
Alice Grünfelder
Die Wüstengängerin
edition 8
Alice Grünfelder
Die Wüstengängerin

Verlag und Autorin danken der Fachstelle Kultur des Kantons Zürich ganz herzlich für den Beitrag an dieses Buch.

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Die edition 8 wird im Rahmen des Konzepts zur Verlagsförderung in der Schweiz vom Bundesamt für Kultur mit einem Förderbeitrag für die Jahre 2016–2018 unterstützt.
Bibliografische Informationen der Deutschen National-Bibliothek sind im Internet abrufbar unter http://dnb.ddb.de.
März 2018, 1. Auflage, © bei edition 8. Alle Rechte, einschliesslich der Rechte der öffentlichen Lesung, vorbehalten. Lektorat und Typografie: Katja Schurter; Korrektorat: Brigitte Walz-Richter; Umschlag: Theres Rütschi; Foto: Basar in Khotan, Alice Grünfelder. e-Book: mbassador GmbH, Luzern.
Verlagsadresse: edition 8, Quellenstrasse 25 CH-8005 Zürich, Telefon +41/(0)44 271 80 22, Fax +41/(0)44 273 03 02, info@edition8.ch
eISBN 978-3-85990-339-5
»Hüte deine Zunge, damit du dein Haupt schützt.«
Kutadgu Bilig (Beglückende Weisheiten)
Uigurisches Nationalepos
Kapitel 1
Westwärts
Leises Rascheln. Hände an ihrem Schlafsack, die sich schnell wieder zurückzogen. Einen Schlitz breit öffnete sie die Augen. Lichtstaub flirrte im Abteil. Vor ihrem Gesicht eine Hand, die sich abstützte. Becher fielen klappernd zu Boden, rollten unter die Pritsche.
Sie schloss die Augen wieder, hatte schlecht geschlafen. Im Lautsprecher knackte es: »In wenigen Minuten passieren wir die berühmte Jiayuguan-Festung, einst letzter Grenzposten des chinesischen Reiches unter den Ming-Kaisern …« Pferdehufe trappelten in den Lautsprechern an den beiden Enden des Abteils, zwei Reiterheere prallten genau über ihrem Kopf zusammen.
Von der hölzernen Pritsche sah sie hinunter auf die Kinder und Erwachsenen, die sich vor dem Fenster drängten. Die ganz vorn drückten sich die Nase an der Scheibe platt, keiner wollte sich diesen Anblick entgehen lassen. Sie legte sich bäuchlings hin, damit sie zumindest einen Streifen der steinernen Wüstenlandschaft sehen konnte.
Die Lautsprecher krachten, erzählten schrill von weltberühmten Reisenden und noch berühmteren Herrschern, spuckten schliesslich militärische Klänge aus und verstummten auf einen Schlag. Die Rufe aber wurden immer lauter, die Reisenden schubsten einander und zeigten auf das, was sich gleich ins Zugfenster schieben würde. Der Zug, so schien ihr, drosselte das Tempo, und plötzlich war sie zu sehen. An den Ecken und auf den Zinnen flatterten gezackte und bunte Wimpel, in der Mitte erhob sich die lehmfarbene Festung. Das mehrfach geschwungene Dach und die Kanonenrohre glänzten in der Morgensonne.
Still schauten die Mitreisenden hinaus, die sich doch sonst so gern und laut wie Kinder freuten. Einigen war vielleicht mulmig zumute, weil sie nicht wussten, was sie jenseits der einstigen Mauer erwartete. Hier verliess der Reisende China, hier begann der Wilde Westen, das »neue Gebiet« – Xinjiang.
Ihr war, als ob jemand sie beobachtete, und sie schaute sich um.
»Godd moning! How ayou!«, grüsste ein schmächtiges, bebrilltes Jüngelchen, das nur auf eine passende Gelegenheit gewartet zu haben schien. Es hockte auf der Kante der unteren Pritsche, hatte die Beine übereinandergeschlagen und schaute sie hoffnungsvoll lächelnd an.
Der wievielte English speaker auf der Suche nach practice war das nun in den zwei Tagen, die sie mit dem Zug westwärts rollte? Sie gab ihm mit einem Kopfschütteln zu verstehen, dass sie nichts verstand und auch keine Lust auf English conversation am frühen Morgen hatte – mochte er die Geste deuten, wie er wollte. Der Junge aber liess nicht locker: »Godd moning. Draussen war das ganz berühmte Jiayuguan. Gebaut von Ming-Kaisern. Gegen böse Barbaren im Westen. Schon Laotze war hier und hat berühmtes Buch geschrieben. Daodejing, kennst du? Und die grosse berühmte Mauer wird beschützt von diesem Tor. Kommst du aus Amerika? Kannst du mir Englisch beibringen?«
Sie tat, als verstünde sie ihn nicht, und kramte in ihrem militärgrünen Rucksack nach der Dose mit den Teeblättern und etwas Essbarem. Kurz darauf sprang sie von der Pritsche herab, musste allerdings aufpassen, auf keinen der Füsse zu treten, die den vielen Erwachsenen und Kindern gehörten. Auf dem kleinen Tisch am Fenster suchte sie nach einem Platz für ein paar zerdrückte Hefesemmeln und eine Handvoll Erdnüsse. Für später, wenn sie es geschafft hätte, sich zum Wasserkessel am anderen Ende des Wagens durchzudrängeln.
»Ah ja, endlich aufgestanden, die Ausländerin. Hast du Jiayuguan gesehen? Auf, auf, iss was!« Die Reisenden, mit denen sie die letzten 36 Stunden dieses Abteil geteilt hatte, wendeten sich ihr alle gleichzeitig zu.
»Muss mir erst das Gesicht waschen, auf die Toilette gehen, vielen Dank. Wie weit ist es noch bis Daheyuan?«
»Die übernächste Station. Jetzt komm, setz dich, hier, nimm von der Melone.«
Eine junge Chinesin mit einem Kind auf dem Schoss hielt ihr lächelnd einen Melonenschnitz hin, den sie nicht ablehnen konnte und im Stehen ass.
