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Peter Weingartner
Sisyphos’ Kinder

edition 8

Peter Weingartner

Sisyphos’ Kinder

Ein Alphabet der Sehnsucht

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Verlag und Autor danken herzlich der Gemeinde Triengen, der Gemeinde Adligenswil und der Kulturförderung des Kantons Luzern / swisslos für ihre Unterstützung.

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Die edition 8 wird im Rahmen des Förderkonzepts zur Verlagsförderung in der Schweiz vom Bundesamt für Kultur mit einem Förderbeitrag für die Jahre 2016–2018 unterstützt.

März 2018, 1. Auflage, © bei edition 8. Alle Rechte, einschliesslich der Rechte der öffentlichen Lesung, vorbehalten. Lektorat: Geri Balsiger, Korrektorat: Verena Stettler, Typografie, Umschlag: Heinz Scheidegger, Umschlagfoto: Peter Weingartner; e-Book: mbassador GmbH, Luzern

Verlagsadresse: edition 8, Quellenstrasse 25, CH-8005 Zürich, Telefon +41/(0)44 271 80 22, info@edition8.ch

eISBN 978-3-85990-342-5

Anna

Morgens um halb sechs sitzt Anna auf dem Balkon ihres Hauses und raucht. Der Balkon ist gedeckt; auf das Wetter muss sie keine Rücksicht nehmen. Es sei denn, es regnet quer. Seit einer halben Stunde dürfen die Lastwagen fahren, und der erste Ansturm aus den Verteilzentren im Mittelland Richtung Süden ist vorbei. Das Brummen der Lastwagen, wenn sie von der Autobahn kommend das Tal hochfahren, hat Annas Wachwerden vor der Zeit befördert. Das ist jeden Morgen so, weil sie bei offenem Fenster schläft. Sie schläft auch im Winter bei offenem Fenster. Und auch im Winter raucht sie ihre erste Zigarette auf dem Balkon, eine Wolldecke um die Beine geschlagen, die Füsse in Wollsocken.

Anna steckt sich noch eine Zigarette an. Ihr graubraunes Nachthemd hebt sich kaum ab von der Farbe des Hauses. Nicht frühmorgens, wenn alle Nachthemden grau sind. Das Dorf erwacht; der Nachbar schliesst die Türe der Garage sanft, bevor er sich aufs Fahrrad schwingt und Richtung Fabrik davonfährt. Es ist jeden Morgen dasselbe, denkt Anna. Man könnte die Uhr nach seinen Tätigkeiten richten: Licht an, Gang zum Briefkasten, die Schlüssel am Bund wie Glöckchen, das Türchenblech scheppert, später die Garagentüre, Abfahrt. Im Winter kommt bei Schneefall das Räumen des Vorplatzes dazu. Wenn es möglich wäre, das Dorf aus Distanz zu betrachten und im Zeitraffer, wenn man die ganze Welt dergestalt betrachten könnte, sähe man eine höchst komplizierte Maschine, die in einem Rhythmus funktioniert, der mit Tag und Nacht zu tun hat, aus dem aber auch, aus räumlicher und zeitlicher Distanz, die Jahreszeiten abzulesen wären. Ein Erdenpuls. Wie für die Eintagsfliege ein Tag ein Leben bedeutet, so gibt es mit Sicherheit Wesenheiten, denen ein Menschenleben wie ein Tag vorkommen muss, nicht der Wahrnehmung, geschweige der Erwähnung wert, stellt Anna sich vor. Der Stein, der Humus, der Bach. Im Naturhistorischen Museum in der Stadt hatte sie eine Kiste voller Sand gesehen und die Legende dazu gelesen: Jedes Sandkorn steht für eine ganze Galaxie.

Anna steht auf. Der Wassersieder hat aufgehört zu prusten. In der Küche giesst sie sich einen Kaffee auf. Das Müesli, das sie sich gleich nach dem Verlassen des Bettes zubereitet hat, verfügt nun über jene Konsistenz, die Anna passt. Aufgeweicht von der Milch gleiten die Haferflocken widerstandslos über die Zunge die Speiseröhre hinunter in den Magen. Hat sie an der Milch gespart, büsst sie dafür: Die Flocken sind zu trocken, bleiben oben am Gaumen kle-ben.

