Thomas Hesse, Jahrgang 1953, lebt in Wesel, ist gelernter Germanist, Kommunikationsberater und Journalist. Er war bis Ende 2014 in leitender Position bei der »Rheinischen Post« am Niederrhein tätig. Heute ist er freier Autor, Journalist und Publizist.
Renate Wirth, Jahrgang 1957, arbeitet als Gestalttherapeutin für den Deutschen Kinderschutzbund, ist Künstlerin und Autorin.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2018 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: shutterstock.com/ananaline
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Hilla Czinczoll
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-413-1
Niederrhein Krimi
Originalausgabe
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Drei Männer schlenderten in den Gastraum. Sie waren sehr ähnlich gekleidet, schmutzig gelbe Hosen und helle, dünne Hemden. Sie hielten kleine Flaschen in den Händen. Darin vermutete sie selbst gebrannten Alkohol. Dass die Männer davon getrunken hatten, war zu hören. Zu laut und zu aufdringlich waren sie in das kleine Restaurant gepoltert. Sie fielen auf, weil sie sich offensichtlich nicht darum scherten, dass Zurückhaltung eine Tugend indischer Lebensart zu sein hatte.
Als die drei Männer an einem der Tische sie, die hellhäutige Frau mit dem Bubikopf, sahen, schwoll der unverständliche Dialekt aus ihren Mündern an. Sie hatte sich diesen Platz zwischen einer Ladentheke mit Kleinkram, den die einfache Bevölkerung bezahlen konnte, und einer offenen Garküche ausgesucht, wo sie das Treiben der Einheimischen beobachten konnte.
Das Frühstücksbüfett im nahe gelegenen Resort-Hotel hatte sie mit den Worten »Ich will hier was erleben, nicht nur den Touristenkram« verlassen. Es waren zu viele Deutsche da. Das gefiel ihr nicht. Außerdem hatte sie es satt, sich morgens und abends in die Schlange zu stellen und einen Topfdeckel nach dem anderen zu lüften, um dann neben Mitreisenden mit ihren überladenen Tellern Platz zu nehmen. Geregelte Abläufe würde sie mit siebzig gebrauchen können, jetzt war sie knapp dreißig Jahre alt und hungrig auf das Leben.
Am Vortag hatte sie sich zu einem Ausflug zu den Backwaters von Kerala im Süden des Subkontinents überreden lassen und bei der Hinfahrt vom Kleinbus aus diese kleine Kaschemme gesehen. Sie wirkte landestypisch und versprach andere Eindrücke als der übliche abendliche Besuch der Bar am Swimmingpool des komfortablen Hotels direkt am Strand von Kovalam. Sie war nur ein paar hundert Meter vom Hotel entfernt und saß nun dort, wohin kein anderer Hotelgast je kommen würde.
Die Hitze des Tages hatte sich gelegt, aber noch war die Luft so feuchtheiß, dass sich ein dünner Schweißfilm wie eine zweite ölige Haut an ihr festhielt. Die Frau schnupperte an sich, sie hatte sich gerade gewaschen und roch leicht nach parfümierter Seife. Ansonsten verbreitete jede der vielleicht zehn Personen in dem Raum seine persönliche Duftnote. Säuerlicher Schweiß, Essensgerüche, der Duft von Gewürzen und Zigarettenrauch vermischten sich unter dem Deckenventilator zu schwerer Luft.
Höflich hatte sie inzwischen mehrere Trinkangebote der Männer abgelehnt, die sich in ihrem Pidginenglisch an sie wandten. Sie wirkten ungelenk, schüchtern, aber auch, als werteten sie es als offenes Angebot, wenn sich eine Frau, dazu noch eine blonde, allein in dieser Männerwelt bewegte. Sie ahnte, dass sie eine Herausforderung war. Gott sei Dank war dieser gurgelnde Slang kaum zu verstehen. So konnte es zu keinem Gespräch kommen. Die Männer hatten sie stattdessen angeblinzelt, sie angelacht und die kaputten Zähne entblößt.
Die Frau streckte sich ein wenig, als sie aufstand. Schon so war sie größer als die meisten im Raum. Sie schlängelte sich leichtfüßig an den Tischen und Stühlen vorbei und ging an die Ladentheke, um sich eine Mischung Nüsse auszusuchen. Schlank, mit freien Schultern, einer luftigen Bluse, die dünnen Träger ihres BHs waren zu sehen. Ihre Sommerhose ließ die Waden frei. So viel sichtbare Haut war eine Provokation in diesem prüden Land.
Einer der drei Männer drückte sich an sie und hielt ihr die Flasche mit dem stinkenden Selbstgebrannten an den Mund. »Drink!«, raunzte er sie an. Seine Kumpels johlten. »Come with me«, befahl der Mann und bedrängte sie noch mehr. Die Frau erstarrte, ihre Hände zitterten. Das war nicht das Abenteuer, das sie gesucht hatte. Flehentlich blickte sie den Ladenbesitzer an. Es gelang ihr nicht, ein einziges Wort hervorzubringen. Dafür belegte der Ladenbesitzer die Männer mit einem Schwall von Flüchen. Gestikulierend schob er sich auf die Gruppe zu. Sie erkannte die Chance, drehte sich um, wand sich um Tische und Stühle herum und stürmte an den geifernden Männern vorbei ins Freie.
Mit einer herrischen Geste stoppte sie eins der vorbeifahrenden Motorräder, dem auch für die kleinsten Gassen tauglichen Lieblingstransportmittel der Inder. Hier fuhren keine Tuk-Tuks mehr, dennoch waren alle mobil und stets in Eile. Eine ältere, mit rot glänzender Verkleidung aufgepeppte Honda stoppte aus voller Fahrt. Der Fahrer kuppelte aus, der Motor grollte in einem gleichmäßig kraftvollen Ton.
Die Frau unterbrach ihre Fluchtbewegung abrupt. Sie wollte Schutz, war sich aber nicht sicher, ob sie sich in die Hand eines Motorradfahrers begeben sollte, dessen Gesicht sie nicht einmal sah. Er trug den im Land vorgeschriebenen Schutzhelm, viele fanden solche Sicherheitsvorschriften lästig und scherten sich nicht darum.
Mr. Anonym saß breitbeinig auf dem Motorradsattel, löste den Gurt des Helms, zog ihn ab und sagte: »Lady, Sie brauchen Hilfe? Ich würde mich an Ihrer Stelle schnell entscheiden.« Er zeigte auf die drei feixenden Männer mit den Schnapsflaschen am Straßenrand. Er brüllte sie kurz und schneidend an. Sie zogen sich zurück.
»Lady, wohin? Ins langweilige Hotel oder in irgendeine charmante Bar in der Stadt, die nachts offen hat?«, fragte der Mann.
Der Sitz des Fahrzeugs war breit genug, hier war man darauf eingerichtet, zu mehreren Personen auf dem Zweirad unterwegs zu sein. Platzmangel und zu viel Nähe zum Fahrer waren nicht der Grund, warum sie zögerte und schwieg. Es lag eher an der spärlich beleuchteten Straße und den dunklen Hütten. Wer fuhr da schon als Anhalter mit? Sie schaute am Fahrer vorbei, um zu sehen, ob da noch die aufdringlichen Männer standen. Aber es gab nur Dunkelheit und die Ungewissheit, wer sich darin verbarg. Der Fußweg zum Hotel am dunklen Palmenhain entlang war keine angenehme Lösung.