»Schmecken gut, unsere Melonen, nicht wahr? Kommen aus Hami, sind berühmt in ganz China«, kam es jetzt wieder auf Englisch. Offensichtlich wollte der Junge nicht einsehen, dass sie keine Lust auf ein Gespräch hatte und ohnehin die Landessprache beherrschte. Oder wollte er sich vor den anderen mit seinen Englischkenntnissen brüsten?
Mit Zahnbürste und -pasta in der einen, dem Teebecher in der anderen Hand zwängte sie sich zwischen den Leuten auf dem Gang durch. Die mussten in der Nacht unterwegs zugestiegen sein und hatten sich ohne Platzkarte in den Schlafwagen geschlichen, während die Schaffner vorn im Kabuff schliefen. Geschlossene Abteile gab es nicht, vielmehr waren jeweils sechs Holzpritschen mit dünnen Wänden voneinander abgetrennt und zum Gang hin offen. Es kam oft vor, dass sich nachts übermüdete Körper auf die Fussenden der Pritschen schoben – in der Hoffnung, von den Schlafenden nicht mit einem Fusstritt hinabbefördert zu werden.
Auf dem Weg vom Zugabort zum Wasserkessel erblickte sie aus den Augenwinkeln ein weisses Gesicht, das ihr zuvor noch nicht aufgefallen war. Offenbar einer dieser Rucksackreisenden, die mal schnell die Seidenstrasse »machen« und dann runter nach Pakistan wollen. In Gedanken versunken, stolperte sie über ein Paar ausgestreckte Beine. Ihr Straucheln liess den Westler aufmerken, er nickte ihr zu, und seine Augen begannen zu strahlen. Sie erwiderte seinen Blick mit einem Lächeln, das knapper und schmaler nicht hätte sein können, und drängelte sich weiter durch die Menge.
Vor dem Kessel stand bereits eine Schlange. Hoffentlich gab es noch Wasser, wenn die Reihe an ihr war, sonst müsste sie eine Stunde warten und ihr Glück erneut versuchen. Hinter ihr murmelten die Leute leise »Ausländer«, sie reagierte nicht, bis plötzlich ein »Hi« an ihr Ohr drang.
Langsam drehte sie sich um. Alles gaffte, begierig zuzusehen, wie sich zwei Ausländer begrüssen. Ihre Zunge fühlte sich pelzig an, und auf einmal roch sie ihren Körper. Sie wartete ab, ob noch etwas folgen würde.
Ja, tat es. Die Fragen nach dem Woher und Wohin beantwortete sie einsilbig, hörte seinen Ausführungen nur halb zu und schaute wieder nach vorn auf die Wartenden. Nicht aus dem Sinn aber gingen ihr seine Augen: das helle Blau, das sich in Ringen um die Pupillen legte, die einen aufsogen, tief fallen liessen. Sie hatte nur kurz hinein und schnell wieder auf die Menschen vor ihr gesehen. Langsam nur ging es in dem Gedränge weiter. Er hatte inzwischen gemerkt, dass aus ihr an diesem Morgen nicht viel herauszubekommen war, und schwieg endlich.
Als sie jedoch mit dem Mann am Kessel ein paar Worte wechselte, horchte der Westler auf. »Du sprichst ja Chinesisch«, sagte er und zog die Bögen über seinen Augen noch ein wenig höher.
Sie nickte stumm und machte kehrt, ohne ihn noch einmal anzusehen.
Dieses Mal waren keine Beine, keine Schuhe im Weg, sie hastete vorwärts, verschüttete beinahe das Wasser, das sich von den Teeblättern langsam braun verfärbte.
Das englischwütige Jüngelchen hatte sich glücklicherweise verzogen, stattdessen lag auf ihrer Pritsche ein schmächtiger Mann. Er hoffte wohl, dass sie ihn von unten nicht sehen würde, doch seine Füsse in durchlöcherten Socken hingen über die Kante, ein abgewetzter Ellbogen schaute unter dem hochgerutschten Ärmel seines Jackets hervor. Vermutlich einer der erschöpften Wanderarbeiter, die auf der Suche nach Arbeit in die entlegensten Winkel Chinas zogen, weil es überall besser war als dort, wo sie herkamen. Sollte er doch liegen bleiben.
Sie setzte sich auf das untere Holzbett, pustete die Teeblätter in ihrem Becher vorsichtig vom Rand weg und trank einen Schluck. Xu, der Ingenieur, sass ihr gegenüber. Ohne zu zögern nahm er den Faden des Gesprächs wieder auf, das sie irgendwann in den letzten eineinhalb Tagen begonnen hatten.
»Nächster Halt ist Hami, dann kommt Daheyuan, dort nimmst du den Bus nach Turfan. Steig bloss nicht auf einen dieser Lastwagen, die Fahrer sind berüchtigt für ihre verrückte Fahrweise«, riet er ihr.
Der Ingenieur hatte ihr seine Geschichte bereits in aller Ausführlichkeit erzählt. Er war in Shanghai gewesen und hatte über Beziehungen versucht, Arbeit zu bekommen. Unverrichteter Dinge fuhr er jetzt zurück nach Ürümqi. Seine Eltern stammten aus Shanghai, hatten in den Fünfzigerjahren aber in Turfan auf einem Baumwollfeld arbeiten müssen. Damals hatte Mao alle jungen und tatkräftigen Shanghaier nach Xinjiang geschickt, damit sie den Nordwesten des Landes aufbauten. Zuvor mussten sie allerdings in der mörderischen Hitze dieser Provinz Bewässerungskanäle graben. Menschen, die noch nie zuvor eine Schaufel in der Hand gehalten hatten. Xus Eltern waren Russischlehrer und stammten beide aus gebildeten Familien. Sengende Sonne, fremde Sitten, um sie herum Leute, die in einer anderen Sprache redeten und seltsame Sachen assen. Hammelfleisch oder eingelegtes Hammelhirn und Nudeln und Tomaten und Paprika, wenn es überhaupt etwas zu essen gab.
