Severin Schwendener
Schatten & Spiel
edition 8
Schatten&Spiel
Kriminalroman
Verlag und Autor danken dem Lotteriefonds des Kantons Thurgau und der Jubiläumsstiftung der Thurgauer Kantonalbank für den finanziellen Beitrag an dieses Buch.
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Die edition 8 wird im Rahmen des Förderkonzepts zur Verlagsförderung in der Schweiz vom Bundesamt für Kultur mit einem Förderbeitrag für die Jahre 2016–2018 unterstützt.
März 2018, 1. Auflage, © bei edition 8. Alle Rechte, einschliesslich der Rechte der öffentlichen Lesung, vorbehalten. Lektorat: Jeannine Horni, Korrektorat: Petra Jäger, Typografie & Umschlag: Heinz Scheidegger, Umschlagfoto: pixabay.com; e-Book: mbassador GmbH, Luzern
Verlagsadresse: edition 8, Quellenstrasse 25, CH-8005 Zürich, Telefon +41/(0)44 271 80 22, info@edition8.ch
eISBN 978-3-85990-336-4
1
Satan hat Freude an Würmern wie dir!
Thomas K. Hilvert, seines Zeichens Kommandant der Stadtpolizei Zürich, sah mit leichter Belustigung auf den Brief in seinen Händen, aus welchem ein weisses Pulver auf die blank polierte Schreibtischoberfläche rieselte.
Wer Hilvert kannte, wusste, dass beides als überaus bemerkenswert einzustufen war. Einerseits, dass der friedliebende Hilvert Drohbriefe erhielt; andererseits, dass in seinem Umfeld eine blank polierte Schreibtischoberfläche überhaupt existieren konnte.
Hilvert selbst wurde vor allem durch letztere Tatsache täglich in Erstaunen versetzt. Was so ein Amt alles mit sich brachte! Es war nicht das eichengetäfelte Eckbüro, in welchem noch immer die Aura seiner Vorgänger zu spüren war, nicht der wunderschöne blaue Kachelofen in der Ecke. Nein, es war die Tatsache, dass Hilvert sich geändert hatte. Er. In seinem Alter!
Vor drei Jahren hätte Hilvert darauf gewettet, dass es eher aufwärts regnete, als dass er sein Büro aufräumte. Heute wünschte er sich, er hätte diese Wette gewonnen.
»Jaun!« Hilverts Bass dröhnte durch die offene Tür ins Nebenzimmer. Hier lag in Hilverts Augen denn auch der grösste Vorteil seiner neuen Residenz. Jaun befand sich jederzeit in Rufweite, ganz anders als früher, als er sich auf der anderen Seite des Flurs hinter verschlossener Tür hatte verschanzen können. Nein, für Jaun gab es kein Entrinnen mehr, Hilvert hatte den Schlüssel zur Trenntür bereits am ersten Tag im neuen Amt mit nach Hause genommen und im Chaos verschwinden lassen, das den Schrank seines Gästezimmers dominierte.
Jauns hagere Gestalt tauchte unter dem Türrahmen auf. Hilvert gewann manchmal den Eindruck, als arbeite Jaun noch mehr als früher, als sei er unter der Last der zusätzlichen Pendenzen und Aufgaben noch etwas dünner geworden. Im Vergleich zu seinem Chef mutete Jaun jedenfalls regelrecht ausgezehrt an, doch war dies ein Prädikat, das man im direkten Vergleich zum schwergewichtigen Kommandanten relativ mühelos errang.
»Was ist, Chef?« Jauns Stimme drückte Missfallen aus, anders als Hilvert hatte er nämlich gearbeitet.
Hilvert schwenkte mit grosser Geste den ominösen Brief. »Man droht mir, Jaun. Und es wird immer mehr.«
Jaun kam näher heran, linste durch die grosse, rechteckige Brille, die vielleicht noch einmal modern werden würde, wenn er sie durch ein weiteres Jahrzehnt rettete.
»Was ist das?«
»Ein Drohbrief. Sowie ein bisschen Maisstärke.«
»Das können Sie nicht wissen, Chef! Wir müssen sofort die Forensik aufbieten!«
»Blödsinn.« Hilvert zog eine Schnute, bevor Jaun eingreifen konnte, hatte er seinen Finger befeuchtet und in die pulvrige Substanz getunkt.
»HALT!«, gellte Jaun.
Hilvert leckte den Finger ab und grinste Jaun gutmütig an. »Sehen Sie, Jaun, Maisstärke. Papa Hilvert wird wohl noch Zutaten aus der Küche erkennen. Ausserdem war in den anderen vier Briefen ebenfalls Maisstärke.«
»Wie bitte?!« Jaun glotzte. »Sie haben weitere Briefe erhalten?«
»Sagte ich doch, Jaun. Passen Sie nicht auf, wenn ich mit Ihnen rede? Das hier ist der fünfte.«
»Wie kommt es, dass ich nichts davon weiss? Wie kann es überhaupt geschehen, dass diese Briefe nicht über meinen Tisch gegangen sind?«
»Weil jemand sie mir in den privaten Briefkasten daheim wirft, Jaun. Ich lasse Sie doch nicht meine private Post öffnen. Sonst erfahren Sie noch von meinen Affären.« Hilvert gluckste vergnügt, so dass sein Wanst zuckte.
