Corinna Kastner wurde 1965 in Hameln geboren. Sie arbeitet am Institut für Journalistik und Kommunikationsforschung in Hannover und fühlt sich an der Ostsee am wohlsten. Besonders das Fischland inspiriert sie sowohl schriftstellerisch als auch fotografisch. Seit 2005 veröffentlicht sie schauplatzorientierte Spannungsromane und seit sechs Jahren ihre Küsten Krimis »Fischland-Mord« (2012), »Fischland-Rache« (2013), »Fischland-Feuer« (2015), »Fischland-Verrat« (2016) und »Bodden-Tod« (2017).
www.corinna-kastner.de
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. In diesem Roman tauchen viele Namen auf, die so oder ähnlich auf dem Fischland gebräuchlich sind. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.
© 2018 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: Corinna Kastner
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Dr. Marion Heister
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-416-2
Küsten Krimi
Originalausgabe
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Dieses Werk wurde vermittelt durch die AVA international GmbH, Autoren- und Verlagsagentur. www.ava-international.de
Für dich, Bulle
Prolog
Freitag, 23. September
Ratsch. Ratsch. Ratsch.
Matthias Röwer spürte jeden einzelnen Schnitt des Messers, beinah so, als ob es die Seele aus ihm herausrisse. Er hatte die Augen geschlossen, obwohl das keinen wesentlichen Unterschied machte.
Ratsch.
»Um Himmels willen, Greta, komm zum Ende.« Er hörte, wie sie mitten in der Bewegung innehielt.
»So schlimm?«
»Schlimmer.«
»Nur noch einen Schnitt«, sagte sie.
Ratsch. Dann ein Knistern. Und dann Stille, durchbrochen von einem dumpfen, aus der Ferne kommenden Donnergrollen. Draußen rollte vom anderen Ufer des Boddens, der bleigrau unter einer schweren Wolkenschicht liegen musste, eine Gewitterfront heran.
»Greta?« Es war nicht kalt hier, dennoch fror er plötzlich.
»Es ist schön geworden. Carl hätte es gefallen.«
Matthias hörte sie den Karton zur Seite schieben und spürte, wie sie an seine Seite trat. Diffus nahm er wahr, dass sie ihm etwas hinhielt. Das fertige Buch. Die Biografie über Carl Röwer – abgesehen von Greta der wichtigste Mensch in seinem Leben, ungeachtet der Tatsache, dass er seit nahezu dreißig Jahren tot war. Zögernd nahm Matthias das Buch und strich über das Cover. Auch wenn er alles in allem ganz gut zurechtkam: In Momenten wie diesem wünschte er zutiefst, wieder sehen zu können – mehr als hell und dunkel, mehr als schemenhafte Umrisse.
»Du hast das Foto gut ausgesucht – es passt perfekt«, sagte Greta.
Vor sehr langer Zeit hatte Matthias dieses Foto selbst geschossen. Carl stand seitlich vor seiner Staffelei drüben am Boddenufer und ließ seinen Blick über glitzerndes Wasser und ein vorübergleitendes Zeesboot schweifen. Matthias erinnerte sich deutlich an den Ausdruck auf Carls Gesicht – es spiegelte die Liebe zum Fischland und die Leidenschaft zur Malerei auf eindrucksvolle Weise wider.
»Danke«, sagte er. »Aber das ist bloß das Cover. Wichtig ist, was drinsteht, und ohne dich stünde da nichts, was die Leute ab nächsten Monat lesen könnten.«
»Ohne uns«, korrigierte Greta. »Du magst mich eingestellt haben, damit ich diese Biografie schreibe, aber am Ende hast du genauso viel daran gearbeitet wie ich. Widersprich mir ja nicht!«
Matthias lachte leise. »Habe ich das je getan?« Schlagartig wurde er ernst. »Ich frage mich immer wieder, ob wir nicht doch einen Fehler gemacht haben.«
»Nein, haben wir nicht.« Greta berührte seine Hand, die unverändert das Buch hielt. »Es steht keine einzige Lüge drin.«
Obwohl ihm nicht danach war, musste er lächeln. »Weil du ungemein gut formulieren kannst. Ich wusste schon, dass du gut bist, als du zum ersten Mal hier warst.«
Greta gluckste. »Wenn du auch nur im Entferntesten geahnt hättest, wie gut, hättest du mich umgehend vom Fischland verbannt, Herr Röwer, gib’s zu.«
»Möglich wär’s. Da kann ich ja dankbar sein, dass ich nicht allwissend bin, Frau Röwer.« Während er ihr das Buch zurückreichte, suchte er mit der anderen Hand nach ihrer. »Du hast recht, es ist alles richtig so, wie es ist.«
Damit meinte er nicht nur die Biografie, und er merkte am Druck ihrer Finger, dass ihr das bewusst war. Dabei hätte es dieser Geste kaum bedurft. Sie waren nicht immer einer Meinung und hatten schon den einen oder anderen Streit ausgefochten, aber sie verstanden einander. Immer. Was er für sie empfand, übertraf alles, was er je für einen Menschen empfunden hatte.
Er beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie und ließ sich auch nicht stören, als das Telefon auf seinem Schreibtisch laut und vernehmlich klingelte. Auch nicht, als der Anrufbeantworter ansprang und der Anrufer die ersten Worte sprach. Erst als langsam zu ihm durchdrang, was er sagte, löste Matthias sich von Greta und starrte gemeinsam mit ihr entsetzt hinüber zum AB.
1
Freitag, 14. Oktober
Kassandra schloss die Tür ihres Kapitänshauses ab und ließ wie so oft ihren Blick über die Fassade aus rotem Backstein und die grün-weißen Fensterläden schweifen. Selbst nach all den Jahren war sie unverändert verliebt in ihr Zuhause. Dann zog ein Schatten über ihr Gesicht. In den letzten Wochen hatte es in der weiteren und näheren Umgebung eine beunruhigende Einbruchserie gegeben, und jeder fragte sich mittlerweile, wann Wustrow an die Reihe käme und ob das eigene Haus dann ausreichend gesichert wäre.
»Die Alarmanlage ist eins a, verlass dich drauf«, sagte da jemand neben ihr.
Kassandra war so vertieft in ihre Überlegungen gewesen, dass sie die näher kommenden Schritte gar nicht gehört hatte. Sie lächelte. »Da du sie ausgesucht hast, Heinz, ist sie das ganz bestimmt.«
Als Polizeihauptmeister a. D. kannte sich ihr Onkel bestens mit diesen Dingen aus.
»Trotzdem traust du dem Frieden nicht«, stellte Heinz fest, die linke Braue erhoben.