»Konnten sie sich wirklich nicht dagegen wehren, so einfach aus Shanghai weggeschickt zu werden?«, hatte sie Xu gefragt. Solche Geschichten hatte sie schon oft gehört, konnte aber jedes Mal kaum glauben, was die Menschen alles mit sich machen liessen.
»Was hätten sie schon tun können?«, gab Xu zurück. »Wären sie nicht gegangen, hätte man ihnen keine Lebensmittelmarken mehr gegeben und auch keine Arbeit. Und was es hiess, in Shanghai arm zu sein, das wussten sie ja. Eine ungewisse Zukunft im Westen schien ihnen sicherer, zumal Mao versprochen hat, es sei nur für ein, zwei Jahre.«
»Dann doch lieber ab in die Wüste«, hatte sie genickt. Wahrscheinlich hatte er seine Geschichte auf der Hinreise von Ürümqi nach Shanghai geprobt, immer ein wenig abgewandelt, um sie dann den Kadern vorzutragen, die er dazu bewegen wollte, ihm die Niederlassung in Shanghai zu genehmigen. Er sei schliesslich von hier, wenn auch nicht hier geboren, und sie sollten doch ein Einsehen mit ihm haben, seine Eltern hätten sich für das Vaterland geopfert in der Hitze und dem Sandstaub Xinjiangs, es sei doch nur recht und billig, das nun anzuerkennen und sie zurückkehren zu lassen, es sei doch nichts dabei, nur eine Unterschrift … Und so war er von einem Amt zum anderen gelaufen, Shanghai erdrückte ihn, er kannte niemanden, die feuchte Hitze dort an der Ostküste des Landes ertrug er nicht, das Essen bekam ihm nicht, er hatte Durchfall, war erschöpft. Gleichgültig hörten sie auf den Ämtern seine Geschichte an, nichts hatte er erreicht, und er wusste nicht, wie er seiner Frau und seinen Eltern daheim in Ürümqi die Nachricht beibringen sollte. Daheim, das war nicht mehr Shanghai, damit mussten sie sich endlich abfinden.
Xu selbst war in Ürümqi zur Welt gekommen. Seine Eltern waren Anfang der Sechzigerjahre in die Stadt geschickt worden, nachdem sie sich bei der Arbeit auf dem Land bewährt hatten. Damals war der russische Einfluss in der Region noch überall zu spüren. Russische Händler boten auf den Märkten ihre Waren an, sogar russisches Geld war im Umlauf. Doch dann kam der Bruch mit der Sowjetunion, und das Russische wurde Xus Eltern zum Verhängnis. Sie wurden verdächtigt, Kollaborateure zu sein, »Spione, Konterrevolutionäre«, sagte Xu, »was weiss ich. Dann begann die Hölle …«
Von dieser Hölle aber erzählte er nicht. Sprach stets nur von den Jahren davor, die er in allen Details ausbreitete. Und immer wieder geriet er an demselben Punkt ins Stocken, Anfang der Sechzigerjahre. Sie war nicht weiter in ihn gedrungen, aber sie hatte sich gefragt, ob er nicht weitersprechen konnte, weil das Geschehene ihn überwältigte und er keine Worte dafür fand, oder weil er sich schämte, so wie sich in diesem Land viele Menschen für das erlittene Leid schämten, das sie nicht verschuldet hatten.
Der Lautsprecher knackte, Hami wurde angekündigt, Hami, die Oase der Melonen. Die junge Frau mit dem Kind packte ihre Habseligkeiten in ein grosses Bündel, schob ihr die letzten Kekse hin und verabschiedete sich herzlich von ihr. Sie würde ihr Glück als Saisonarbeiterin auf den Feldern hier versuchen, ihr Mann arbeitete als wandernder Bauarbeiter in einem anderen Teil des Landes, hatte sie erzählt. Eltern hatten sie keine mehr, also zog ihr kleines Mädchen immer mit. Jetzt hielt es sich am Jackenzipfel der Mutter fest, um im Gewühl nicht verloren zu gehen.
Viele Menschen stiegen hier aus, reichten schwere Plastiktaschen und Säcke durch die heruntergelassenen Fenster nach draussen, wo Hände sie entgegennahmen. Hände von Familienangehörigen, die schon lange auf den verspäteten Zug warteten, oder von Freunden und Kollegen, die sich auf die Mitbringsel freuten. Andere wiederum, wenige aber nur, warfen von draussen ihre Taschen auf die frei werdenden Pritschen. Es war ein Schieben und Lachen, die einen wollten raus, die anderen drängten hinein. Chinesische Händler gingen auf dem Bahnsteig auf und ab und boten honiggelbe Melonen, Erdnüsse und Sonnenblumenkerne an, uigurische Verkäufer priesen ihre Fleischspiesse, die frischesten und besten im ganzen Land. Sie kaufte am offenen Fenster eine Tüte Erdnüsse, verstaute ein paar in ihrem Rucksack, eine Handvoll bot sie Xu und den anderen an, die weiter bis nach Ürümqi fahren würden, zur Endstation.
Der Zug setzte sich langsam in Bewegung, die graubraune Ebene glitt immer schneller am Fenster vorüber. Sie tippte den Schläfer auf ihrem Bett an. Wie ertappt richtete der Mann sich auf und stiess mit dem Kopf an die Waggondecke. Zuerst tat er, als wüsste er nicht, worum es ging, sie musste schon energisch werden, damit er ihr Platz machte und sich woanders eine Schlafstatt suchte. Murrend glitt er zu Boden, suchte nach seinen ausgetretenen Schuhen, deren ursprüngliche Farbe nicht mehr auszumachen war, und ging langsam durch den Gang davon. Einen Sack, eine Tasche oder auch nur ein Bündel schien er nicht bei sich gehabt zu haben.