Jaun rollte die Augen. »Sie sind Polizeikommandant. Wenn Sie Drohbriefe mit weissem Pulver erhalten, ist das keine Privatangelegenheit. Im Übrigen ist nichts, was Sie betrifft, privat. Alles und jedes kann gegen Sie verwendet werden und der Polizei insgesamt schaden.«
Hilverts Gesicht drückte pure Abneigung aus. »Habe ich Ihnen heute schon gesagt, dass ich meinen Job hasse, Jaun?« Er wischte mit der Hand über den Schreibtisch und fegte das ganze Pulver in einer Wolke zu Boden. Sekundenlang tanzte sie im schräg durchs Fenster einfallenden Sonnenlicht, bevor sie sich wie Tau auf den Teppich und die am Schreibtisch lehnende Ledermappe des Kommandanten legte. »Ich hasse nicht nur dieses sterile Büro, in dem ich mich fühle, als würde es noch immer dem Filter gehören. Haben Sie sich mal meine Agenda angesehen?«
»Ich verwalte diese Agenda, falls Sie es bisher nicht bemerkt haben.« Jauns Stimme war knochentrocken.
»Achthundertzweiundsechzig Termine im letzten Jahr«, ächzte Hilvert. »Achthundertzweiundsechzig. Am Abend, am Wochenende, immerzu. Keinen einzigen davon habe ich selber arrangiert, alle werden sie mir vor die Fresse geknallt. Ich bin zu einer Puppe geworden, die an Fäden hängt, an denen die halbe Stadt herumzerren darf.«
»Das bringt ihre Position mit sich, Chef. Stand sozusagen im Stellenbeschrieb.«
»Hören Sie auf, Jaun!« Hilvert machte eine unwirsche Geste mit seiner rechten Hand, die noch immer mit Maisstärke paniert war. »Und erst die Themen, denen ich mich hingeben darf. Interne Querelen, Machtkämpfe zwischen den Abteilungen, Ärger mit dem Stadtrat. Dazwischen werde ich von der Presse gequält. Dafür keinen einzigen Fall, keine einzige Möglichkeit, in dieser Stadt etwas Konkretes, Gutes zu tun.«
»Sie sind der Kommandant, Chef. Sie bearbeiten keine Fälle, sondern ermöglichen den anderen in diesem Verein, das zu tun.«
Hilvert seufzte, stützte sich auf seine Hände ab und schmierte sich prompt Maisstärke ins Gesicht. Jaun fand, dass sein Chef langsam wirklich zum Clown mutierte.
»Trotzdem würde ich mich jetzt gerne über diese Drohbriefe unterhalten«, insistierte Jaun und setzte sich unaufgefordert in einen der schwarzen Sessel, die zusammen mit einem niederen Tischchen eine kleine Besprechungsecke unter dem Fenster bildeten. Er legte die Beine übereinander und sah seinen Chef an.
»Fünf Briefe, sagen Sie. Wann kam der erste?«
Hilvert zuckte mit den Schultern. »Vor einem Monat. Vor zwei. Ungefähr in dieser Grössenordnung.«
»Überaus präzise. Dürfte ich diese Briefe haben?«
»Die sind längst mit meinem anderen Müll verfeuert worden.«
Jaun seufzte. Schicksalsergeben, er hatte nichts anderes erwartet. Zwar mochte Hilvert sein Büro in einen Zustand der Ordnung versetzt haben, doch war dies allein äusseren Einflüssen geschuldet, keiner Änderung seiner Überzeugung. Im Kern war Hilvert weiterhin Hilvert.
Jaun war nach langem Nachdenken zum Schluss gelangt, dass dies eine gute Tatsache war. Trotz allem.
»Was stand denn in diesen Briefen?« Auf Hilverts Gedächtnis war stets Verlass gewesen.
»Der erste war reichlich kryptisch.« Hilvert lehnte sich zurück, blickte in Erinnerung versunken zur Decke. Eine herrliche Kassettendecke aus der Zeit, als die Hauptwache Teil eines Klosters gewesen war und man sich in diesen Mauern mit spirituelleren Methoden als heute der Verbesserung der Welt gewidmet hatte. »›Ich weiss alles‹, stand da drin. Der zweite war ähnlich. ›Ich beobachte dich.‹ Ich habe beide als Scherz aufgefasst.«
Der Kommandant stemmte sich aus seinem Sessel hoch, ging zum Fenster und sah hinaus. Die Limmat wälzte sich träge durch die Stadt, die Sonne tunkte die Häuser am Limmatquai in einen warmen, goldgelben Schein. Zürich Anfang September – die schönste Zeit im Jahr. Die letzten Reste der drückenden Augusthitze verflogen, die Nächte kühler, am frühen Morgen zaghafte Nebelfetzen über dem Zürichsee, die Nachmittage schön und warm.
»Nummer drei und vier waren konkreter«, nahm Hilvert den Faden wieder auf, obwohl er zur Fensterscheibe sprach. »›Wo ist Leimbacher?‹ lautete Nummer drei, ›Ich habe die Beweise!‹ Nummer vier.«
Jaun schnappte nach Luft. »Da finden Sie es nicht nötig, mich zu informieren?!«
Hilvert drehte sich zu seinem Assistenten um. »Ehrlich gesagt wusste ich nicht, wie ich darauf reagieren sollte. Sollte ich schockiert sein? War das eine Drohung? Oder einfach nur dummes Gewäsch, das man am besten ignoriert? Ich kam zum Schluss, dass Letzteres die beste Lösung war.«
»Sie können doch eine solche Drohung nicht ignorieren!« Jaun ereiferte sich, hielt es nicht mehr im Sessel aus und begann, im Büro auf und ab zu gehen. »Da schreibt Ihnen jemand Briefe, die Leimbacher erwähnen, und Sie glauben, es sei am besten, den Kopf in den Sand zu stecken wie ein Vogel Strauss?«
Hilvert gluckste wieder. »Dafür bin ich zu dick, Jaun. So weit runterbeugen kann ich mich längst nicht mehr.«
»Sehr witzig. Apropos.« Jaun ging zu Hilverts Schreibtisch, zog die oberste Schublade auf und schnappte sich zwei Luxemburgerli. Hilvert und die Konditorei Sprüngli, das war eine Verbindung, die jeden Sturm überstehen würde.
