SCM R.Brockhaus ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.
ISBN 978-3-417-22916-5 (E-Book)
ISBN 978-3-417-26858-4 (lieferbare Buchausgabe)
Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck
2. Auflage 2021
© 2018 SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH
Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-brockhaus.de; E-Mail: info@scm-brockhaus.de
Soweit nicht anders angegeben, sind die Bibelverse folgender Ausgabe entnommen:
Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart
Weiter wurden verwendet:
Bibeltext der Neuen Genfer Übersetzung, Copyright © 2011
Genfer Bibelgesellschaft, Wiedergegeben mit freundlicher Genehmigung.
Alle Rechte vorbehalten. (NGÜ)
Gute Nachricht Bibel, revidierte Fassung, durchgesehene Ausgabe, © 2000
Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart. (GNB)
Elberfelder Bibel 2006, © 2006 by SCM R.Brockhaus in der
SCM Verlagsgruppe GmbH Witten/Holzgerlingen. (ELB)
Hoffnung für alle ® Copyright © 1983, 1996, 2002, 2015 by Biblica, Inc.®.
Verwendet mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers
Fontis – Brunnen Basel. (HFA)
Gesamtgestaltung: Tabea Wippermann, Bochum
Titelbild und Illustrationen: Tabea Wippermann
Hätte ich damals erkannt, was ich heute weiß,
dass in meiner Seele ein so großer König wohnt,
ich glaube, ich hätte ihn nicht so oft allein gelassen.
Ich hätte mich häufiger bei ihm aufgehalten.
Teresa von Ávila
Über die Autorin
Vorwort zur 2. Auflage
Einleitung
TEIL 1: HEIMATSUCHE
1. Heimatlos
2. Die Sehnsucht der Herzensflüchtlinge
3. Pioniere im neuen Land
TEIL 2: HEIMATKUNDE
4. Herzrhythmusstörung – Zu Hause im Alltag
5. Beileibe! Das bin ich! – Zu Hause im Körper
6. Achtung! Zeitraub – Zu Hause in der Gegenwart
7. Gefährten – Zu Hause in Beziehungen
8. Verlassene Orte – Zu Hause in einer verwundeten Seele
9. Heimatgefühle – Zu Hause in Emotionen
TEIL 3: AUFBRUCH
10. In die Fremde
11. Gehen, um zu bleiben
12. Willkommen!
Benutzte Literatur
Anmerkungen
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
Daniela Mailänder (Jg. 1982) ist Pionierin, Predigerin und liebt Kirche in frischer Form. Die Referentin für Fresh X lebt mit ihrem Mann und drei Kindern bei Nürnberg, wo sie im CVJM beheimatet ist.
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
Das Buch "Herzheimat" geht in die 2. Auflage. Und damit bestätigt sich meine Entscheidung, mich verletzlich zu zeigen. In "Herzheimat" teile ich den Weg, der schmerzhaft und gleichzeitig wunderschön ist. Seit Erscheinen des Buches war ich an vielen verschiedenen Orten, habe Lesungen gehalten und meine Herzensreise geteilt. Und dabei immer wieder staunend begriffen: "Herzheimat" hat nicht nur mich verändert. Viele Menschen wurden berührt und haben – viele ganz neu – erlebt: Der wahre König lebt in mir! Deshalb ist es entscheidend, ganz bei mir zuhause zu sein!
Eine gesegnete Herzensreise wünsche ich dir!
Deine Daniela
Januar 2021
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
Ich traf sie auf einer Konferenz in Indonesien. Sie zog mich irgendwann auf einen dieser billigen Kunstledersessel, schaute mich an und meinte: »Du solltest ein Buch schreiben!«
»Definitiv nicht. Ich stecke gerade in einem riesen Gefühlschaos. Nenne es Krise!«
Und doch begann ich schon fünf Monate später zu schreiben. Weil ich Entdeckungen machte, dass mir das Herz davon voll wurde. Es sind Erfahrungen, die viele vor mir bereits gemacht haben. Mystikerinnen, Glaubende, Dichterinnen, Pioniere, Missionarinnen, Gründer, Zweiflerinnen und Normalos.
