreuzung zur Alpenstraße und bog dann in die Seitenstraße zum Unipark ab. Nicht der ideale Platz zum Halten, wahrscheinlich sogar Halteverbot, aber irgendwo musste sie schließlich stehen bleiben. Sie ließ ihren Kopf auf das Lenkrad sinken und vergrub ihn in den Armen. Sie war so schrecklich müde.
Was jetzt? Eigentlich sollte sie bei Huber vorbeifahren, wo sie schon in der Stadt war. Aber ihr war einfach nicht danach, mit ihm sofort in die zweite Runde zu gehen. Vermeiden ließ sich die nicht, wahrscheinlich auch nicht die dritte bis zehnte, aber bitte nicht jetzt sofort. Warum bloß musste sich David immer bei allem querstellen? Und warum hatte sie jetzt auch noch Huber am Hals? Sie entschied sich, erst einmal Martin anzurufen.
»Huber vermisst das Medaillon«, sagte sie statt einer Begrüßung.
»Hä?«
Kein Hä, dachte Lilly, sei froh, dass ich dich nicht gleich um sechs angerufen habe.
»Wo steckst du, Lilly? Dein Telefon hier im Büro klingelt schon seit Stunden. Das stört total.«
Der hatte Nerven. »Dann leg den Hörer daneben. Unser lieber Kollege Huber von der anderen Seite der Grenze hatte den Jungen bereits zu uns gelegt, bevor wir ihn wieder zurückgeschleppt haben. Verstehst du?«
»Nicht dumm«, sagte Martin anerkennend.
Das war eigentlich nicht der Zeitpunkt, um Sigmund Huber größere Bewunderung entgegenzubringen, aber irgendwie hatte Martin sogar recht. »Stimmt. Er hat uns jetzt nämlich wegen des dämlichen Medaillons in der Hand und kann selbst weiter Kaffee trinken und ›Moorhuhnjagd‹ spielen«, stellte sie fest.
»›Moorhuhnjagd‹ spielt heute keine Sau mehr.«
»Martin!«
Sie hörte ein langes, tiefes Seufzen. »Ich ruf ihn an, in Ordnung.«
Es dauerte genau drei Minuten, dann klingelte Lillys Handy. Anton Karas’ Zitherspiel aus dem »Dritten Mann«, Hubers Klingelton. Verdammt!
»Engelchen, schaun S’, ich will Sie. Wenn schon Bayern, dann Sie. Der Obermüller ist so eine Pfeife.«
»Ich werde es ihm ausrichten«, gab sie matt zurück.
»Nicht nötig, ich hab’s ihm schon selber gesagt.«
Und zwar wortwörtlich, vermutete Lilly. Huber war nicht gerade bekannt für den viel gerühmten Wiener Charme.
»Sie kennen mich doch, Mauserl.«
»Mauserl« war definitiv zu viel. Und genau deshalb sagte Lilly betont freundlich: »Hören Sie jetzt gut zu, Herr Major Huber: Wenn ich auch nur eine einzige Sekunde mit Ihnen kooperieren soll, dann lassen Sie ab jetzt sämtliche Mauserls, Engelchen und dergleichen weg. Klar so weit?«
»Klar, Goldlöckchen.« Er imitierte ihr Hochdeutsch, allerdings klang es bei ihm, als salutierte er.
Mistkerl! Zum zweiten Mal innerhalb weniger Sekunden holte Lilly sehr tief Luft. »Jetzt noch mal ganz von vorne, Sigi. Sie können uns nicht einfach Ihre Fälle über die Grenze schieben, nur weil Sie lieber in der Nase bohren, statt zu arbeiten. Das war Ihr Toter, und das ist jetzt wieder Ihrer.«
»Ich habe kein Beweisstück unterschlagen«, gab Sigmund Huber seelenruhig zurück.