Die Glocken der Kirche beginnen zu läuten. Es ist sechs Uhr. Von ihrem Balkon kann sie den Kirchturm sehen. Um die Zeit abzulesen, bräuchte sie auch tagsüber ein Fernglas. Aus der Stube hört sie den Nachrichtensprecher. Sie will nichts wissen von Ägypten und Zentralafrika, Fussball und Schnee in Spanien, schliesst die Balkontüre. Heute habe ich einen freien Tag, denkt Anna, und sie müsste darob glücklich sein. Heute macht Kollegin Margrit ihre Arbeit auf der Notfallstation des Spitals. Heute hätte ich ausschlafen können. Was mache ich mit meiner Zeit? Wenn ich wenigstens schlafen könnte. Ausschlafen. Miserabel sind die Aussichten. Der arbeitslose Über-Nachbar hat die ganze Nacht über Licht, und am Morgen wartet er um vier Uhr auf die Frau, welche die Zeitung verträgt. Die Frau ohne Ehemann, die Frau mit zwei Kindern. Von diesem Rendezvous hat Anna zufällig erfahren, als sie nach dem Besuch der Toilette das Auto jener Frau hörte und aus dem Fenster blickte. Der Über-Nachbar hätte gerne ein paar Worte gewechselt, sie hereingebeten, ihr vielleicht sogar einen Kaffee angeboten, das las er aus seinen Gesten, doch die Frau winkte ab, schüttelte den Kopf und hetzte zum Auto zurück. Sie mag wohl keine Reklamationen, denkt Anna. Und mit diesem Mann liesse sie sich auch nicht ein. Die Kinder zu Hause wollen Frühstück.

Die dritte Zigarette. Eine junge Frau aus der neuen Siedlung oberhalb des Hauses, das Anna gehört, weil ihre Mutter, schon zwanzig Jahre tot, im Dorf aufgewachsen ist, eilt mit lauten Schuhen Richtung Bushaltestelle an der Hauptstrasse. Anna stellt sich vor, wie die hohen spitzen Absätze im Asphalt der Strasse steckenbleiben und mit ihr die junge Frau. Und wie jene bei den unfruchtbaren Versuchen, die Schuhe wegzubringen, stürzte, sich aber mit den Händen auffangen könnte und ohne Schuhe weiterzueilen versuchte, jedoch kleben bliebe, dann die Strumpfhosen opferte, ohne indes weiterzukommen, denn auch die Füsse blieben haften. Was würde der Bauer, schlaftrunken, auf dem Traktor machen, wenn sie, seine Erwartungen Lügen strafend, nicht von der Strasse wiche, weil sie nicht weichen könnte? Dem Morgen fehlt zu jeder Jahreszeit die Hitze.

Seit ihrer Scheidung vor dreizehn Jahren wohnt Anna im Mutterhaus. Mutterhaus, wie das klingt. Das ist kein Kloster, vielmehr ein einst nobles Bürgerhaus und heute noch ein Prunkstück, wenn man genauer hinschaut. Eine Villa gewissermassen, an den Hang gebaut, wie es sich gehört, mehrstöckig, ausladend, da erstellt in einer Zeit, als es noch keine Bau- und Zonenordnung gab und bei Neuzuzügern allein das Portemonnaie, bei Eingeborenen deren Status das Baurecht bestimmten. Annas Grossvater war Fabrikant gewesen, hatte Hemden produziert im Dorf, bis die letzten Kunden merkten, dass sie auch ohne Masshemden mit fünfzehn Kragen- und acht Manschettenformen zur Auswahl gut und vor allem günstiger leben konnten.

Den Verkehrslärm hört sie am Hang besser als auf Strassenhöhe. Sie erwacht nicht nur deswegen; er erschwert aber das erneute Einschlafen. Besonders ärgerlich, denkt Anna, weil sie heute ausschlafen könnte. Weil sie nicht zur Arbeit muss.

Die Notfälle belasten sie nicht mehr. Das macht Anna beliebt bei den Eingelieferten. Das macht das Alter. Das macht die Erfahrung. Ein aufgescheuchtes Huhn hilft keine Schmerzen lindern, denkt Anna und setzt die Infusion: sicher, sachlich, überlegt. Es würde ihr nichts ausmachen, länger im Patientenabteil der Notfallaufnahme neben dem Patienten zu sitzen, der sich beim Sport, Volleyball, einen Finger gebrochen hat und darauf wartet, endlich weiterbehandelt zu werden. Zuerst kommt die Frau dran, deren Nasenbluten nicht mehr aufhören will. Man sollte nicht eine ganze Nacht bluten. Auch wenn du das Blut schluckst, es kehrt nicht in den Kreislauf zurück. Veröden. Die Schwellung an der Hand des Volleyballers muss erst abklingen, bevor ein Eingriff – das Röntgenbild legt eine Verschraubung der beiden Knöchelchenteile nahe, das sieht Anna sofort – vorgenommen werden kann.

Anna hat den Blick, an der Erfahrung geschult, doch wenn ein junger Arzt sich schwer tut mit Diagnose und Entscheid, behält sie ihre Meinung für sich. Sie will keine Schwierigkeiten, geniesst still: Aha, ich habs gewusst. Man könnte mich ja fragen.