Ich schreibe über Heimat – und ich bin nicht die Einzige. Je unübersichtlicher die Welt wird, desto mehr sucht der Mensch wohl nach Vertrautem. Und deshalb haben Lederhosen, die Nationalhymne und Lokalhelden Hochkonjunktur. Dabei geht es um mehr. Es geht um Geborgenheit. Rhythmus. Sicherheit. Vertrautes. Das sind Dinge, die wir nur in uns tragen können und die nicht in Äußerlichkeiten zu finden sind. Es geht um den inneren Kern der Dinge, es geht um die Seele. Um Nachfolge. Und Jüngerschaft. Ich greife zurück auf die Großen: Teresa von Ávila, Johannes vom Kreuz, Dallas Willard, Augustinus, Reinhard Deichgräber, Richard Rohr, Ignatius von Loyola und die Frau des Tankstellenbesitzers in meinem Ort.
Ich erzähle über mich. Und doch geht es nicht um mich. Ich bin nur ein Beispiel für eine, die die Heimat verloren hatte. Es gibt viele von uns. Ich nenne uns Herzensflüchtlinge. Weil wir alle die großen Fragen in uns tragen: Wo gehöre ich hin? Wer bin ich? Und weil wir alle auf der Reise sind. Eigentlich ist dieses Buch eine Beobachtung. Ich konnte zuschauen, wie Gott in und an mir arbeitete und das immer noch tut. Und das habe ich aufgeschrieben.
Dieses Buch ist in drei Teile aufgeteilt.
Im ersten beschreibe ich die große Geschichte der Heimatsuche. Denn so wie mir geht es vielen. Schon lange und vielleicht sogar schon immer. Gott ist mittendrin. In unserer Suche. Mehr noch: Er nimmt unser Suchen »auf sein Herz« (5. Mose 2, 7).
Im zweiten Teil lade ich dich ein, Heimatkunde zu betreiben und Gott dabei zuzusehen, wie er an deinem Herzen arbeitet. Ganz konkret frage ich danach, wie wir zu Hause sein können. Im Alltag. In der Gegenwart. In Beziehungen und in unserem Körper. Ich trage Erfahrungen und Entdeckungen zusammen, die helfen, die eigene »Herzheimat« besser kennenzulernen.
Im dritten Teil teile ich meine Sehnsucht nach Heimatorten mit dir und lade dich zum Herz-Pilgern ein. Kennst du das Gefühl des Aufbruchs? Weißt du, wie sich ein Neuanfang anfühlt? Bist du bereit loszugehen? Ich mache dir Mut, auf andere zuzugehen, ihnen zuzuhören und fragend durchs Leben zu gehen. Außerdem überlege ich: Wie kann Kirche ein geistliches Zuhause sein? Es entsteht eine Art »Dach für die Seele«, wenn wir mit anderen Heimatsuchenden auf dem Weg hin zu Gott sind.
Nach jedem Kapitel lade ich dich zum Innehalten im Heimathafen ein. Vielleicht gibt es Dinge, die du in einem Tagebuch notieren möchtest. Vielleicht spricht dich etwas an. Vielleicht leitet dich eine Frage zu einem weiterführenden Gedanken. Ich mache dir Mut, das aufzuschreiben. Durch einen Stift werden Gedanken handfest und damit greifbar.
Für die Entstehung dieses Buches danke ich meinem Weggefährten, Ehemann und Abenteuerfreund Hannes. Fürs Rückenfreihalten, Mitdenken, Ermutigen, Mitfreuen. Dieses Buch widme ich dir und unseren gemeinsamen Kindern: Ihr lehrt mich, anzukommen!
Danke an Silke Gabrisch, deren Anstoß und Beharrlichkeit, Korrigieren und Ermutigen zum Schreiben des Buches geführt haben. Ein großartiger Dank an Dr. Nina Kühn-Popp und Michael Wolf, zwei Freunde, die mit Genauigkeit und vielen motivierenden Gedanken mitgedacht und mitgelesen haben! Annika Walther, meine Timotheus-Mentorin, hat die wundervolle Herzlandschaft in Kapitel drei erstellt. Danke!
Lange habe ich mir überlegt, welche Anrede-Form für dieses Buch angemessen ist. Schlussendlich habe ich mich für das »Du« entschieden. Es erschien mir persönlicher, näher und freundschaftlicher. Ich hoffe sehr, dass ich dem Lesenden damit nicht zu nahe trete und gleichzeitig eine persönliche Ebene schaffe.
Ich lade dich zu einer Entdeckungsreise ein. Bleib neugierig! Stell Fragen! Und sieh Gott beim Arbeiten zu!