Wenn sie ehrlich war, hatte sie die Ansprache überzeugt. Jetzt erst wurde ihr klar, dass der Fahrer sie auf Deutsch mit einem sympathischen niederländischen Zungenschlag angesprochen hatte. Das erinnerte sie an den Niederrhein, wo sie herkam und der an den Nachbarn Holland grenzte. Sie fasste Mut und trat einen Schritt auf das Motorrad zu.
»Dann spring auf.«
Die Frau stieg aufs Krad und rutschte an den hinteren Rand des Beifahrersitzes, sodass sie sich an einen Haltegriff krallen konnte und den Mann nicht berühren musste. Er schob sich ein Stück nach vorn und von ihr weg. Ihr gefiel, dass er Distanz hielt.
»Zu welcher Bar willst du nun?«
»Zu einer zivilisierteren als der, aus der ich komme.«
»Das ist keine Bar, eher so etwas wie ein düsterer Treff mit angeschlossener Gastronomie. Eigentlich kein Problem, aber als Frau solltest du hier nicht allein einkehren.«
»Also, eine sympathische Location mit freundlichem Personal, da möchte ich hin.«
»Es gibt eine gute Bar, nördlich von hier, direkt an der Hauptstraße mitten zwischen diesen Hütten mit kleinen Geschäften. Dahin fahre ich sowieso.«
Sie wusste nicht, warum sie sich diesem Mann anvertraute. Plötzlich fühlte sie sich sicher und war von sich selbst überrascht. »Wie heißt du?«, fragte sie rasch, bevor der Motorenlärm ihre Worte verschlucken würde.
»Thijs. Und du?«, erwiderte er.
Die aufheulende Maschine übertönte ihren Namen.
***
Er folgte der kleinen Straße, die auf eine Autobahn mündete. Die war wie an so vielen Stellen in Indien gerade im Bau und schlug eine Schneise mitten durch Wohnbebauung und freie Fläche. Gnadenlos. Der Mann bog auf die staubige Straße ein, jeder fuhr hier einfach auf die Autobahn, wie es ihm behagte, vom Pferdekarren bis zum Reisebus. Zu dieser Zeit waren nur wenige Fahrzeuge unterwegs, beleuchtete Baustellen machten die Strecke gut sichtbar. Das änderte sich, als sie wenig später die Autobahn verließen und die Gegend einsamer wurde.
Das Licht des Motorrads tastete sich durch die Dunkelheit, der Fahrer schien es gewohnt zu sein, sich nachts durch die Uferzone am Indischen Ozean zu bewegen. Die Frau spürte eine seltsame Mischung aus Sicherheit und Spannung. An eine besondere Gefahr dachte sie nicht. Der gut gebaute Rücken, hinter dem sie saß, verhieß Sicherheit.
Die Palmenhaine lichteten sich. Die breit gefächerten Blätter schwankten im auffrischenden Wind. Das Meeresrauschen wurde lauter, sie konnte es hören, wenn sich das Motorrad mit verminderter Geschwindigkeit in eine Kurve legte. Da sie in nördliche Richtung fuhren, lag links das Ufer. Sie schaute zum Wasser und sah die Schattenrisse nachtfischender Boote. Kleine Positionslichter tanzten auf den Wellen, und es schien ihr, als würden sich immer dichtere, dunklere vom Wind gehetzte Wolken vor den Mond schieben.
Sie huschten an kleinen Menschengruppen vorbei, die sich um Lagerfeuer gruppierten. Die meisten wohnten hier zwischen den Palmen und den Kautschukbäumen in selbst gezimmerten Hütten. Dann folgten immer mehr gemauerte Häuschen am Wegesrand. Je größer und je farbiger sie angemalt waren, desto mehr waren es Bessergestellte, die ein kleines Geschäft hatten oder den nächtlichen Fang an Hotels verkauften und das Viertel belebten. Ab und an leuchtete das Schild »Bar« zwischen den Gebäuden auf.
Thijs ließ das Motorrad ausrollen.
»Woher kommst du?«, fragte die Frau.
»Aus Nijmegen.«
»Seit wann bist du hier?«
»Immer mal wieder. Wir Niederländer haben eine Beziehung zu dem Land. Wir waren Kolonialmacht mit eigenen Stützpunkten und Überseehandel. Jetzt bin ich seit ein paar Tagen hier.«
Mehr sagten sie nicht. Der Wind wurde stärker. Sie beeilten sich, unter das Holzdach der Bar zu kommen. Sie lag direkt am Straßenrand, dahinter führte ein schmaler Weg zum Strand. Durch die lichten Palmen erkannte die Frau, dass die traditionellen Fischerboote mit gebogenem Bug und Heck im Lichterwechsel von Wolken und Mond immer heftiger von Wellen hochgehoben wurden und zurück an Land steuerten. Thijs nahm sie bei der Hand und zog sie hinein in die Bar, die eigentlich eine Art Straßencafé war. Es war ihr nicht unangenehm, obwohl sie den Mann nicht kannte. Sie nahm ihn als Guide, der ihr das alltägliche Leben der Einheimischen näherbrachte. Er war sympathisch, dieser gut aussehende Niederländer.
Die Frau sah, wie der Mann hinter dem Tresen sie anschaute und winkte. Man kannte Thijs offensichtlich.
Die wenigen Tische waren leer. Thijs grinste den Mann an und fragte laut: »Willst du Menschen um dich haben?«
Der Mann hinter dem Tresen machte eine abwehrende Bewegung. »Nein, aber ihr könnt bleiben. Lädst du die Lady ein?«
»Ja, das Übliche.«
»Das Übliche?«, fragte sie.
»Ja, und du?«
»Was ist das Übliche?«
»Das werden wir sehen. Prajit mixt etwas zusammen, was er in seinen Vorräten hat. Ist nicht immer alles da, was wir so kennen. Schmeckt aber immer gut.«
»Dann probiere ich es auch.«
Die Frau wedelte sich Luft zu, es war immer noch zu warm für europäische Haut. Immerhin wusste sie jetzt, wie der Wirt hieß und dass der Fahrer hier bekannter war, als er zugegeben hatte. Dass seine Aussage, nur manchmal in Indien zu sein, nicht zu stimmen schien.
Prajit kam an ihren Tisch und fragte, wie Kerala ihr gefalle. Er fing an, die Schönheit des Meeres und den Reichtum der Böden zu preisen.
»Und jetzt die Drinks«, forderte Thijs.
Der Wirt lachte, verneigte sich dezent und ging hinter den Tresen, wo er sofort begann, farbige Flüssigkeiten aus obskuren Flaschen zu mixen.
Die Frau lächelte und schaute Thijs offen an. »Also, was treibst du hier? Ich bin Touristin, das weißt du. Nicht so spannend. Erzähl von dir.«
Sie bemerkte, dass er sie musterte, als überlegte er. Das Meer rauschte lauter, der Wind begann bedrohlich zu heulen, Prajits Eiscrusher knirschte.