»Und wem wollen Sie von dem Medaillon erzählen? Sie wissen doch gar nichts davon. Offiziell zumindest.«
»Treffer!« Er schien sich fast zu freuen. »Schaun S’, genau deshalb will ich Sie. Obermüller hat mit Amtsvorschriften und zwischenstaatlicher Kooperation unter Berücksichtigung von Paragraf soundso argumentiert. Himmel, wie mich der Mann anstrengt. Aber egal. Zwei Menschen sind ermordet worden! Sie würden zwar Ihrer weiblichen Aufgabe viel eher nachkommen, wenn Sie sich um Ihre beiden Kinder kümmerten, aber nun haben Sie sich einmal für den falschen Weg entschieden, dann können wir genauso gut auch zusammenarbeiten. So ein bisserl Verstand haben S’ ja schließlich. Was meinen Sie dazu?«
Wichser, meinte Lilly dazu. Chauvinistischer Wichser. Aber das sagte sie besser nicht, Huber war im Moment in der souveräneren Position. »Ich teile zwar Ihre Vorstellungen von der Aufgabenverteilung der Geschlechter in unserer Gesellschaft nicht ganz, lieber Herr Major, aber wahrscheinlich sollten wir Privates und Berufliches trennen und uns zu einem Gespräch treffen. Haben Sie den jungen Mann eigentlich wieder zu uns zurückgelegt?«
»Ich habe eine Obduktion eingeleitet. Wie man das in solchen Fällen im Allgemeinen macht. Die ersten Ergebnisse werden uns heute am frühen Nachmittag vorliegen. Und sagen Sie nicht, dass Sie da eines Ihrer Blagen zum Koreanischkurs für Dreijährige kutschieren müssen. Wobei«, er lachte leise, und wenn es nicht Sigmund Huber und nicht in diesem Zusammenhang gewesen wäre, dann hätte Lilly das Lachen richtig sympathisch gefunden, »es in Ihrem Kurkaff mit Koreanisch ohnehin schlecht ausschauen dürfte.« Noch mal das Lachen, bevor er wieder zu seinem alten Ton zurückkehrte. »Wie auch immer. Punkt vier bei mir im Büro. Punkt!«
»Schauen wir mal«, gab sie zurück.
Huber gab einen seiner Lieblingssprüche zum Besten: »Wer vor drei Minuten aufgehängt wurde, der ist jetzt schon tot.«
War doch wahr. Es war sechzehn Uhr drei, und Engel hatte erst jetzt sein Büro betreten. Typisch deutsche Arroganz. Setzte sich wieder einmal über alle Regeln des guten Benehmens hinweg. Aber ganz schön sexy war sie, diese Lilly Engel, das stellte er jedes Mal aufs Neue fest. Allerdings völlig unpassend gekleidet, schließlich war sie im Dienst. Der Minirock war geradezu nuttig kurz. Und das Top mindestens eine Nummer zu eng. Das ging nicht. Sie war doch eine Mutter!
»Huber, Sie nerven.«
»Es waren Nutten.«
»Was?«
Scheiße! »Ketten! Ich meine, es waren Ketten!«
»Sind Sie jetzt übergeschnappt?«
Aus dieser Situation musste er schnell wieder herauskommen. Dringend! Huber atmete durch, so als wäre Engel begriffsstutzig.
»Das Opfer wurde mit Ketten erdrosselt, unter die ein Tuch oder etwas anderes Weiches gelegt wurde. Vielleicht war es auch Draht statt Ketten. Oder nur eine Kette. Die Spuren am Hals sind nicht eindeutig. Sie sind abgemildert. Wegen des Tuchs. Aber das ist auch gar nicht entscheidend, ob Draht oder Ketten, Frau Kollegin. Oder auch nur eine Kette. Da brauchen wir nicht gleich die Sophistin zu spielen, gell? Draht oder Kette oder gar Ketten – was soll denn bitte die Haarspalterei?«
»Guten Tag, lieber Herr Huber, es freut mich auch, Sie mal wiederzusehen.« Sie schüttelte den Kopf.
Gut. Hauptsache, er hatte seine prekäre Lage überspielen können. Sie hatte wohl nichts gemerkt von seinem Freudschen Versprecher. Gottlob.
Sie ließ ihre Handtasche auf seinen Schreibtisch fallen. Dem Geräusch nach war die Tasche ziemlich voll. »Tasche« war ohnehin kaum der richtige Ausdruck für dieses Ungetüm. »Beutel« traf es besser. Und am besten: »überdimensionaler Lederbeutel mit Klimperbändchen am Rand«.