Daniela Mailänder im Februar 2018
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
Die Ordensschwester sah mir in die Augen. Ich hatte sie um ein Gespräch gebeten. Ich musste einmal alles loswerden. Es war Sommer und der kleine Raum stickig. Sie sah mich an:
»Du hast deine Heimat verloren!«
Am liebsten wäre ich der guten Dame im Habit ins Gesicht gesprungen. Aber sie sprach weiter:
»Du hast dich selbst verloren! Du bist nicht in dir zu Hause!«
Damit hatte sie den Bogen überspannt und ich stand auf, um den kleinen Raum zu verlassen. Ich hatte sie um ein Gespräch gebeten. Nicht um eine groteske Unterstellung.
Ich dachte an Hengameh. Sie ist meine iranische Freundin. In ihrem Heimatland ist sie zum christlichen Glauben gekommen. Dann musste sie fliehen und alles hinter sich lassen. Sie hatte ihre Heimat verloren.
Und dann schoss mir Samuel aus Nigeria in den Kopf. An Weihnachten war er bei uns gesessen. Ich hatte ihn beiläufig gefragt, wie oft er Kontakt zu seiner Familie hätte. »Alle tot. Erschossen«, hatte er geantwortet. Er hatte seine Heimat verloren.
Oder Claudia. Völlig verdrehte Familienverhältnisse. Die Mutter hatte die Töchter und den Ehemann verlassen, als Claudia sieben war. Der Vater war drei Jahre später an Krebs gestorben und sie war bei dem Exmann der leiblichen Mutter als Stiefkind aufgewachsen. Sie hatte keine Heimat.
Aber ich? Sollte ich heimatlos sein?
Ich war in einer tollen Familie aufgewachsen. Hatte studiert. In verschiedenen Großstädten gewohnt und mich an vielen unterschiedlichen Stellen eingebracht. Wir hatten gerade ein blaues Haus mit weißen Fensterkreuzen und kleinem Garten gekauft. Dort wollten wir unseren drei Kindern Heimat geben. Das war zwar in Bayern. Weiter weg von meiner geografischen Heimat, als ich mir gewünscht hatte. Aber ich hatte eine tolle Arbeit, war als Referentin bei Konferenzen und Gottesdiensten unterwegs. Wir führten eine glückliche Ehe. Ich freute mich über meinen Mann. Zwischen all den Aufgaben hatten wir immer noch Zeit für ein paar Hobbys: Skitouren, Klettern, Surfen, Mountainbiken. Und Freunde hatten wir. Gute Freunde.
Ich sollte heimatlos sein?
Allerdings: So richtig sagen, was mit mir los war, konnte ich nicht. Ich setzte mich also wieder in den braunen, muffigen Sessel im Zimmer der Ordensschwester. Und atmete durch.
Ich ahnte, dass es vielleicht stimmte. Dass dieses Getriebensein, diese Unruhe, diese Fragen etwas mit dem Thema »Heimat« zu tun haben könnten.
Äußerlich war ich irgendwie zwischen meiner ursprünglichen geografischen Heimat, der Heimat in der Lebensgemeinschaft, die wir kurz zuvor verlassen hatten, den vielen Durchgangsstationen in meinem Leben, dem Wunsch, meinen Kindern Heimat zu geben, und der Idee, nun Wurzeln zu schlagen, innerlich aufgeschrammt worden. Da war nicht nur die Trauer, dass wir entschieden hatten, nun endgültig weit weg von Eltern und Geschwistern zu leben. Sondern auch das Bedauern, unsere Haus- und Lebensgemeinschaft verlassen zu haben. Und es ging nicht nur darum, dass wir uns nun in ein bisschen Vorstadt-Spießigkeit einleben sollten.
Innerlich trieben mich andauernde Fragen: Habe ich mich richtig entschieden? Ist es das, was ich eigentlich will? Bin ich auf dem richtigen Weg? Und wenn ja: Wohin führt dieser?
Die Heimat, die ich verloren hatte, war irgendwie anders. Tiefer. Innen drin. Es war dieses übermächtige Gefühl, auf dem falschen Weg zu sein. Das Gefühl, dauernd etwas zu verpassen. Das Gefühl von »Das ist nicht dein Platz!«. Wochenlang habe ich nachts nicht geschlafen. Tagsüber kamen die Tränenausbrüche. Oder eine ziellose Unruhe. Das Gefühl blieb: »Hier bist du nicht richtig!«
Dazu kam eine Art Erschöpfungszustand. Ich liebe es, aktiv zu sein, aber zwischen Dienst, Ehrenamt, Muttersein, Predigt- und Referentendiensten und meinen Hobbys kam ich einfach nicht mehr zur Ruhe. Ich steckte fest. In der bisher größten Krise meines Lebens.