»Ich war Immobilienmakler. Ich habe sehr gut verdient. Dann kam die Immobilienkrise in Holland. Projekte platzten. Immer nur Leute vom Bau um mich, oft musste ich mich vor Investoren und Kreditgebern rechtfertigen. Ich bekam keine Luft. Ich dachte nur, es muss doch ein anderes Leben geben. Erst habe ich das gemacht, was mich schon als Jugendlicher gefesselt hat. Ich habe gemalt und gezeichnet. Es war wie eine Reise zu mir selbst. Ich fing später wirklich an zu reisen. Ich dachte, ich könnte mich neu erfinden. Auch in Indien.«
Ihre Augen wanderten durch Thijs’ Gesicht. Ihre Blicke trafen sich, blieben aneinander hängen. In kurzer Zeit war eine Nähe entstanden zwischen zwei Menschen, die aus ganz unterschiedlichen Motiven heraus in einem riesigen Land unterwegs waren. Sie hatte Lust auf mehr, mehr Gespräche, mehr Nähe. Einfach so. »Und dann bist du hier gelandet, hier im letzten Winkel von Kerala?«
»Ich wollte einen Neustart. Das geht nur fern der gewohnten Welt.« In einer Nacht nach einem heißen Tag sagte er diesen einfachen Satz, der eine komplizierte Wandlung beschrieb.
»Lady and gentleman, here it is.« Prajit kam zu ihrem Tisch geeilt, mit einem Holztablett, auf dem zwei orange-grüne Drinks mit Apfelsinenscheiben am Glasrand standen. Seinem nächtlichen Auftritt waren der Stolz und der Spaß an der auf jeden Fall optisch gelungenen Mischung anzumerken.
Sie dankten. Die Frau bemerkte, dass Thijs sie genau betrachtete. Sie fuhr sich durchs Haar. Die Hitze hatte etwas abgenommen, auch weil der Wind stärker wehte und Kühlung unter das aufgeheizte Dach der Bar brachte. Sie prosteten sich zu mit Getränken, von denen beide nicht wussten, was sie enthielten. Ihre Blicke hielten einander fest. Schon wieder. Eigentlich wollte sie jetzt von sich erzählen, so wie er es getan hatte. Sie hatte das Gefühl, er interessiere sich für sie und würde sie verstehen. Ein schönes Gefühl.
Plötzlich war erst ein hartes Knirschen, dann ein dumpfer Knall vom kleinen Weg zu hören, der hinter der Bar zum Strand führte. Gleichzeitig ertönte das Geräusch trampelnder Füße, gefolgt von Geschrei und einem dunklen Grollen. Der Wind frischte noch einmal auf, als wolle er die soeben verwehte Palmenreihe zu einer gemeinsamen Verbeugung vor seiner Kraft zwingen – nachdem er sich Respekt verschafft hatte und diesen einen Baumriesen mit einer einzigen Böe gefällt und auf ein paar armselige Hütten hatte niedergehen lassen.
Thijs sprang auf, fegte mit einer Handbewegung den sorgfältig gemixten Drink um, worauf sich ein giftig orange-grünes Bächlein vom Tisch auf den Stuhl ergoss. Die Frau schrie auf. Sie folgten beide dem Getöse der Strandbewohner. Auf dem kleinen Weg begegneten sie Menschen, die mit bloßen Händen versuchten, die umgefallene Palme zu verschieben, um an die Opfer in den Hütten heranzukommen.
»Weg, weg da. Es ist zu gefährlich hier«, schrie Thijs.
Er rannte weiter, sie folgte ihm. Die beiden erreichten nach wenigen Metern den offenen Strand. Hier fegte der Sturm unerbittlich, trieb Wolken von Sandkörnern vor sich her und bäumte die Wellen auf. Dann prasselte der Regen in dicken Tropfen und mit einer Wucht herab, dass es die Frau schmerzte, wenn er auf sie traf.
Am Strand lagen kopfüber die Fischernachen, deren Besitzer rechtzeitig die Rückkehr geschafft hatten. Ein Boot mit zwei Mann Besatzung kämpfte noch auf den Wogen. Die Fischer an Land bildeten einen aufgeregten Haufen, der sich gegen den Wind stemmte und versuchte, ein von Bord ausgeworfenes Tau zu packen. Der Regenguss spülte wie eine Sintflut den Boden unter den nackten Füßen der Helfer weg, sodass sie sich nicht auf festem Grund abstemmen konnten.
Thijs brüllte gegen den Sturm an. »Komm mit ans Tau, die brauchen alle Leute.« Den Fischern rief er in einem stakkatohaften Dialekt etwas zu, was sie für sich als das rhythmische Kommando »Zieh, zieh« übersetzte. Ihr gelang es, eine freie Stelle des Taus zu ergreifen und sich in die verzweifelt zerrenden Menschen aus dem ärmlichen Stranddorf einzureihen.
Es gab immer wieder kleine Sturmpausen, in denen der heulende Wind es zuließ, dass das Fischerboot ein Stück auf den Strand zurutschte. Doch am Ende halfen die Naturgewalten. Eine Orkanböe riss die Wolkenbänke auf, der Mond leuchtete für einen kurzen Moment über die Klippen, die zerfetzten Palmenwedel der gebeugten Bäume. Wie von einer unsichtbaren Hand geschoben, bäumte sich eine Welle zu enormer Höhe auf, bevor sie auf Land stürzen würde. Auf ihrem Gipfel trug sie den Nachen schneller mit sich, als alle ziehenden Hände es vermocht hätten. Das Holzboot kam näher und näher, die Helfer ließen das Tau los und flüchteten, bevor das Boot auf den Strand krachte und zersplitterte. Thijs hatte sich mit einem gewaltigen Sprung zur Seite gerettet. Die Frau wurde von der Gischt zur Seite geschleudert. Ein Balken des Bootes knallte auf ihren Oberschenkel und drückte sie ins Wasser.
Sie hielt den Kopf mühsam über Wasser und reckte ihren linken Arm hoch, während der rechte unter ihrem Körper lag. Langsam sank sie tiefer in den aufgewühlten Sand. Die vom Sturm getriebenen Wellen rollten ein ums andere Mal über ihren Kopf hinweg.
»Thijs«, schrie sie, »Thijs, hier bin ich. Hol mich hier raus.«
Er stieß die wild durcheinanderlaufenden Fischersleute auseinander. Er kämpfte sich zu ihr vor. Sie blickte ihn flehentlich an, als er von einer Welle zurückgeschleudert wurde und gebückt wieder zu ihr hinstampfte. Er griff ihre Hand und versuchte, sie zur Seite zu ziehen, bis ihr Oberkörper und ihr Kopf mehr Bewegungsfreiheit erhielten. Dann schob er sich nicht an den Bootsbalken heran, der sie noch immer niederdrückte. Er zog nicht das schwere Holz von ihr weg. Niemand sah, dass er stattdessen den Kopf der Frau unter Wasser drückte. Bis sie erschlaffte. Eine starke Welle hob den Balken an und legte den bewegungslosen Körper frei. Es war zu spät. Thijs winkte um Hilfe.
»Is she unconscious? Dead?«, fragte ein herbeigeeilter Fischermann.
Thijs nickte.
Die Strömung zog den leblosen Körper ins Meer. Thijs stand auf, ließ sich vom immer noch stürmischen Wind an den Palmenhain schieben. Er ging an der Bar vorbei und startete sein Motorrad.