»Und ja, ich nehme gern einen Kaffee.« Sie lächelte zuckersüß.
Er konnte sich nicht erinnern, ihr einen angeboten zu haben. Den konnte sie sich mal abschminken, zumindest vorerst. »Der Obduktionsbericht liegt seit«, er blickte auf seine linke Armbanduhr und lächelte, »genau zwei Stunden auf meinem Schreibtisch.«
Sie zog sich seinen Besucherstuhl heran, setzte sich unaufgefordert und schlug die Beine übereinander. Und wo sollte er jetzt hinschauen, verfluchter Mist?
»Kriegt man nicht eigentlich eine Macke mit zwei Armbanduhren?«
»Präzision im Leben entspricht Präzision im Denken.«
»Sie spinnen komplett, Huber. Und Ihr Geschlechterverständnis ist das eines Höhlenmenschen. Aber ermitteln können Sie ja angeblich ganz gut.«
»Danke.«
Engel seufzte. »Das Opfer wurde also erwürgt.«
»Nein. Erdrosselt. Der präzise Terminus ist ›erdrosselt‹. Mit Ketten. Äh. Oder Draht. Oder so.« Er reichte ihr den Bericht von seinem Schreibtisch.
Sie überflog ihn. Beim Lesen murmelte sie leise vor sich hin und betonte dabei die entscheidenden Abschnitte, wie er anerkennend feststellte: »… obere Hörner des Schilddrüsenknorpels gebrochen, ebenso die Hörner des kleinen Zungenbeins unter dem Kiefer …« Dann ließ sie das Papier sinken. »Scheiße. Genau wie bei der Obdachlosen.«
»In der Tat. Und die ist eindeutig Ihre. Gefunden auf bayerischem Boden.«
»Und wo hat sie gelebt?«, fragte Engel zurück. »Der Kapuzinerberg gehört ganz eindeutig nicht zum bayerischen Hoheitsgebiet, sondern zur Stadt Salzburg. Überhaupt«, sie fixierte ihn mit ihren viel zu dunkel geschminkten Augen, »würde ich mich nicht wundern, wenn Sie schon bei diesem Auffindungsort ein bisschen nachgeholfen hätten.«
Der Schluss war nicht dumm, das musste er zugeben. Trotzdem irrte sie sich dieses Mal. Um ihr das zu zeigen, erwiderte er ihren Blick und zog sogar die Augenbrauen etwas nach oben. Genau das entscheidende bisschen, er hatte die Mimik früher stundenlang vorm Spiegel geübt. »Schießen wir da nicht gerade ein bisserl übers Ziel hinaus, liebe Frau Kollegin?«
Leider blieb sie völlig unbeeindruckt. »Möglich. Aber die zweite Leiche, unser junger Mann, lag definitiv auf Ihrem Gebiet. Ursprünglich.«
Er winkte ab. »Das waren laut GPS nur drei Meter.«
»Sie nehmen es doch sonst immer so genau.«
»Wahrscheinlich waren die Täter genau solche Amateure wie Sie und Obermüller. Die haben sich beim Ablegen einfach vertan. Ihr Fall. Kraft Sachzusammenhangs.«
Engel schlug mit ihrer Hand so fest auf die Platte seines Schreibtisches, dass ihr Armband klirrte. »Jetzt lassen Sie das, Huber! Sie haben doch selbst gesagt, dass wir zusammenarbeiten sollen.«
»Gut.« Kunstpause, nicht zu lang, aber auch nicht zu kurz, das war wichtig für die Wirkung. »Dann sagen Sie mir doch zuerst einmal, was Sie über das Medaillon herausgefunden haben. Wurde bei der Sandlerin etwa auch so eins wie bei unserem Mann von gestern Nacht gefunden?«
In Deutschland sagte man »Penner«, das wusste er. Aber hier war Salzburg, mal schauen, wie viel Sprachverständnis sie aus ihrer Ehe mitgenommen hatte.