»Ja, bedienen Sie sich nur«, maulte Hilvert theatralisch. »Ich teile gerne mit Ihnen.«
»Ich weiss. Danke trotzdem.« Jaun zwinkerte Hilvert zu und lehnte sich gegen dessen schweren Schreibtisch, tunlichst darauf bedacht, sich nicht in die letzten Reste der Maisstärke zu setzen.
»Wer könnte das sein?«, kam er kauend wieder aufs Thema zurück. »Wer weiss von Leimbacher?«
»Alle.« Hilverts Antwort kam prompt. »Es gab keine Zeitung im Land, die nicht über Leimbacher geschrieben hätte. Immerhin war er Vizekommandant, als er verschwand.«
»Kommandant ad interim«, präzisierte Jaun.
»Seien Sie nicht so pingelig. Auf jeden Fall wissen alle, dass er verschwunden ist.«
»Aber nur wir beide wissen, wo er ist.«
Hilvert nickte, verschränkte die Arme vor der Brust. »Genau, Jaun. Nur wir beide wissen, wo Leimi wirklich ist. Weil ich nach langem Nachdenken zum Schluss kam, dass niemand ausser uns wissen kann, was damals geschah, habe ich diese Briefe ignoriert. Sie sind nichts weiter als ein billiger Bluff.«
Jaun nickte schweigend.
»Diese Briefe sollen mir Angst machen«, fuhr Hilvert fort, »sie sollen mich aufscheuchen, zu übereilten Aktionen verleiten. Sie wollen erreichen, dass ich mir selbst schade. Wenn der Absender alles wüsste oder gar über Beweise verfügte, müsste er keine Briefe schreiben. Dann könnte er uns beide sofort kaltstellen. Hunde, die bellen, beissen nicht.«
»Damit mögen Sie recht haben, Chef.« Jaun sah Hilvert nachdenklich an, diesen Koloss, der vor dem Fenster stand. »Aber eines dürfen wir nicht ignorieren.«
»Das wäre?«
»Es gibt irgendjemanden da draussen, der die Energie hat, Ihnen anonyme Drohbriefe zu schreiben. Dieser Jemand will Ihnen schaden, und er denkt über Leimbacher nach. Sollte er erkennen, dass die Briefe keine Wirkung erzielen, könnte er einen Schritt weitergehen. Nachbohren. Nachforschungen anstellen. Briefe an andere Adressaten schicken, an die Staatsanwaltschaft beispielsweise. An die Presse, an die Stadtregierung.«
Hilvert sah wortlos auf seinen Assistenten. Er, Hilvert, war eine Fehlbesetzung auf seinem Posten. Dieses diffuse Gefühl, das sich kurz nach Amtsantritt bei ihm eingestellt hatte, war in den seither vergangenen drei Jahren mehr und mehr zur Gewissheit gereift. Er war nicht dafür geschaffen, die Ränkespiele der Politik zu bestehen, er beherrschte die Klaviatur der Macht nicht derart intuitiv wie andere. Ohne Jaun wäre er längst zurückgetreten. Doch auch so fragte er sich jeden Tag ein bisschen mehr, wie er heil aus dieser Situation herausfinden sollte.
Diese Situation, die sein Amt war. Das Amt des Kommandanten der Stadtpolizei Zürich.
Stille legte sich auf das Eckbüro im ersten Stock der Hauptwache. Jaun und Hilvert hingen ihren Gedanken nach, beiden war bewusst, dass sich unsichtbar noch einer im Raum befand.
»Leimbacher ist mein Fluch«, konstatierte Hilvert nüchtern. »Er verfolgt mich sogar aus seinem Grab heraus.«
Ein Grinsen huschte über Jauns Gesicht. »Ach was«, gab er entschieden zurück. »Leimbacher verrottet in der Hölle, wo er auch hingehört.«
»Vielleicht machen Sie es sich zu einfach mit dieser Antwort.« Über Hilverts gutmütiges Gesicht hatten sich Sorgenfalten gelegt.
»Nein.« Jaun klang entschieden. »Leimbacher macht mir keine Sorgen. Diese Briefe schon. Sie zeigen, dass irgendwo etwas gärt. Dieses Etwas sollten wir nicht ignorieren. Wir müssen herausfinden, wer diese Briefe schreibt und was er damit bezweckt. Es gibt für alles einen Grund, und den will ich kennen.«
Jaun nahm den mit Maisstärke gepuderten Brief an sich, schnappte sich ein Luxemburgerli zum Abschied und verliess Hilverts Büro mit einem Zwinkern. Eine ganze Weile stand der Kommandant reglos am Fenster, in den Anblick der Stadt versunken. Seiner Stadt.
Als sein Smartphone piepte – auch das eine der unwillkommenen Begleiterscheinungen seines Amtes –, um ihm mitzuteilen, dass er in einer knappen Stunde einen Termin im Stadthaus hatte, wachte Hilvert aus seiner Lethargie auf. Gewissenhaft kontrollierte er in seiner Agenda, worum es bei dem Treffen gehen sollte, er las die Traktandenliste und überflog das Dossier, das ihm Jaun zur Vorbereitung auf den Tisch gelegt hatte. Letzte verräterische Spuren von Maisstärke beförderte er mit einem kurzen Pusten auf den Boden.
Dann rückte er Jackett und Krawatte vor dem Spiegel gerade, straffte die Schultern und verliess die Hauptwache, um im Stadthaus ein Spiel zu spielen, dessen Regeln sich seiner Intuition nach wie vor entzogen.
Das Spiel von Macht und Politik.
Samstagabend, die Pflicht rief.
Doch für einmal war sie keine Last.