Kassandra sah ihm an, dass er nicht recht wusste, ob er amüsiert sein oder die Angelegenheit dafür entschieden zu ernst finden sollte. »Doch, tu ich«, beruhigte sie ihn. »Jedenfalls was dein, mein, Pauls, Haralds und Max’ Haus betrifft.«
Jetzt lachte Heinz doch. Er hatte allen dieselbe Alarmanlage empfohlen. »Ich kriege keine Provision von der Firma, Ehrenwort.« Dann deutete er auf ihre Kameratasche. »Perfektes Wetter zum Fotografieren. Aber da du dabei zu gern mal die Zeit vergisst, erwähne ich’s: Wir haben heute Abend noch was vor.«
»Das werde ich mir auf keinen Fall entgehen lassen«, versprach sie. »Wir sehen uns spätestens in der Mühle.«
Grüßend hob Heinz die Hand und verschwand im Nachbarhaus, während sich Kassandra auf den Weg machte. Heinz hatte recht – es herrschte perfektes Licht, der Himmel war knallblau, die Blätter der Bäume und die Herbstblumen in den Gärten leuchteten intensiv. Der Wind versprach außerdem ein paar schöne Wellen an Seebrücke und Strand. Dennoch hatte Kassandra nicht vor, Naturaufnahmen zu machen. Ihr Ziel war die alte Seefahrtschule jenseits der Parkstraße. Die Zeichen standen gut, dass diesmal endlich etwas aus einem Bauvorhaben wurde – was nichts daran änderte, dass Kassandra beschlossen hatte, erst hundertprozentig daran zu glauben, wenn sie den Baubeginn mit eigenen Augen sah. Anders als das Wetter war das nun geplante Projekt nicht perfekt. Aber abgesehen von dem ihres Vaters Harald Barthel, der drei Jahre zuvor ein Kindererholungsheim aus der Ruine hatte machen wollen, jedoch an der mangelnden Entscheidungsfreudigkeit der Wustrower Gemeindevertretung gescheitert war, schien dies das reellste Vorhaben seit Schließung der Schule Anfang der Neunziger zu sein. Investor und Architekt wollten für zwanzig Millionen Euro knapp einhundertdreißig Ferienwohnungen entstehen lassen, einige Nebengebäude errichten und vor allem den Turm erhalten. Noch in Frage stand, ob die Mensa wegen zu schlechter Bausubstanz abgerissen werden musste. Das wäre eine bittere Pille, handelte es sich doch um einen ehemals wunderbaren großen, hohen Saal mit Holzsäulen und einem herrlichen Wandgemälde von Hedwig Holtz-Sommer, das eine Weltkarte, Schiffe, Boote und Seeleute darstellte.
Wie die meisten Fischländer begrüßte Kassandra grundsätzlich, dass dieses traditionsreiche Gebäude, wenn auch nicht als Seefahrtschule, eine Zukunft haben würde. Trotzdem – oder gerade deshalb – wollte sie die Vergangenheit fotografisch festhalten, selbst die der Ruine. Nicht im Hinblick auf eine entsprechende Fotoausstellung, obwohl sie damit sicher Interesse hervorrufen könnte, sondern weil es ihr wichtig war. So verbrachte sie die nächste Stunde damit, Gelände, Gebäudetrakte und Details wie Türen, zerstörte Fenster und Treppen, aus denen schon Bäume hervorwuchsen, aus allen möglichen Perspektiven abzulichten, und sie vergaß auch die Graffiti nicht. Ab und zu fragte sie sich bei ihrer Arbeit, was ihr Vater dazu sagen würde, der seit einer Woche in Italien auf einer Urlaubsreise war, der ersten seit einer Ewigkeit.
Wieder auf der Parkstraße, winkte ihr von gegenüber Max zu, der auf einer kleinen Bank in seinem Vorgarten saß. Er hatte schwere Zeiten hinter sich, umso mehr freute es Kassandra, dass es ihm mit der Zeit immer besser ging. Dennoch kam sie nicht umhin, beinah jedes Mal, wenn sie ihn sah, an das zu denken, was Max zurück nach Wustrow gebracht hatte: die Tote auf dem Zeesboot – das letzte Verbrechen, das Kassandra und Paul aufgeklärt hatten. Nicht, dass es seitdem in Wustrow ausschließlich ruhig zugegangen wäre. Aber als im vorigen Jahr nach einem Unwetter eine skelettierte Leiche freigelegt worden war, hatten sie das urlaubsbedingt verpasst. Bis heute wusste sie nicht, ob sie das bedauern oder froh darum sein sollte.
Sie wechselte ein paar Worte mit Max und hatte sich schon verabschiedet, als er ihr einen Gruß an Paul hinterherrief. Im Gehen schaute sie noch einmal zurück, und als sie ihren Weg schließlich fortsetzen wollte, wäre sie fast in Jan Möller hineingelaufen. Der war mit den Gedanken ganz weit weg und fuhr erschrocken zusammen. Er murmelte etwas Unverständliches vor sich hin, das ebenso gut ein Fluch wie eine Entschuldigung sein mochte, und schlängelte sich an ihr vorbei.
»Jan?«, fragte sie spontan. »Ist alles in Ordnung?«
Er wandte sich um, die Stirn halb zornig, halb sorgenvoll in Falten gelegt. »Hast du’s noch nicht gehört? Letzte Nacht hat’s mich erwischt, die haben in meiner Tischlerei eingebrochen. Außerdem hab ich Zahnschmerzen wie blöde.« Ohne ihre Antwort abzuwarten, wandte er sich wieder um und lief eilig die Straße hinunter Richtung Zahnarzt.
Kassandra sah ihm nach, wie er die ehemaligen Büdnereien und Kapitänshäuser passierte, Schmuckstücke mit blühenden Vorgärten, manche mit kleinen Lauben wie in Max’ Vorgarten. Leise seufzte sie. Jetzt war geschehen, was alle befürchtet hatten, und sie war doppelt froh um die Alarmanlagen. Wenigstens würden sie heute Abend zur Buchvorstellung in die »Mühlen-Galerie« gehen können, ohne ständig daran denken zu müssen, was gerade zu Hause passierte.
Bis zum Nachmittag hatte Kassandra die Fotos auf ihr Laptop gespielt, sich umgezogen und sich auf den Weg zu Paul gemacht. Als sie das Haus betrat, saß er mit Erik Sundberg zusammen über alten Unterlagen zur Seefahrtschule.
»Keine Angst, ich stör nicht weiter«, sagte Kassandra lächelnd, woraufhin beide gleichermaßen verdutzt wie schuldbewusst aufsahen. Sie waren so von der Vergangenheit gefangen genommen gewesen, dass sie ihr Kommen gar nicht gehört hatten.
»Tut mir leid, Kassandra«, sagte Erik zerknirscht. »Pauls Archiv ist grandios, ich kann einfach nicht genug davon bekommen und vergesse alles andere.«
Selbst wenn es Kassandra etwas ausgemacht hätte, hätte ihr allein Eriks leichter schwedischer Akzent den Wind aus den Segeln genommen. Sie lachte. »Schon klar, macht ruhig weiter.«
Auch Paul lachte, nur um sich gleich darauf wieder mit Erik über die Papiere zu beugen. Zur Seefahrtschule besaß er besonders viele Unterlagen, nicht zuletzt, weil sein Vater dort als Professor und Leiter des Wissenschaftsbereichs Technische Mechanik gearbeitet hatte. Das wiederum faszinierte Erik, der eigentlich an der Technischen Hochschule Chalmers in Göteborg lehrte, im Wintersemester aber eine Gastprofessur an der Fakultät für Maschinenbau und Schiffstechnik der Universität Rostock innehatte. Er war bereits im Frühling zu einem Kurzbesuch nach Rostock gekommen, hatte sich die Umgebung angesehen und festgestellt, dass ihn Wustrow nicht nur landschaftlich, sondern auch marinehistorisch reizte. Jemand hatte ihm empfohlen, sich an Paul zu wenden, wenn er etwas über die Geschichte des Fischlandes erfahren wollte, und schon damals hatte sich ihre Freundschaft abgezeichnet. Paul war schließlich behilflich gewesen, für Erik, seine Frau und ihre fünfjährige Tochter für die Dauer des Aufenthaltes eine Bleibe zu finden. Seit Mitte August waren sie nun schon hier, anderthalb Monate bevor das Semester an der Uni begonnen hatte.