Sie hievte sich auf ihr Bett, legte sich auf den Bauch und schaute hinaus, liess die Steinlandschaft draussen in ihr Blickfeld hinein- und wieder hinausgleiten. Flache Hügelketten erhoben sich hinter der weiten Geröllwüste, Ausläufer der Gobi, hier und da zerschnitten Strommasten die Ebene. Das Fenster hatte nach dem Verlassen des Bahnhofs niemand mehr hochgeschoben, denn die Deckenventilatoren waren in der Nacht ausgefallen. Die Hitze stand im Wagen, der Gestank von Essensresten und Menschen zog nur langsam mit dem Fahrtwind ab.
Da lehnte sich das Weissgesicht in das Abteil herein und fragte, ob man das Zeug in den Styroporschachteln essen könne, das ein Mann soeben in einem Metallwagen durch den Gang schob. Hühnchen auf Reis. Sie riet ihm zur Vorsicht, doch sein Hunger schien grösser zu sein, und er folgte dem Geruch. Vielleicht hatte er noch einen robusten Magen, ihrer war im Laufe der letzten fünf Jahre immer empfindlicher geworden. Sie schaute auf ihre Armbanduhr, Richtung zehn Uhr bewegten sich die Zeiger auf dem flachen, hellgelben Zifferblatt. Die Uhr hatte ihrem Vater gehört, der sie ihr vor der Abreise zugesteckt hatte. »Wenigstens kommt die dann ein wenig in der Welt herum«, hatte er wehmütig lächelnd gesagt.
Plötzlich krachte etwas gegen die Holzwand, die die Pritschen voneinander trennte. Scherben klirrten, der aufdringliche Gestank nach Reisschnaps verbreitete sich augenblicklich. Raue Stimmen schrien sich an, jemand brüllte los, und erneut schlug etwas gegen die Wand. Je lauter es nebenan abging, desto stiller wurde es im Wagen. Mit eingezogenem Kopf hatte sich Xu ans äusserste Ende seiner Bank verdrückt und schaute gänzlich unbeteiligt aus dem Fenster. Auch der Gang lag leer da, als sie den Kopf hinausstreckte. Weiter hinten sah sie, wie der Ausländer sich wiegend näherte. Sollte der doch … Sie legte sich wieder hin und versuchte, das Lallen und Brüllen zu ignorieren.
Doch es krachte erneut, dieses Mal ächzte die hölzerne Wand direkt neben ihr, schien nachgeben zu wollen. Dumpfe Schläge prallten auf Knochen, es tönte wie in einem schlechten B-Movie mit billiger Geräuschkulisse. Ein Geschrei, das sie nicht verstand. Sie sah hinunter zu Xu, der seinen Blick starr auf die ausgebleichte Steinwüste draussen richtete. Wen interessierte schon eine Schlägerei, wenn es keine Chinesen waren?
»Los, schnell, ich brauche Hilfe!«
Da sie offenbar die Einzige war, die diesen auf Englisch gesprochenen Satz verstehen konnte oder wollte, liess sie sich auf den mit Erdnussschalen übersäten Boden hinunter, schlüpfte in ihre Turnschuhe und schaute vorsichtig um die Ecke.
Breitbeinig und mit den Händen in die Hüften gestemmt stand der Ausländer da. Das passte nicht zu dem so heftig hervorgestossenen Hilferuf eben, fand sie. Aber als sie neben ihn trat, sah sie, weshalb er so verharrte.
Ein Mann mit blutüberströmtem Gesicht lag quer über der unteren Pritsche. Ein anderer stand mit gezücktem Messer vor ihm, schnaubte und lallte, taumelte und sackte zusammen, fiel mitten hinein in eine Lache aus Schnaps und Scherben. Halbleere und volle Flaschen standen noch auf dem Tisch und klirrten leise aneinander, Essensreste in Styroporschachteln lagen verstreut am Boden und auf den Betten. Den Messerstecher mussten sie ausschalten, wenn sie dem anderen helfen wollten. Von den Schaffnern keine Spur, auch nicht von den Polizeipatrouillen, die ansonsten in diesem Landesteil überall präsent waren. Tranken wahrscheinlich gerade im gemütlicheren Teil des Zuges Tee oder schäkerten mit den Schaffnerinnen.
Sie sprach auf den Messerträger ein, der sie aus blutunterlaufenen und alkoholverschwommenen Augen anglotzte, doch als er den weissen Ausländer neben ihr sah, zuckte er zu-sammen und wollte das schmierige Messer in eine schmale Messertasche schieben, die an seinem Gürtel befestigt war. Er fluchte, weil er ein ums andere Mal die Öffnung verfehlte.
Schnell lief sie zu ihrer Pritsche, schwang sich hoch, riss ihren Rucksack auf, zerrte den Beutel mit dem Verbandszeug und den Medikamenten heraus und rannte wieder zurück. Die meisten Reisenden schauten noch immer aus dem Fenster, andere kamen langsam neugierig näher, die Hände auf dem Rücken verschränkt.
Der bärtige Messerbesitzer starrte stumpf vor sich hin. Der Westler stupste ihn an, er murrte nicht auf, stank nur entsetzlich nach Schnaps. Sie versuchte, den Verletzten vorsichtig gerade hinzulegen, sein Gesicht mit Desinfektionsmittel zu reinigen und mit ihm zu reden. Er schien nicht zu merken, was vor sich ging, stöhnte nur immer wieder. Sie suchten seinen Körper nach weiteren Stichwunden ab, konnten aber keine finden. Seine Augen öffneten sich einen Schlitz breit, und als sein Blick auf sie fiel, flackerte für einen kurzen Moment etwas wie Verwunderung auf, die sich gleich wieder hinter geschlossenen Lidern versteckte. Schon ärgerte sie sich, dass sie sich zu dieser gefährlichen und unsinnigen Hilfsaktion hatte hinreissen lassen. Wäre sie alleine gewesen, hätte sie es den anderen nachgemacht und beim Anblick der Wüste versucht, die betrunkenen Schläger zu überhören. »Einmischung in innere Angelegenheiten« heisst es, wenn Kritik westlicher Regierungen abgeschmettert wird, und in diesem Moment passten die Worte wie die Faust aufs Auge.