Das Amt des Polizeikommandanten hatte es mit sich gebracht, dass Hilvert unvermittelt in neue gesellschaftliche Sphären vorgestossen war. Oder zumindest bis in die Vorzimmer dieser Sphären. Denn es verstand sich von selbst, dass Hilvert nicht wirklich dazugehörte. Zu gewöhnlich seine Herkunft, zu profan die Menschen, in deren Gegenwart er sich wohlfühlte. Vor allem aber zu gering seine Bemühungen in Disziplinen, die dem Aufbau von Netzwerken und Beziehungen dienten.
Nun mussten ausgerechnet jene Kreise, die auf ebendiesen Disziplinen gründeten, Hilvert aufgrund seines Amts zumindest ansatzweise bei sich aufnehmen.
Die gegenseitige Verachtung war bei diesem Spiel nur zu Beginn halbwegs kaschiert worden.
Dennoch erhielt Hilvert weiterhin Einladungen, von denen er einige ausschlug, andere aus schierer Boshaftigkeit annahm. Diejenige für diesen Abend hatte er jedoch mit Genuss angenommen. Das Opernhaus eröffnete die neue Saison mit Christian Spucks ›Der Sandmann‹, Hilvert hatte zwei Karten für die Premiere erhalten.
Er hatte Jaun gefragt, ob er mitkommen wolle, doch der hatte gelacht. Das Wetter sei gut am Samstag, er wolle im Garten arbeiten und danach den Grill anwerfen; wie sich das Zürcher Opernballett verrenke, sei ihm dabei herzlich gleichgültig.
Undankbarer Banause, befand Hilvert, der dann aber doch mit einiger Ernüchterung feststellen musste, dass ihn auch sonst niemand begleiten wollte.
Eine weitere Nebenwirkung seines Amts bestand nämlich darin, dass Hilvert in kürzester Zeit fast vollkommen vereinsamt war. Klar, die Schleimer krochen zahlreich um ihn herum, doch mit denen wollte sich der Kommandant nicht abgeben. All jene hingegen, die keine Schleimer waren, hielten nun eine spürbare Distanz zu ihm, eben gerade, weil sie sich nicht dem Verdacht aussetzen wollten, Schleimer zu sein.
Blieben jene Menschen, die Hilvert ausserhalb seiner Arbeit kannte. Doch hier war ebenfalls Ernüchterung angesagt. Nach Jahrzehnten, in denen er seinen Beruf mehr gelebt statt nur ausgeübt hatte, war von seinem Privatleben nicht mehr viel übrig. Die Ehe mit Lea: seit Ewigkeiten geschieden, der Kontakt herzlich, aber in homöopathischen Dosen, schliesslich hatte sie eine neue Familie. Freunde aus der Jugend: Aus den Augen verloren, seit sich jeder seiner eigenen Karriere und seiner eigenen Familie widmete. Zumindest dem einen oder dem anderen, obwohl alle versuchten, die beiden gesellschaftlichen Imperative mit einem ›und‹ zu verbinden.
Nun war die Zeit also da, Hilvert hatte sich schick gemacht, in der Innentasche seines Jacketts steckten die zwei Karten für die Oper, doch kein Mensch in Sicht, die eine der beiden in Anspruch zu nehmen. Schade zwar, aber auch nicht mehr. Denn in dem Masse, wie Hilvert im Laufe seines Lebens Einblick in die menschliche Natur gewonnen hatte, war auch die Wertschätzung jenen Momenten gegenüber gewachsen, in denen er allein war. Kein Zweifel, er wurde alt. Alt, störrisch und unbequem. Wobei, Letzteres war er bei genauer Betrachtung immer gewesen.
Er ging zum Lindenhof hinauf, nahm sich Zeit. Der Kies knirschte unter seinen Stiefeln, im Schatten unter den Bäumen wehte ein frisches Lüftchen, Lärm und Hektik der Stadt schienen meilenweit entfernt. Das Blätterdach spannte sich über zwei Männer, die beim grossen Bodenschach in eine sich dem Ende zuneigende Partie versunken waren, blind für das Treiben um sie herum.
Am Hedwig-Brunnen hielt Hilvert inne, lauschte dem Plätschern des Wassers, den Blick auf die Altstadt unter ihm gerichtet. Hier hatte er als rebellischer Teenager seine erste Zigarette geraucht, das erste Bier getrunken, den ersten Kuss ausgetauscht. Wobei, ein richtiger Kuss war das nicht gewesen, höchstens ein etwas feuchter Schmatzer.
Der Kommandant schmunzelte, Ewigkeiten war das her. Nicht nur Zürich war damals ganz anders gewesen, sondern auch er selbst. Gleichzeitig hatten sich seither weder Stadt noch Hilvert in ihrem Innersten wirklich verändert.
Über den neuen Sechseläutenplatz strebte Hilvert später dem Opernhaus zu. Er mochte den neuen Platz, der alten Wiese weinte er keine einzige Träne nach. Dass der Platz unbedingt mit Valser Quarzit hatte ausgelegt werden müssen, obwohl der ein Vermögen gekostet hatte, war wohl unter der Rubrik ›typisch Zürich‹ abzubuchen. Genauso wie die Tatsache, dass das unter dem Platz liegende Parkhaus nicht hatte grösser gebaut werden dürfen, weil es sonst in der Innenstadt zu viele Parkplätze gegeben hätte und der historische Parkplatzkompromiss verletzt worden wäre.
Das Foyer des Opernhauses präsentierte sich als Schmelztiegel der feinen Zürcher Gesellschaft sowie all jener, die sich selbst dazu zählten. Ein kleiner, jedoch bedeutsamer Unterschied. Hilvert tauschte heuchlerische Grüsse aus und stürzte sich eiligst an die Bar, denn nur mit einem Cüpli liess sich die doppelzüngige Konversation aushalten, deren Opfer er augenblicklich wurde. Wenn man den Eifer bedachte, mit dem sich einige um den Kommandanten der Stadtpolizei bemühten, mussten die Leichen beträchtlich sein, die in ihren Kellern verrotteten.