Wenn Anna ganz ruhig sitzt, sieht niemand die Frau auf dem Balkon. Und wenn man sie sähe, nähme man sie als ausgestopfte Puppe wahr, wie sie in der Fasnachtszeit auf unbenutzten Bänken, hinter Kaminen oder auf Fenstersimsen sitzen. Man würde das Ausblasen des Rauchs nach einem Zug an der Zigarette hören, wenn man ruhig wäre. Wer geht, macht Lärm, wenn es dunkel ist. Die junge Frau ist nicht kleben geblieben. Am Morgen bleibt niemand kleben auf der Strasse. Am Morgen saugt ein Magnet die Menschen aus ihren Häusern zu den Bushaltestellen, zu den Bahnhöfen, in die Fabriken. Und in die Krematorien, denkt Anna. Die letzte Station überhaupt, denkt sie, und jede Weltreise, jeder Städtetrip, aber auch der Gang zur Arbeit erscheint ihr jetzt als Versuch, diesen unangenehmen Gedanken nicht aufkommen zu lassen. Die junge Frau wird die Haltestelle des Postautos rechtzeitig erreicht haben, es sei denn, sie wäre in der Eile gestürzt und hätte sich den Fuss verknackst.

Man sähe die Glut der Zigarette aufleuchten, nimmt Anna einen Zug, wenn man aufmerksam nach oben blickte. Auf die Idee kommt nur, wer den frischen Rauch riecht. Wer zu so früher Stunde auf den Bus eilt in Schuhen, deren Absätze als Hieb- und Stichwaffe dienen könnten, hat wie die junge Frau selber eine Zigarette im Mund und verpasst so die Gelegenheit, fremden Rauch zu riechen.

Was mache ich da, die Fremde, die Zugezogene, Zugespülte, die mit dem anderen Dialekt, fragt sich Anna. Sie kommt sich als Fremdkörper vor in einem Dorf, das gerne Einheit und Einigkeit zelebriert an Neujahr, am Nationalfeiertag, an der Neuzuzügerfeier, am Heimatabend von Trachtenverein und Jodlerklub, am Grümpelturnier des Fussballvereins, am Turnerabend. Liegt es an ihr? Sie denkt an ihren Sohn, der das Haus dereinst erben wird. Der Bub lebt als Küchenchef in Singapur. Anna ist immun gegen Fernweh; der Bub kommt alle zwei Jahre zu Weihnachten zurück, und Anna hofft auf seine Rückkehr, irgendwann. Auch hier gäbe es doch Hotels, St. Moritz, Interlaken, Luzern. Gekocht wird überall, wo Menschen essen wollen. Und Menschen müssen überall essen. Sie redet ihm nicht drein, keinerlei Anspielungen, die er missverstehen könnte, weiss wohl, dass sie nichts zu sagen hat, wie auch sie sich nichts sagen lassen wollte, damals. Jeder verdient seine eigenen Fehlentscheidungen, denkt Anna.

Sie sieht einen Krankenwagen unten auf der Hauptstrasse, Blaulicht ohne Sirene. Heute hätte Anna ausschlafen können. Das wird ein Herzstillstand sein. Sie kennt die Rettungssanitäter. Zeit ist Leben. Hat Heiner heute Pikettdienst? Zehn Minuten, dann ist Ende Feuer. Oder Kurt? Sie muss die Dienstpläne des Notfalls nicht kennen. Oder ein Hirnschlag. Das ist ihre Erfahrung: Auch das Hirn will am Morgen gemächlich anlaufen, das Herz hat im Liegen minim weniger Arbeit, das Blut zu verteilen, als wenn der Mensch steht, und wer abrupt aufsteht, dann treppauf treppab rennt, geht Risiken ein. Anna bildet sich im Berufsmodus die Fähigkeit ein, sich und den Menschen an sich von aussen betrachten zu können. Sie sieht den Körper wie eine chemische Versuchsanlage mit Röhren und Leitungen, in denen farbige Flüssigkeiten fliessen. Zeigt sich darin die Nachhaltigkeit der Ausbildung? Und die Flüssigkeiten fliessen in unterschiedlichen Geschwindigkeiten, mal gemächlich, mal wild und wirr. Anna steht auf. Wenn die Säfte die Extremitäten nicht mehr erreichen, müsste eine Sirene losgehen, doch passiert genau das Gegenteil. Während Anna ihre vierte Zigarette raucht und ans Balkongeländer steht, um klarer zu sehen, erkennt sie die wachsende Umnebelung des Dorfes; die grellen Lichter des Grossverteilers verblassen in den Wasserbläschen, von der Ebene des Flusses hochgetrieben, physikalisch bedingt, und sie ahnt dumpf: Es könnte auch ein Verkehrsunfall gewesen sein, ein Velofahrer vielleicht, denn im Waldstück talwärts fehlt der Radweg, und wer früh zur Arbeit fährt, nimmt sich nicht zwingend mehr Zeit.