Mit einem Glas Johannisbeersaft setzte Kassandra sich ihnen gegenüber, auch wenn sie wenig zur Unterhaltung beitragen konnte.
»Langweilen wir dich sehr?«, fragte Erik irgendwann.
»Gar nicht. Es macht Spaß, euch zuzugucken. Zwei Jungs mit ihrem Spielzeug.«
Kassandra zwinkerte ihm zu, er zwinkerte zurück, und sie stellte wieder einmal fest, dass Äußerlichkeiten gar nichts besagten. Da nämlich machte Erik wenig her. Er neigte zur Fülle, und seine rotbraunen Haare wichen schon langsam zurück, obwohl er gerade mal vierzig war. Aber er hatte das gewisse Etwas mit seinem Akzent und in seinen eigentümlich hellgrünen Augen, seiner Mimik und Gestik. Alles zusammen bewirkte, dass sich so manche Frau nach ihm umdrehte.
»Ja, ja, lästere du nur«, sagte Paul. Er streckte ihr die Hand entgegen und zog sie mit einem Ruck zu sich rüber aufs Sofa, sodass sie wenig elegant neben ihn plumpste.
»Wer lästert denn hier?«, fragte sie lachend. »Erik, hast du jemanden lästern hören?«
»Niemals!«
»Meine Rede.« Sie wollte noch etwas hinzufügen, als das Telefon sie unterbrach.
»Kannst du rangehen?«, bat Paul. »Wenn nichts Wichtiges ist, kann ich mit Erik ein bisschen weiterwühlen. Ich hatte hier irgendwo …« Seine Stimme verlor sich, während er nach einem Karton zu seinen Füßen griff und etwas zu suchen begann.
Kassandra wechselte einen amüsierten Blick mit Erik und ging ans Telefon.
»Hallo, Kassandra, ist Paul da?«, meldete sich eine gehetzt klingende Stimme.
»Matthias?«, vergewisserte sich Kassandra verwundert. Falls das wirklich Matthias Röwer war, war dies das erste Mal, dass sie ihn anders als selbstsicher und souverän erlebte.
»Was? Ja, entschuldige, ich bin etwas … Greta ist krank geworden, sie kann heute Abend nicht aus der Biografie lesen, ich wollte fragen, ob Paul das übernehmen würde.«
Das Gehetzte in Matthias’ Stimme hatte sich nur wenig gelegt. Es musste Greta wahrhaftig schlecht gehen. Jeden anderen hätte Kassandra gefragt, ob er die Veranstaltung nicht lieber absagen wollte, aber so etwas verbot sich bei Matthias, der in der Regel sehr genau wusste, was er wollte.
»Oje, das tut mir leid, gute Besserung für sie«, sagte sie also nur. »Bleib kurz dran, bitte, ich reich dich weiter.«
Paul hatte anscheinend doch mit einem Ohr zugehört, er runzelte die Stirn, als er das Telefon entgegennahm. »Matthias, was ist los bei euch?« Eine Weile hörte er zu, dann sagte er: »Du weißt, ich bin nicht gewohnt zu lesen und alles andere als Spitzenklasse darin, aber wenn du meinst, dass es reicht, springe ich natürlich gern ein. An welche Stellen hast du gedacht?«
Als er aufstand, die Biografie über Carl Röwer aus dem Regal holte, sich an den Schreibtisch setzte und begann, nach Matthias’ Anweisung die entsprechenden Seiten zu markieren, schüttelte Kassandra den Kopf. Pauls Stärke war sein enormes, einfühlsames schriftstellerisches Erzähltalent, aber er konnte auch ausgezeichnet lesen. Sie hatte nie verstanden, warum er das anders sah.
»Ist was passiert?«, fragte Erik.
»Heute Abend findet in der ›Mühlen-Galerie‹ von Matthias Röwer die Buchpremiere der Biografie seines Großvaters statt. Matthias’ Frau Greta hat sie geschrieben und wollte daraus lesen, ist aber plötzlich krank geworden. Paul soll einspringen.«
Kassandra musste nicht hinzufügen, warum Matthias ausgerechnet auf Paul gekommen war. Erik gehörte zu den wenigen Nicht-Fischländern, denen Paul erzählt hatte, dass er unter dem Pseudonym Alexander Hardenberg überaus erfolgreich Romane schrieb. Vor Kurzem erst hatte er das Manuskript für seinen Thriller »Der Wächter« abgeliefert, zu dem er sich im Jahr zuvor bei ihrem Urlaub auf Guernsey hatte inspirieren lassen. Mit seinem derzeitigen Projekt kehrte er nun wieder zurück zu seinen Ursprüngen, den poetischen Romanen über die See und die Menschen. An Sachbüchern hatte er sich dagegen noch nie versucht.
»Biografie?«, fragte Erik. »Ist der Großvater jemand Berühmtes?«
»Carl Röwer war ein bekannter Maler, seine Bilder sind unglaublich gut, insbesondere die Porträts, und hängen nicht nur in Galerien und Museen im Norden. Matthias hat auch gemalt, bevor er fast erblindete und sich auf die Arbeit als Galerist verlegte. Seine Bilder gefallen mir wegen ihrer Wirklichkeitsnähe beinah noch besser.«
Erik hob entsetzt die Brauen. »Was für ein Schicksal. Eine Augenkrankheit muss für Künstler das Schlimmste überhaupt sein.«
»Hm«, machte Kassandra unbestimmt. Dass Matthias’ Sehbehinderung keine Krankheit zugrunde lag, würde Erik sicher noch zu hören bekommen. Und wenn nicht, umso besser. Matthias schätzte kein Gerede, und speziell in diesem Fall gab es dafür gute Gründe.
Inzwischen hatte Paul das Telefonat beendet und kam zu ihnen herüber. Entschuldigend sah er Erik an. »Können wir morgen weitermachen? Ich muss mich ein bisschen vorbereiten.« Er hielt die Biografie hoch. Dann fiel ihm etwas ein. »Komm doch auch heute Abend und bring Thea mit, falls ihr für Ellie so kurzfristig einen Babysitter findet. Ihr lernt bestimmt ein paar interessante Leute kennen.«
Erik guckte zweifelnd. »Dazu gibt es sicher andere Gelegenheiten. Thea hat sich auf einen gemütlichen Abend zu Hause gefreut – und was mich betrifft: Kunst ist nicht mein Ding, fürchte ich. Ich ziehe einen Restaurantbesuch mit gutem Essen jederzeit vor.« Er lachte und strich über seinen Bauchansatz. »Außerdem muss ich nachher noch meinen Vater abholen. Sein Flieger dürfte gerade in Hamburg landen, sein Zug kommt um sechs in Rostock an.«
»Deinen Vater?«, wiederholte Paul verblüfft.