Die dialektalen Eigenheiten schienen ihr keine Probleme zu bereiten. Etwas anderes offenbar schon, wie er schadenfroh feststellte. Denn sie spielte verlegen mit ihren Locken. Das sah zwar niedlich aus, passte aber nicht hierher. Sie waren schließlich nicht im Café Bazar, sondern in seinem Büro. Er ließ ihr ein bisschen Zeit und schaute ihr zu, wie sie die Haare zwischen ihren Fingern zwirbelte. Einmal, zweimal.
Dann sagte sie schließlich unüberhörbar verlegen: »Bei der Obdachlosen lag auch so eins.«
Er schenkte sich das »Na also« und fragte stattdessen: »Und, was ist darauf zu sehen?«
»Das konnten wir noch nicht genau herausfinden. Auch nicht, ob Fingerabdrücke drauf sind. Die Leute bei der KTU sind gerade hoffnungslos unterbesetzt, alle krank oder im Urlaub.«
Ha! Das konnte doch wohl nicht wahr sein. »Im Urlaub … Wie geht Ihr Bayern denn bitte mit einem Mordfall um? Oder, nein, Sie sind ja aus … sozusagen ein zugereister Eskimo.« Er lachte. »Macht man das bei euch so, erst mal schauen, bis das Packeis abgetaut ist, bevor ermittelt wird?«
Der »Eskimo« war ein Treffer gewesen. Sie biss sich auf die Lippe. Aber sie ging nicht darauf ein. Schade eigentlich, diese Norddeutschen hatten wirklich gar keinen Humor.
Engel nahm ihre Handtasche vom Tisch. »Das von gestern Abend, also, das Medaillon … Ich habe das noch in … Warten Sie.« Sie zog es aus ihrem überdimensionalen Lederbeutel und hielt es ins Licht. »Viel erkennt man allerdings nicht. Ein paar Kratzer, Striche ganz links … Hm.«
Er seufzte. Ein paar Kratzer, Striche und »hm«. Und wahrscheinlich auch noch ihre Fingerabdrücke. »Widmen wir uns also zuerst dem ›Hm‹«, stichelte er. »Vielleicht verbirgt sich dahinter ja die berühmte intuitiv-weibliche Herangehensweise.«
Er fing ihren Blick auf: böse, um nicht zu sagen: aufs Äußerste erbost.
»Ich halte mich bei Ermittlungen gerne an die Fakten. Versuchen Sie es mit einer Wahrsagerin, wenn Sie mehr wissen wollen, mit solchen Fähigkeiten kann ich in der Tat nicht dienen.«
Das klang jetzt wirklich nicht mehr freundlich. Ganz und gar nicht mehr. Im Gegenteil, eher nach Alarmstufe drei. Außerdem hatte sie diesen Sophie-Blick aufgesetzt. Als er sich einmal, mit fünfzehn, geweigert hatte, die Wohnung zu saugen, obwohl seine ältere Schwester Sophie ihn dazu angewiesen hatte, war sie am nächsten Tag mitten in seinen Unterricht geplatzt. »Ich will gar nicht lange stören, aber der Sigi hat seine Jause zu Hause liegen lassen«, hatte sie gesagt und dabei ganz liebreizend gelächelt. Und um die Rufschädigung komplett zu machen, hatte sie ihm die pinkfarbene Brotdose seiner jüngeren Schwester Claudia gereicht. Seit diesem Vormittag hatte ein ganz bestimmter Blick von Sophie genügt, und er hatte klaglos getan, worum sie ihn bat.
Außerdem half es nun mal nichts, die erste Ermordete war in Bayern gefunden worden, aber auf dem Kapuzinerberg in Salzburg »zu Hause« gewesen. Oder wie man einen alten, halb verfallenen Wehrturm am Berg sonst nennen wollte. Und der zweite Tote war ohnehin auf österreichischem Gebiet gelegen. Ursprünglich zumindest. Ermitteln ohne Lilly Engel, weil die eingeschnappt war, konnte in diesem Fall heißen: ermitteln mit Martin Obermüller. Und dann konnte er sich gleich allein an die Arbeit machen. Zeit also für ein bisschen Schönwetter.
»Gut, Frau Engel, wir machen das gemeinsam, wie Sie wollen.«
»Wieso ich?«, hakte sie nach. Doch er ging gar nicht darauf ein.