Sie kehrte zu ihrem Platz zurück, der Ausländer folgte ihr und setzte sich neben Xu.
Der fragte leise, was denn passiert sei. Sie zuckte nur mit den Schultern.
»Man mag uns hier nicht«, jammerte Xu. »Die Uiguren hassen uns. Ständig kommt es zu Schlägereien, tödliche Stichwunden sind in dieser Provinz mit die häufigste Todesursache. Und die Chinesen ziehen immer den Kürzeren.«
Die Uiguren hätten sie schliesslich nicht aufgefordert hierherzukommen, gab sie zu bedenken und versuchte, dem Ausländer Xus Gestammel zu übersetzen.
»Doch, doch, die Regierung hat uns hierher geschickt, was kann ich dafür? Sie sollen uns in Ruhe lassen! Meine Eltern haben sich aufgeopfert, damit es ihnen besser geht, und sie? Nein, Undank und Hohn, sie würden uns am liebsten davonjagen. Doch wohin? In Shanghai will man uns auch nicht mehr …«
In kurzen Zügen erzählte sie Xus Geschichte. Die Zwischenfragen des Ausländers liessen darauf schliessen, dass er gut über die Verhältnisse Bescheid wusste. Offenbar hatte er sich vor seiner Reise informiert.
»Hab ein paar Semester Ethnologie studiert und ein bisschen Völkerrecht, mal hier, mal da. Aber eigentlich bin ich aus Zürich«, sagte er.
»Na dann, willkommen im Wilden Westen!«, lächelte sie. »In dem Fall können wir uns ja auf Deutsch unterhalten.« Sie erinnerte sich an die Schweizer, die sie einmal auf Reisen kennengelernt hatte. Ein halbes Jahr hüteten sie Tiere auf der Alp, ein halbes Jahr reisten sie durch Indien und machten einen beneidenswert glücklichen Eindruck.
Xu sah der Unterhaltung gebannt zu. Es mochte ihm seltsam erscheinen, dass sich zwei Fremde in der Fremde eben nicht gleich um den Hals fielen, sondern vielmehr Terrain sondierten und absteckten – ganz besonders unter Travellern ein beliebtes Spiel.
Als der Zug das Tempo drosselte, stand der Westler auf. Im Lautsprecher knackte es wieder, Xu aber kam der Ansage zuvor: »Daheyuan.« Er nickte ihr eifrig zu. »Du musst aussteigen. Und pass auf, fahr mit dem Bus, nicht mit dem Lastwagen. Und Turfan ist ganz schlimm, nur Räuber. Komm doch mit nach Ürümqi, du kannst bei meiner Familie wohnen, bist sicher, und wir zeigen dir den Himmelssee, ganz blaues Wasser hat der. Am See stehen die Jurten der Kirgisen, die laden einen zum Teetrinken ein, aber iss nicht das Brot, es schmeckt nach ranzigem Öl.«
Es fiel ihr schwer, sein freundliches und grossherziges Angebot abzulehnen, aber den Himmelssee kannte sie bereits, und Ürümqi war eine fade, zu Tode modernisierte Stadt. Sie versprach ihm, zu schreiben und das Foto zu schicken, das jemand von ihnen beiden gemacht hatte.
Schnell hatte sie ihre Sachen verstaut, den Becher, die Teedose, die restlichen Erdnüsse, schulterte den kleinen Armeerucksack und schritt durch den langen Gang. Als sie sich aus der schmalen Zugtür zwängte, drängten gleichzeitig Händler, Kinder und Frauen herein, die alle in den Zug wollten. Auf einmal aber öffnete sich vor ihr eine Gasse, die Menschen schauten hoch, auf etwas hinter ihr. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie der Ausländer gross und massig mit seinem Rucksack, der ihn noch um einen halben Kopf überragte, aufgetaucht war.
Auf der Treppe, die hinunter auf den Bahnhofsvorplatz führte, blieb sie stehen. Das Sonnenlicht war wie eine Ohrfeige. Sie band ihre langen, dunkelbraunen Haare schnell zu einem Pferdeschwanz zusammen. Letztes Jahr wäre sie an diesem Ort beinahe ohnmächtig geworden, so hatte die Hitze sie getroffen.
Sie liess den Blick über den Platz schweifen, suchte einen Bus, der nach Turfan fahren würde, als sie hinter sich das Reiben von Stoff vernahm, wie es nur Goretex-Hosen hervorbringen.
»Wie heisst du eigentlich?«
»Roxana.«
»Ich bin Alex.«
Kapitel 2
Staubhitze
Schwer lastete die Hitze auf dem rechteckigen Platz, dürre Grashalme verzagten zwischen aufgeplatzten Steinplatten. Von dem Gebäude auf der linken Seite blätterte der Putz, verblichen waren die roten Propagandasprüche der kommunistischen Partei, der rote Stern über dem Eingang hing schief. In den kaputten Fensterscheiben blitzte die Sonne auf. Roxana stellte sich vor, wie hier einst während der Kulturrevolution Kampfsitzungen abgehalten worden waren, wie eine keifende Menge die Verurteilten über den Platz jagte. Und wie es wohl für diejenigen war, die – auf Lastwagen verfrachtet, auf verbeulte Militärfahrzeuge und Traktoren – freiwillig aus dem chinesischen Mutterland gekommen und brüllend von einem Parteifunktionär begrüsst worden waren. In ihren Ohren gellten sie wieder: die Gesetze in Chinas Westen, die Treueschwüre auf Partei und Land. Mit Worten statt mit Harken schickte man die Menschen in die Wüste. Später wurden hier Rechts- und Linksabweichler verladen, mit Lastwagen in Lager gebracht, wo sie sich durch Arbeit eines Besseren besinnen sollten und wie die Fliegen starben.