Erik verdrehte die Augen. »Ich sag’s dir, der Mann hat Hummeln im Hintern, spielt keine Rolle, dass er schon über achtzig ist. Er will sich unbedingt ansehen, wo ich hier abgeblieben bin – und sichergehen, dass ich unsere Dynastie nicht blamiere, nehme ich an.« Sein erneutes Augenrollen war liebevoll. »Arvid Sundberg, Chef vom Dienst. Das war er jahrelang in seiner Redaktion, das war und bleibt er in der Familie.«
»Klingt nach einem interessanten Mann«, urteilte Paul.
»Klingt nach einem anstrengenden Mann«, widersprach Erik, lächelte aber dabei.
»Findet er Kunst auch langweilig?«, fragte Kassandra.
»Bedauerlicherweise nicht – er kommt wahrscheinlich auch wegen eurer vielen Galerien und Ausstellungen.«
Paul tippte auf das Buch. »Dann sollte er sich das heute nicht entgehen lassen. Es lohnt sich, in der Mühle hängen zurzeit ein paar der besten Gemälde aus Carl Röwers Werk.«
»Du bist ein hartnäckiger Mensch, Paul«, sagte Erik und erhob sich. »Aber ich verspreche nichts.«
»Alles klar. Wenn es nicht passt, morgen wieder hier, ja?«
»Auf jeden Fall. Ich kann dir nicht genug für deine Zeit danken. Wir sehen uns.«
Nachdem Erik sich verabschiedet hatte, setzte sich Paul an den Schreibtisch und begann, die markierten Stellen zu lesen, zuerst ein paarmal nur für sich, dann laut. Kassandra unterbrach ihn nicht, sondern hörte fasziniert zu, obwohl sie das Buch bereits kannte, weil Matthias ihnen vor drei Wochen ein Vorabexemplar vorbeigebracht hatte. Paul lesen zu hören brachte ihr den Text noch einmal näher. Greta konnte zweifellos gut schreiben. Manches Mal steckte etwas zwischen den Zeilen, das Außenstehende nicht erkennen würden, Paul aber verstand und Kassandra erklärt hatte. Sie erinnerte sich daran, dass er nach der ersten Lektüre nachdenklich gewesen war. Als wäre er dabei über etwas gestolpert. Auf ihre Frage hin hatte er nur den Kopf geschüttelt, und Kassandra wusste, wann sie besser nicht nachhakte.
Schließlich klappte Paul das Buch zu. »Zweimal soll reichen, sonst bin ich nachher heiser. Meinst du, es geht so?«
Kassandra strich ihm über die Hand, die auf dem Buch lag. »Perfekt.«
Er legte seine andere Hand auf ihre und sah zu ihr auf. Kassandra stockte der Atem, sowohl von seiner Berührung als auch von seinem Blick.
Paul las in ihren Augen, was sie wollte, und sagte anzüglich: »Du wirst warten müssen, Kassandra, Liebes, es sei denn, du kannst verantworten, dass sich Matthias extrem kurzfristig nach einem zweiten Ersatz umsehen muss.« Er stand auf und küsste ihre Nasenspitze. »Geduld wird belohnt.«
Während Paul sich umzog, fiel Kassandra ein, dass sie ihm noch gar nicht von dem Einbruch bei Jan erzählt hatte. Das holte sie nach, als sie durch den dunklen Abend zur Mühle gingen.
Paul antwortete nicht sofort. Er ließ seinen Blick über das Norderfeld schweifen, auf das der fast volle Mond silbrig von einem schwarzen Himmel schien. Die Fenster der Häuser auf der anderen Straßenseite waren beleuchtet und strahlten eine fragile Heimeligkeit aus. Wer konnte sagen, in welches dieser Häuser als Nächstes eingebrochen werden würde? Paul blieb stehen, kurz nachdem sie in die Norderstraße eingebogen waren. Am Ende der kleinen Sackgasse, die links von ihnen lag, stand Jans Häuschen mit dem Tischlereibetrieb daneben.
»Klug ausgesucht«, sagte er. »Ziemlich ab vom Schuss, nur wenige Nachbarn und ein paar Ferienimmobilien, die um diese Jahreszeit schon leer stehen. Aber …«
Kassandra verstand, worauf er hinauswollte. »Warum gerade Jans Tischlerei? Weder da noch in seinem Haus dürfte es große Reichtümer zu holen geben.«
Jan, der sich auf Fischländer Haustüren spezialisiert hatte, lebte in relativ bescheidenen Verhältnissen. Die typischen Tür-Ornamente, die oft etwas mit der Seefahrt zu tun hatten, aber genauso oft noch auf heidnischen Motiven basierten, waren weithin bekannt und beliebt. Nicht nur echte alte Türen, die Jan restaurierte, schmückten sie. Er schreinerte ebenso auf Bestellung komplett neue nach alten Vorbildern. Er war gut. Aber nicht der Einzige und nicht der Bekannteste in der Region, weshalb er seinen Lebensunterhalt vorwiegend mit Möbeltischlerei und -reparaturen verdiente. Immerhin damit ging es bergauf, trotzdem gab es weit lohnendere Objekte in Wustrow.
Paul setzte sich wieder in Bewegung. »Mehrere Möglichkeiten: Entweder wir sind nicht richtig informiert, was Jans Verhältnisse angeht, die Bande war nicht richtig informiert, oder sie haben etwas Bestimmtes gesucht. Was auch immer.«
»Oder dieser Einbruch gehörte nicht zur Serie«, gab Kassandra zu bedenken.
»Stimmt. Wobei mein letzter Punkt und deiner sich nicht ausschließen. Wir sollten mit Jan reden.«
Kassandra stieß Paul in die Seite. »Seit wann geben wir uns mit Nichtigkeiten wie Einbrüchen ab?« Schon während sie es sagte, erschien vor ihrem inneren Auge das Bild einer Gartenpforte, durch die zwei Jahre zuvor ein Hund weggelaufen war. Eine Nichtigkeit. Hatte sie gedacht – im Gegensatz zu Paul, der recht behalten hatte. Ganz davon abgesehen, dass weder das Verschwinden von Benni damals noch der Einbruch letzte Nacht für die jeweils Betroffenen Nichtigkeiten darstellten. »Das war dumm von mir«, sagte sie, ehe Paul etwas erwidern konnte.
Erneut blieb Paul stehen, direkt unter einer Laterne, sodass sie seinen Ausdruck erkennen konnte, als er sich zu ihr herunterbeugte. Er wusste, was in ihr vorging. »Kassandra. Wir hätten damals nichts ändern, nichts verhindern können. Es hatte doch alles längst begonnen.«
»Vielleicht hat es das diesmal auch. Aber vielleicht können wir diesmal trotzdem Schlimmeres verhindern. Falls hinter alldem mehr steckt, als auf den ersten Blick ersichtlich ist, und falls wir rechtzeitig herausbekommen, was es ist. Daran hast du doch gedacht, als du vorschlugst, mit Jan zu reden, oder?«
Paul nickte. »Mehr oder weniger.«
»Dann tun wir das. Gleich morgen.«
Die Wustrower Mühle ragte zwischen den Bäumen empor, die jetzt, Mitte Oktober, bereits einiges an Laub verloren hatten. Bei Tageslicht wirkte sie sehr imposant, obwohl ihr die Flügel fehlten. Sie stand auf einer kleinen Erhebung, einem Wall gleich, der Unterbau rot verputzt, die übrigen Stockwerke mit Rohr gedeckt. In der Dunkelheit hätte sie unheimlich ausgesehen, umgeben von schwarzen Bäumen, doch die einladend beleuchteten Fenster vermittelten denselben heimeligen Eindruck wie die Häuser am Norderfeld.