»Aber so unbürokratisch wie möglich. In dieser Gegend geschehen Morde, und wir werden sie aufklären. In österreichisch-«, er hüstelte, »pseudobayerischer Zusammenarbeit.«
Er streckte ihr die Hand entgegen, und sie schlug nach einem angemessen zickigen Zögern ein. Wieder klimperte ihr Armband.
»Aber wie unter zivilisierten Menschen, Huber. Wenn Sie Ihr Ego aufpolieren wollen, gehen Sie mit ein paar Ihrer Jungs vom Kommissariat zum Paintball. Zwischen uns läuft das auf gleicher Ebene.«
Huber grinste.
»Und kann ich jetzt vielleicht doch endlich einen Kaffee haben? Ich bin nämlich entgegen allem, was Sie heute früh von mir gedacht haben, bereits seit fünf Uhr wach und muss meine Tochter um halb sechs bei meinem Ex abholen. Der spielt heute Abend ein Konzert im Mozarteum.« Sie unterdrückte ein Gähnen. »Laura hatte vergangene Nacht Zahnschmerzen, und ich weiß nicht, ob sie mich heute Nacht schlafen lässt. Ich habe noch nicht mal eine Ahnung, was der Zahnarzt gemacht hat, mein reizender Ex-Ehemann war nämlich mit ihr dort, und das Einzige, was er mir bisher mitgeteilt hat, ist, dass ich sie um halb sechs bei ihm abholen soll. Per WhatsApp!«
Richtig so, fand Huber. Garantiert hatte sie ihren Ex-Mann dazu verdonnert. Freiwillig setzte sich doch kein normaler berufstätiger Mann mit einem Kind in die Zahnarztpraxis. Er selbst hätte auch nur eine Nachricht geschickt.
Meine Güte, dachte Lilly, während sie zuschaute, wie Huber mit der Kaffeemaschine herumhantierte, es war eine alte mit Filtertüten. Tweedsakko, Einstecktuch, Markenschuhe und dann dermaßen unrasiert. Das war schon kein Dreitagebart mehr, das war einfach nur Verweigerung. Dabei war er gar nicht mal hässlich. Nicht direkt ihr Typ, aber doch, er könnte durchaus markttauglich sein, ziemlich sogar.
Sie stand auf und wollte zwei Tassen aus dem Regal nehmen. Ein Fach tiefer wäre praktischer für sie gewesen. »Wo haben Sie die Milch?«
»Bitte bleiben Sie sitzen, Gnädigste.«
Wie schaffte er es nur, den Satz gleichzeitig so charmant und so herablassend zu sagen?
»Sie sind mein Gast. Und ich denke, in puncto Kaffee siedeln wir die Kompetenz unseres Teams besser in Österreich an. Entspannen Sie sich. Ist gleich fertig.«
Alles klar. Übersetzt hieß das: Finger weg von meinen Sachen! Sie setzte sich wieder, nahm das Medaillon, das vor ihr auf dem Tisch lag, und hielt es so, dass das Licht genau auf die Fläche fiel. »Mit ein bisschen Phantasie könnte das links am Rand ein Symbol sein. Oder ein Buchstabe. Ist Ihnen das auch schon aufgefallen?«
»Meine Liebe, man schüttet einen Kaffee nicht mal so eben zwischendurch in sich hinein, das müsst ihr Deutschen erst noch lernen.«
Er stellte eine Tasse erstaunlich formvollendet vor ihr auf den Tisch. War er im ersten Leben Kellner gewesen? Lilly verkniff sich ein Grinsen.
»Bitte sehr! Frisch geröstet und vor drei Stunden ebenso frisch gemahlen.« Kein Wort über das Medaillon.
Tatsächlich, der Kaffee war perfekt. Beeindruckend, wie er den hinkriegte. Vielleicht schlummerte in dem Mann ja sogar ein Sinn für Genuss. Oder sogar etwas Fürsorge. Aber egal, wegen seines genialen Kaffees war sie schließlich nicht hier. »Noch mal zu den Buchstaben auf dem Dingsda … dem Medaillon«, begann sie, aber der Blick, den er ihr zuwarf, ließ sie verstummen.