Da bin ich ins Kloster gefahren. Dort habe ich geschrien. Im Wald. In der Kapelle. Und ich habe weitergeheult. Schließlich bin ich in diesem muffigen Sessel in einem viel zu warmen Zimmer gelandet. Und ich begann zu ahnen, dass die Ordensschwester vielleicht recht haben könnte: Ich hatte meine innere Heimat verloren.
Mein Herz hatte also sein Zuhause verloren. Oder hatte ich nur den Weg dorthin vergessen? Was bedeutet es, heimatlos zu sein? Und gibt es so etwas wie eine Herzheimat? Wie sollte ich wieder zu mir selbst finden, zu einem Ort der inneren Sicherheit und zu einem Gefühl der Geborgenheit? Und was hatte das alles mit Jesus zu tun?
»Du bist nicht in dir zu Hause!« Dieser Satz brodelte in mir und ließ mir keine Ruhe. Die nächsten Tage und Wochen begann ich nachzudenken. Und zu fragen: Wenn ich mein Zuhause verloren haben sollte, was um alles in der Welt bedeutete dann »Heimat«? Ich fragte und las.
Es gibt wohl keine eindeutige Begriffsbestimmung für das Wort »Heimat«. Mir kommen Bilder, Gerüche, Geräusche, vertraute Stimmen, der Geschmack vom Lieblingsessen in den Kopf. Heimat kitzelt unsere Sinne. Schon alleine das Knarren des Gartentores, die vertrauten Biegungen an der Straße, der Geruch von reifen Äpfeln erinnern mich an mein Zuhause.
Freunde aus Eritrea, die fliehen mussten, lieben die vertrauten Gewürze aus der Heimat. Kaffee aus dem Herkunftsland. Bekannte Gerüche, die durch die Küchen ziehen.
Heimat ist der Rhythmus der Stadt. Den Takt geben die Straßenbahn, die anfahrenden Autos an der Kreuzung und das Klappern der Rollläden am Abend vor.
Syrische Freunde schwärmen von den großen Kulturstätten ihres Landes. Mit glänzenden Augen erzählen sie von Bilderbuchlandschaften, freundlichen Menschen und bunten Basaren. Von Herzlichkeit, Gastfreundschaft und Kunst. Sie berichten von Festen und Feiern. Und von den Früchten der Landwirtschaft, Spezialitäten und dem Wetter zu Hause. Es sind ihre Sinneserinnerungen, die sie mit der Heimat verbinden.
So oft vergessen, verdrängen wir die negativen Erinnerungen. Vielmehr denken wir an die heile Welt und »die gute alte Zeit«. Große Gefühle wie Vertrautheit, Sicherheit und Geborgenheit werden in uns wach. Ich ahne, dass deshalb auch in Deutschland die Trachtenmode, Dialekte und Heimatgefühle wieder groß in Mode sind.
Und dann fallen mir Gesichter ein. Heimat sind die Menschen, die mir Vertraute sind. Heimat ist, wenn ich die Haustüre aufmache und mir meine Kinder in die Arme springen und mir das neueste Kindergarten-Kunstwerk unter die Nase halten. Heimat ist es, mit meinen besten Freunden zum Tanzen zu gehen. Heimat ist, wenn ich mit meinem Mann bei Sonne und Schnee auf einem Gipfel stehe und wir die Ski ans Gipfelkreuz lehnen. Heimat ist mein Lieblingsvater und meine Lieblingsmutter. Heimat ist die Kollegin, der Kletterpartner und der Vereinskamerad.
Heimat sind Menschen, unabhängig von dem Ort, an dem ich mich befinde. Ich muss mich ihnen nicht erklären. Keine Rolle spielen. Da gibt es Leute, die mich kennen und wissen, wer ich bin. In meinem Heimatdorf war ich immer »die älteste Tochter des Schreiners«. Menschen, die gerne Zeit mit mir verbringen, muss ich nicht erklären, wann es Zeit zum Gehen ist. Rollen sind zugewiesen. Wer ich bin, ist diesen Menschen klar. Und mir in ihrer Gegenwart auch. Darin finde ich mich wieder. Ich kann »ich« sein.