Sie fixierte ein Plakat auf einer riesigen Stellwand, die offenbar erst kürzlich aufgestellt worden war. Während sonst alles innerhalb weniger Tage verblich, waren die Farben und Schriftzeichen gut erhalten, die verkündeten, wie sehr sich die Völker in diesem Land liebten.
Von den Leuten, die sich mit ihnen lärmend aus dem Zug gedrängt hatten, fehlte weit und breit jede Spur. Dabei waren erst zehn Minuten vergangen. Oder hatte sie das Zeitgefühl verloren?
Auf der anderen Seite des Platzes standen notdürftig zusammengezimmerte Verkaufsbuden, ein Mann sass auf einem Hocker und döste. Sie trat aus dem Schatten des Bahnhofs und ging langsam über den Platz, die Sonne brannte erbarmungslos auf sie nieder. Eine Sonnenbrille trug sie aus Prinzip nicht, denn trugen Einheimische etwa eine? Sie ging schneller, um sich unter eine vergilbte Plane zu flüchten, die einer der chinesischen Gemüsehändler über seinen Stand gehängt hatte. Von ihm erfuhr sie, dass heute kein Bus mehr kommen würde und sie ihr Glück bei den Lastwagen suchen solle, die hinten um die Ecke parkten. Roxana ging zögerlich in die Richtung, die er ihr gezeigt hatte.
»Was ist?«, fragte plötzlich jemand hinter ihr. Den Traveller hatte sie ganz vergessen.
»Es gibt keine Minibusse wie sonst im ganzen Land, und der Bus ist pünktlich heute Morgen um zehn Uhr abgefahren. Dem Busfahrer ist es egal, ob der Zug Verspätung hat, ob er Fahrgäste hat oder nicht. Der will zu Mittag in Turfan sein«, erklärte sie.
»Und nun?«
»Nun müssen wir einen Lastwagen finden, der uns nach Turfan fährt. Dorthin willst du doch auch, oder?«
Als sie das Ende des Platzes erreichten, polterte ein Lkw um die Ecke und hüllte sie in eine Staubwolke. Auf der schnurgeraden Strasse gab er Gas. Durch den Staub sah Roxana dicht aneinander gedrängte Menschen auf der Ladefläche stehen. Wo kamen die auf einmal her? Hatten diejenigen, die mit ihnen ausgestiegen waren, um den verpassten Bus gewusst und waren gleich zu den Lastwagen gelaufen? Und hatte der Fahrer genau darauf gewartet, um seinen Monatslohn mit dem Fahrgeld der Leute aufzubessern? Die Rechnung war aufgegangen, nur eben ohne sie.
Alex folgte ihr stumm, als sie die Fahrspuren entlang in die entgegengesetzte Richtung trottete. Roxana hörte nichts als das Geräusch vom Reiben des Stoffes seiner Hose, jedes Mal, wenn sich seine Oberschenkel berührten. Irgendwann, ziemlich bald, würde sie ihm das sagen müssen, in seinem riesigen Rucksack hatte er hoffentlich auch Hosen aus normalem Stoff. Aber vielleicht erübrigte sich das, in Turfan würden sich ihre Wege ohnehin trennen. Sie verscheuchte den Gedanken; lästig genug, dass sie über so etwas überhaupt nachdachte.
Seine Handbewegung, die sie aus den Augenwinkeln verfolgte, liess sie aufmerken; er schirmte die Augen ab, spähte geradeaus. Sie folgte seinem Blick und sah drei Lkws und einen Militärwagen. Als sie davorstanden, waren die Schriftzeichen auf den Fahrerkabinen, die verrieten, welcher Arbeitseinheit ein Wagen angehörte, kaum noch zu erkennen. Vielleicht waren sie hier nur abgestellt worden? Von den Fahrern fehlte jede Spur.
Hitze, Schweiss und Staub, das Gemisch war unerträglich. Roxana schluckte schwer. Sie hatte vergessen, Wasser zu kaufen, würde es jetzt aushalten müssen. Mutlos blickte sie um sich und schaute dann in alle Fahrerkabinen, ob sich vielleicht drinnen ein Körper im Schlaf auf den Sitzen wand, doch die Kabinen waren leer. Auch im kleinen Armeegeländewagen sass niemand.
»Hier!«, rief Alex auf einmal. Unter einem der Wagen schaute der Zipfel einer Decke hervor. Dort lag ein Mann, ein Fahrer vermutlich, der es sich unter dem Lkw gemütlich gemacht hatte und im Schlaf stöhnte und ächzte.
»Sollen wir ihn wecken?«, fragte Alex.
»Damit würden wir den Fahrpreis nur in die Höhe schrauben. Warten wir lieber eine Weile«, sagte Roxana, liess ihren Rucksack in den Staub sinken und holte ihre Wasserflasche heraus. »Ich kaufe Wasser, da vorne«, rief sie ihm im Gehen zu, »dann sehen wir weiter.« Sie war froh, eine Ausrede zu haben. Denn auf Bedenken und Einwände hatte sie nun wahrlich keine Lust. Sie war es schon jetzt leid, ihm alles erklären zu müssen. Was ging es sie an, ob andere dieses Land verstanden oder nicht?
Sie nahm sich Zeit, konnte in der flirrenden Hitze, die einen halben Meter über dem Boden stand, ohnehin nicht schneller gehen.
Der chinesische Händler hatte kein Wasser mehr, also fragte sie beim uigurischen Melonenverkäufer nach, der den Kopf schüttelte. Sie ging die Stufen zum Bahnhofsgebäude hoch, doch das lag nun wie ausgestorben da. Die Leute krochen bloss dann aus ihren schattigen Verstecken, wenn Züge kamen. Dann quirlte es hier, Reisende schrien durcheinander, Verkäufer priesen Nüsse und Melonen an – wie Gespenster, die sich von Geisterhand bewegten, wenn ein Zug einfuhr. Aber wo waren die Fahrer der verlassenen Wagen? Nirgends eine Tür, die auf einen Raum oder eine Lagerhalle verwiesen hätte.