Der Beginn der Vorstellung erlöste Hilvert, der nun erst richtig seine fehlende Begleitung zu schätzen wusste. Zu seiner Linken sass eine freundliche ältere Dame, die mit ihrem Mann redete und Hilvert nicht weiter beachtete, während ihm der leere Platz zu seiner Rechten den nötigen Abstand zu einem überaus eifrigen Netzwerker verschaffte.
Während der Vorstellung liess sich Hilvert treiben. Versunken in die weichen Polster, nahm er den Anblick der Tanzenden auf, die in perfekter Körperbeherrschung über die Bühne glitten und ohne ein einziges Wort imstande waren, mehr zu sagen, als die zahlreichen Schwätzer im Foyer.
Es geschah just während eines Oboen-Solos, das unheilschwanger in die angespannte Stille auf der Bühne hineinschallte. Noch war Hilvert versunken in diesen klagenden Ton des Blasinstruments, gefolgt vom flirrenden Klang der Geigen, der luftig im Opernhaus schwebte und furchtbares Unheil heraufzubeschwören schien.
Allein, das Unheil kam nicht herauf, sondern herab.
Rechtzeitig zum unvermittelt einsetzenden Donnern der Pauken schwebte ein Mensch auf die Bühne nieder. Er hatte die Arme ausgebreitet, schien perfekt in die Choreografie des Stücks zu passen. Doch auf der Bühne entstand Unruhe, verstohlene Blicke nach oben, ein winziges Stocken im nahtlosen Klang des Orchesters.
Dann der Schrei. Schrill, gellend, sprang er wie ein Funke aufs Publikum über und löste weitere Unruhe aus. Das Orchester verstummte, der Fluss des Tanzes wurde unterbrochen, die Formation auf der Bühne löste sich auf.
Der Körper kam unten an, der Kopf kraftlos im Nacken hängend. Im Licht der Scheinwerfer prangte ein weisses Etwas auf seiner Brust.
Mit der Kraft seines Amts requirierte Polizeikommandant Thomas K. Hilvert den Operngucker seiner Sitznachbarin und richtete ihn auf das Geschehen auf der Bühne. Das weisse Etwas entpuppte sich als Papier. Hilvert zog sich der Magen zusammen, als er das hochstehende ›e‹ erkannte und die einzelnen Buchstaben sich vor seinen Augen zu einer Botschaft verbanden.
Eine Botschaft, die an ihn gerichtet war, an ihn ganz allein.
Ich bin wieder hier!
»Wo ist diese verfluchte Schreibmaschine?!!«
Bruno Jaun war ausser sich, nie zuvor hatte Hilvert ihn so gesehen. Jaun, der gutmütige, hyperkorrekte Jaun, der seine Stifte nach Farbe geordnet in die Schublade legte, war ausser sich.
»In meiner Garage«, gab er überrumpelt zurück, »wo sie immer schon …«
»Sie haben es tatsächlich geschafft, dieses Ding nicht zu vernichten?!«
Hilvert schüttelte den Kopf. Nein, er hatte das Corpus Delicti nicht vernichtet. Nicht, weil er die Schreibmaschine hatte behalten wollen. Nicht einmal, weil er sich davor gefürchtet hatte, in seine Garage nach Schlieren zu fahren und die Geister Leimbachers zu wecken, obwohl das für sich allein genommen als Grund bereits ausgereicht hätte. Sondern weil er schlicht nicht dazu gekommen war.
»Ich war beschäftigt, Jaun«, maulte er. »Seit zwei Jahren beschäftigt damit, jeden einzelnen Tag eine Rolle zu spielen. Mich zusammenzureissen, auf meinem Mund zu sitzen, argwöhnisch nach Stolperdrähten Ausschau zu halten, die man mir gestellt haben könnte. Ich war damit beschäftigt, Kommandant der Stadtpolizei zu sein.«
Ein resigniertes Nicken aus der Sitzecke. Bruno Jaun wusste, was Hilvert meinte. Mehr noch, er verstand den Kommandanten. Seit Hilvert sein neues Amt angetreten hatte, war kein Tag vergangen, an dem er nicht unter Druck gestanden hätte. Das mysteriöse Verschwinden von Leimbacher, das nie hatte geklärt werden können. Die brutalen Serienmorde, die von einem Tag auf den anderen aufgehört hatten, ohne dass Polizei oder Staatsanwaltschaft einen Verdächtigen vorzuweisen hatten, geschweige denn einen Täter. Die Untersuchung, die seit zwei Jahren ergebnislos vor sich hin schwelte und nicht nur in jedem Sommerloch von der Presse wieder aufgewärmt wurde. Die neue Oberstaatsanwältin, die ziemlich resolut ihr Revier absteckte und die Polizei vor allem als reformbedürftigen Haufen patriarchalischer Alt-Bullen sah.
»Wir können uns das nicht mehr leisten«, stellte Jaun konsterniert fest. »Wir können nicht weiterhin unsere Altlasten nur verwalten. Wir müssen sie sanieren.«
Hilvert nickte. »Ich weiss.« Seit jenem Tag im Hallenbad City hatte er sich davor gefürchtet. Er hatte gewusst, dass der Tag kommen würde. Dass er sich seinen Taten stellen müsste. Dass er nicht ewig würde davonlaufen können.
Anscheinend hatte das Schicksal beschlossen, dass heute dieser Tag war.
»Nun denn«, brummte er. »Trotzdem bleibt die Frage, was das gewesen ist gestern im Opernhaus. Ich kenne den Sandmann, mit dem Stück hatte das nämlich nichts zu tun.« Er schaffte es, seinem Assistenten zuzuzwinkern. Dann klaubte er aus der obersten Schublade zwei in Goldfolie verpackte Nougatstückchen und warf Jaun in hohem Bogen eines zu.