Manche Rollen werden zu eng. Meine Identität ist dann festgelegt. Das kann sich auch festfahren. Aber das große Gefühl bleibt: Identität. Wissen, wer ich bin und wohin ich gehöre. Begrüßt werden. Einen Namen haben.
Heimat ist es, die »Muttersprache« zu sprechen. Heimat ist dort, wo man mich versteht. Ich verstehe andere. Und ich kann Worte benutzen, wie sie mir in den Sinn kommen. Wenn ich tagelang in einer Fremdsprache reden muss, merke ich, wie ich müde werde. Mir gehen die Worte aus. Oder ich benutze immer dieselben. Ich kann nie genau das ausdrücken, was ich wirklich meine. Dagegen ist Dialekt: Ur-Heimatsprache.
Heimat ist, wenn die Worte fließen, mir leicht über die Lippen gehen und ich am Blick des anderen völlig selbstverständlich erlebe, dass er weiß, was ich meine. Und wenn es nur der Wunsch um eine Scheibe Gelbwurst beim Metzger ist.
Heimat ist Kultur. Warum schmatzen Chinesen beim Essen, warum schaufeln dir Pakistaner den Teller mit Essen voll, warum fasten Muslime an Ramadan, warum feiert die Braut bei uns in Weiß? Woher kommt der Schuhplattler und wie viele Begrüßungsrituale gibt es eigentlich?
Heimat ist dort, wo ich diese Fragen beantworten kann. Oder sie für mich keine Fragen sind. Weil sie Selbstverständlichkeiten sind, die zum Leben gehören. Sie geben den Rhythmus vor und sie verbünden Menschen. Rituale, Begrüßungsformen, Musik, Feste und Gepflogenheiten schaffen Sicherheit, Zugehörigkeit und sie bringen beides: Ruhe und Farbe ins Leben.
Heimat ist außerdem geografisches Wissen. Ich weiß, welcher der beste Bäcker ist, wann der Gottesdienst beginnt, wo das nächste Auswärtsspiel des Heimatvereins stattfindet. Heimat ist die Selbstverständlichkeit, ins Auto oder in die U-Bahn zu steigen und zu wissen, wohin ich fahren muss. Ohne Navi. Einfach, weil ich mich auskenne. Die Straßennamen, Öffnungszeiten und wohin welcher Weg führt, sind mir vertraut. Heimat ist, dass Selbstverständlichkeiten den Alltag prägen.
Heimat ist also mehr als nur ein Ort auf der Landkarte. Sie ist Identität, Selbstverständlichkeit, Sprache, Rhythmus, Rituale, Sicherheit, Menschen, Zugehörigkeit, Wissen, Vertrautheit, Kenntnis, Sinnlichkeit, Ruhe und gleichzeitig Farbe im Leben. Und genau das alles hatte ich offensichtlich verloren. Ich war zur Heimatlosen geworden. Innen drin.
Was ist das »Innendrin«? Immer noch in der kleinen Kammer bei der Ordensschwester wollte ich wissen: »Was ist das Herz?« Mal abgesehen davon, dass das körperliche Organ das Blut hin- und herpumpt. Was ist das Herz in der anderen, der weiteren Hinsicht? Wie kann man dort die Heimat verlieren?
Sie wiegte ihren Kopf hin und her: »Dein Herz ist die Tiefe deines Wesens. Wir leben aus dieser Tiefe. Was dein Herz prägt, das prägt dich. Wie du mit deinem Herzen, deinem tiefsten Wesen, umgehst, entscheidet über alles andere: dein Handeln, Denken, Fühlen, Entscheiden, Wollen. Dein Herz hat Einfluss auf deine Seele und sogar auf deinen Körper.«
So ähnlich sagte sie das. Ich habe in der folgenden Zeit noch mehr entdeckt und Geheimnisse gelüftet. Mein Herz ist der »geistliche Kern«1, der Mittelpunkt. Was in unserem Herzen ist, das hat einen entscheidenden Einfluss darauf, wer wir sind, wer wir werden und was aus uns wird. Sonderbar. In vielen Jahren Theologiestudium und Predigten, die ich überall hielt, war mir das nie so deutlich vor Augen gewesen.