Sie kehrte um und ging über den Platz auf die Bretterbuden zu, die sie bislang gemieden hatte. Vor einem Verschlag standen Lautsprecherboxen, aus denen verzerrt schrille Töne drangen, drinnen wurden offenbar Videos gezeigt. Schuppen dieser Sorte gab es überall in den ärmlicheren Gegenden Chinas. Aus der Nähe klangen die Töne noch grässlicher. Eine Frau beschimpfte offenbar einen Mann, warf ihm vor, er liebe sie nicht mehr, er betrüge sie mit einer anderen, dumpfe Schläge, ein spitzer Aufschrei – das übliche Drama, dachte sie, als sie die schmutzstarrende Decke, die vor dem Eingang hing, zur Seite schob und eintrat.
Zuerst sah sie nichts, schnell aber gewöhnten sich ihre Augen an das Dunkel. Gleich neben dem Eingang erkannte sie einen Mann, das Kinn auf der Brust, weiter hinten konnte sie zwei zusammengesunkene Gestalten ausmachen, die vor einem Bildschirm hockten. Auf einmal kam eine Gestalt taumelnd auf sie zu.
Sie hielt ihm ihre Flasche hin. »Kann ich hier Wasser kaufen?«, brüllte sie, um gegen das Gekrächze aus dem Video anzukommen.
»Haben wir nicht«, verstand sie.
»Kann ich mir heisses Wasser abfüllen?«, fragte sie und liess ihren Blick durch den langen, schmalen Raum schweifen auf der Suche nach einer Thermoskanne.
Er tat, als habe er die Frage nicht gehört, und wandte sich ab. An der Bretterwand stand eine Verkaufstheke, der erdige, plattgestampfte Boden davor war mit Kürbiskernschalen übersät. Sie ging zur Theke, sah die übereinander gestapelten Teeschalen und hob eine rote Thermoskanne hoch, die dem Gewicht nach zu urteilen halb voll sein musste. Sie nahm den schmierigen Pfropfen ab und spürte lauwarmen Dampf auf der Hand. Besser als nichts. Gerade als sie ihre Flasche auffüllen wollte, trat das Gespenst neben sie und gestikulierte wild. Er riss ihr die Thermoskanne aus der Hand und verlangte eine unsinnig hohe Summe für die Brühe.
Murrend warf sie ihm ein paar zerknüllte Scheine hin – viel zu nachgiebig und grosszügig, wie sie fand – und ging rasch hinaus.
Wieder sah sie für einen Moment nichts, die Sonne blendete, fast wäre sie gestrauchelt. Als sie bei den Lkws ankam, stand da nur noch ihr Rucksack. Sie ging um alle Wagen herum und entdeckte Alex an das Rad eines Lastwagens gelehnt, wie er Notizen in ein Buch machte.
Er sah kurz auf, doch das reichte, um sie zusammenzucken zu lassen. Wieder diese wasserblauen, brunnentiefen Augen. Schnell wandte sie den Kopf ab.
»Und, gibt’s was Neues?«
»Der Fahrer schnarcht, mal lauter, mal leiser.«
»Dann weck ich ihn jetzt. Hab keine Lust, hier noch länger zu warten.« Sie warf einen beunruhigten Blick in die Richtung, aus der sie gekommen war, ging hinüber zu dem Mann unter dem Lkw, bückte sich und zupfte an seiner Decke. Zuerst vorsichtig, dann immer stärker, schliesslich versuchte sie den Mann mitsamt der Decke unter dem Wagen hervorzuziehen, doch er war ihr zu schwer.
Endlich rief sie: »He, Fahrer, was ist?«
Ein kurzer Augenaufschlag, der sie nur halb erfasste, aber das reichte schon, und der Mann war plötzlich hellwach.
»Was gibt’s?«
»Fährst du nach Turfan?«
»Hm, nein. Wollt ihr dahin?« Sein Gesicht belebte sich. Doch als Alex auf einmal neben ihr stand, war das dem Mann wohl doch nicht geheuer. Er kroch hervor, schüttelte den Sand ab, der sich innerhalb kürzester Zeit auf alles legte, und starrte sie an.
»Zweihundert Yuan«, kam es zusammen mit einer Alkoholschwade aus seinem Mund.
»Der Bus kostet fünf, also mach’s billiger.«
Nach einer Weile einigten sie sich auf einen Preis, woraufhin der Fahrer ohne weitere Erklärungen seine Kabine bestieg. Roxana schob sich auf den Beifahrersitz, ihren Rucksack zwischen den Beinen.
Der Fahrer beugte sich über sie, öffnete das Fach auf der Beifahrerseite, holte eine Flasche Reisschnaps hervor und nahm einen tiefen Schluck.
»Wir sind verrückt, uns auf diesen Deal einzulassen«, sagte Alex, der noch draussen stand.
»Wird schon schiefgehen. Ich hab jedenfalls keine Lust, hier noch länger zu warten.« Sie sah, wie sich sein Gesicht verhärtete, wenn auch nur für Sekunden. Schliesslich murmelte er: »Wenn du meinst«, und wollte einsteigen, hielt dann inne, den grossen Rucksack noch in der Hand. Sie beobachtete im Rückspiegel, wie er sein Gepäck auf die Ladefläche hievte, es zwischen irgendwelche Fässer klemmte und Decken darüber legte.
Als sie endlich loszuckelten, sass Roxana eingequetscht zwischen den beiden Männern. Der Motor spuckte ein paar Mal, schliesslich beschleunigte der Wagen, legte sich in die Kurve, die Strasse führte schnurgerade zu einer blassen Bergkette am Horizont. Roxana sah sich nach dem grünen Armeefahrzeug um, das noch immer verlassen auf dem Platz stand. Zu gerne hätte sie gewusst, wo die Insassen abgeblieben waren.