Bruno

Wenn Bruno mit dem Hund morgens Gassi geht, ist es im Winter dunkel wie in einer Kuh. Dabei können weder er noch der Hund entsprechende Erfahrungen vorweisen. Wenigstens bellt der Hund nicht. Wäre Vollmond, der Himmel offen, strahlte der Schnee und die Chance, dass der Hund bellt, erhöhte sich.

Bruno arbeitet als Buchhalter in einem grossen Baugeschäft in der Stadt. Der Hund weiss nichts davon, wenn er an der Leine zieht und Bruno dazu nötigt, seinen Gang zu beschleunigen. Wie ein zweites Erwachen, sagt sich Bruno, aus Morgenträumen gerissen. Er sieht Licht im Altersheim und denkt an seinen Vater. Er zählt die Fenster. Nein, er liegt im oberen Stockwerk im zweitäussersten Zimmer. Dort brennt kein Licht. Er nimmt das für ein gutes Zeichen: Vater schläft. Wenn die Fachfrauen ausreichend Medikamente spritzen, kann jeder schlafen. Wenige Wochen oder wenige Tage noch, hatte der Arzt vor einem halben Jahr gesagt.

Verfügt der Mensch über ein Wahrnehmungsorgan jenseits des Gehörs für solche Diagnosen? Schnell kann es gehen. Die Nachbarin, 92, habe einen Hirnschlag erlitten, hat ihm seine Frau gesagt: halbseitig gelähmt, nicht mehr imstande zu sprechen. Was nimmt ein Mensch in diesem Zustand wahr? Hört er, wie sie reden, die Angehörigen, wie sie den Ärzten sagen, sie sollten auf lebenserhaltende Massnahmen verzichten, das habe keinen Sinn mehr? Von den Kosten abgesehen. Der selektiven Wahrnehmung – wir hören, was wir hören wollen – unterliegen auch Menschen ohne zerebrale Einschränkungen. Vielleicht, denkt Bruno, nimmt man in einem solchen Zustand konzentriert und fokussiert nur noch das Wesentliche wahr? Das aber ganz genau? Zum Wesentlichen gehört mit Sicherheit die Bitte der Angehörigen.

Der Hund zieht an der Leine, will mit aller Kraft die Strasse hoch Richtung Wald. Was der wieder riechen mag, denkt Bruno. Er will nicht rennen, möchte nicht verschwitzt im Büro ankommen. Wäre ihm unangenehm: Wer so ins Büro kommt, macht sich nicht beliebt. Der Hund riecht an Kollegenpisse im Schneehaufen am Strassenrand. Es wäre interessant zu erfahren, welche Schlüsse Tiere aus solchen Sinneseindrücken ziehen. Ob sein Hund über konkrete Erinnerungen verfügt?

Die Strassenlampe erhellt auch nachts die Quartierstrasse. Dabei macht der Schnee selber schon hell. Da wäre zu sparen, entfährt es Bruno, und der Hund, der seinen Meister zu dieser Stunde als stummen Menschen erlebt hat, dreht sich kurz um und blickt ihn an. Ich meine nicht dich, beschwichtigt Bruno, obwohl, wenn er sich das genau überlege. Das Ende des Satzes bleibt unausgesprochen in seinem Kopf. Ein schlechtes Gewissen bemächtigt sich seiner, denkt er an animalische Intuition: Der Hund hat mich längst durchschaut.

Bruno geniesst die relative Stille des anbrechenden Tages. Sein Bedauern mit den Menschen, die bereits jetzt an der Arbeit sind, hält sich in Grenzen. Im Nachbardorf auf der anderen Talseite ist ein Traktor mit Schneepflug unterwegs. Das Blinklicht verrät ihn. Die ersten Arbeiter aus der Fabrik kommen von der Nachtschicht nach Hause und legen sich bald ins Bett, denkt er, als er drei Autos nacheinander zur Siedlung, 200 Höhenmeter und drei Fahrkilometer über dem Dorf, fahren hört. Da oben gibt es keine Arbeitsplätze, es sei denn in der Landwirtschaft oder im Restaurant, Ausflugsziel, aber nur an sonnigen Wochenenden. Das öffnet unter der Woche erst zum Feierabendbier, weiss Bruno.