Die weisen hebräischen Denker sehen im Herz den Sitz der Gefühle, das Wohnzimmer der Vernunft und die Schlafstätte des Wünschens und des Wollens. Das alles wird von dort aus gesteuert. Wie es um mein Herz bestellt ist, prägt alles an mir: Identität, Charakter, Persönlichkeit. Mein Herz bin im tiefsten Wesen ich selbst. Die Tatsache, dass ich meine Heimat in meinem eigenen Herzen verloren hatte, traf mich jetzt umso härter.
Ich war zu einem Flüchtling geworden. Zu einem Herzensflüchtling. Ich war auf der Flucht. Vor mir selbst. Vor Entscheidungen. Vor Ruhe. Vertrieben hatte mich die Angst. Die Angst, etwas Falsches zu tun. Oder etwas Wichtiges nicht zu tun. Ich hatte mich zwischen den Bildern über mich selbst und den Bildern, die andere von mir hatten, verloren. Und deshalb war mein Denken, Fühlen, Handeln, Wollen ein pures Chaos geworden.
Ich habe Menschen kennengelernt, denen es genauso geht. Auch sie sind Herzensflüchtlinge. Sie sind vertrieben aus ihrer Herzheimat. Wo gehöre ich hin? Wo ist mein Platz in dieser Welt? Bin ich auf dem richtigen Weg? Wie finde ich das Gefühl der Geborgenheit? Warum bin ich innerlich getrieben? Warum komme ich nie an? Habe ich mich richtig entschieden? Warum weiß ich, was zu tun ist, bringe es aber doch nicht fertig? – All diese Fragen bewegen sie.
Das Gefühl, etwas Entscheidendes im Leben zu verpassen, bestimmt sie. Sie sind nie an dem Ort, an dem sie eigentlich sein wollen. Sie tun Dinge, die sie eigentlich nicht wollen. Oder zweifeln an den Dingen, die sie tun. Auch sie sind Vertriebene der Angst. Der Angst, auf dem falschen Weg zu sein oder eine wichtige Sache im Leben zu verpassen.
Sie haben sich selbst verloren. Ihre Identität. Sie wissen nicht, wer sie sind. Sie sind entwurzelt. Das Leben funktioniert, aber die inneren Selbstzweifel hören nicht auf, sie zu treiben. Ein innerlicher Rückzugsort fehlt. Und die Worte, diesen Ort zu beschreiben.
Vielleicht bist du einer von uns? Ein Herzensflüchtling? Vielleicht passt die Aussage der Schwester im Kloster auch zu dir: »Du bist nicht in dir zu Hause!«? Vielleicht hast auch du deine Herzheimat verloren?
Ich habe mich auf die Reise gemacht. Und: Ich möchte dich einladen, mit mir zu reisen. Es ist keine Fernreise. Sondern es ist eine Reise, die zu dir selbst führt. Zu deiner inneren Heimat. Dort, wo Geborgenheit, Vertrautheit, Sicherheit sind. Komm mit, wenn du die Sehnsucht kennst, ganz bei dir zu Hause sein zu wollen.
Wie sagt meine Mutter immer, wenn ich wieder einmal zu Hause bin?
»Willkommen daheim!«
Diese Sehnsucht treibt mich an. Das ist das Ziel meiner Reise. Das Wissen und die Übung, ganz zu Hause bei mir selbst zu sein. Mich selbst zu kennen. Zu wissen, was ich tue und warum ich es tue. Zu fühlen, ehrlich und ohne Einschränkung. Die Seele atmen zu lassen. Und meine innere Heimat zu kennen.
• Was und wo ist deine Heimat? Bist du in dir zu Hause?
• Bist du vertrieben? Getrieben? Ein Herzensflüchtling?
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
Wie findet man zurück in seine Heimat? Wie findet man eine neue Herzensbleibe? Wo fängt man so eine Reise an?
Ich glaube, jede Flucht, jede Reise beginnt mit der Sehnsucht. Zumindest sagte das jene Ordensschwester am Beginn meiner Reise. »Fang an, die Bibel wirklich zu lesen und nicht nur das darin zu finden, was du eh schon erwartest!« Ich habe gelesen. Erwartungsvoll. Dabei habe ich die Entdeckung gemacht: Es geht darin um nichts anderes als um die Suche nach Heimat. Die Bibel ist voll mit Geschichten von Herzensflüchtlingen. Nur deshalb habe ich den Mut, darüber zu schreiben. Weil es um eine große Sache geht. Die Suche nach Heimat wird das Herz verändern. Es wird so viel über die Worte Gottes gepredigt, aber so wenig über unsere Sehnsucht nach einem Zuhause. Dabei könnte das entscheidend für uns sein. Vor allem für uns, die wir nicht mehr selbstverständlich eine äußere Heimat haben. Wir, die wir von Zweifeln und Fragen getrieben sind. Wir, die wir Herzensflüchtlinge sind.