Unterwegs fragte er sich, ob er nicht zu impulsiv gehandelt hatte, ob er in dieser Millisekunde am Meer eine klare, bewusste Entscheidung gefällt hatte. Oder ob er nur die erste Gelegenheit genutzt hatte, ganz einfach so. Egal, er hatte getan, was er tun musste, und der Sturm hatte ihm dabei geholfen. Er hatte seinen Auftrag erfüllt.
Er erreichte das Resort Beach Dreams. Er war dort abgestiegen, wo auch die Frau eingecheckt hatte, und sie hatte es nicht bemerkt. Groß genug war die Anlage wahrlich, um sich aus dem Weg zu gehen. Er wusste, dass sie in Zimmer R 116 untergebracht war.
Im Resort hatte der Sturm ebenfalls gewütet. Auf den Gehwegplatten rund um den Swimmingpool stand das Regenwasser, sodass er platschend hindurchwaten musste. Am Gebäude für die Ayurveda-Massagen schwappte es über die Regenrinnen in Sturzbächen zu Boden. Der Mann in der völlig durchnässten Kleidung und den regentriefenden Sandalen ging auf die Rezeption zu.
»Ah, der Herr aus Deutschland«, radebrechte die Empfangsdame, tippte seine Ankunft in den Hotelcomputer und händigte ihm den Zimmerschlüssel aus.
Thijs, dachte er, wie bin ich nur auf den Namen gekommen? In den Niederlanden war er doch höchstens in Zeeland im Urlaub gewesen.
Er schlief gut in dieser Nacht. Am nächsten Morgen zum Frühstück öffnete er auf seinem Tablet die New Indian Times. Über hundert Todesopfer hatte der Orkan am Meer gefordert, las er. Manche Regionen waren überflutet worden. Eine europäische Frau mit blondem Bubikopf war nicht unter den Opfern. Zumindest wurde eine solche Frau nicht erwähnt.
Der Mann, der Thijs gewesen war, rollte seinen kleinen Businesskoffer zur Rezeption. Kurz angebunden orderte er die Schlussrechnung. Er würde längst im Flieger sitzen, wenn die Hotelleitung die Frau vom Niederrhein mit dem Bubikopf, die in R 116 wohnte, als vermisst meldete. Die Polizei würde Zeit benötigen, bis alle zuständigen Personen in ihrer kopfstarken Behörde vorschriftsmäßig einbezogen waren. Irgendwann und sehr viel später würde sie nach vergeblicher Suche endlich die Deutsche Botschaft einbeziehen.
Karin Krafft lehnte am Türrahmen ihres neuen Büros. Das kleine Schwarze stand ihr gut, passte zu der neuen Frisur. Kurz, keck, wild, dazu knallroter Lippenstift. Sie nippte an ihrem Sektglas und ließ ihren Blick anerkennend durch den Raum schweifen. Nagelneu, funktional, helle Oberflächen, ein halbrunder Schreibtisch, dessen verbreitertes Ende in den Raum ragte und ihr die Möglichkeit bot, mit vier Leuten gemeinsam daran zu sitzen und zu arbeiten. Das Kommissariat 1 hatte ein neues Domizil bezogen. Alles roch nach Fabrikation und Aufbau, Wandfarbe und Kleber für den hochwertigen Laminatboden, bahnweise in unterschiedlichen, miteinander harmonierenden Farben verlegt.
Das alte Gebäude aus den Sechzigern am Weseler Herzogenring war mittlerweile marode und unwirtschaftlich geworden. Allein die durchgehende Besetzung der Pforte mit einem Wachhabenden, der im Durchschnitt drei Besucher pro Tag verzeichnete, hatte innerhalb der Behörde für Hohn und Spott gesorgt. Offiziellem Besuch wurde das Gebäude vorenthalten.
Erst eine Besichtigung zur Zertifizierung der gesamten räumlichen Gegebenheiten der Kreispolizeibehörde in Wesel hatte sich als Segen für das Team erwiesen. Bei gründlicher Inaugenscheinnahme von der Eingangstür bis zum letzten Büro in der ersten Etage war einfach alles durchgefallen. Die elektrischen Leitungen waren unzureichend gesichert, man behalf sich schon lange mit Ketten mehrerer Dreifachsteckdosen. Improvisation aus Privatbeständen des K1, das für Todes- und Gewaltdelikte zuständig war.
Die Heizung war ständig kaputt, zugige Fenster, marode Sanitärräume, all das sorgte für einen Aufschrei während des Zertifizierungsprozesses, in dessen Folge von sofortiger Räumung dieser Dependance die Rede gewesen war. Sie sollten in provisorische Räume im Keller des Hauptgebäudes einen Steinwurf entfernt an der Reeser Landstraße ziehen. Das Kommissariat weigerte sich vehement. Provisorien überleben erfahrungsgemäß jeden Plan und ganze Generationen.
Ausschlaggebend für alternative Überlegungen war letztlich Karin Kraffts Vier-Augen-Gespräch mit der Behördenchefin van den Berg gewesen, in dem die Leiterin des K1 angekündigt hatte, sich versetzen zu lassen, weil sie niemals in Kellerräumen arbeiten würde. Sie wusste, das Team würde ihrer Meinung folgen. Letztlich blieb nur die Wahl, entweder ein passendes Gebäude langfristig anzumieten oder im ausreichenden Maße an der bestehenden Liegenschaft anzubauen. Frau Doktor van den Berg setzte sich energisch für die zweite Möglichkeit ein. Es war ihr Baby, das sie mit eiserner Entschlusskraft in allen maßgeblichen Gremien durchboxte, in Rekordzeit genehmigt und finanziert bekam.
Die zusätzliche Etage auf dem Hauptgebäude der Kreispolizei, ein moderner Aufsatz auf dem durchaus charmanten, regionaltypischen Backstein der Siebziger, bot für jeden Kollegen ein eigenes Büro, einen großen Besprechungsraum, ausgestattet mit der neuesten Technik, eine Stehküche, zwei Vernehmungsräume mit Bildübertragung. Nicht jeder im Haus betrachtete die Veränderungen mit Wohlwollen. Es gab Kollegen, die seit Jahren vergebens um frische Farbe an den Wänden kämpften und die Arbeiten für das K1 mit Häme kommentierten. Es galt, den Neidern mit Gleichmut zu begegnen.
Heute war die offizielle Einweihungsfeier. Geladene Gäste hatten sich im Besprechungsraum versammelt, der Polizeipräsident aus Düsseldorf, die Behördenleitung, Kollegen, Vertreter des Gerichts und der Staatsanwaltschaft, die Bürgermeisterin und der Landrat. Vertreter der örtlichen Presse nickten anerkennend, der Ausdruck »Beletage« machte die Runde, ein Pfarrer sprach einen kurzen Segen.
Nach den obligatorischen Reden und guten Wünschen hatten sich die Gäste zu lockeren Gesprächen an Stehtischen verteilt. Zeit für Small Talk. Der zählte nicht zu Karins Stärken, sie war unbemerkt verschwunden, ließ ihre Augen nun aus dem Fenster schweifen. Dieser weitläufige Ausblick auf den Auesee und das Rheinvorland, bei gutem Wetter bis zu den Türmen des Xantener Doms, erfreute sie besonders.
Beim ersten Blick auf den Bauplan hatte sie sich dieses Büro ausgeguckt. Hauptkommissarin Karin Krafft, Leitung Kommissariat 1. Das stand auf dem Schild, angebracht in Augenhöhe links neben der Tür. Sie setzte sich an ihren Platz, prostete sich zu. Hier fühlte sie sich stark, voller Energie, gewürdigt und in ihrer Funktion anerkannt. Von hier aus würde sie künftig ihr Team leiten und Fälle aufklären.