»Raphael Bolt war das«, gab dieser ungerührt zurück. »Im Zustand des Übergangs von körperlicher zu geistiger Existenz, hervorgerufen durch ein Tranchiermesser in seiner Leber.«
»Der Brief, Jaun, der Brief! Den meine ich!«
Sorge kroch in Jauns Augen. Er, der so gerne alles unter Kontrolle hatte, musste angesichts dieser wenigen Buchstaben auf festem, beigem Papier die Waffen strecken und eingestehen, dass er es nicht wusste. Mehr noch, dass er sich nicht einmal zu einer Vermutung hinreissen lassen würde.
»Besteht die Möglichkeit, dass es ein Nachahmer ist?«
Ein Blick voller Sarkasmus traf den Kommandanten. »Was denn sonst? Soweit ich weiss, waren Sie dabei, als ich Leimbacher ein ganzes Magazin ins Gehirn gepumpt habe.«
»Nicht auch noch Sie!«, rief Hilvert aus. »Mir verdrehen sonst schon alle die Worte im Mund! Ich rede von der Schreibmaschine! Kann es sein, dass dieser Zettel nicht auf meiner Schreibmaschine entstanden ist?«
»Das wissen wir erst heute Abend. Aber ich denke, er wurde auf Ihrer Maschine geschrieben. Er sah den früheren Botschaften verdammt ähnlich. Auch das Papier ist das gleiche wie vor zwei Jahren.«
»Dann hat sich jemand an meiner Schreibmaschine zu schaffen gemacht.«
»Davon ist auszugehen.«
Die Erkenntnis schlich sich nicht wie ein feiner Nebel an einem herbstlichen Morgen an, sondern pflanzte sich wuchtig mitten auf die beiden Männer, den Kommandanten und seinen Assistenten. Beide sahen sie, doch es war Hilverts Aufgabe, sie in Worte zu kleiden. »Es wäre wohl naiv zu denken, dass dieser Vorfall nichts mit den Briefen zu tun hat, die ich erhalten habe, nicht wahr, Jaun?«
Jaun begnügte sich mit einer Geste, einem Winken aus dem Handgelenk heraus. »Ein bisschen naiv schon«, fügte er dann doch noch hinzu.
»Den Briefen, von denen ich niemandem etwas gesagt habe«, fuhr Hilvert zerknirscht fort. »Die ich im Müll entsorgt habe. Obwohl darin von Leimbacher die Rede war.«
Die beiden Männer schwiegen. Drei Jahre lang hatten sie ihr Möglichstes getan, um durch einen reibungslosen Betrieb der Stadtpolizei nicht den kleinsten Hauch eines Verdachts aufkommen zu lassen. Mit an Pedanterie grenzender Korrektheit hatten sie Geschäfte abgewickelt, Vorgaben umgesetzt, Probleme bereinigt, sogar ungeschriebene Regeln befolgt. Doch jetzt quoll der Schmutz unter dem Teppich hervor, unter den er gekehrt worden war.
»Was machen wir jetzt?« Hilvert sass niedergeschlagen in seinem Sessel.
»Zuerst müssen wir Ihre Garage aufräumen«, beschied ihm Jaun. »Das ist längst überfällig. Danach müssen wir herausfinden, was diese Briefe an Sie zu bedeuten haben.«
»Und der Mord an Raphael Bolt?«
»Der ist Sache des gewaltigen Apparats, dem Sie vorstehen.« Jaun warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »In dreissig Minuten haben Sie sowieso eine Sitzung mit der Oberstaatsanwältin zu diesem Thema.«
»Sitzungen, Sitzungen.« Hilvert verlieh seiner Verachtung mit Hilfe der Gesichtsmuskulatur Ausdruck. »Wie ich das Wort hasse.«
»Früher haben Sie doch auch immer herumgesessen und behauptet, grosse Geister würden denken und lenken, während Leute wie ich die Hand- und Fussarbeit zu verrichten hätten.« Jaun schenkte seinem Chef ein schamloses Grinsen, das von Hilvert erwidert wurde.
»Hach, früher«, schmachtete der Kommandant. »Da hätte ich arbeiten sollen, da macht herumsitzen viel mehr Spass. Wenn man plötzlich herumsitzen muss, sieht es etwas anders aus.«
Mit dieser Weisheit von universeller Gültigkeit entliess der Kommandant der Stadtpolizei Zürich seinen treuen Assis-tenten, um sich auf die Sitzung mit Oberstaatsanwältin Greta Hertig vorzubereiten.
Sie trug ein Kleid in sanftem Pastellblau, und ihr von weichen Rundungen geprägtes Gesicht kaschierte gut die Tatsache, dass Greta Hertig eine knallharte Frau war. Die steile Karriere, die sie durch sämtliche Hierarchiestufen der Staatsanwaltschaft geführt hatte, hatte diese innere Härte zu etwa gleichen Teilen bedingt, wie sie sie erst hervorgebracht hatte.
Hilvert hatte am Anfang seiner Zusammenarbeit mit Greta Hertig gedacht, dass er gut mit ihr auskommen würde, immerhin unterschied sie sich deutlich von ihrem in Netzwerken gefangenen Vorgänger Meyerhans. Ja, es stimmte, ihr Schwiegervater war ein hohes Tier in der Staatsanwaltschaft gewesen, doch Hilvert hatte – anders als die meisten – den Eindruck, dass sich Greta Hertig selbst hochgekämpft hatte. Dass sie eine Aussenseiterin war, so wie er.
Doch er hatte bald feststellen müssen, dass Greta Hertig längst verlernt hatte, auf der Basis echter Kooperation zu arbeiten. Gezeichnet von zahlreichen Revierkämpfen mit Männern, die einer Frau keine herausragenden Leistungen zutrauten, hatte sie längst erkannt, dass Angriff die beste Verteidigung war. Den friedfertigen Hilvert hatte sie damit in die Defensive gedrängt, bevor sie überhaupt erkennen konnte, dass von ihm keine Gefahr ausging. Inzwischen war ihr Verhältnis professionell distanziert, dominiert von einem auf beiden Seiten gewachsenen Misstrauen.