Letztes Jahr hatte sie zwei Stunden für die Fahrt nach Turfan gebraucht, doch zur Sicherheit erkundigte sie sich, wie lange es dauern würde.
Der Fahrer murmelte irgendetwas, dem Roxana nur gerade entnehmen konnte, dass es neuerdings eine Baustelle gebe und sie einen Umweg fahren müssten.
»Und wann kommen wir an?«, hakte sie nach.
»In zwei Stunden«, antwortete der Fahrer und griff erneut nach der Schnapsflasche.
Hart schlug Roxanas Stirn gegen die Windschutzscheibe. Benommen hörte sie einen Aufschrei zu ihrer Rechten. Vor ihr war keine Strasse, nur ein versandeter Kiesweg. Neben ihr Alex, der den Fahrer böse anstarrte. Der Weg eine gerade Linie inmitten einer plattgewalzten Ebene, und er hatte es geschafft, den Wagen in den einzigen Graben weit und breit zu fahren. Das hier musste die Umleitung sein, von der der Fahrer gesprochen hatte, Roxana war auf einmal hellwach.
Alex schwang die Beifahrertür auf und kletterte hinaus. »Die Ölwanne hat offenbar einen Schlag abbekommen«, sagte er. »Alles voller Öl.«
Der Fahrer rappelte sich aus seiner Alkoholduseligkeit auf, stieg schwerfällig aus, ging in die Hocke, starrte auf die Wanne und liess sich auf die Erde fallen. Neben seinem Sitz sah sie die Flasche liegen – es war nur noch ein kleiner Rest darin. Mit diesem Mann gab es kein Weiterkommen mehr.
Sie stupste Alex: »Komm, nimm deinen Rucksack, wir gehen zu Fuss. Kann ja nicht mehr weit sein.«
Er folgte ihrem Blick, der zuerst über den Fahrer glitt, dann die Schnapsflasche streifte und schliesslich in der Ferne an der Bergkette hängen blieb. Mit einem Satz sprang er auf die Ladefläche, hievte den Rucksack hinunter und fragte noch, ob sie vorhin Wasser bekommen hätte.
»Ja, aber nur eine halbe Flasche, das muss reichen.«
Sie gab dem Fahrer zu verstehen, dass sie zu Fuss weitergehen würden; er schaute nicht einmal auf, stierte bloss weiter auf die Ölwanne.
»Dieser Weg muss irgendwann zur Strasse zurückführen. Aber warum ist von der Baustelle nichts zu sehen?« Roxana sprach wie zu sich selbst.
»Und warum haben sie den Weg so weit von der Strasse entfernt angelegt? Was soll dieser riesige Umweg?«, wunderte sich Alex und schaute zum Horizont. »Wie lange brauchen wir schätzungsweise bis nach Turfan?«
Sie zuckte mit den Schultern, legte die Hand schützend über die Augen, spähte in alle Richtungen. Sie sah nichts. Fast nichts, nur eine flimmernde Asphaltschlange und ein paar Hügel, dahinter lag irgendwo Turfan in einer Senke. Die Sonne mussten sie also rechter Hand lassen und weiter gen Süden laufen. Glücklicherweise war die schlimmste Hitze vorüber.
»Und?«
»Nun ja, wenn ich rechne, wie lange wir gefahren sind und wie viele Stunden man für zwanzig Kilometer braucht, dann müssten wir in vier Stunden in Turfan sein, kurz bevor es dunkel wird.«
Alex fluchte und gab einem Sandhaufen, der sich neben dem Weg aufgetürmt hatte, einen Tritt.
Der Weg führte in einem weiten Bogen zur Strasse zurück, unterwegs überquerten sie einen Karez, der früher einmal vom Tianshan, dem Himmelsberg, Wasser in die Oasen geführt haben mochte.
»Wahrscheinlich wurde dieser Weg nicht einmal angelegt, sondern nur wieder aktiviert. Ein alter Feldweg, den man benutzt hat, um die Kareze, die unterirdischen Wasserkanäle, instand zu halten.« Viele der Kanäle seien mittlerweile verfallen, denn für Ölbohrungen oder die riesigen Plantagen, die Chinesen hier im Lande angelegt hätten, sei zu viel Wasser verbraucht worden. Oder das Wasser sei verschmutzt, und keiner wolle mehr aus den Karezen Wasser holen. Höchstens noch für die Bewässerung der Weinstöcke.
»Aber die Uiguren werden sich das nicht mehr lange gefallen lassen«, ergänzte Alex trocken.
Sie warf ihm von der Seite einen Blick zu. Ohne auf seine Bemerkung einzugehen, beschleunigte sie ihren Schritt. Ihr war mehr daran gelegen, möglichst schnell vorwärtszukommen, als sich auf politische Diskussionen einzulassen.
»Roxana und Alexander, kennst du die Geschichte?«, fragte sie nach einer Weile.
»Wieso? Worum geht es?«
»Ach, unwichtig.«
Roxana schwieg. Sie war es nicht gewohnt, in Gesellschaft zu reisen, jede »Gesellschaft« würde sie nur von ihrer Forschung abhalten, Höhlen- und Tempelanlagen in Xinjiang nach buddhistischen Spuren abzusuchen. Denn die Uiguren waren einst Buddhisten, der Islam kam erst später von Zentralasien über die Seidenstrasse in den Osten. Der Islam aber machte die Uiguren in den Augen der chinesischen Regierung stets verdächtig. Immer wieder kam es zu Aufständen, die stets niedergeschlagen wurden. Es gab Mutmassungen, wonach die Uiguren von zentralasiatischen Staaten unterstützt würden. Saudi-Arabien, hiess es, fördere die uigurische Bewegung und den Islam in Xinjiang. Das könne man an den protzigen Minaretten hier in der Gegend erkennen.