Der Platz reichte für die kleinen Lagebesprechungen, und wenn sie zwischendurch eine kurze mentale Pause brauchte, genügte eine halbe Drehung mit dem Stuhl, und ihr Blick konnte in der niederrheinischen Weite Ruhe und Kraft schöpfen. Selbst die immer seltener werdenden Gedanken an ihre Entführung durch die Gegner des Ausbaus der Betuwe-Bahnlinie in einem der letzten Fälle und die Zeit danach konnten sie nicht mehr beunruhigen. Eine Stimme holte sie in den Raum zurück.
»Was machst du hier? Du wirst schon vermisst.« Gero von Aha blickte vom Flur aus zu ihr hinüber.
»Quatsch, keiner vermisst mich, ich bin eine Niete in geselligem Blabla.«
»Sind wir das nicht alle? Komm, deine Männer werden sich sonst verdünnisieren, und es macht keinen guten Eindruck, wenn das K1 bei der Einweihung der eigenen neuen Dienststelle durch Abwesenheit der Chefin glänzt. Das ist ein freundlicher Hinweis deines Stellvertreters Kommissar Gero. Dein schräger Kollege Burmeester scharrt auch schon mit den Hufen.«
Karin lachte und stand auf. »Das klingt gefährlich nach Fahnenflucht. Geh schon mal vor, ich komme gleich. Ich kann immer noch nicht glauben, dass wir von jetzt an in diesen Räumen arbeiten werden. Der Umzug war gut organisiert, alles lief nach Plan, und die gesamte Technik funktioniert. Manchmal denke ich, das ist nur ein Traum und gleich wache ich am Herzogenring auf. Gero, wir haben die geilste Arbeitsstätte in der gesamten Region.«
»Ja, die Etage ist toll geworden. Das merken auch andere, glaub mir. Da drüben werden bereits die ersten offiziellen Veranstaltungen für die repräsentativen Räumlichkeiten hier oben ausgehandelt. Multifunktionalität und optimale Ausnutzung der Kapazitäten heißen die Zauberworte. Man wird mit Ausstattung und Aussicht angeben wollen.«
»Was? Du willst mich veräppeln.«
»Nein, wenn ich Staatsanwalt Haase richtig verstanden habe, dann hat er unserer Frau van den Berg gerade vorgeschlagen, den Besprechungsraum für interne Fortbildungen zu nutzen. Und er kann sich vorstellen, dass du einen Teil davon übernimmst.«
Karin schaute ihn mit gelupfter Augenbraue an. »Der hat doch wohl eine Macke. Und wer soll hier meinen Job machen? Nein, beides geht nicht, gar nichts geht so. Ich soll anderen was beibringen? Das kann er sich abschminken.«
Sie leerte ihr Glas in einem Zug. »Dem werde ich mal die Meinung sagen.«
Im Vorbeirauschen hielt sie von Aha am Unterarm fest. »Nun warte doch auf die offizielle Anfrage, dann kannst du immer noch die Art der Waffe und den Ort für das Duell wählen. Komm, sei friedlich, heute wird gefeiert.«
Ihr Telefon klingelte. »Geh schon, ich komme gleich. Ich werde Haase nicht würgen, versprochen.«
Sie setzte sich, nahm Haltung an, knipste von Aha ein Äugsken, der lächelnd verschwand, und ließ es noch einmal klingeln.
»Kommissariat 1, Hauptkommissarin Krafft.«
***
Es bot sich ein einziges Bild der Zerstörung. Als die Rettungskräfte eintrafen, standen Unfallzeugen hilflos vor dem Schrotthaufen, der den Stamm eines Baumes ohne Krone an drei Seiten umspannte. Noch während der Fahrer hinter dem Steuer im Wrack seines Wagens eingeklemmt saß, wurde er an die transportablen medizinischen Überwachungsgeräte angeschlossen. Der Mann lebte tatsächlich, unvorstellbar angesichts dieses Klumpens verformten Blechs.
Der dünn verlaufende horizontale Streifen mit minimalen Ausschlägen stellte die Herzfrequenz dar, schwach, unregelmäßig, mit kleinen Aussetzern. Der Rettungssanitäter legte ihm einen venösen Zugang, der eingetroffene Notarzt verordnete schmerzstillende Medikamente, eine Kochsalzlösung sollte helfen, den Flüssigkeitsverlust auszugleichen. Er sicherte die Atemwege. Eine Verletzung im unzugänglichen Bereich der Beine schien hohen Blutverlust zu verursachen.
Die Polizei sperrte die B 57, die hier Rheinberger Straße hieß, kurz hinter dem Xantener Ortsteil Unterbirten komplett, die Feuerwehr sicherte Fahrzeug und Baum, setzte zeitgleich die hydraulische Rettungsschere ein und durchtrennte den vorderen und hinteren Holm, um das Dach für die Bergung des Mannes zu spreizen. Offenbar hatten die Airbags des Fahrzeugs versagt, das Lenkrad hatte sich, einer gefährlichen Waffe gleich, in den Oberkörper gebohrt, der Motorblock die Beine eingequetscht.
Die Bergung gestaltete sich kompliziert. Wertvolle Minuten vergingen, während der hydraulische Zylinder den Fahrzeugboden mit dem Sitz und den Motorblock so weit auseinanderdrückte, dass das Ausmaß der Verletzungen sichtbar wurde. Während der gesamten Zeit wurden die lebenserhaltenden Maßnahmen durchgeführt, kurze Kommandos sorgten für umsichtige Bewegung, sicher, ohne Hektik, immer das Augenmerk auf den Fahrer gerichtet. Auf einem Spineboard, einer speziell ausgerüsteten Trage, das zwischen Sitz und Körper geschoben wurde, fixierten die Helfer den Verletzten mittels mehrerer Gurte. Ein Ruf ertönte: »Zugleich.« Viele Hände hoben den Mann vorsichtig aus dem Wrack.
Nach wenigen Handgriffen wurde er auf der Rettungstrage in den bereitstehenden RTW geschoben, die Türen schlossen sich hinter dem Notrettungspersonal. Der Schwerverletzte war nun komplett an das Monitoringgerät zur Überprüfung der Vitalfunktionen angeschlossen, der Notarzt führte den Bodycheck durch, klassifizierte die Verletzungen – die körperliche Untersuchung fiel nicht leicht ob der Vielfalt verheerender Einwirkungen.
Das Wrack befand sich abseits des Rettungswagens, in dem man mit gebotener Eile und Umsicht versuchte, dieses Leben zu erhalten, und bot einen furchtbaren Anblick, der erahnen ließ, wie es dem Fahrer erging. Die ursprüngliche Form war nicht mehr erkennbar, das Dach stand bizarr abgewinkelt über der Beifahrerseite, die ihre Form der Alleelinde angepasst hatte, an deren Stamm die Fahrt über die B 57 ein machtvolles, krachendes, jähes Ende gefunden hatte. Die Krone des Baumes war abgebrochen und lag meterweit entfernt im Feld.