Die Weite der schwarzen Nacht, wo alles möglich scheint. Und die noch weiter wird, weiter und weicher und ruhig, sind die Matten weiss. Wenn alle schlafen, ist von hoher Bevölkerungsdichte und rasend schnellem Kulturlandverlust nichts zu spüren, sagt er sich. Nur die Strassenbeleuchtungen auch auf der anderen Talseite, dazu vereinzelt Lichter aus Wohnungen, verraten die Siedlungen. Der Schneepflug, einsamer Komet. In der Nacht arbeiten muss seinen Reiz haben. Ins Bett gehen, wenn andere aufstehen. In der Nacht vergeht die Zeit im Wachzustand nur langsam, erinnert sich Bruno an seine Zeit als Wachsoldat im Militärdienst. Die Kirchenglocken machen dich fertig. Ablenkung verkürzt subjektiv die Zeit. Was nützt dir ein Zeitempfinden, zähe, wenn du dich langweilst?

Der frühe Spaziergang mit dem Hund hat etwas zutiefst Meditatives, im Winter besonders. Bruno atmet bewusst durch die Nase ein, durch den Mund aus. Nebel entweicht. Morgenfrieden. Keine kommunikativen Störungen. Keine Rücksichtnahme um des Friedens willen. Kommt er zurück, steht das Frühstück auf dem Tisch, die Zeitung liegt daneben. Beim Vertreter für Tierfutter geht das Licht an. Bruno könnte ein Soziogramm herstellen: Wann geht in welchem Haus das Licht an. In welchem Zimmer. Der Schreiner hat auch schon Licht in seiner Werkstatt. Wobei das Licht auch täuschen kann. Es gibt Menschen, die fürchten die Dunkelheit. Andere lassen die Lampen einer Zeitschaltuhr gehorchend aufleuchten und ausgehen, um während ihrer Abwesenheit etwaigen Einbrechern vorzugaukeln, es sei jemand im Hause. Eine Karte der Gemeinde, welche Langschläfer und Frühaufsteher ausweist. Eine Karte, die alle Bewegungsmelder verzeichnet und die Geräte, die mit akustischen Mitteln – ein Ton mit hoher Frequenz – Tiere wie Marder oder Katzen fernhalten sollen. Eine Karte der Katzen, die sich einen Sport daraus machen, mit den Licht auslösenden Bewegungsmeldern zu spielen und des Hausbesitzers Stromrechnung zu beeinflussen.

Ein kurzes Hallo, gegenseitig, wenn ihn die Gemeinderätin mit ihrem Labrador kreuzt. Und einen guten Tag. Vor sechs Uhr morgens schon unterwegs. Wäre sie um diese Zeit ohne Hund unterwegs, einfach so, würde man Verdacht schöpfen. Was treibt sie hinaus? Was läuft da schief? Hat sies nicht ausgehalten im Ehebett? Wird da ein Hund schändlich missbraucht? Eine verschworene Gemeinschaft, so kommt es Bruno vor, die sich versteht ohne zu reden, denn hielte man an, riskierte man als Hundebesitzer nicht zu Unrecht, dass auch die Tiere sich zu unterhalten begännen, was, fänden die Unterhaltungen in bewohntem Gebiet statt, zu giftigen Vorstössen an der Gemeindeversammlung führen könnte. Es reicht der Dauerbrenner Hundekot auf der Kuhweide.

Im Altersheim ist immer irgendwo Licht, denkt Bruno, ohne Beweis für seine Behauptung. Doch: Der Eingang und die Gänge. Die Nachtwache darf nicht stolpern, wird sie notfallmässig auf ein Zimmer gerufen. Bruno denkt an die Zimmer, die nachts zum Schlafen da sind. Das Sterben hält sich nicht an Bürozeiten. Und wenn es stimmt, dass der Mensch im Alter ähnliche Verhaltensweisen zeigt wie als Kind, lässt man Energiesparlampen die ganze Nacht brennen gegen die Angst vor dem Dunkel. Demente Menschen kennen keine Tageszeiten. Was denken sie, wenn sie aus dem Fenster in die Düsternis blicken? Sehen sie die Dunkelheit draussen? Oder wissen sie um ihre Dunkelheit im Hirn und nehmen die Dunkelheit für ihr persönliches Problem? Denken sie, in Wirklichkeit sei jetzt Tag, und allen anderen sei das selbstverständlich? Niemand soll merken, dass sie umnachtet sind. Wenn Bruno jetzt zum Vater wollte, würde man ihm Zutritt gewähren? Es gibt Besuchszeiten. Es gibt Sterbezeiten, die sich nicht an Besuchszeiten halten. Möchte er dabei sein, dann?