Das Tor, das das Grundstück von der Thälmann-Straße trennte, stand offen. Kassandra hörte Paul leise seufzen, als sie hindurchtraten.
»Lampenfieber?«, fragte sie.
Weil Paul davon überzeugt war, es nicht gut genug zu können, wurden seine Hörbücher von professionellen Sprechern eingelesen – und weil er sein Pseudonym nicht lüften wollte, hatte er noch niemals eine Lesung gehalten.
»Bisschen«, murmelte er. »Greta ist eine tolle Kollegin, ich will sie nicht blamieren.«
»Das wirst du nicht. Ich bin sicher, sie freut sich, dass ausgerechnet du für sie einspringst. Sie liebt deine Romane.«
»Hm«, machte Paul nur.
Mittlerweile hatten sie die Mühle umrundet und betraten sie durch die weiße Eingangstür. Carl Röwers Gemälde dominierten die Wände, aber nicht die Galerie an sich. Kassandra konnte nicht sagen, wie dieser Effekt entstand. Sie fühlte sich von jedem einzelnen Bild – ob Fischländer Landschaft oder Porträt – angezogen, und sie spürte, wie die Gemälde und die Mühle miteinander verschmolzen, als gehörten sie untrennbar zusammen.
Unter den vielen Besuchern, die schon hier waren, obwohl die Veranstaltung erst in zwanzig Minuten beginnen sollte, entdeckte Kassandra Matthias am Tresen, wo er sich mit Heinz unterhielt. Heinz war im Sommer sein Trauzeuge gewesen, als er und Greta geheiratet hatten – letzten Endes Ergebnis jener Ereignisse um den Leichenfund auf dem Friedhof, der nur einen Katzensprung von hier entfernt lag. Paul war gebeten worden, Gretas Trauzeuge zu sein – von ihr, weil sie beeindruckt war von ihm und seinem Wissen über das Fischland, und von Matthias, weil er fand, dass zwei Schriftsteller doch gut zusammenpassten. Greta hatte ursprünglich keine Ahnung gehabt, wer sich hinter dem Pseudonym Alexander Hardenberg verbarg, und ihr Gesicht, nachdem sie es erfahren hatte, war Gold wert gewesen.
Heinz hatte Kassandra und Paul eintreten sehen, winkte und sagte etwas zu Matthias, der sich daraufhin umdrehte. Ungewollt fiel Kassandras Blick zuerst auf die Narbe, die sich quer über seine Stirn von seinem dunklen Haaransatz bis zu seiner Nasenwurzel zog. Seltsamerweise wirkte sie nicht entstellend, sondern machte sein ohnehin markantes Gesicht interessanter, und die Sonnenbrille, die er trug, verlieh ihm eine etwas geheimnisvolle Aura, obwohl er darauf sicher gern verzichtet hätte. Seine Augen waren empfindlich und schmerzten, wenn sie zu grellem Licht oder wie hier in der Mühle den zwar sanften, aber trotzdem hellen Halogenstrahlern ausgesetzt wurden. Plötzlich jedoch war Kassandra überzeugt, dass das heute Abend nicht der Grund für die Brille war. Etwas an seiner Haltung irritierte sie ebenso wie sein gehetzter Tonfall vorhin am Telefon. Dann schalt sie sich selbst. Sie sah – vermutlich wegen der Einbrüche – schon da Rätsel, wo es gar keine gab. Matthias musste nicht nur nervös wegen der Buchvorstellung sein, sondern sich auch um Greta sorgen.
Bevor sie fragen konnte, was ihr fehlte, sagte er: »Danke, Paul, ich weiß zu schätzen, dass du das hier machst. Es wäre schwierig gewesen, alles zu verschieben, und Greta hätte … Greta wollte das auch nicht.«
»Kein Problem«, sagte Paul. »Sie hat spannende Abschnitte ausgewählt, die neugierig auf Carl und seine Bilder machen.«
Matthias lächelte. »Werde ich ihr ausrichten.«
War sein Lächeln verkrampft? Oder kam Kassandra das nur so vor? Hörte sie schon wieder das Gras wachsen, nur weil Matthias sich eben versprochen und sie geistig seinen ursprünglichen Satz vervollständigt hatte mit Greta hätte das auch nicht gewollt – als hätte sie es gar nicht selbst entschieden?
»Na, so was«, riss Heinz sie aus ihren Gedanken. »Ich dachte, der interessiert sich nur für Schiffe.«
Kassandra folgte seinem Blick und sah Erik mit Thea im Eingangsbereich stehen und sich suchend umschauen.
»Entschuldigt mich«, sagte Paul. »Wenn ich ihn schon animiert habe, sich mal was anderes als Schiffe anzusehen, sollte ich mich kümmern.«
»Wer ist gekommen?«, fragte Matthias.
»Erik Sundberg mit seiner Frau, du weißt schon, der schwedische Professor, von dem ich dir erzählt habe«, erklärte Heinz und stutzte. »Ah, anscheinend gehört der ältere Mann auch zu ihnen.«
»Das dürfte sein Vater sein«, meinte Kassandra.
Tatsächlich stellte Erik ihn Paul vor, sie begrüßten einander, und Paul lotste die Sundbergs in ihre Richtung.
Paul übernahm nun seinerseits die Vorstellung. Natürlich kannte Kassandra Thea bereits, sie überragte Erik um zwei, drei Zentimeter, hatte lockiges dunkelbraunes Haar, sodass kein Mensch sie je für eine Schwedin gehalten hätte. Dabei war sie schwedischer als Erik, dessen Mutter aus Deutschland stammte, weshalb er die Sprache so gut beherrschte. Theas Deutsch war weniger gut, sie verständigte sich hauptsächlich auf Englisch, jetzt nickte sie allen nur freundlich zu, was auch Eriks Vater Arvid tat, als die Reihe an ihn kam.
Matthias sprach ihn auf Englisch an. »Sie haben eine weite Reise hinter sich, Herr Sundberg – bestimmt hatten Sie sich für diesen Abend was anderes vorgestellt als einen Galerie- und Lesungsbesuch. Es freut mich, dass Sie trotzdem gekommen sind.«
Arvid Sundberg mochte um die achtzig sein und war wie Erik nicht sonderlich groß, dennoch wirkte er anders als sein Sohn äußerst agil. Als Erik seinen Beruf erwähnt hatte, hatte Kassandra sich jemanden vorgestellt, der hinter einem Schreibtisch saß und Artikel verfasste. Wenn sie ihn so ansah, glaubte sie, dass er weit häufiger auf der Straße unterwegs gewesen war, um zu recherchieren, mit Menschen zu reden und ihnen zuzuhören. In seinen tiefblauen Augen lag eine Weisheit, die Kassandra an Pauls alten Freund Bruno erinnerte.