Der Notfallsanitäter nahm ein kurzes Flackern unter den Lidern des Mannes wahr, die Herzfrequenz erhöhte sich parallel. »Er kommt zu sich.«
Der Notarzt sah nicht von der Überwachung auf, hielt Atmung und Puls im Blick. »Das ist denkbar ungünstig, er sollte sich weder regen noch aufregen.«
Schon rann ein weiteres betäubendes Medikament durch den Zugang in seine Vene, zeitgleich bewegten sich die Lippen des Mannes, der sich auf dem schmalen Grat zwischen Leben und Tod befand. Der Helfer beugte sich zu seinem Gesicht herab, lupfte die Maske, durch die der zerschmetterte Körper mit Sauerstoff versorgt wurde, hielt sein Ohr über die zittrigen, blutverkrusteten Lippen, die unter enormem Kraftaufwand ein einziges Wort bildeten, kaum vernehmbar, dennoch deutlich.
Er sank zurück in eine erleichternde Bewusstlosigkeit.
In der Nähe landete der Rettungshubschrauber im aufkeimenden Mais. Die Situation im Inneren des RTW entwickelte sich dramatisch, die Werte des verletzten Fahrers verschlechterten sich rapide, bis hin zum Herzstillstand, ein langer piepender Ton. Der Defibrillator wurde aktiviert.
»Schock. Weg vom Patienten.«
Ein Stromstoß bäumte den Körper auf, die Linie der Herzfrequenz veränderte sich nicht, lief schnurgerade. Ein Beatmungsbeutel wurde angelegt, der zerschundene Oberkörper mit rhythmischer Herzmassage dreißig Mal gepresst, beatmet. Nichts. Das Team hatte somit jede Möglichkeit ausgeschöpft, um dieses Leben zu retten.
Draußen kamen die ersten Gaffer über das Feld gelaufen. Die Sperrung der B 57 zwischen Birten und Menzelen sorgte für Unmut, Streifenbeamte an den Ampeln beim Birtener Sportplatz und dem ehemaligen Restaurant Grünthal leiteten den Verkehr weiträumig um. Einige wenige Neugierige schafften es über Feldwege und letztlich zu Fuß, sich dem Flirren unzähliger Blaulichter zu nähern. Schon standen die ersten Sensationslüsternen mit gezücktem Smartphone vor dem Fahrzeug, drei Männer der freiwilligen Feuerwehr drängten sie zurück, was nicht ohne Proteste der Neugierigen verlief. Als Rettungskraft angepöbelt zu werden gehörte zu einer Reihe unsozialer Entwicklungen in der heutigen Zeit.
Während im Rettungswagen die lebensüberwachenden Geräte abgeschaltet wurden, notierte der Notarzt die Verletzungen, die er erkennen konnte, in einem Formular.
»Zwölf Uhr dreiundvierzig. Organversagen als Unfallfolge, massive innere Verletzungen in Thorax und Bauchraum, Schädel-Hirn-Trauma, Knochenbrüche der oberen und unteren Extremitäten, Teilabriss des linken Fußes. Politrauma.«
Ein Blick des Sanitäters durch das kleine, hohe Fenster der hinteren Tür des Rettungsfahrzeugs verhieß nichts Gutes. »Draußen wartet der Mob schon wieder auf Sensationen, seien Sie darauf gefasst, sobald Sie die Tür öffnen.«
Der Notarzt überzeugte sich mit angewidertem Gesichtsausdruck, inzwischen hatten sich die Streifenbeamten zu der kleinen Gruppe von Schaulustigen begeben, zunehmende Lautstärke deutete auf mögliche Eskalation hin.
»Decken Sie ihn zu. Wir können uns gegen diese Idioten wehren, er nicht. Konnten Sie verstehen, was er gesagt hat?«
»Sein letztes Wort war ›Scheiße‹.«
»Keine kryptische Botschaft, garantiert nicht für Angehörige bestimmt. Er hat also bewusst mitgekriegt, wie es um ihn stand.«
»Kann man wohl laut sagen.«
»Hat die Feuerwehr etwas zur Unfallursache gesagt?«, fragte der Notarzt.
»Der ist nicht freiwillig vor den Baum gefahren. Ich habe mitgekriegt, dass sie die Kripo benachrichtigt haben. Ungeklärte Unfallursache. Ich kenne das Opfer irgendwoher.« Ein letzter Blick auf das blutverschmierte Antlitz.
»Das spricht für Ihre Abstraktionsfähigkeit. Bei dem Zustand des Gesichts könnte meine Mutter auf der Trage versorgt werden, und ich würde sie allenfalls an ihrem Goldschmuck erkennen.« Der Mediziner streifte sich die Einweghandschuhe ab und legte die Schutzbrille in die Ablage. »Da war nichts mehr zu machen. Dennoch, gute Arbeit, meine Herren.«
Er verließ den Wagen und schloss die Tür schnell hinter sich, teilte dem Streifenbeamten, der ihn hoffnungsvoll anschaute, mit einem angedeuteten Kopfschütteln die Erfolglosigkeit des Einsatzes mit. Exitus.
Er lief ungeachtet der sich wild gebärdenden Gaffer, deren Personalien mittlerweile erfasst wurden, zu seinem Wagen. In unmittelbarer Nähe hob der Rettungshubschrauber ab und wirbelte gehörig Dreck vom Feld auf.
***
Karin Krafft und Nikolas Burmeester sahen das Großaufgebot an Männern und Frauen in unterschiedlichen Uniformen, als sie zur Unfallstelle kamen. Die Hauptkommissarin hatte sich an der Absperrung ausweisen müssen und näherte sich dem Ort des Geschehens mit einem mulmigen Gefühl, während alle Sinne zur Erfassung der Lage aktiviert waren.
»Gerade Strecke, keine Einmündung in unmittelbarer Nähe, kein weiteres Fahrzeug beteiligt.«
Burmeester öffnete die oberen drei Knöpfe seines neuen Hemdes, rieb sich den Hals, der nach dem ungewohnten Kontakt mit der gesteiften Textilie tüchtig juckte.
»Die haben das Dach aufgeschnitten. Sieh mal, der Baum hat keine Krone mehr, das kann nur die Wucht massiv überhöhter Geschwindigkeit bewirken. Der muss ungebremst dagegengeprallt sein. Das ist ja krass. Kein Rettungshubschrauber weit und breit, der RTW steht noch da. Hoffen wir mal das Beste.«
Die Hauptkommissarin schüttelte den Kopf. »Man holt uns immer, wenn das Beste gerade woanders geschieht.« Sie stellte den Wagen auf der Fahrbahn ab.
Aus dem katastrophalen Szenario heraus eilte ihnen ein junger Streifenbeamter entgegen und lächelte sie schon von Weitem an. »Wenn das jetzt die Dienstkleidung der Kripo wird, werde ich so schnell wie möglich zu euch wechseln.«
Für einen kurzen Moment wurde Karin bewusst, dass sie im schwarzen Cocktailkleid mit Pumps neben Burmeester im eleganten Leinenanzug mit brusttief geöffnetem Hemd eher auf den Empfang als an diese Unfallstelle passte. »So ist das, keine Zeit für offizielle Festreden zur Büroeinweihung, wenn der Dienst ruft. Was haben wir hier?«
»Der Wagen raste mit weit überhöhter Geschwindigkeit aus Richtung Xanten kommend ungebremst auf die Gegenfahrbahn und knallte gegen den Baum, der durch die Wucht des Aufpralls halbiert wurde. Besonderheit: keinerlei Bremsspuren.«
»Was ist mit dem Fahrzeugführer?«
»Der lebte noch bei Eintreffen der Rettungskräfte, ist aber vor einer Viertelstunde im RTW verstorben.«
Karin schaute Burmeester an, der nickte. Ja, das Beste geschah wirklich nur, wenn man die Kripo nicht brauchte. Das hier sah nach dem Schlimmsten aus. Sie setzte die Sammlung der Fakten fort.