Auch Greta Hertig war einer der Gründe, warum Hilvert sein neues Amt hasste.
Nun sass er seit zwanzig Minuten in ihrem Büro. Es war topmodern eingerichtet, eine sterile Komposition aus Klavierlack, Glas und blanken Metallflächen, die jedwede Wohnlichkeit im Keim erstickten und auf den Besucher einschüchternder wirkten als ein an der Wand aufgehängter Morgenstern. Warum zeitgenössische Innenarchitektur bedeutete, dass im Grunde zum Wohnen konzipierte Räume mehr einer Ausstellungsfläche als eigentlichem Lebensraum glichen, hatte sich Hilvert lange Zeit nicht erschlossen. Mittlerweile war er jedoch zur Einsicht gelangt, dass dieser Trend nur einen weiteren Aspekt des alle Lebensbereiche durchdringenden Zwangs zur Selbstdarstellung verkörperte. Und dass er dafür, wie für so viele andere Trends auch, glücklicherweise zu alt war.
Zu Hilverts grossem Missfallen gelang es ihm nicht, Argumente zu finden und in die Waagschale zu werfen, um sich aus der laufenden Ermittlung zum Mord an Gemeinderat Bolt auszuklinken. Dankbar hatte sich Greta Hertig auf die wenigen Hinweise gestürzt, die in Hilverts Augen nichts waren als ausgestreute Krümel. Krümel nota bene, die auf direktem Weg in seine eigene, dunkle Vergangenheit führten, dorthin, wo er Greta Hertig zuletzt sehen wollte. Seine Versuche, den Mordfall Bolt nicht jener Serie zuzuordnen, der vor drei Jahren Oberstaatsanwalt Meyerhans zum Opfer gefallen war, waren kläglich gescheitert.
»Mein Ermittlungsleiter sagte mir, dass er ein persönliches Motiv noch nicht ausschliessen möchte«, nahm Hilvert ungeachtet bisheriger Fehlschläge einen neuen Anlauf. »Es gab Gerüchte, Bolt sei nicht ganz sauber. Er und sein Geschäftspartner Stefano Caporello haben sich anscheinend im letzten halben Jahr mehrfach gestritten. Es scheint um Geld gegangen zu sein, schon seit Urzeiten ein wesentliches Motiv für einen Mord.«
Sie tat den Gedanken mit einem durch die Luft geführten Handstreich als blanke Verschwörungstheorie ab.
»Ausserdem soll Bolt ein unangenehmer Mensch gewesen sein«, ignorierte Hilvert die Geste. »Wo er hintrat, wuchs die Zwietracht. Wenn ich mir seine öffentlichen Auftritte ansehe, dann bestätigt sich dieser Eindruck. Das könnte ebenfalls eine Rolle gespielt haben.«
Hertig schnappte nach Luft. »Jetzt soll also schon das Opfer schuld sein, wenn ein irrer Killer seinem Leben ein Ende setzt?«
Hilvert seufzte, angewidert, ermattet. Er hatte es so satt. »Natürlich nicht«, gab er schroff zurück. »Aber für mich ist noch nicht bewiesen, dass es sich um den gleichen Täter handelt. Es könnte ein Trittbrettfahrer sein.«
»Dann wäre es aber ein verdammt geschickter. Die Spurenlage scheint mir eindeutig.« Sie stand auf, tigerte unruhig auf und ab, blieb schliesslich am Fenster stehen und schaute auf die Stadt. »Was hat die Forensik zu dem Drohbrief gesagt, der mit einem Tranchiermesser an Bolts Körper befestigt war?«
Hilvert wollte gar nicht daran denken, was die forensischen Untersuchungen ergeben hatten. Wollte es verdrängen, vergessen, ignorieren. Selbst wenn ihm sein Verstand sagte, dass es nicht länger so weiter ginge.
»Es war das gleiche Papier wie damals. Büttenpapier, absolut identisch, vermutlich aus der gleichen Produktionsserie. Und die gleiche Schreibmaschine.«
»Lassen Sie mich rekapitulieren.« Hertig sprach zur Fensterscheibe, holte Atem, um möglichst viel in einen einzigen Satz packen zu können. »Drei Jahre, nachdem Zürich von einer grausamen Mordserie heimgesucht worden ist, deren Urheber nie ermittelt werden konnte; drei Jahre, nachdem mein Vorgänger in seinem Haus ermordet und Ihr Vorgänger im Wald brutal überfallen worden ist; drei Jahre, nachdem der Stellvertreter Ihres Vorgängers unter ungeklärten Umständen spurlos verschwunden ist, haben wir plötzlich wieder Drohbriefe wie damals. Geschrieben auf dem gleichen Papier und mit der gleichen, uralten Schreibmaschine, deren ›e‹ etwas hochsteht. Richtig?«
Hilvert fühlte eiskalten Schweiss in seinem Nacken. Er sass auf einem Pulverfass, das ihm alsbald um die Ohren fliegen würde. Hertig hatte keine Ahnung. Sie wusste nicht, dass Leimbacher ein Monster gewesen war. Dass es Leimbacher gewesen war, der den Oberstaatsanwalt ermordet und die Drohbriefe auf Hilverts alter Schreibmaschine verfasst hatte. Vor allem aber wusste sie nicht, dass Hilvert und Jaun in grösster Not gezwungen gewesen waren, Leimbacher zu ermorden. Leimbacher war nicht verschwunden, er verrottete im Kellerboden von Jauns Einfamilienhäuschen im Grünen. Genau deshalb war es nicht möglich, dass er weiterhin Drohbriefe schrieb. Selbst wenn alles danach aussah.