»Wir können deutsch sprechen, meine Frau hat Wert darauf gelegt, dass ich es lerne«, sagte er. Seine Stimme klang ein wenig rau, sein Akzent war schwerer als Eriks. »Und bitte, wenn es nicht zu viele Umstände macht«, er lächelte entschuldigend, »könnten wir alle das Siezen lassen? In Schweden duzt man sich üblicherweise, und so schön Deutschland ist, das Formelle habe ich nie gemocht.«
Kassandra, die neben Heinz stand, spürte, wie er leicht zusammenzuckte. Heinz war kein Freund von allzu großen Vertraulichkeiten – er duzte Leute nicht einfach so, ein Du von ihm bedeutete was.
Paul hatte weniger Probleme. »Gerne. Erik sagt, du interessierst dich für Kunst. Du solltest dich von Matthias durch die Mühle führen lassen. Niemand weiß so viel über die Werke seines Großvaters wie er.« Er berührte Matthias kurz am Arm. »Was meinst du?«
Matthias nickte etwas abwesend. »Jederzeit. Wie lange bleibst du in Wustrow, Arvid?«
»Ich seh mich morgen bei Tageslicht mal um. Wenn es mir gefällt, ein paar Wochen. Wir finden schon einen Termin.« Als fürchtete er, Matthias könne denken, er hielte das für selbstverständlich, schob er hinterher: »Es würde mich freuen.«
Diesmal nickte Matthias nur, ohne etwas zu erwidern.
Obwohl sie ihn nicht sehr gut kannte, wusste Kassandra nun definitiv, dass mit ihm etwas nicht stimmte. Er konnte schroff und arrogant rüberkommen, ja, aber das hier war anders.
»Ich bin sicher, das Fischland wird dir gefallen«, wandte sie sich an Arvid. »Ich bin noch niemandem begegnet, dem’s nicht gefällt.«
Arvid lachte und zwinkerte ihr zu wie Erik am Nachmittag. »Dann kann ja nichts schiefgehen.«
Kassandra hatte sich einen Platz seitlich der kleinen Bühne gesucht, auf der Paul saß, die Lesebrille noch in der Hand, Gretas Buch vor sich auf dem Tisch. Matthias stand daneben und begrüßte die Zuhörer, bedankte sich für ihr Kommen, sagte ein paar Worte über seinen Großvater und die Biografie, erklärte kurz, warum Greta nicht da sein konnte, und stellte Paul vor. All das mit gewohnter Souveränität, nicht ein Hauch von Abwesenheit, Anspannung oder Sorge lag in seiner Haltung, seiner Stimme oder auf seinem Gesicht. Nur die Augen waren verborgen hinter der Brille, und Kassandra fragte sich, was sich in ihnen widerspiegeln würde, wenn er sie absetzte.
Schließlich begann Paul zu lesen. Zuerst hörte Kassandra zu, doch da sie den Text schon kannte, ließ sie nach dem ersten Teil ihre Blicke durch die Galerie schweifen. Matthias stand reglos im Halbschatten am Tresen, der Bühne zugewandt. Im Publikum entdeckte sie ein paar bekannte Gesichter. Der Kurdirektor war da, die Buchhändlerin und die Bibliothekarin. Heinz und Mirko Peters, der in Ahrenshoop eine Galerie betrieb, hatten in der zweiten Reihe Platz genommen, dahinter saßen die Sundbergs. Thea konnte der Lesung kaum folgen, sie betrachtete stattdessen aus der Entfernung Carl Röwers Gemälde, die ihr zu gefallen schienen. Erik rutschte etwas unruhig auf seinem Stuhl hin und her, schaute von Paul zu den Gemälden, wieder zurück, drehte den Kopf in Richtung Tresen, wo Matthias immer noch reglos stand, und widmete seine Aufmerksamkeit wieder für ungefähr eine halbe Minute der Biografie. Offensichtlich langweilte er sich zu Tode und war nur gekommen, um entweder Paul oder seinem Vater einen Gefallen zu tun. Arvid dagegen saß zurückgelehnt und mit geschlossenen Augen da. Sogar aus der Entfernung sah Kassandra, dass er keineswegs eingeschlafen war, sondern konzentriert lauschte. Als Erik erneut seine Sitzposition änderte, beugte Arvid sich zu ihm hinüber und wisperte ihm etwas zu. Erik guckte unwillig, aber für die nächsten fünf Minuten rührte er sich nicht.
Nach einer knappen Stunde klappte Paul das Buch zu, Applaus brandete auf, für den er sich bedankte, aber betonte, dass der eigentlich Greta gelten müsse. Er überließ Matthias, der die eine oder andere Publikumsfrage zu Carl Röwer und seinen Gemälden beantwortete, seinen Platz, danach war der offizielle Teil der Veranstaltung beendet. Einige gingen, aber viele blieben noch, schauten sich in der Mühle um, standen in Grüppchen beieinander und redeten.
»Du warst gut«, sagte Kassandra zu Paul.
»Sie hat recht«, stimmte Matthias zu. »Du solltest …«
In diesem Moment wurde er von einer Frau unterbrochen, die sich gescheut hatte, ihre Frage öffentlich zu stellen. Schnell wurde klar, dass das etwas länger dauern würde, sodass Paul und Kassandra zu Heinz traten, der sich eben von Mirko verabschiedet hatte. Kassandra registrierte, dass Heinz’ Blick auf Matthias ruhte.
»Hat er dir gesagt, was Greta fehlt?«, fragte sie ihn.
»Nicht direkt. Ich hab schon überlegt, ob sie schwanger ist und er das nur noch nicht an die große Glocke hängen will. Ich erinnere mich, dass Karin damals öfter klagte. Rückenschmerzen, Übelkeit …«
Heinz’ Frau hatte schließlich ihr Kind verloren, und selbst heute noch lag ein Schmerz in seiner Stimme, der Kassandra berührte.
»Das würde erklären, warum Matthias vorhin so abwesend war«, meinte sie.
»Du hast es also auch bemerkt«, sagte Heinz nachdenklich. »Würde ihn das letztlich aber so aus der Bahn werfen?«
»Eine Sehbehinderung macht es nicht leichter, für ein Kind zu sorgen.«
»Na, noch ist es ja nicht so weit«, mischte Paul sich ein. »Außerdem ist Matthias schon mit ganz anderen Dingen fertiggeworden als mit einer schwangeren Ehefrau und der Aussicht, Vater zu werden, die ja alles in allem äußerst erfreulich ist.«
»Frau Röwer ist schwanger?«, fragte da Erik hinter ihnen.
Paul drehte sich um und lachte. »So leicht entstehen Gerüchte. Nein, nicht dass ich wüsste. Wir haben nur überlegt, was Greta fehlen könnte.«
»Ach so. Und warum fragt ihr nicht einfach?«
»Weil Matthias es erzählt hätte, wenn er es erzählen wollte«, schmunzelte Paul.
»Hätte ich mir denken können.« Erik schmunzelte ebenfalls. »Er wirkt nicht gerade wie der offene Typ.«
»Was deinen Vater aber nicht davon abhält, mit ihm ins Gespräch zu kommen.«
Paul machte eine Kopfbewegung zur gegenüberliegenden Wand, wo Matthias mit Arvid vor einem beeindruckenden Gemälde stand, das einen Schneesturm über dem Bodden zeigte. Kassandra kannte es und erinnerte sich des Gefühls, die eisigen Flocken direkt auf ihrer Haut zu spüren, das sie beim ersten Betrachten überkommen hatte.