Bruno fragt sich beim Frühstück, ob er nicht doch lieber alleine sterben möchte als rundum versorgt und überwacht. Er liest die Todesanzeigen und rechnet überschlagsmässig, sieht auf einem Zeitenstrahl der Lebenserwartung seine Position. Der Durchschnitt ist der Ausnahmefall, denkt er, wenn er die Lebensdaten der Verstorbenen vergleicht. An den statistischen Durchschnitt hält sich heute keiner, stellt er nach einem zweiten Blick auf die Doppelseite mit den Todesanzeigen fest. Und doch orientiert sich jeder an diesem Durchschnitt und möchte drüber sein, ihn nach oben drücken, denn wer drunter geht, muss etwas falsch gemacht haben, ist der Verlierer, über den die Pensionskassen lachen. Aber die Pensionskassen können gar nicht lachen; es sind, denkt Bruno, die Angestellten der Pensionskassen, die lachen und statistisch gesehen nicht älter werden als jene, über die sie lachen. Sie lachen vielleicht gar nicht, weil sie wissen, dass sie so wenig zu lachen haben wie jeder andere. Bruno verschluckt sein Lachen.

Was schaut der Hund aus seinem Korb frech zu ihm hoch? Liest er seine Gedanken so klar wie die Pisse des gemeinderätlichen Labradors? Bruno stellt die Kaffeetasse in den Ausguss, wirft sich den Mantel über, packt seine Mappe und geht. Im Auto hört er: Stau auf der Autobahn nach einem Verkehrsunfall. Der erste Schnee bis in die Niederungen. Niederungen. Bruno fragt sich, wie die Meteorologen dem Gegenstück sagen. Höhere Lagen? Dritter Stock. Heute Abend wird er seinen Vater besuchen.

Christoph

Die meisten Menschen vertrauen ihren Augen und überqueren die Strasse, auch wenn die Ampel rot zeigt. Christoph wartet, obwohl der Übergang überaus übersichtlich ist, und er hätte nichts gegen einen Polizisten, der die Übeltäter stellte. Nicht dass er auf Schadenfreude aus wäre, nein, aber, so seine Hoffnung: Vielleicht erkennten sie die Chance und würden sich der Wichtigkeit des Wartens bewusst. Allein: Die meisten dieser Menschen trauen ihren Augen, die just auch mögliche Gesetzeshüter ausmachen würden, und liessen sich durch deren Anblick von ihren Fehltritten abhalten. Dabei wartet Christoph nicht, weil er im Übermasse obrigkeitsgläubig wäre; er ist einfach vorsichtig. Aussenstehende Beobachter würden vielleicht sagen: übervorsichtig. Das Entscheidende freilich weiss nur er: Das Warten ist seine Leidenschaft, mehr noch, Berufung. Christoph ist der Warter.

So wartet der Warter seit siebzehn Jahren auf einen Anruf. Damals hatte er sich gemeldet auf eine Stelle als Telefonverkäufer in einem Callcenter. Krankenkassen, Telefonanbieter, Lifestyle-Magazin. Saubere Bewerbung, freilich ohne Referenzen. Wen hätte er fragen sollen? Der Chef hätte ihn wohl weiter oben verpetzt, und das wollte er nicht riskieren. Er hatte daraufhin einen Brief erhalten des Inhalts, man werde sich in Bälde telefonisch bei ihm melden, und er hatte kombiniert: Aha, die wollen wohl meine Stimme auf die Eignung für den Job hin testen. Gewartet hat er vergeblich; angerufen hat seither niemand von dieser Firma. Das ist eine in ihrer Absolutheit nicht ganz korrekte Aussage: Ab und zu riefen ihn Meinungsforschungsinstitute an. Man kann nie wissen. Im Warter haben sie einen geduldigen Antworter. Das muss sich herumgesprochen haben. Wenn die Interviewer mitunter ungeduldig werden, denn der Warter nimmt seine Aufgabe sehr ernst, redet er ihnen ins Gewissen: Sie haben Ihren Job verfehlt, gute Frau, wenn Sie mir irgendeine Antwort unterjubeln wollen, mich unter Druck setzen, ich solle mich doch einfach für ein Kreuz da oder da entscheiden, spiele doch keine Rolle. Bloss, um mit dem Interview bald fertig zu sein. Zeit sei Geld? Das lässt er nicht gelten. Es überraschte ihn deshalb nicht, als jüngst ruchbar wurde, dass Mitarbeiter einer Firma Umfragen gefälscht hatten. Eine Befragerin selber hatte sich, von schlechtem Gewissen geplagt wohl, des Vergehens bezichtigt. Sie hatte Fragebogen mit Kreuzen gefüllt, ohne mit jemandem ein Wort gewechselt zu haben. Nicht zuletzt dieser Vorfall, mitnichten ein Einzelfall, nährte seine Hoffnung, dass vielleicht doch noch ein Anruf kommen könnte. Christoph, der Warter, gehört jener vom Aussterben bedrohten Sorte Mensch an, welche die Geduld für eine Tugend hält.