Die Tiefe und die Weisheit, um die es bei der Suche nach Heimat geht, haben mich verändert. Grundlegend verändert. Und nur deshalb erzähle ich darüber. Deshalb folge ich den Menschen, die von dieser Sehnsucht nach einem inneren Zuhause angetrieben waren. Nach Heimat. Nach Geborgenheit. Nach Angenommensein. Nach einem Platz zum Sein.
Beim Trekking nimmt man so wenig wie möglich mit, weil man alles tragen muss. Wir waren vier Wochen auf Feuerland und in Patagonien unterwegs. Mein Mann hatte sogar meine Zahnbürste abgesägt, um Gewicht zu sparen. Kurz vor der Abreise hatten wir beschlossen, unsere kleinen Daunen-Kopfkissen zu Hause zu lassen. Normalerweise begleiten sie uns immer auf unseren Trekkingtouren. Wir würden uns auch aus Kleidern oder dem Rucksack ein bequemes Kopfkissen bauen können, dachten wir. Da wir einmal länger als zehn Tage in der Wildnis waren, zählte wirklich jedes Gramm – und Nudeln schienen wichtiger als ein Ort, worauf wir unsere müden Häupter betten konnten. Aber wir bereuten es bitter. Die Nächte waren unglaublich unbequem. Wochenlang habe ich in unserem kleinen Zelt wach gelegen. Es waren dunkle und windige Nächte. Eines frühen Morgens kroch ich wieder einmal völlig übermüdet aus dem Zelt. Hätte ich nur mein Kopfkissen mitgenommen! Da fiel mir die »Geschichte des heimatlosen Menschen« ein. Der Mann, der auf der Suche nach einem inneren Zuhause war, musste auch ohne Kopfkissen auskommen. Ich war nur im Urlaub, aber dieser Mann hatte ganz anderes zu überstehen …
Er ist auf der Flucht. Er hat seine Heimat hinter sich gelassen, seine Identität, seine Familie und alles, was ihm lieb ist. Er ist ein Herzensflüchtling. Jakob ist einer, der vor sich selbst, seiner Familie und seiner Heimat davonläuft. Er ist einer jener unruhigen Menschen, die mir so sympathisch sind, weil sie mir so ähneln. Er ist ein Wortbrecher, ein Übertreiber, ein Lügner. Er ist der jüngere von Zwillingen. Dass er so knapp nach seinem Bruder auf die Welt kommt, soll sein ganzes Leben beeinflussen. Er sehnt sich nach der Anerkennung des Vaters, der den Älteren dem Jüngeren immer vorzieht. Er kämpft mit sich und ist irgendwie nie er selbst. Die anderen Männer, auch sein Bruder, ziehen regelmäßig zum Jagen. Er bleibt lieber zu Hause. Und er hört auf seine Mutter. Auch das verändert sein ganzes Leben. Und so lügt er seinen alten, blinden Vater an und bringt seinen Bruder um Segen, Anerkennung und jede Menge Besitz. Deshalb muss er fliehen. Er ist nie bei sich angekommen. Er ist nie in sich zu Hause gewesen. In einer Nacht auf der Flucht findet er nichts außer einem Stein, wo er seinen Kopf müde ablegt. Er, der Herzensflüchtling, träumt. Er träumt von Gott. Und von einem Weg direkt in den Himmel. Als er am nächsten Morgen aufwacht, weiß er: Hier wohnt Gott! Er, der Heimatlose, baut ein Denkmal und nennt es »Heimat Gottes«. Mitten auf der Flucht begegnet ihm der Höchste.
Damals, auf jener Trekkingtour, wurde mir bewusst: Jakob ist der Inbegriff des heimatlosen Menschen. Ihn treibt die Sehnsucht nach Identität. Er, der biblische Held, ist nämlich mindestens genauso wenig verwurzelt, wie ich es bin. Oder all die anderen, die auf der Suche nach einer Herzensbleibe sind. Wir befinden uns in guter Gesellschaft als Herzensflüchtlinge.