»Was lässt Sie vermuten, dass es sich nicht um einen Unfall aus Unachtsamkeit oder einen Suizid handelt? Keine Bremsspuren gibt es in besonderen Fällen wie Selbsttötung durch Unfall, wie wir wissen.«
Der Streifenbeamte berichtete von Zeugen aus zwei Fahrzeugen, die aus der Gegenrichtung kamen und gerade noch ausweichen konnten. Sie hatten dem Fahrer signalisieren wollen, dass da was schieflief.
»Die Männer beschrieben einen wild gestikulierenden Mann mit verzerrtem Gesichtsausdruck. Er habe gewirkt, als ob er die Kontrolle über das Fahrzeug verloren hatte. Sie sahen den Aufprall im Rückspiegel und waren als Erste am Unfallort, völlig hilflos, und konnten nichts weiter tun, als Meldung zur Kreisleitstelle durchzugeben und die Unfallstelle zu sichern. Ich habe die Personalien aufgenommen und sie gehen lassen. Die stehen unter Schock, es ist schon ein Notfallseelsorger informiert, der sie aufsuchen wird.«
»Sie sind sehr umsichtig. Wissen wir, wer der Tote ist?«
»Die Halterabfrage ergab den Namen Dieter Pahlen, wohnhaft in Xanten.«
Karin Krafft schaute auf. »Etwa der Dieter Pahlen von Möbel Pahlen?«
»Ja, genau. Vermutlich war er auf dem Weg zu seinem Geschäft im Rheinberger Gewerbegebiet.«
»Das ist tatsächlich eine Vermutung. Ich denke, dass der Chef von mehreren florierenden Möbelhäusern nicht erst gegen zwölf Uhr in seiner Hauptfiliale auftauchen wollte. Sind die Aussagen der Zeugen die einzigen Indizien?«
Der Beamte wies sie an, ihm zu folgen. »Wir haben unseren Hubschrauber angefordert, um den Weg des Fahrzeugs mit Luftbildern noch einmal zu rekonstruieren. Da ist was faul. Bei solch einem langen Weg schräg über beide Fahrbahnen muss ein Fahrer, der bei Bewusstsein ist, reagieren können. Wenigstens eine kurze Gegenlenkbewegung vollziehen. Stattdessen endete diese Fahrt frontal am Baum. Der Mann war hellwach und bewegungsfähig.«
Karin nickte. »Gut, Sie machen das hier. Ich veranlasse, dass der Wagen von unseren Kriminaltechnikern abgeholt und untersucht wird. Den rührt hier niemand an, Sie sorgen dafür. Der Tote wird in die Pathologie gebracht. Und ich bekomme Ihren kompletten Bericht auf den Tisch.«
Burmeester machte noch Aufnahmen mit seinem Smartphone, wirkte verdattert, als könne er das Geschehene nicht fassen.
Karin rief den Beamten noch einmal zu sich. »Geben Sie mir die Adresse mit, es gibt doch bestimmt Angehörige, wir kümmern uns um die Benachrichtigung.«
Der Beamte riss einen Zettel aus seinem Notizblock, faltete ihn und reichte ihn weiter an Burmeester.
Karin Krafft und Nikolas Burmeester gingen zurück zum Wagen.
»Wo müssen wir hin?«
Burmeester stutzte beim Blick auf die Notiz, dann grinste er.
Karin reagierte genervt. »Mensch, kriege ich eine Antwort?«
»Bergweg in Xanten. Und darunter steht in eiliger Handschrift: ›So eine schöne Erscheinung an so einem furchtbaren Ort. Falls Sie Lust auf einen Drink am Abend haben‹, Pünktchen, Pünktchen, Pünktchen. Der Rest besteht aus Handynummer und Vorname.«
»Nee, ich fass es nicht. Das war ja wohl der unpassendste Moment für einen Flirt.«
Burmeesters Grinsen nahm zu, bevor er zurückruderte. »Beruhige dich. Da steht nur die Nummer und wie er heißt. Es ist ein Junge, und seine Eltern nannten ihn Kevin.«
Karin seufzte gekünstelt. »Kevin? Jetzt sind die Jungs mit den vorurteilbelasteten Vornamen also erwachsen und sogar schon Polizist. Ich finde sein Verhalten trotzdem unmöglich.«
»Aber du siehst einfach umwerfend aus.«
»Du auch, Nikolas Burmeester. Und dir hat er den Zettel gegeben.«
Jetzt rutschte Burmeester unruhig auf dem Beifahrersitz hin und her, räusperte sich.
Karin tätschelte sein Knie. »Komm, bleib dienstlich, wir haben eine Todesnachricht zu überbringen.«
***
Außerhalb der Innenstadt lag der Bergweg auf halber Höhe der ansteigenden eiszeitlichen Endmoräne. Dort gab es nur eine bebaute Seite, die zum Fürstenberg, und so eröffnete sich den Bewohnern der einzeln stehenden Häuser ein einmaliges Panorama über die Dächer Xantens. Den Mittelpunkt der Stadt bildeten die Doppeltürme des Doms. In der Ferne waren der Schornstein der Zuckerfabrik in Appeldorn und einzelne Windräder zu erkennen.
Ein kleiner, gepflegter Vorgarten lag vor dem Haus der Pahlens. Burmeester schien sich zu wundern.
»Hier vermutet man nicht gerade jemanden mit ganz viel Geld, das sieht eher bescheiden aus.«
Karin Krafft ließ ihren Blick schweifen. »Nenn es Understatement. Siehst du die Überwachungskameras? Rund um die Schrauben liegt noch Bohrstaub auf den Klinkersteinen, die sind neu installiert. Ein Wagen steht im Carport, bestimmt ist die Frau daheim.«
Sie bewegten sich auf dem gepflasterten Weg zwischen unterschiedlich hohen Thujakugeln zur Haustür. Karin wies auf den Boden in der Einfahrt.
»Schau mal, da liegen Einweghandschuhe.« Sie beugte sich zu den Häufchen aus dehnbarem Gummi hinab. »Die sehen blutverschmiert aus.«
Karin drehte sich, lugte unter die Thujakugeln, die auf gemulchtem Boden standen. »Und das bestätigt eine erste, unausgesprochene Vermutung. Da liegt die Verpackung einer Einwegspitze, hat der Wind bestimmt dorthin geweht. Burmeester, weißt du, wonach das hier aussieht?«
»Das ist eindeutig Material, wie es bei Noteinsätzen gebraucht wird. Rettungspersonal lässt so etwas in der Eile manchmal zurück. Was ist hier passiert?« Er ging in die Hocke und entdeckte noch Verpackungen von Mullbinden, die unter dem Auto lagen.