Erik folgte Pauls Blick. »Falls Greta Röwer schwanger ist, wird mein Vater ihrem Mann das aus der Nase ziehen. Arvid Sundberg war ein außerordentlich guter Journalist.«
»Das bezweifele ich nicht«, sagte Paul. »Ich schätze allerdings, dass er in Matthias seinen Meister findet. Der lässt sich nichts aus der Nase ziehen.«
»Um was wollen wir wetten?«
»Ein Essen im ›Schimmel’s‹?« Paul grinste. Das Restaurant war eines der exklusivsten in Wustrow und nicht eben unterste Preisklasse.
»Männer!«, sagte Kassandra. »Im Übrigen glaube ich nicht, dass die beiden über Greta reden. Es geht eher um den ›Boddensturm‹.«
Arvid hatte sich dem Gemälde zugewandt und schaute es ebenso konzentriert an, wie er vorhin Paul gelauscht hatte. Matthias stand einen Schritt hinter ihm und unterbrach Arvids Betrachtungen nicht. Das tat Thea, die sich zu ihnen gesellte. Zwischen den dreien entspann sich eine angeregte Unterhaltung.
»Ich sollte meine Familie von Herrn Röwer loseisen«, sagte Erik, »er wird froh sein, wenn er hier dichtmachen und nach Hause zu seiner Frau kann. Wir sehen uns morgen, Paul.«
»Herr Röwer?«, murmelte Heinz, kaum dass Erik außer Hörweite war. »In diesem Fall kann man wohl nicht sagen: wie der Vater, so der Sohn. Der Herr Professor ist etwas weniger schnell mit dem Duzen.«
»Wie man’s nimmt«, widersprach Paul. »Wir waren nach zehn Minuten per Du, aber es stimmt schon: Erik ist zurückhaltender.« Er lächelte hintergründig. »Das Erbe seiner deutschen Mutter?«
Heinz’ linke Braue rutschte in die Höhe. »Das wird’s sein.« Er lachte sein typisches meckerndes Lachen, sodass sogar Matthias herüberschaute, der immer noch mit den Sundbergs vor dem »Boddensturm« stand. Unvermittelt verschwand das Lachen aus Heinz’ Zügen. »Wenn es sich hier leert, werde ich mit Matthias reden. Ich hab ein ungutes Gefühl.«
Heinz’ Gefühl trog ihn selten, das war Kassandra nur zu bewusst. Trotzdem hoffte sie, dass er sich diesmal irrte. Die Sundbergs hatten sich mittlerweile von Matthias verabschiedet, immer mehr Leute verließen die Mühle, aber bis zum Schluss ergab sich für Heinz keine Möglichkeit, allein mit Matthias zu sprechen.
Auf dem Heimweg, den Kassandra, Paul und Heinz gemeinsam antraten, stellte er fest: »Ich könnte schwören, er wusste, dass ich mit ihm reden wollte, und tat alles, um das zu vermeiden.«
»Willst du es noch mal versuchen?«, fragte Kassandra, als sie schon vor seinem Haus standen.
Heinz nickte. »Morgen. Nacht, ihr zwei.« Damit öffnete er seine Vorgartenpforte und verschwand im Haus.
»Dann haben wir ja morgen alle ein Gespräch vor uns«, sagte Paul. »Ich bin gespannt, aus welchem mehr herauskommt – aus Heinz’ mit Matthias oder aus unserem mit Jan wegen des Einbruchs.«
Den Rest der Nacht redeten sie nicht mehr, stattdessen belohnte Paul Kassandras Geduld.
2
Matthias ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Es war still im Haus. Viel zu still. Und zu leer, er wusste sofort, dass niemand hier war. Die Stille klang laut in seinen Ohren, die Leere zerriss ihn. Er hatte auf ein Wunder gehofft und doch geahnt, dass es nicht geschehen würde.
Erschöpft ließ er sich aufs Sofa sinken und starrte lange ins Dunkel, bevor er sich mit den Händen übers Gesicht fuhr und wieder aufstand. In der Küche nahm er ein Glas aus dem Schrank, ließ Leitungswasser hineinlaufen und stellte sich an die Terrassentür, als ob er draußen etwas sehen könnte. Er ballte seine Hand zur Faust und hieb auf die Scheibe ein. Verdammt! Er war verdammt zur Untätigkeit. Er konnte nur warten. Seit gestern Nacht wartete er.
Vergeblich.
Nebenan im Arbeitszimmer klingelte das Telefon. Normalerweise bewegte er sich mit größter Sicherheit durchs Haus, jetzt hätte er beinah einen Küchenstuhl umgeworfen. Trotz seiner Eile war der Anrufbeantworter bereits angesprungen, eine Journalistin fragte nach einem Interview zu Carls Biografie. Er bekam weder ihren Namen noch ihre Telefonnummer mit. Sein Herz raste, das Adrenalin jagte durch seinen Körper, und plötzlich ging ihm auf, dass er möglicherweise auf andere Art eine Nachricht bekommen hatte. Er hastete zurück durch den Wohnraum, riss die Haustür auf und wollte den Briefkasten aufschließen. Der Schlüssel, er hatte den Schlüssel vergessen. Der Briefkastenschlüssel hing an einem Brett hinter der Tür, er griff danach, ließ ihn fallen, suchte ihn auf dem Boden, fand ihn endlich und brauchte ewig, bis er ihn im Schloss hatte. Seine Finger ertasteten etwas. Er wusste, was es war, ehe er es in die Hand nahm. Ein Diktiergerät.
Wie letztes Mal. Als er nach Hause gekommen und Greta nicht da gewesen war. Als er nach drei Stunden versucht hatte, sie anzurufen, und es oben im Schlafzimmer geklingelt hatte, wo er ihr Handy fand, aber nicht sie. Als er nach drei weiteren Stunden, in denen er alle Leute gefragt hatte, die Greta kannte, immer noch nicht gewusst hatte, wo sie steckte. Als ihm klar geworden war, dass etwas passiert sein musste, weil sie nie so lange fortblieb, ohne Bescheid zu sagen, erst recht nicht bis weit nach Mitternacht. Als es schließlich an der Haustür geläutet und er kurz darauf in seinem Briefkasten ein Diktiergerät gefunden hatte wie dieses, das er jetzt in der Hand hielt.
Eine flüsternde Stimme hatte ihm gedroht, dass er Greta nicht lebend wiedersehen würde, wenn er sich auffällig verhielt, etwas anders machte als geplant und vor allem wenn er die Polizei einschaltete. Er hatte alles befolgt – und er hatte das Lösegeld gezahlt. Womöglich war es ein Fehler gewesen, nicht zur Polizei zu gehen, als Greta auch danach nicht wie versprochen freigelassen worden war. Aber er hatte diese heisere Flüsterstimme ständig im Ohr, die ihm sagte, er würde es bereuen, wenn er sich zu welchem Zeitpunkt auch immer an die Behörden wandte. Folglich hatte er es nicht getan.