Der Warter ist ein beschäftigter Mann, nicht bloss vor dem Fussgängerstreifen mit der Ampel. Er tut, was alle tun: wartet im Winter auf den Frühling, im Sommer auf den Herbst. Wartet er auf ein unerhörtes Ereignis, das seinem Leben als Postbote eine neue Richtung zu geben vermöchte? Würde er die Chance wahrnehmen? Die Anrufe der Meinungsforscher könnten, so denkt er in trüben Momenten, doch Testanrufe gewesen sein der anonymen Art, und er hatte die Prüfung nicht bestanden, denn, das kannte er: Seiner Stimme fehlte die Bestimmtheit der sicheren Basslage, die, in unerschütterlichem Selbstbewusstsein gründend, Vertrauen erweckt und schwachbrüstig blechern sprechende Zeitgenossen verstummen lässt. Eine gute Voraussetzung für einen Verkaufs- oder Beratungsjob. Dann verwirft er diesen Gedanken wieder, will er seinen Mitmenschen doch nichts Hinterhältiges unterstellen. Dass seine Frau ihn verlassen hat, schon nach wenigen Monaten, damit hat sich Christoph abgefunden. Sie ist weggezogen aus dem Dorf; der Kontakt ist abgebrochen. Ein Missverständnis von Anfang an, sagt sich der Warter, und manchmal bedauert er, dass nicht wenigstens ein Kind, das könnte jetzt erwachsen sein, als Beweis seiner, des Warters, Existenz, auf der Erde fleucht. Anderseits fürchtet er, dieser Sohn (an eine Tochter denkt er eigenartigerweise nie) könnte seines Vaters Eigenschaften in noch ausgeprägterer Weise mit sich schleppen, wie das die Evolution so an sich zu haben scheint, und dann wäre Christoph als Erzeuger für einen Menschen verantwortlich, der noch weniger auf Aktivismus setzte als er, einen Menschen, der gar nichts mehr täte. Eine Konsequenz, die er einerseits theoretisch bewundern würde, vor der ihm, würde sie just in seinem Sohne Realität, hingegen graute. Christoph kennt solche Geschichten aus den Zeitungen, aus dem Fernsehen: Kinder, die sich schlicht weigern, erwachsen zu werden, Söhne, die Fett ansetzen vor dem Fernseher und am Ende, wenn das Herz nicht mehr pumpen mag, die Ambulanz dazu zwingen, für die Rettung zuerst eine Wand der Wohnung herauszubrechen. Rettung? Bergung.

Worauf er warte, hatte ihn seine Frau oft gefragt, wenn er ihr in Gedanken versunken, fokuslosen Blicks, gegenüber gesessen hatte. Er ist nicht der Zupacker, der Tatmensch; er wartet ab, beobachtet, wartet auf Zeichen eindeutiger Art. Das Rotlicht. Das Grünlicht. Das schafft Ordnung und treibt an. Er braucht den Wink mit dem Zaunpfahl, so gross ist sein Bedürfnis nach Sicherheit, seine Angst vor einem Fehler, letztlich vor der Zurückweisung. So war denn auch die Initiative, die schliesslich zu jenem Missverständnis geführt hatte, von seiner Frau ausgegangen. Wer siebzehn Jahre warten kann, wartet leicht weiter, obwohl der Warter nicht sicher ist, ob die Firma noch existiert. Wenn sie nicht mehr existierte, sagt er sich, hülfe auch ein telefonisches Nachstossen nichts. Und für dieses Nachfragen war es jetzt ohnehin zu spät; das hätte in den ersten Wochen nach der Bewerbung passieren müssen. Die Offenheit einer Unsicherheit zieht er einem klaren negativen Bescheid vor. Obwohl die Unsicherheit an Sicherheit grenzt: Es tut uns leid, haben wir Sie nicht informiert darüber, dass wir einen anderen Bewerber vorgezogen haben? Wenn er daran zurückdenkt: Hatte er sich wirklich beworben? War es nicht vielmehr seine Frau gewesen, die ihn dazu gedrängt hatte, sein Postbotensalär telefonierenderweise mit ein paar Abendeinsätzen pro Woche, zuerst alle Kollegen abklappern, das sollte doch nicht so schwierig sein, aufzubessern? Zumal er seinen Dienst am frühen Nachmittag beendet hatte. Wenigstens etwas Geld nach Hause bringen, statt stumm dazusitzen, wird sie gedacht haben. Der Garten interessiert ihn ja auch nicht. Hat Christoph Kollegen? Die Leute von der Post.