Jakob ahnt, dass es mehr geben muss. Er beginnt in jener Nacht davon zu träumen, wie es wäre, Geborgenheit und Sicherheit in sich zu spüren. Wie ich. Oder all die anderen vor mir. Wir ahnen, dass es mehr geben muss, dass wir ganz in uns zu Hause sein können. Diese Sehnsucht treibt uns. Kein Wunder: Gott selbst hat sie in unser Herz gelegt.
Gott gestaltete die Heimat für die Urmenschen Adam und Eva. Die perfekte Schöpfung war das Zuhause von Mensch und Gott. Die ersten Menschen waren ganz selbstverständlich zu Hause. Echtheit und Sicherheit kennzeichneten ihr Leben im Paradies. Sie waren nackt, weil es auf Äußerlichkeiten gar nicht ankam. Im Garten Eden begegneten sie ganz selbstverständlich dem Heimatstifter. Alles, was Heimat ausmacht, war dort vorhanden: der Geruch von reifem Obst, das Gefühl der Sicherheit, Geborgenheit, Identität und – Gott persönlich. Die Menschen waren ganz sie selbst. Sie kannten sich aus und konnten alles benennen. Alles war perfekt. Deshalb hatten sie die Sehnsucht noch nicht. Sie erlebten Gott ganz nahe, spürten seinen Atem, hörten seine Stimme, kannten seine Schritte und verbrachten viel Zeit mit ihm.
Doch dann verrieten sie das alles. Sie vergaßen ihre Identität. Sie wollten Gott übertreffen. Und verloren sich selbst. Jetzt begann die Unsicherheit damit, sie vor sich herzutreiben. Eva und Adam mussten ihre Herzheimat genau wie ihre geografische Heimat verlassen. Sie wurden zu Herzensflüchtlingen.
Diese alte, weise Geschichte erzählt von dem Verlust unserer Identität und Herzheimat. Die nahe Verbindung Gott-Mensch und damit die Verbindung zum inneren Zuhause wurde zerschnitten. Wir haben uns seither selbst verloren (1. Mose 3, 24). Deshalb beginnt hier die Suche nach dem wahren Zuhause, die sich durch die Menschheitsgeschichte zieht.
Abraham, ein Urmensch und Nachfahre Adams, verlässt sein Vaterland, um eine andere Heimat zu finden (1. Mose 12, 1-3). Es kostet ihn viel. Er ist fremd und wird jahrelang als Flüchtling auf dem Weg sein. Er wird zum Nomaden ohne Zuhause. Auch seine Kinder und Enkel werden Heimatlose sein (1. Mose 15, 13). Wie Jakob. Doch es geht um mehr als einen geografischen Ort zum Wohnen.
Wie ein roter Faden setzt sich die Suche weiter fort: Jakobs Sohn Josef wird von den eigenen Brüdern verkauft. Er verliert seine Heimat, seine Familie und das Vertrauen ins Leben und sich selbst. Er erlebt den größten Verrat, den größten Verlust, der einem Menschen passieren kann. Und trotzdem findet er das Größere: Gott ist mit ihm (1. Mose 39, 2). Jahre später wird er seinen Brüdern das Leben retten. Josefs Geschwister, Kinder und Enkel finden Asyl in Ägypten. Dort werden sie zu einem großen Volk.
Aber dieses große Volk muss wieder fliehen. Die Geschichte des Auszugs, der Flucht und der Heimatsuche wird immer und immer wieder erzählt. Bis heute. Sie erinnert auch mich an die Herzensreise durch die Wüste meiner Seele auf der Suche nach einer Bleibe.
Endlich im Land der Sehnsucht angekommen, werden Könige gekrönt. Aus Zelten werden Häuser. Aus Häusern Paläste. Das Volk scheint ein Vaterland gefunden zu haben. Doch dann kommt der Krieg. Die Israeliten müssen die gefundene Heimat wieder verlassen. Gefangene werden gemacht und Deportationen finden statt. Die Einwohner des Nordreichs werden in ein fremdes Land verschleppt. Wieder einmal sind sie heimatlos. Die Suche hat nie aufgehört.
Es scheint, als ob Gott besonders mit Heimatlosen Geschichte schreibt. Mit Menschen, die um ihre Identität ringen. Doch eine Sache zieht sich durch die Jahrhunderte durch: Gott geht jeden Weg mit.