Das kleine Gerät wog schwer in seiner Hand. Langsam drückte er die Tür wieder zu, hängte reflexartig den Schlüssel an seinen Platz und blieb im Eingangsbereich stehen. Sein Daumen fuhr über das Gerät, ertastete den Pfeil auf dem kleinen runden Knopf. Er wollte die Nachricht hören und fürchtete sie doch zugleich mehr als alles andere. Er betätigte den Knopf.
»Hast du wirklich gedacht, es wäre so einfach?«, fragte der Flüsterer. »Deine Gattin ist dir doch bestimmt noch ein bisschen mehr wert.« Ein heiseres Lachen erklang, und für einen verrückten Moment dachte Matthias, es mit einer Frau zu tun zu haben, die sich für einen Mann ausgab, doch da sprach die Stimme schon weiter. »An dieser Stelle wird für gewöhnlich ein Beweis verlangt, dass der geliebte Mensch noch am Leben ist. Den möchte ich dir nicht vorenthalten.«
Eine kleine Pause entstand, dann stellten sich Matthias’ Nackenhaare auf, als er Gretas Stimme erkannte.
»Matthias. Es … es geht mir gut.«
Eine rationale Stimme in seinem Kopf sagte, dass das kein Beweis war. Die Entführer konnten das sonst wann aufgenommen haben.
»Es war eine glänzende Idee, Paul für mich einspringen zu lassen«, fuhr Greta fort, leise, zitternd. Sie wollte keine Angst zeigen, aber es gelang ihr nicht, und Matthias verspürte, neben der Erleichterung, dass Greta zumindest vorhin noch gelebt hatte, den überwältigenden Wunsch, ihr zu sagen, dass er alles tun würde, absolut alles, um sie da rauszuholen. Er hörte sie Luft holen. »Matthias, ich …«
Sie schien zu stocken, eine Sekunde lang war nichts zu hören, bis sich die Stimme des Flüsterers wieder meldete.
»Ich denke, das ist Beweis genug.« Er hielt inne.
Matthias hätte ihn gern angeschrien, er solle endlich sagen, was er wollte, aber dies war ein verfluchtes Diktiergerät, kein Handy.
»Wir melden uns, wenn es an der Zeit ist. Bis dahin: keine Polizei, sonst war das Lob für deine grandiose Idee das Letzte, was du von deiner Frau gehört hast.«
Ein »Klack« ertönte, dann nichts mehr.
3
Sonnabend, 15. Oktober
Das wunderbare Herbstwetter hielt sich auch am nächsten Tag. Über Jans Häuschen strahlte die Sonne nach besten Kräften, als würde es niemals Schneestürme geben wie den, der von Carl Röwer für die Ewigkeit auf Leinwand gebannt worden war. Vielleicht hatte auch Jan das Wetter für einen Spaziergang genutzt, obwohl er sich ebenso gut um seinen Vorgarten hätte kümmern können, der ziemlich vernachlässigt aussah. Jedenfalls öffnete er nicht.
»Versuchen wir es in der Tischlerei«, meinte Paul.
Nach wenigen Schritten standen sie vor der Längsseite der Werkstatt, an der eines der Fenster notdürftig mit fester Folie verklebt war. Darunter lagen ein paar Scherben auf einem schmalen Grünstreifen.
»Auf dem Weg sind die Einbrecher jedenfalls nicht reingekommen«, stellte Kassandra fest.
Als sie um die Ecke bogen, fanden sie die Tür zur Tischlerei nur angelehnt. Paul klopfte vernehmlich, bekam jedoch keine Antwort. Vorsichtig schob er die Tür etwas weiter auf und spähte in den Raum, ohne dass Kassandra über seine Schulter sehen konnte.
»Jan«, sagte er, stieß die Tür ganz auf und trat ein. »Träumst du?«
»Was?«
Kassandra war Paul gefolgt und sah, wie Jan von seiner Werkbank aufschaute.
»Oh. Hallo. Ich habe euch gar nicht kommen hören. Brauchst du so was für deine Pension, Kassandra?« Er deutete auf den Türflügel, der vor ihm lag.
Neugierig kam Kassandra näher. Bis auf Schloss, Farbe und Glasscheibe wirkte der Flügel in ihren Augen fertig. Das untere kleine Türfeld hatte einen Doppelrahmen, war aber ansonsten schmucklos, wohingegen im mittleren, größeren Feld ein Sonnenoval durch kleine Eckviertel angedeutet wurde, die einen vierzackigen Stern umrahmten. Oben schließlich befand sich der Glasausschnitt mit geschwungenen Ziersprossen.
»Meine Tür ist glücklicherweise noch in Ordnung«, sagte sie, »aber die hier sieht toll aus. Welche Farbe soll sie bekommen?«
»Pastelliges Türkis und Weiß«, erklärte Jan. »Sollte sie jedenfalls. Der Kunde hat sich die Sache leider anders überlegt und will nun doch keine Fischländer Haustür.«
»Das kann er nicht machen«, protestierte Kassandra. »Zumindest muss er dich bezahlen, wenn er dich beauftragt hat.«
»Leider«, sagte Jan seufzend, »hatte er mir den Auftrag noch nicht endgültig erteilt, aber ich war so froh, endlich mal was anderes als Tische und Bücherregale schreinern zu dürfen«, kurz warf er Paul einen entschuldigenden Blick zu, »dass ich ein bisschen zu optimistisch und vor allem voreilig anfing.« Er strich über das Holz, seufzte erneut und gab sich einen Ruck. »Aber ihr seid nicht hier, um euch mein Gejammer anzuhören. Paul, ein neues … Bücherregal?«
Paul lachte. »Könnte durchaus demnächst fällig werden, ich komm drauf zurück.«
»Stehe dir jederzeit mit all meinem Können zur Verfügung.« Jan machte eine ausladende Armbewegung, die die ganze Werkstatt einschloss. »Jedenfalls, wenn ich das Chaos wieder in Ordnung gebracht haben werde.«
Kassandra hatte beim Eintreten schon gesehen, dass der hintere Teil der Tischlerei etwas wild aussah. Die Werkzeuge wirkten, als hätte sie jemand notdürftig in Regalen und offenen Schränken untergebracht oder an die Wand gehängt, damit überhaupt erst mal ein Durchkommen war.
»Das Gröbste habe ich aus dem Weg geräumt«, sagte Jan. »Aber als ich eben überlegt habe, die zerstörten Ziersprossen zu ersetzen«, er deutete auf den Türflügel vor ihm, »habe ich nicht mal meine elektrische Stichsäge gefunden. Ich darf gar nicht ans Weiterarbeiten denken, solange nicht alles wieder an seinem Platz ist.«
Kassandra bemerkte erst jetzt, dass zwei der Sprossen herausgebrochen waren. »Waren das die Einbrecher?«
»Na, ich bestimmt nicht. Ich weiß nicht, warum die sich daran zu schaffen gemacht haben, genauso wenig, wie ich kapiere, dass die unbedingt das Fenster einschmeißen mussten. Vielleicht waren sie wütend, weil sie sich was anderes versprochen hatten. Im Schrank dahinten war nur eine Geldkassette mit ein paar kleineren Scheinen – so was wie meine Kaffeekasse.«
»Hast du sonst mehr hier, für das sich ein Einbruch lohnen würde?«, erkundigte sich Paul.