Manchmal kommt er sich vor wie eine funktionierende Maschine, Knopfdruck, und er tut, was ihm befohlen, willenloser Ausführer. Selbst wenn er seine Frau ausführte, tat er dies, weil er ihre Erwartung spürte und keineswegs, weil ihm das ein Bedürfnis war. Hatte er überhaupt Bedürfnisse, fragt er sich zuweilen. Der Warter sieht das Leben als zeitlichen Warteraum, den zu füllen ihm die Ideen fehlen, weil er es nicht schafft, sich zu entscheiden, womit er diesen Raum denn füllen sollte. Während des Abwägens – soll ich einem Verein beitreten, dem Turnverein, oder doch lieber den Natur- und Vogelschützern? – fand er stets leicht Argumente gegen beide Tätigkeiten, die er als blosse Füller denunzierte, bar tieferen Sinnes und Bedeutung. Er verklärt im Geiste sein Alleinsein als Freiheit an sich, und selten nur hätte er sich einen einsamen Menschen geheissen. Was, denkt er, bleibt am Ende? Niemand kann dir etwas abnehmen, schon gar nicht den finalen Abgang. Im Gegenteil: Ist es erstrebenswert, im Tode eine grosse Trauergemeinde jammern und weinen zu sehen? Christoph stellt sich sein Wegtreten aus dem Leben als diskreten Vorgang vor, der niemanden belasten soll. Spuren hinterlassen? In Erinnerungen weiterleben? Wer denkt zwanzig Jahre nach deren Tod noch an seine Eltern, ausser, wenns hoch kommt, den Kindern?

Ein mögliches Missverständnis muss an dieser Stelle beseitigt werden. Christoph ist Warter aus Berufung und keinesfalls Ansteher. Auch er sucht sich im Laden jene Kasse aus, die ihn am schnellsten zu bedienen verspricht. Dabei hat er einen Blick entwickelt, der nicht bloss die Länge der Schlange abmisst, sondern jene in Beziehung setzt zum Gefülltheitsgrad der Einkaufskörbe und -wagen. Des Weiteren bezieht er, falls möglich, die Art der Zahlungsmittel der Kundschaft in seine Rechnung mit ein. Gewisse Kreditkartenfresser an den Kassen, so seine Erfahrung, sind wählerisch. Anstehen hat für ihn nichts mit Warten zu tun. Man wartet, so würde er sagen, auf Entscheidendes oder nichts, steht hingegen an für Banalitäten. Das Bahnbillet. Dem Warten, wie er es versteht und lebt, eignet eine schier metaphysische Dimension, und er erinnert sich an Samuel Becketts Theaterstück, das er zwar nie verstanden, immer aber gefühlt, also irgendwie doch verstanden hatte. Das Warten hat für ihn einen Wert losgelöst von einem Ereignis oder Objekt, ist Warten an sich, das reine wertfreie hoffnungslose Warten eben und nicht ein ›Warten auf‹. Schon gar nicht auf Godot. In diesem Lichte betrachtet, belasten die siebzehn Jahre nur unwesentlich.

Der Warter braucht keinen Wartesaal, um in die Seinsweise des Wartens zu gelangen. Sitzt Christoph im Wartezimmer des Zahnarztes, blättert er in den Zeitschriften, um die Zeit totzuschlagen, nicht aber mit dem Bewusstsein eines Menschen, dessen Schicksal das Warten ist. Das Warten auf den Ruf der Zahnarztgehilfin ist für ihn ein eng zweckgebundenes Warten von der Oberflächlichkeit, ja Beliebigkeit des Wartens auf den nächsten Bus. Wenn man dieses Warten freilich extrapolierte und im Zahnarzt den Henker sieht oder den Sensenmann, kommt das Durchblättern der Illustrierten jenen Vergnügungen gleich, die der Mensch sich in seiner lebenslangen Freizeit gönnt, die Ablenkungen und das Geschäftigtun rund um die Uhr, um nicht an das Unausweichliche denken zu müssen.

Christoph möchte der Philosophie des Geworfenseins und des Seins zum Tode aspektuell die Philosophie des Wartens wenn nicht entgegensetzen, so doch freundlich und kongenial zugesellen. Das Wartenkönnen, so geht es ihm in lichten Momenten durch den Kopf, ist für ihn die höchste Seinsstufe. Und wenn er die Betriebsamkeit seiner Mitmenschen betrachtet, angefangen beim Poststellenleiter, der wegen rückgängiger Umsätze um seine Anstellung bangt und mit der Gier der Verzweiflung als Nebengeschäft jeden Schrott verkauft, bis zu jenen Menschen, die bei Rot den Fussgängerstreifen überqueren, deutet er dieselbe als unbedarfte Strategie, mit der zeitweiligen Unbehaglichkeit des Wartens umzugehen. Warten lernen. Das müsste auf dem Lehrplan der Schulen zuoberst stehen, denkt Christoph. Warten können. Das wäre vollendete Lebenskunst.