»Fragen wir Frau Pahlen.«
Niemand reagierte auf das Klingeln, das draußen unter dem überdachten Eingang hörbar war. Sie versuchten es mehrmals, klopften an das milchige Glas im Türblatt. Karin schaute nach, ob sie seitlich des Hauses in den Garten gelangen konnte. Ein Tor versperrte den Zugang.
Sie hatten nach erfolgloser Mission schon die Wagentüren geöffnet, bereit, einzusteigen, als ein Nachbar auf dem Nebengrundstück auftauchte – ein alter Mann, der seine Hose mit breiten Hosenträgern auf Brusthöhe hielt, eine verschlissene Kappe auf dem Kopf mit vom Bluthochdruck geröteten Wangen. Sie gingen auf ihn zu.
»Wollen Sie zu den Pahlens?«, fragte er.
Karin bestätigte. »Wir würden gern mit Frau Pahlen sprechen.«
»Dat wird aber schwierig.«
»Wieso?«
»Na, die is doch gestern mit de Rettung abgeholt worden.«
»Was? Das ist ja unglaublich. Wissen Sie, was geschehen ist?«
Sichtlich froh, darüber sprechen zu können, berichtete er in kurzen Sätzen mit wiederholtem »Ach Gott, ach Gott, ach Gott« und dauerhaftem Kopfschütteln, dass er sie nach einem häuslichen Unfall gefunden habe.
»Dat hat vielleicht gescheppert. Die is mit de Leiter umgekippt und inne Glasvitrine gefallen. Allet is mit en Riesenknall auffen Marmorboden gelandet. En Krach war dat, den hab ich drüben gehört. Und dann bin ich rüber und sah se durch et Fenster da liegen. Da hab ich de Rettung geholt. Die sind bei mir übern Zaun und haben hinten ’ne Scheibe eingeschlagen und haben se rausgeholt.«
Sie sei ins nahe Krankenhaus gebracht worden.
Karin Krafft und Nikolas Burmeester bedankten sich und wollten zum Wagen zurückgehen.
Der Nachbar rief ihnen hinterher. »Aber da isse nich mehr.«
Die Hauptkommissarin drehte sich um. »Dann war es doch nicht so schlimm, wie es zunächst aussah?«
Der Nachbar nahm seine Kappe in die Hand und wischte sich mit einem sichtlich gebrauchten Stofftaschentuch über das kahle Haupt. »Nee, kann man so nich sagen.«
Burmeester sah die Ungeduld in Karins Mimik, stellte sich vor seine Chefin und versuchte, den Mann zu neuen verbalen Hochleistungen anzuregen. Er hielt ihm seinen Ausweis unter die Augen. »Es ist ganz wichtig, dass Sie uns sagen, wo wir Frau Pahlen finden.«
»Ich weiß et nich genau. Meine Frau hat von einer Kegelschwester erfahren, die in de Küche vonnet Krankenhaus arbeitet, dat se mit en Hubschrauber abgeholt wurde. Vielleicht hat Dieter se in ’ne Privatklinik bringen lassen. Wäre doch möglich, tät mich nich wundern. Dat is en Paar, dat finden Se so schnell nich wieder. Die können nich ohne den anderen. Meine Frau is immer ganz neidisch, wenn se die beiden erlebt, auffe Feier oder hinten auf de Terrasse oder so.«
Karin bedankte sich und bedeutete Burmeester, ihr zum Wagen zu folgen. Sie stieg ein.
»Der ist mir zu anstrengend, wir fragen im Krankenhaus nach. Per Hubschrauber in eine Privatklinik – das ist garantiert nachbarschaftlicher Humbug.«
Im Krankenhaus in der Hees erfuhren sie, dass Brigitte Pahlen tatsächlich per Luftrettung verlegt worden war. Ihre Verletzungen konnten vor Ort nicht adäquat behandelt werden. Der Arzt, der sie in die Notfallambulanz aufgenommen hatte, rief die Datei der Patientin auf und verfolgte den Behandlungsverlauf.
»Sie hat ein Politrauma erlitten. Frau Pahlen ist in der Diele ihres Wohnhauses aufgrund eines Stromschlags von der Leiter gestürzt, dabei in der Glasvitrine gelandet und mit voller Wucht auf den Marmorboden geprallt. Der dritte Halswirbel ist angebrochen, ein doppelter Beckenbruch, Schnittwunden, davon erhebliche in Hals- und Schulterbereich. Ein Schnitt verfehlte die Halsschlagader nur um Millimeter, eine Scherbe bohrte sich in ihre Leber, eine andere in den rechten unteren Lungenflügel.«
»Wann ist sie eingeliefert worden?«
»Moment, ich schaue nach. Gestern um vierzehn Uhr sieben.«
Man sah den beiden Kommissaren ihre Bestürzung an. Zwei schwere Unfälle. So viel Pech konnte einem Paar unmöglich innerhalb von vierundzwanzig Stunden widerfahren.
»Wo ist sie nun?«
»Wir haben sie in das BG Klinikum in Duisburg-Großenbaum verlegt, die sind auf Politraumata spezialisiert. Das habe ich ihrem Ehemann heute früh auch schon erklärt.«
»Er ist hier gewesen?«
»Ja, ein sehr besorgter Mann. Den mussten wir gestern aus dem Intensivzimmer hinauskomplimentieren, der hätte am liebsten hier übernachtet. Als die Entscheidung fiel, sie zu verlegen, wollten wir ihn nicht erneut aufscheuchen, daher wurde er erst heute früh informiert. Er hat sich auf dem Absatz umgedreht und ist davongehastet. Haben Sie mit ihm gesprochen?«
Karin Krafft überlegte einen Moment lang, ob sie die Information über das Ableben des Gatten preisgeben sollte, entschied sich dafür. Es bestand kein Grund, die Nachricht zurückzuhalten, sie würde am nächsten Tag die örtlichen und regionalen Medien beherrschen.
»Er konnte nicht mit uns darüber sprechen, weil er vor einer Stunde bei einem Verkehrsunfall starb. Wir waren in Xanten, um seiner Frau die Nachricht zu überbringen. Dann müssen wir wohl nach Duisburg, um es ihr mitzuteilen.«
Diese Neuigkeit schien selbst den erfahrenen Leiter der Notambulanz zu irritieren, er schaute eine Weile stumm von einem zum anderen.
»Das erlebt man nicht häufig, so eine Duplizität verheerender Unfälle. Manchmal gibt es eine schwarze Strecke im Leben, die Konsequenzen sind meist wesentlich harmloser. Das nenne ich Schicksalsschlag. Sie können sich den Weg nach Großenbaum sparen, die Patientin wird noch einige Tage im künstlichen Koma bleiben und mit viel Glück ansprechbar sein, wenn man sie zurückholt.«
Er suchte die Telefonnummer der dortigen Station heraus und notierte auch den Namen der Leitung. »Bestellen Sie einen kollegialen Gruß von mir. Das kann Türen öffnen.«
Sie schwiegen. Die ganze Rückfahrt nach Wesel über war den beiden Kriminalisten nicht nach Konversation. Sie achteten nicht auf die Störche in der Senke bei Ginderich, und selbst der nachmittägliche Stau auf der Rheinbrücke, die immer noch in verengte Einspurigkeit mündete, entlockte ihnen weder emotionale Regung noch verärgerte Kommentare. Beide waren tief versunken in das Drama, das ihnen begegnet war. Ein toter Mann und eine Frau im Koma. Furchtbar.