»Richtig.« Er musste es regelrecht ausspucken.
Sie drehte sich um, musterte ihn mit einem abschätzigen Blick, der ihn mehr noch als ihre Worte auf die Unzulänglichkeit seiner Argumente hinwies. »Und da will Ihr Ermittlungsleiter im persönlichen Umfeld ermitteln?«
Hilvert hob die Schultern. Es gab nichts dazu zu sagen.
Sie liess nicht locker. »Will er etwa andeuten, Bolts Frau habe ihm im Streit das Tranchiermesser in die Leber gerammt, um dann zur Vertuschung der Tat rasch eine derart perfekte Imitation der früheren Drohbriefe zu erschaffen?«
»Natürlich nicht.«
»Gut.« Sie setzte sich wieder Hilvert gegenüber, den Rücken gerade, den Blick fest auf den Kommandanten der Stadtpolizei gerichtet. »Dann sagen Sie Ihrem Ermittlungsleiter, dass ein persönliches Motiv in diesem Mordfall nicht im Zentrum steht, solange ich die Ermittlungen unter mir habe.«
Hilvert verzichtete auf eine Erwiderung. Dachte zurück an jene goldenen Tage vor knapp drei Jahren, als Hertig ihr Amt angetreten und Hilvert sich in der trügerischen Hoffnung gewiegt hatte, mit einer Frau würde es weniger Revierkämpfe geben. Ein Irrtum, wie er in fast jeder Sitzung mit Hertig vorgeführt bekam.
»Natürlich rollen wir jetzt die alten Fälle alle wieder auf«, redete Greta Hertig weiter. »Es kann und darf nicht länger vorkommen, dass in dieser Stadt Menschen brutal und öffentlich ermordet werden, ohne dass diese Verbrechen aufgeklärt werden. Da ist in den letzten drei Jahren viel verschlampt worden, das nehme ich auf meine Kappe.« Sie sah ihn an, ihre Augen widersprachen ihrem Mund diametral.
»Ab sofort ist Schluss damit. Ich will wissen, was Karl Leimbacher zugestossen ist, wo seine Leiche liegt, denn dass er tot ist, davon gehe ich aus. Überdies will ich endlich wissen, wer meinen Vorgänger ermordet hat. Dazu werde ich eine Taskforce gründen. Ich erwarte, dass Ihre fähigsten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dafür abgestellt werden.«
Sie nickte entschlossen. »Diesmal kriegen wir ihn, darauf können Sie Gift nehmen!«
Eine Viertelstunde später verliess Hilvert die Oberstaatsanwaltschaft und ging zu Fuss ins Niederdorf hinunter. Beim Theater am Neumarkt hielt er sich links, passierte den aus dem 13. Jahrhundert stammenden Brunnenturm und die Conditorei Schober, auch sie in einem Haus aus dem 13. Jahrhundert untergebracht. Hilverts Ziel war eine der ältesten Bars der Stadt, das seit 1918 bestehende ›Andorra‹. Die Bar war fast menschenleer. Hilvert liess sich schwer auf einen Hocker am Tresen fallen und bestellte einen Whisky. Rauchig, grob, und ja – während des Dienstes. Doch ein Whisky war das Mindeste, was Hilvert nach dieser Sitzung brauchte. Er stürzte das Glas in einem Zug runter, liess sich die Kehle verbrennen, bestellte nach.
Als er eine Minute für sich hatte, holte er das Telefon hervor und rief Jaun an.
»Der Tag des Jüngsten Gerichts ist gekommen«, flüsterte der Polizeikommandant ins Telefon, damit niemand mithören konnte. »Die Hertig rollt die alten Fälle wieder auf!«
Der Mann, der mit dem Gedanken spielte, zum Mörder zu werden, glaubte, sich verhört zu haben.
»Das ist jetzt ein Witz, oder? Den Kommandanten der Stadtpolizei umbringen?«
Die Frau, die ihm gegenübersass, lächelte. Wobei das Lächeln kaum zu erahnen war, vielmehr spielte es als blosse Andeutung um ihre Mundwinkel. Die Frau war eine vornehme Erscheinung, irgendwo in den Fünfzigern. Doch sie vermochte ihr Alter hervorragend zu kaschieren. Hielt sich mit Sport fit, rauchte nicht, trank in Massen. Der Coiffeur, für den sie regelmässig ein Vermögen ausgab, war dieses auch wert. Ihr Make-up wirkte so unaufdringlich und selbstbewusst wie die Kleider, die sie trug. Ausserdem hatte sie sich ein winziges bisschen das Gesicht liften lassen, so dezent, dass es bisher niemand bemerkt hatte. Es war nur eines der vielen Geheimnisse, das die Frau hütete. Gut hütete.
»Denken Sie nach«, antwortete sie, ihre Stimme sanft, doch von aussergewöhnlicher Durchdringungskraft. Sie war es gewohnt, dass alle anderen schwiegen, wenn sie sprach. »Nie zuvor gab es eine solche Gelegenheit, und es wird nie wieder eine geben.«
»Bolt.« Der Mörder strich sich mit der Hand über die Stirn, nippte von dem Wein, den ihm die Frau serviert hatte. Ein köstlicher Tropfen, fast zu schade, ihn zu kredenzen, wenn solche Themen im Raum standen. »Alle werden denken, er sei es gewesen.«
Sie wusste, dass er sie verstand, er war immer schon ein heller Kopf gewesen. Sie setzte nie auf lahme Pferde. »Es kommt alles auf die Methode an. Es muss aussehen wie die anderen Morde. Überzeugt werden muss niemand: Der Serienkiller hat sich bereits den letzten Polizeikommandanten und den Oberstaatsanwalt vorgeknöpft. Es wird die logische Fortsetzung seiner bisherigen Taten sein.«