»Die Bohnen stammen aus dem äthiopischen Hochland, bester Arabica. Ich war einmal da und habe mir einige Plantagen angesehen. Faszinierend, diese Plateaus …«
Huber trank langsam, setzte die Tasse zwischendurch ab und erzählte weiter von einer Kaffeeplantage, die ihn im Augenblick anscheinend weit mehr zu interessieren schien als die zwei Mordopfer der vergangenen Tage. Der Vortrag dauerte einige Minuten und wäre sogar spannend gewesen, wenn er Lilly nicht so irritiert hätte. Zwei erdrosselte Obdachlose und Fairtrade-Kaffee aus Bioanbau, was für eine Kombination.
Dann war Hubers Tasse leer. Und wie es aussah, er jetzt auch wieder bereit, sich mit dem eigentlichen Anlass ihres Besuchs zu beschäftigen, denn er beugte sich zum Schreibtisch vor und holte eine Lupe aus einer Schublade. »Ein Symbol oder ein Buchstabe am Rand des Medaillons, meinen Sie?« Er bedeutete ihr, das kleine ovale Schmuckstück auf den Tisch zu legen, und hielt die Lupe so, dass sie beide etwas sehen konnten.
»Der Kaffee war übrigens super«, sagte sie. Schließlich war es das erste Anzeichen von Kultur, das sie an diesem Mann bemerkt hatte.
»Super …«, wiederholte er gedehnt. »Danke.« Und wandte seinen Blick wieder dem Fundstück vom Tatort zu. »An ein Symbol habe ich auch schon gedacht. Vielleicht eine Rune.« Er stand auf und zog ein paar Blätter Papier aus der Schublade, unverkennbar ein ausgedruckter Wikipedia-Artikel. »Das ältere Futhark. Das Runenalphabet«, erklärte er und deutete auf ein Bild. »Ich habe mich gestern Nacht damit beschäftigt.«
Lilly war überrascht. »Und ich dachte, Sie hätten gestern Abend beschlossen, dass das unsere Leiche sei.«
»Deshalb kann man doch trotzdem noch ein Handyfoto vom Medaillon machen.«
»Für den Fall, dass wir Ihnen den Toten zurückgeben?«
»Für den Fall, dass Sie und Ihre Kollegen hoffnungslos überfordert sind.«
Lilly fragte sich, ob ihm klar war, was er ihr da innerhalb von kurzer Zeit schon an beruflicher Unfähigkeit an den Kopf geworfen hatte, verbiss sich aber jeden Kommentar. Wenn das hier abgeschlossen war, würde sie sich irgendwohin versetzen lassen, egal, wohin, nur weit genug weg von jeder Aussicht darauf, noch einmal mit ihm ermitteln zu müssen.
Aber er hielt sein Verhalten anscheinend für völlig normal. Er fuhr mit dem Finger am Ausdruck hinunter und stoppte schließlich bei einem der Zeichen. »Das hier könnte es sein, die Rune heißt ›Wunjo‹ und wird mit ›Wonne‹ übersetzt.«
Immerhin, eine Idee statt einer neuen Beleidigung. Fast schon ein Fortschritt. Lilly betrachtete das Blatt. »Oder die hier, die erste«, meinte sie dann. »›Fehu‹ für ›Vieh‹«, las sie und sah ihren Kollegen ratlos an.
Der schüttelte ähnlich ratlos den Kopf. »Es gibt noch ein weiteres Runenalphabet. Das ist das ältere. Und das hier«, er legte den ersten Zettel zur Seite, sodass darunter ein zweiter mit einer ähnlichen Zeichenreihe zum Vorschein kam, »ist das jüngere.« Wieder zeigte er auf eines der Bilder: »Das hier wäre eine k- oder g-Rune. Und die hier«, sein Finger glitt ein wenig zur Seite, »die a-Rune. Wenn es diese hier sein soll, würde bei unserem Bild allerdings ein kleines Stückchen fehlen.«
Vier Runen oder eigentlich nur drei … Schlau wurde Lilly daraus nicht. Außer vielleicht